Literaturen – Trauma – Erzählen
Verpassen des Traumas
Zum Verhältnis von Literaturen und Epidemien in Geschichte, Roman und Drama
Franz Kafka hat, obwohl er 1918 an der Spanischen Grippe erkrankte, die Pandemie in keinem Roman oder einer Erzählung beschrieben. 2018 erschienen zum einhundertjährigen Gedenken an die Spanische Grippe und ihre 50 bis 100 Millionen Todesopfer mehrere Aufsätze und Bücher, unter denen die Journalistin Laura Spinney den Bestseller The Pale Rider veröffentlichte. Im April kursierte das Buch mit dem deutschen Titel 1918 – Die Welt im Fieber als eine Art Geheimlektüre. Der Freund eines Freundes kaufte gleich die restlichen vier Exemplare beim Hanser Verlag. Indessen urteilte Stephan Speicher in der Süddeutschen Zeitung bereits am 13. Februar 2018, Spinney richte „viel Unfug an“.[1] Traumata und Krisen lassen sich anscheinend schwer in Literaturen verwandeln. Obwohl viele epidemiologische Maßnahmen der Covid-19-Pandemie aus der Forschung zur Spanischen Grippe generiert und modifiziert worden sind, gleitet der vermeintliche Zugriff auf das Ereignis in „Unfug“ ab.
Stephen Greenblatt bedenkt in seinem Cultural Comment What Shakespeare Actually Wrote About the Plague in The New York am 7. Mai 2020 das Verhältnis von wiederholten Pest-Epidemien zwischen 1564 und 1616 sowie den Literaturen intensiver.[2] Denn es muss als ein komplexeres beschrieben werden. So hat 1832 Franz Freiherr von Gaudy sehr gezielt für den schon damals schnelllebigen Buchmarkt seine Gedanken-Sprünge eines der Cholera Entronnenen geschrieben, um in seiner Vorrede zu versichern, „daß das ominöse Wort „Cholera“, außer auf dem Titelblatte und in obiger Zeile, nicht ein einzigesmal wieder vorkommt“.[3] Ob die „Gedanken-Sprünge“ der Cholera oder doch eher den in der Auto-Kritik karikierten Gesetzen der Buchmessen geschuldet sind, bleibt offen. Die „Freudensprünge“ darüber, dass der Kopf nach dem Krankenlager „wenigstens im früheren Zustande“ gefunden wurde, und die „Gedanken-Sprünge“ werden von Gaudy kunstvoll und sprunghaft mit einem Trennstrich verkoppelt.
Der Kulturkommentar von Stephen Greenblatt beantwortet nicht nur die Frage, was Shakespeare wirklich über die Pest schrieb, er führt auch einen kulturellen Prozess der Ersetzung im Schreiben vor. Denn der Shakespeare-Experte, Literaturwissenschaftler und Theoretiker des New Historicism schreibt mitnichten nur über William Shakespeare. Gerade dann, wenn Greenblatt über die Pestbeschreibung von Macbeth als Herrscherfigur schreibt, kommentiert er das Krisenmanagement eines ganz anderen Herrschers. Wer meinte, er habe oder kontrolliere die Pest-, Cholera-, Spanische-Grippe- oder Covid-19-Pandemie durch Benennung, hat sie schon verfehlt. Der kulturelle Akt der Benennung ist ein ebenso trügerischer wie mächtiger. Er wird zu einer Machtfrage und kann zu einem beeindruckenden Machtverlust führen, wie es Mike Pompeo am 24. März 2020 bei der Videokonferenz der G7-Außenminister zur „Coronakrise“ mit dem Versuch der Benennung als „Wuhan-Virus“ passiert ist.[4] Außer der Trump-Regierung spricht niemand von „Wuhan-Virus“.
Die Frage der Benennung war bereits beim Tod Georg Wilhelm Friedrich Hegels 1831 zum Streitpunkt geworden.[5] Laura Spinney schreibt als Wissenschaftsjournalistin die Geschichte des Jahres 1918 mit einer fulminanten Eröffnung um. Sie beansprucht, die Spanische Grippe als politische Kraft aus ihrer Rolle als „Fußnote der Geschichte“ herauszuschreiben. 1918 wird anders als im englischen Originaltitel The Pale Rider schon deshalb als Literatur interessant, weil unterschiedliche Wissensbereiche angesprochen und verkoppelt werden. 1918 rückt das Jahr ins Gedächtnis, das gemeinhin das Ende des Ersten Weltkrieges benennt, während der bleiche Reiter eher das Bild der apokalyptischen Reiter aus der Offenbarung des Johannes aufruft. Erst im Untertitel wird die Spanische Grippe als Schlüssel zum Geschichtswissen des Jahres 1918 bzw. als Apokalypse genannt. So eröffnet Spinney ihren wissenschaftshistorischen Aufriss denn auch mit einem weltgeschichtlichen Szenario:
„Kaiser Wilhelm II. dankte am 9. November 1918 ab, und in den Straßen von Paris jubelten die Menschen. »À mort Guillaume!«, riefen sie. »À bas Guillgume!« Tod Wilhelm! Nieder mit Wilhelm! Währenddessen lag, hoch über dem siebten Arrondissement der Stadt, der Dichter Guillaume Apollinaire auf dem Totenbett. Als herausragender Vertreter der französischen Avantgarde-Bewegung hatte sich der Mann, der den Begriff »Surrealisms« erfand und Persönlichkeiten wie Pablo Picasso und Marcel Duchamp inspirierte, 1914 als Kriegsfreiwilliger gemeldet. Nachdem er durch einen Granatsplitter eine Kopfverletzung erlitten und die anschließende Operation, bei der ihm ein Loch in den Schädel gebohrt wurde, überlebt hatte, starb er im Alter von 38 Jahren an der Spanischen Grippe und erhielt den Status »Mort pour la France«.“[6]
Mit der fulminanten Eröffnung durch die Koinzidenz von der Abdankung Kaiser Wilhelm II. am 9. November 1918 und dem Tod des Dichters Guillaume Apollinaire wird von Laura Spinney die weltgeschichtliche Bedeutung der Spanischen Grippe beansprucht. Da der Dichter nicht nur von einer Kugel im Kopf getroffen worden war, sondern bereits im Februar 1918 eine Lungenentzündung bekommen hatte, zählte er nach dem kursierenden Wissen der letzten Monate wenigstens zur „Risikogruppe“ der Vorerkrankten. Doch den Begriff kannte Spinney beim Schreiben ihres Buches noch nicht. Womöglich hätte Apollinaire als Angehöriger einer „Risikogruppe“ auch nicht ganz der Dramaturgie der beiden, sagen wir ruhig, Abdankungen entsprochen. Spinney weiß im Eröffnungsabsatz ihr Wissen von der Spanischen Grippe rhetorisch elegant zu setzen. Die beiden Wilhelme werden im Französischen als Guillaume zum Verwechseln ähnlich und der Tod des Dichters zur „Metapher“. Der Dichter wird mit dem Titel »Mort pour la France«, in etwa gestorben für Frankreich, den Kriegstoten des Ersten Weltkriegs zugeschlagen, während ein noch unbekannter Virus der wahre Feind war. Doch der Zufall erhält erst durch Spinneys literarische Überschneidungen den Sinn einer Analogie und Überbietung.
„Der Tod des Dichters steht als Metapher für das kollektive Vergessen – wir alle haben das größte Massaker des zwanzigsten Jahrhunderts aus unserem Bewusstsein gelöscht. Die Spanische Grippe infizierte jeden dritten Erdbewohner, 500 Millionen Menschen. Zwischen dem ersten Krankheitsfall, der am 4. März 1918 gemeldet wurde, und dem letzten, irgendwann im März 1920, tötete die Grippe, 50 bis 100 Millionen Menschen, …“[7]
Die rhetorischen Schreibweisen der Überbietungen und der großen Zahlen[8] werden von Laura Spinney angewendet und beschworen. Einerseits beansprucht sie ein historisches Wissen von der Spanischen Grippe als Wahrheit, andererseits benutzt sie die rhetorische Figur Metapher auf eigenwillige Weise. Die geschickte Übersetzung von Wilhelm in Guillaume mit dem Effekt einer überbietenden Analogie generiert eben auch das Wissen von der Spanischen Grippe als „Massaker“ oder Killervirus. Nicht Wilhelm II. wird zum Zeugen für das Jahr 1918, sondern der Grippetod des Dichters. Literarische Elastizität und Festlegung der Metapher für ein „kollektives Vergessen“ versprechen ein geheim gehaltenes Wissen, das die Autorin anlässlich des Jahrhundertjubiläums zu entschlüsseln beansprucht. Dieser Anspruch mit der prognostischen Ankündigung einer neuerlichen Pandemie pendelt zwischen Wissenschaft, Fakten, Erzählungen, Anekdoten und Bedrohung hin und her, so dass sich 1918 leicht als ein erweitertes Dispositiv über die Covid-19-Pandemie legen lässt. Doch gerade deshalb verfehlt das Buch die aktuelle Pandemie auch.
Spinney ist nicht die erste oder einzige Autor*in, die über die Spanische Grippe geschrieben hat. Es gibt zahlreiche Autor*innen wie der Mediziner und Medizinhistoriker Harald Salfellner oder der Lyriker und Romanautor Sjón, die in den vergangenen Jahren das Wissen von der Spanischen Grippe literarisch bearbeitet haben. Harald Salfellner brachte 2018 in seinem Prager Vitalis Verlag Die Spanische Grippe heraus und kündigt nun schon dessen „zweite Ausgabe des Werkes … mit zahlreichen Bezügen zur COVID-19-Pandemie“ an.[9] Der isländische Autor Sigurjón Birgir Sigurðsson hat als Sjón 2013 den Roman Der Junge, den es nicht gab veröffentlicht, in dem in der Hauptstadt Reykjavic 1918 die Spanische Grippe ausbricht.[10] Doch die Pandemie ist nur ein Aspekt des fast einhundert Jahre später geschriebenen Romans, um nicht zuletzt von der Liebe zum Stummfilm zu erzählen. Die doch ein wenig vom Weltgeschehen abgerückte Insel Island wird mit der Grippe in einen historischen Kontext von neuem Medium Stummfilm und Pandemie integriert. Anders gesagt: Entweder wird die Pandemie zum Schauplatz weltgeschichtlicher Sensationen im mikrologischen Böhmen wie bei Salfellner oder sie rückt eine zumindest in der Eröffnungssequenz homosexuelle Szene in eine bereits 1918 imaginär verknüpfte Welt, die mit genauem Datum – „(12.-13. Oktober 1918)“[11] – als Zwischentitel eine historische Zeit herstellt.
„Er schließt die Augen. Ja, das ist er, der »Indianer«, aber nicht irgendein beliebiger. Nicht umsonst hat er die Geräusche lange und gründlich studiert, um dieses eine unter allen anderen herauszuhören. Und jetzt ist er sicher, dass die Maschine näher kommt und sich eine Steigung hinaufarbeitet. Es dauert nicht lange, bis das Dröhnen den höchsten Punkt der Anhöhe erreicht, dort, wo der Berg nach Osten hin abfällt, und direkt darunter er selbst, auf Knien, den »Kunden« tief in seinem Rachen.“[12]
Die Überschneidungen in der Wahrnehmung des „Jungen“, den Sjón beschreibt, den es allerdings nie gegeben hat, geben einen Wink auf das literarische Verfahren. Der „Indianer“ ist ein zeitgenössisches Motorradmodell, das von einer Frau gefahren wird, welches der „Junge“ am Geräusch erkennt, als er Oralsex mit einem Mann gegen Geld hat. Was geschieht, passiert gleichzeitig auf mehreren Ebenen, ohne dass sich ein Inhalt der Metapher ermitteln ließe. Man könnte sagen, dass der „Junge“ nicht ganz bei der Sache ist. Doch Motorgeräusch und, sagen wir, Dienstleistung werden literarisch miteinander verknüpft, wenn er „(d)urch das anschwellende Motorengeheul und die Bewegungen von Kopf und Hand (…) auch (…) erregt“ wird.[13] Als historische Signatur dient die frühe, amerikanische Motorradmarke „Indian“, die zu einem bestimmten „Indianer“ wird, der in den Bergen Islands dröhnt. Die „Maschine“ spielt insofern zugleich auf alle Indianer- und Freiheits-Mythen an. Das historische Wissen von Motorrädern, Stummfilm, Indianern und Spanischer Grippe wird insofern von Sjón kombiniert, um von einem Jungen auf Island zu erzählen, den es (nicht) gegeben haben wird.
Stephen Greenblatt hat kürzlich das Geschichtswissen zu William Shakespeare in Hinblick auf die Theaterpraxis, die Dramen und wiederholte Epidemien angesichts der aktuellen Covid-19-Pandemie ausführlicher bedacht. Bereits im Audio-Walk Theater geht von Nils Foerster wurde das Theater zu Shakespeares Zeiten angesprochen.[14] Doch Shakespeare hat nie eine Pest-Epidemie beschrieben, obwohl die Londoner Theater auf sicher existenzbedrohende Weise zu seinen Lebzeiten mehrfach über Monate geschlossen werden mussten. Zwar hat Sandra Krämer anlässlich des 250. Shakespeare-Jubiläums 2014 auf dessen medizinisches Wissen hingewiesen, aber die epidemiologische Frage berücksichtigte sie mit „Pest, Pocken, Syphilis“ nicht. Die Pest und andere Krankheiten kommen vielmehr als Verwünschungen und somit in sozialen Interaktionen in den Texten vor.
„„Die Pest ihm!“ (V,1) flucht Posthumus in Cymbeline. Und auch Thersites in Troilus und Cressida versieht seinen General Agamemnon in Gedanken mit „Eiterbeulen, prall überall, vorne, hinten, oben, unten“ (II, 1). Die Pest wünschen sich nicht nur viele Protagonisten Shakespeares gegenseitig an den Hals, sondern sie wütete unerbittlich in ganz Europa. Daneben verunsicherten weitere noch nicht von den antiken Autoritäten beschriebene Infektionskrankheiten (Englischer Schweiß, Pocken, Malaria) die Bevölkerung, allen voran eine neue Geschlechtskrankheit.“[15]
Wiederholt wurde in der Shakespeare-Forschung darauf hingewiesen, dass As you like it auf Boccaccios Decamerone basiere oder zumindest davon angeregt worden sei, weil es eine Art Urtext der Quarantäne sei. So kehrte denn auch Decamerone erstens als Lektüre zum Covid-19-Lockdown wieder und zweitens als Rahmen für neue Texte und Erzählungen während der Quarantäne-Maßnahmen. Giovanni Boccaccios erotisches Erzählwerk aus der Mitte 14. Jahrhunderts stieß „Formate des Erzählens“ an. So haben Martina Bengert, Jörg Dünne und Max Walther am 21. März 2020 den Blog TRIAKONTAMERON als ein „Decamerone 2020“ eröffnet. Das von Boccaccio entwickelte Format einer „Erzählgemeinschaft“ wurde nicht nur zu einem Schlüsseltext der erotischen Literatur, vielmehr noch wurde die unterhaltsame Erzählung von Liebespraktiken derart populär, dass der Name des Dichters in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als „Wein-Restaurant und Kabarett“ an der Hamburger Kirchenallee gegenüber dem Hauptbahnhof zwischenmenschliche Kontakte versprach.[16] In der zweiten Juni-Hälfte liest sich das Programm von Triakontameron fast schon als wenn nicht vergessene, so doch verworfene Erinnerung.
„Zwischen der katastrophischen Vorstellung einer völlig ungeordneten Eskalation und dem nicht weniger unrealistischen Zustand einer baldigen Rückkehr zur Normalität – als sei nichts Wesentliches geschehen – liegt im Moment vielleicht das Schwierigste, aber auch Interessanteste: sich wie vor über 700 Jahren die temporäre Erzählgemeinschaft des Decamerone neue, vorübergehende Gewohnheiten zurechtzulegen, um das, was in den kommenden Tagen (Wochen? Monaten?) des erzwungenen social distancing auf uns zukommt, in Form von Alltagspraktiken strukturierbar zu machen.“[17]
Obwohl sich die Welt noch mitten in der Pandemie befindet, es keine zuverlässigen Medikamente, geschweige einen Impfstoff gibt, Tausende überall auf der Welt sterben, Theater geschlossen oder im Notbetrieb bespielt werden müssen, an Orchesterkonzerte z.B. der Berliner Philharmoniker oder Opernaufführungen international z.B. an der New Yorker Met gar nicht zu denken ist, stellt sich eine durchaus verstörende öffentliche Wahrnehmung von „Normalität“ ein. Insofern wird aktuell weniger ein Aushalten als vielmehr ein Paradox von „Normalität“ praktiziert. Könnte es Shakespeare unter anderen Bedingungen und Formaten des Wissens damit ähnlich gegangen sein, bis die Pest sich in eine Verwünschung verwandelte? Stephen Greenblatt hat in The New Yorker das relativ alte Epidemie-Wissen zu Shakespeares Zeiten in Erinnerung gerufen, das sich strukturell kaum von den Maßnahmen der letzten Monate unterscheidet.
„It was early recognized that the rate of infection was far higher in densely populated cities than in the country; those with the means to do so escaped to rural retreats, though they often brought infection with them. Civic officials, realizing that crowds heightened contagion, took measures to institute what we now call social distancing. Collecting data from parish registers, they carefully tracked weekly plague-related deaths. When those deaths surpassed thirty, they banned assemblies, feasts, archery contests, and other forms of mass gathering. Since it was believed that it was impossible to become infected during the act of worship, church services were not included in the ban, though the infected were not permitted to attend. But the public theatres in London, which routinely brought together two or three thousand people in an enclosed space, were ordered shut. It could take many months before the death rate came down sufficiently for the authorities to allow theatres to reopen.”[18]
Während gelegentlich in den deutschen Medien schon über die Effizienz und Notwendigkeit der zurückliegenden Maßnahmen gestritten wird, lässt sich allein schon mit Blick auf Shakespeares London erkennen, dass in epidemischen Entwicklungen nahezu die gleichen verordnet worden sind. So gesehen ist das Epidemie-Wissen ein altes, das den gesellschaftlichen Umgang mit einer ansteckenden Krankheit ohne Aussicht auf Heilung aus Erfahrung regelt. Nur, weil das 21. Jahrhundert bis auf Epidemio- und Virologen als Fachleute vergessen hatte, dass in früheren Zeiten derartige Praktiken in gewissen Zeitabständen wiederholt werden mussten, kam es als ein neuartiges, wenn nicht gar willkürliches Wissen vor. Womit sich die Mehrheit des Weltbevölkerung zu Beginn des 21. Jahrhunderts schwer tut, ist sich nach einem tendenziellen Nicht-Wissen zu Verhalten. Ausschläge aller Arten werden stattdessen zwischen leugnen und freiwilliger Selbstquarantäne bis Ende 2020 praktiziert. Greenblatt erinnert daran, dass Shakespeare gerade in den schwierigsten Zeiten seine bekanntesten Stücke schrieb, ohne dass er darauf direkt reagiert habe, vielmehr finde sich bei ihm ein gedämpfter Unterton.
“In Shakespeare, epidemic disease is present for the most part as a steady, low-level undertone, surfacing in his characters’ speeches most vividly in metaphorical expressions of rage and disgust. Mortally wounded in the feud between the Capulets and the Montagues, Mercutio calls down “A plague on both your houses.” “Thou art a boil,” Lear tells his daughter Goneril, “A plague-sore, or embossed carbuncle / In my corrupted blood.” “Here’s gold,” the misanthropic Timon of Athens offers his visitor. “Be as a planetary plague, when Jove / Will o’er some high-viced city hang his poison / In the sick air.””[19]
Shakespeare wendet das Wissen von der Pest weniger als Krankheitswissen an.[20] Denn von den Infektionswegen, den Erregern und den genauen Krankheitsverläufen weiß er nur wenig. Aber er weiß, dass sie meist tödlich verläuft und ganze Häuser bzw. Familien infizieren und auslöschen kann. Obwohl er wenig von einer globalen oder planetarischen Pandemie wissen kann, lässt sie sich für ihn als „a planetary plague“ imaginieren. An dem Punkt überschneidet sie sich indessen mit „Jove“, d.h. Jupiter als Göttervater und insofern mit den biblischen Texten der Apokalypse. Gleichzeitig wird das historische Übertragungswissen von den Miasmen mit dem „poison / In the sick air“ angesprochen[21], während wir heute wissen, dass ein Floh als Kleinlebewesen den Mikroorganismus des Pest-Virus von Ratten auf Menschen durch Biss überträgt. Das literarische Wissen von der Pest speist sich bei Shakespeare weder aus einem Medizinwissen, wie es Sandra Krämer in Anschlag bringt, noch wird es allein „vividly in metaphorical expressions“ eingesetzt. Vielmehr generiert es sich über elastisch kombinierte Textquellen als Wissen. Doch Greenblatt macht während der Pandemie anlässlich der Frage, was Shakespeare wirklich über die Pest schrieb, eine andere durchaus überraschende Beobachtung. Das Epidemie-Wissen von der Pest wird nicht als deren Beschreibung, sondern als Umschreibung der Herrschaftspraktiken von Macbeth eingesetzt.
„The words, then, perfectly capture the experience of living in the inescapable presence of an epidemic disease and hearing constantly the ominous tolling of the church bells. But the strange thing about these lines from “Macbeth” is that they are not intended as a description of a country in the grip of a vicious plague. Instead, they describe a country in the grip of a vicious ruler. The character who speaks them, Ross, has been asked how Scotland fares under Macbeth, who is nominally the country’s legitimate king. But everyone suspects what is the case, that he has come by his exalted position through underhand means: “I fear / Thou play’dst most foully for’t.””[22]
Greenblatt beschreibt mit seiner Shakespeare Lektüre eine Herrschaftsfigur, die aktuell kaum weniger an „a planetary plague“, sehr wohl aber an das Regierungshandeln Donald Trumps erinnern. Die literarische Bearbeitung des Traumas als „a description of a country in the grip of a vicious ruler” transformiert die Epidemie in ein Szenario ungerechter oder gar bösartiger Herrschaft, das auf frappierende Weise an die Praktiken von Donald Trump und Jair Bolsonaro erinnert. Die Pest wie Sars-Cov-2 bleiben weiterhin unsichtbar und schwer beschreibbar. Doch das epidemiologische Geschehen erzeugt Bilder von überfüllten Leichenhallen, Armeelastwagen in Schlangen mit Särgen, Eisstadien als Leichenhäuser, Massengräbern auf Notfriedhöfen, während die zur Regierung aufgeforderten Institutionen sichtbar versagen, sich zerstreiten, so dass Gesundheitsminister und andere Mitwirkende gefeuert werden müssen. Zur Beschreibung eines Landes im Griff eines bösartigen Herrschers gehört gleichzeitig die Erosion seiner Macht bei der Einhegung der Epidemie.
Torsten Flüh
Postscriptum: Die Fotos vom Haus der Kulturen der Welt, des Berliner Ensembles, des Deutschen Theaters, des Gorki etc. wurden am 17. Juni zwischen ca. 21:00 und 22:30 Uhr aufgenommen. Vor dem Brandenburger Tor fand eine kurze und kleine Demonstration von Landwirten mit Treckern und Anhängern unter Polizeischutz statt, die eine politische Normalität erzeugten. Das HKW und die Theater sind weiterhin ohne regulärem Spielbetrieb und verwaist, während am Schiffbauerdamm die Restauranttische gut gefüllt waren.
[1] Stephan Speicher: Das unerkannte Gift. In: Süddeutsche Zeitung 13. Februar 2018, 18:54.
[2] Stephen Greenblatt: What Shakespeare actually wrote about the Plague. In: The New Yorker 7. Mai 2020.
[3] Franz Freiherr von Gaudy: Gedanken-Sprünge eines der Cholera Entronnenen. Glogau: Heymann, 1832, S. 2. (Digitalisat)
[4] Siehe: Christoph Schult: Streit über „Wuhan-Virus“. In: Der Spiegel 24.03.2020, 18.04 Uhr.
[5] Siehe: Torsten Flüh: Das „Gewebe der Penelope“. Zum Staat in Zeiten der Pandemie und Hegels Tod während der Cholera-Epidemie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. Mai 2020.
[6] Laura Spinney: 1918. Die Welt im Fieber. München: Hanser, 2018, S. 11.
[7] Ebenda S. 12.
[8] Zum Problem der großen Zahl in der Epidemie siehe auch: Torsten Flüh: Der Geist der Zahl. Über Zahlen in Zeiten der Pandemie und im Roman Die Pest von Albert Camus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. April 2020.
[9] Harald Salfellner: Die Spanische Grippe. (Zweite Ausgabe) Prag: Vitalis, 2020. (Verlagsseite zum Buch).
[10] Sjón: Der Junge, den es nicht gab. Frankfurt am Main: S.Fischer, 2015. (Original 2013).
[11] Ebenda S. 8.
[12] Ebenda S. 10.
[13] Ebenda S. 11.
[14] Siehe: Torsten Flüh: Wissenserschütterung. Zur Theaterpremiere Theater geht von Nils Foerster in der Brotfabrik. In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. Juni 2020.
[15] Sandra Krämer: William Shakespeare (1564–1616): Mit dem medizinischen Wissen seiner Zeit vertraut. In: Deutsches Ärzteblatt 2014; 111(16): A-688 / B-596 / C-574.
[16] Die verwitweten Hamburger Großtanten des Berichterstatters sprachen noch in den 70er und 80er Jahren von ihren Besuchen im Boccaccio. Siehe Postkarte.
[17] Martina Bengert, Jörg Dünne, Max Walther: Das Triakontameron. Temporäre Gemeinschaft in Zeiten des Corona-Virus. In: TRIAKONTAMERON 21. März 2020.
[18] Stephen Greenblatt: What … [wie Anm. 2].
[19] Ebenda.
[20] Der Begriff Krankheitswissen wird erst in jüngerer Zeit für das Wissen von einer Krankheit bei Betroffenen wie bei in der Öffentlichkeit verwendet. Siehe z.B. Robert-Koch-Institut: Erste Ergebnisse der Studie „Krankheitswissen und Informationsbedarfe – Diabetes mellitus (2017)“ In: Journal of Health Monitoring 3/2018.
[21] Vgl. zum Modell der Miasmen Torsten Flüh: Fledermäuse, Pangoline, Labore und die Gattung Homo sapiens sapiens. Wie Verschwörungstheorien Sinn stiften und Narrative vom Patient Zero bis zur Artengrenze übertragen werden. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. April 2020.
[22] Stephen Greenblatt: What … [wie Anm. 2].