Zauberhaftes Naturtheater mit Shakespeares Sommernachtstraum

Droge – Natur – Theater

Zauberhaftes Naturtheater mit Shakespeares Sommernachtstraum

Zu Shakespeares Sommernachtstraum im Freilufttheater in der Jungfernheide

Es ist, als habe sich die Natur das Freilufttheater für einst 2.000 Zuschauer zurückgeholt. Plötzlich springt die Navigation von Google Maps um: „Sie haben ihr Ziel links erreicht.“ Das Ziel soll die Gustav-Böhs-Bühne im Volkspark Jungfernheide sein. Links wachsen Büsche und Bäume in den Himmel. Ein Freilufttheater ist nicht zu sehen. Deshalb gehe ich zurück zum Kulturbiergarten Jungfernheide, um dort zu schauen, ob ich einen Zugang finde. Immerhin erkenne ich nun hinter dem Biergarten eine Überdachung für einen Einlass. Die Abzäunungen sind mit schwarzer Folie verhängt, davor sind ein Rettungswegeplan, mehrere Esel mit Masken, „Achtung: Mücken! Bitte benutzen Sie bei Bedarf unser Mückenschutzmittel am Einlass“, das Plakat „SHAKESPEARE: SOMMERNACHTSTRAUM“ geklebt. Auf einem Aufsteller steht: „Beim Anstehen … 1,5m Bitte Abstand halten!“ Naturtheater. Mücken und Sars-Cov-2 sind Natur, die durch Kulturpraktiken ebenso verbreitet wie eingedämmt wird.

Shakespeare thematisiert im Sommernachtstraum wiederholt die Natur mit dem Theater. – „Transparent Helena! Nature shows art, / That through thy bosom makes me see thy heart.“ (Transparente Helena! Natur zeigt Kunst, / Sie lässt mich durch deinen Busen dein Herz sehen.) Es ist eine bedenkenswerte Natur, die Helenas Körper transparent macht. – Peter Atanassow und das Gefängnistheater aufBruch zeigen im Freilufttheater den Sommernachtstraum, indem sie den Traum durch Drogen, insbesondere Kokain, gefördert inszenieren. Die geschlechtlichen Zauberkunststücke in der Mittsommernacht werden durch des gewitzten Puck als Dealer (Para Kiala) im Auftrag von Oberon (Frank Zimmermann) herbeigeführt. Im Wechselbad der Begehrlichkeiten wird nicht nur der Waldgeisterkönig Oberon zum Drogenboss, vielmehr entsteht eine permanente Überlappung von Natur und Kultur. Denn Oberon als Naturgott hat nicht zuletzt kapitalistische Machtgelüste.

Das verwilderte Freilufttheater spielt im Sommernachtstraum die Hauptrolle. Es ist nicht einfach ein Bühnenbild (Holger Syrbe), vielmehr eine Parabel auf das Verhältnis von Theater und Natur. In ihm durchdringen Natur und Theater einander. Es wurde als idyllisches „Garten-Theater Jungfernheide 1923-25 vom Charlottenburger Stadtgartendirektor Erwin Barth geplant und 1926 eröffnet. „Bis zu 2000 Zuschauer fasste dieses Naturtheater im Volkspark Jungfernheide einst““, heißt es im Programmheft zum Stück.[1] Anders gesagt: ein „Garten-Theater“ ist schon eine besondere Art des Naturtheaters, denn die Natur ist dafür gärtnerisch zurechtgestutzt. Doch jetzt wuchert die Natur aus dem Bühnenboden und ringsum. Die einstige Rahmung durch Birkenpflanzungen ist durch eine Mischbewaldung quasi aufgehoben. Hainbuchen- und Taxushecken sind wild ausgeschossen. Das „Garten-Theater“ gehörte zum Gesamtkonzept der Ringsiedlung Siemensstadt, die zwischen 1929 und 1931 von Hans Scharoun geplant und bis 1934 von ihm Walter Gropius, Otto Bartning, Fred Forbat, Hugo Häring, Paul R. Henning erbaut wurde.[2]

Die Ringsiedlung Siemensstadt ist seit 2008 Weltkulturerbe. Christian Fessel von der UNESCO Infostation Siemensstadt setzt sich für eine „Wiederbelebung“ des „Garten-Theater“, wie es auf einer zeitgenössischen Bildpostkarte steht, ein. Wohl nicht zuletzt dank der Covid-19-Pandemie wurden im April 2020 Gelder für eine denkmalgerechte Sanierung bewilligt. Weltkulturerbe und wildwüchsige Natur treffen im „Garten-Theater“ aufeinander. Der Berichterstatter möchte fast sagen, dass das „Garten-Theater“ nie faszinierender, zauberhafter war als im Wildwuchs. Doch das hat natürlich auch Nachteile – wie die Mücken. Ein Norweger Pullover kann allerdings nicht nur in diesen Sommernächten wärmen, sondern auch Mücken abhalten. Sie verfangen sich in der aufgerauten Wolle. Das Dilemma von Natur (Mücken, Wildwuchs) und Kultur (denkmalgerechte Sanierung) zeigt sich auch am Brandschutz. Der nagelneue Feuerwehrwagen muss höchst aufwendig rangieren, um seine schützende Funktion zwischen den wildwuchernden Bäumen einnehmen zu können. Der Sommernachtstraum ist zu einer Art Voraufführung für eine Wiedereröffnung 2022/23 geworden.

Viele Drogen sind Naturprodukte so wie das Kokain aus dem südamerikanischen Cocastrauch oder Erythroxylum coca. Anders gesagt, das Naturprodukt Kokain zeigt gewiss Kunst, insofern es im stimulierenden Rausch den Körper der Helena durchsichtig und das Herz unter dem Busen sichtbar werden lassen könnte. Kokain wird häufig für riskante, sexuelle Praktiken verwendet. So erklärt die Deutsche Aidshilfe zu HIV und Drogen: „Euphorie, Gefühl der Stärke, Abbau von Hemmungen, Redseligkeit, Abnahme der Kritik- und Urteilsfähigkeit, erhöhte Risikobereitschaft, sexuell stimulierend, in höherer Dosis Erektionsstörungen, Unterdrückung des Hunger- und Durstgefühls sowie des Schlafbedürfnisses, Verminderung des Schmerzempfindens“.[3] Kokain spielt in der Inszenierung und Textcollage von Peter Atanassows Sommernachtstraum eine gewissermaßen rahmende und strukturierende Rolle. Im Vorspiel spricht das Ensemble chorisch eine Passage aus Bernard-Marie Koltès‘ In der Einsamkeit der Baumwollfelder von 1987.

Einen Text von Bernard-Marie Koltès als Vorspiel dem Sommernachtstraum voranzustellen, gibt auch einen Wink nicht nur auf Kokain als Droge und Traumspender oder der Begegnung von Dealer und Kunde, vielmehr noch auf Queerness und Geschlechtlichkeit. Während der französische Theaterautor und Regisseur Koltès heute in Deutschland kaum noch gespielt wird, galt er bis zu seinem Tod an der Immunschwächekrankheit AIDS am 15. April 1989 als junges Dichtergenie auf dem Niveau von Samuel Beckett, Jean Cocteau und Jean Genet. Mit Patrice Chereau arbeitete er am Theater zusammen und war mit ihm privat befreundet. Koltès starb mit 41 Jahren. David Bradby schrieb 1997 in New Theater Quarterly über Koltès schamhaften Umgang mit seiner sexuellen Orientierung und der als „Geschlechtskrankheit“ eingestuften HIV-Infektion:
„In fact he tended to avoid conflict whenever possible; though homosexual, he never ΄came out΄, or aligned himself with gay liberation movements, and the fact that he was suffering from AIDS was a closely guarded secret for most of the 1980s.“[4]

Der Dealer wird bei Koltès zu einer gewissermaßen queeren Figur nicht nur des Kapitalismus, in der ebenso der schwule Stricher durchschimmert, wie er heute überlagert wird vom Echo eines Präsidenten, der auf narzisstische Weise mit „Deals“ regiert. Nicole Sandt hat einmal formuliert, dass die Sprache in Koltès‘ Stück „etwas zutiefst Erlittenes und zugleich Genießerisches in sich“ berge. Sie trage „den stillen und bitteren Humor eines Sprachlosen, eines Ausgegrenzten (der dazu verführt, Grenzen in jedem Sinne zu überschreiten) ebenso in sich wie die Sprachfülle von zutiefst Einsamen, die sich nun endlich aussprechen“.[5] Der Deal spielt sich nicht zuletzt an der Grenze von Mensch (homme) und Tier (animal) ab, wie es der Dealer eröffnend und bei Atanassow als Prolog mehrfach anspricht:
„Wenn Sie zu dieser Stunde und an diesem Ort draußen unterwegs sind, dann darum, weil Sie etwas wünschen (désirez), was Sie nicht haben, und dieses Etwas kann ich ihnen beschaffen; denn wenn ich seit längerer Zeit und für längere Zeit als Sie an diesem Ort bin, und wenn selbst diese Stunde, die Stunde des wilden Umgangs der Menschen und Tiere untereinander, mich nicht von ihm vertreibt, dann darum, weil ich dasjenige habe, womit sich der Wunsch (satisfaire le désir), der an mir vorübergeht, befriedigen lässt, und es ist wie eine Last, die ich loswerden muss an jedes Wesen, Mensch oder Tier, das an mir vorübergeht.“[6]

Wunsch und Begehren bleiben im Französischen mit désirer und le désir deutlich in der Schwebe. In Koltès‘ Französisch ist le désir weit stärker sexuell aufgeladen als der Wunsch im Deutschen. Denn le désir kann spätestens seit dem 18. Jahrhundert und Voltaire im Französischen mit der Bedeutungsvielfalt von Begehren, Verlangen, Begierde gebraucht werden. Daher lässt sich le désir sowohl auf Menschen wie Tiere anwenden. Die poetische Ambiguität und Überlappung der Worte und des Sprechens bei Bernard-Marie Koltès erlaubt gerade keine Festlegung auf einen Sinn. Es wird nicht nur von Drogendeals gesprochen. Was im Deal als ebenso pragmatisches wie kapitalistisches Geschäft gedacht wird, läuft zugleich als eine Verführungskunst an der Grenze von Mensch und Tier. Der vermeintliche Drogendealer spielt an der Grenze von Mensch und Tier auch mit der hitzigen Begierde eines Kunden beim Cruising im Park auf der Suche nach Sex in der Dunkelheit. Als Kapitalismuskritiker taugt Koltès wenig. Dafür ist nicht zuletzt die Syntax der ineinander verwobenen Sätze viel zu gleitend. Es geht hier nicht um Überhöhung, gar Pathos, vielmehr über das Gleiten von Sinn. Sie lässt sich nicht auf einen Sinn festlegen, was eine gewisse Herausforderung an die Übersetzung stellt:
„C’est pourquoi je m’approche de vous, malgré l’heure qui est celle où ordinaire l’homme et l’animal se jettent sauvagement l’un sur l’autre, je m’approche, moi, de vous, les main ouvertes et les paumes tournées vers vous, avec l’humilité de celui qui achète, avec l’humilité de celui qui propose face à celui qui achète, avec l’humilité de qui désir; …
Darum trete ich an Sie heran, trotz dieser Stunde, der Stunde, zu der für gewöhnlich Mensch und Tier sich wild aufeinander stürzen, trete ich mit offener Faust und Ihnen zugewandten Handflächen, mit der Demut des Besitzenden gegenüber dem Begehrenden; …“[7]  

Foto: Thomas Aurin

Peter Atanassow hat Titania mit Massimiliano Baß besetzt und das passt wunderbar queer. Auch Thisbe wird schon bei Shakespeare vom Handwerker Francis Flute verkörpert, der von Mohamad Koulighassi gespielt wird und der zudem wiederholt als arabisch singende Bauchtänzerin über die wildwüchsige Bühne tanzt. Welch ein Affront für Fundamentalisten! Da das gemischte Ensemble aus Freigängern, Ex-Inhaftierten, Schauspieler*innen und Berliner Bürger*innen besteht, wäre es diesmal nicht notwendig gewesen, die Frauenrolle Titania wie im Männerknast, von einem Kerl spielen zu lassen. Doch schon Shakespeare legt es auf eine „Geschlechterverwirrung“ und Queerness auf dem Theater und in der Sprache an. Er „nutzt die Aufführung der »mechanicals«, um die Geschlechterverwirrung so weit wie möglich zu treiben“, schreibt Katrin Pahl.[8] Die Rollen der Titania und der Thisbe werden ausdrücklich geschlechtlich übertragen, während es doch im ganzen Sommernachtstraum um geschlechtliche Übertragungen wie nicht zuletzt der Verwandlung der Menschen in Tiere bzw. Esel und zurück geht. Nick Bottom erhält einen Eselskopf durch Pucks Zauberei und Titania verliebt sich umso mehr in ihn. Denn Puck macht es „Laune …, die sogenannte natürliche Ordnung durcheinanderzuwürfeln, sodass hinten vorn und vorne hinten kommt: »And those things do best please me / That befall prepost’rously.«“[9]

Foto: Thomas Aurin

Was im Deutschen verloren geht, sind Shakespeares deftige Wortspiele mit den Namen Nick Bottom, Francis Flute, Tom Snout, Snug und Robin Starveling – Nick Hintern, Francis Flöte, Tom Schnauze, Eng und Robin Ausgehungert. Die Namen beziehen sich mehrdeutig auf Sex. So ist Bottom als Name und Benennung nicht nur der, welcher beim schwulen Sex unten (bottom) liegt oder einen schönen Hintern (bottom) hat, sondern er bekommt auch noch ein „ass’s head“[10], was sowohl ein Eselskopf gehört und gelesen werden kann wie als Arsch (ass). Ass kann im Englischen mehrdeutig Esel, Arsch oder Rindvieh heißen. Titania sieht also nicht nur den Esel nicht, vielmehr wird sie/er gleichfalls von einem Arsch als Objekt des Begehrens angesprochen. „Afterwitze gibt es zuhauf, wenn Titania sich in den Esel Bottom verliebt“, schreibt Pahl.[11] Und man darf davon ausgehen, dass das „rülpsende(), räudige() Publikum“[12] im Globe Theater in London dichtgedrängt jede sexuelle Doppeldeutigkeit eindeutig verstand und sich daran auf die eine oder andere Art erfreute. Die diesjährigen Juli-Temperaturen im Freilufttheater kühlen indessen jede Hitzewallung entschieden herunter, während man nun ohnehin auf mindestens 1,5m-Abstand bleiben soll.

Foto: Thomas Aurin

Die Theatermaschine, mit der die »mechanicals« spielen, indem sie als Wand oder Mond auftreten, wird ebenso als eine Wunsch- oder Begehrensmaschine inszeniert. Ständig werden Grenzen überschritten oder durchlässig gemacht. Denn wenn Snout die Wand und Robin Starveling den Mond spielen, dann überschreiten sie auch immer ihre Funktionen. Thisbe und Pyramus verkehren durch ein Loch in der Wand miteinander: „Wenn Flute als Thisbe ausruft »I kiss the wall’s hole, not your lips at all« (5, I, 200), wird das obszöne Vergnügen dadurch gesteigert, dass sich Flute hier sicherlich gerade an Snouts Hintern zu schaffen macht und Bottom demnach an Snouts Glied.“[13] Indem die Theatermaschine in der Sprache wie von selbst läuft, weil ständig von etwas gesprochen wird, was nicht dargestellt, sehr wohl aber gehört und verstanden werden kann, führen jene, die sie am Laufen halten, die »mechanicals« auf dem Theater »The Most Lamentable Comedy and Most Cruel Death of Pyramus und Thisbe« auf, das schon in seinem Titel die paradoxe Figur einer bejammernswerten Komödie und eines grausamen Orgasmus als kleinen Tod ankündigt. Eingelöst wird dann die Darstellung eines Orgasmus mit dem im Deutschen kaum übersetzbaren „Now die, die, die, die, die.“ (5, I, 301) des Priamus. Der Selbstmord des Priamus kommt insofern als sprachlicher Klimax und Tod zugleich durch eine beherzte Masturbation zur Darstellung.

Foto: Thomas Aurin

Shakespeares A Midsummer Night’s Dream ist durch die Übersetzungen ins Deutsche  als idyllischer Sommernachtstraum immer auch normalisiert und romantisiert worden. Man griff lieber zum Mückenspray, als die fiesen Mückenstiche in die Oberfläche der Zivilisation auszuhalten und trotzdem zu genießen. Oder wie Katrin Pahl in ihrer Lektüre schreibt: „Sexuelle und sexualisierte Gewalt färbt das Hochzeitsfest von Theseus und Hippolyta.“[14] Die vermeintlich klassische Athener Elite hat ihre Kehrseiten. Hermia (Maja Borm) will nicht nur nicht Demetrius (Christian Krug), sondern Lysander (Hans-Jürgen Simon) heiraten, sie wird gegen ihren Willen von ihrem Vater Theseus (Patrick Berg) an den Haaren in das Freilufttheater gezerrt. Theseus ist eine Art Prototyp des Patriarchen. Er verlangt nicht weniger, als dass Hermia mit seinem Urteil und Blick sieht:
„THESEUS
Rather your eyes must with his judgment look.
HERMIA
I do entreat your grace to pardon me.
I know not by what power I am made bold,
Nor how it may concern my modesty,
In such a presence here to plead my thoughts;
But I beseech your grace that I may know
The worst that may befall me in this case,
If I refuse to wed Demetrius.“

Foto: Thomas Aurin

Der Sommernachtstraum im Freilufttheater ist nicht zuletzt ein Stück über Gewalt und Rohheit, die sowohl in der Athener Elite des Theseus wie unter den Handwerkern als auch in der nächtlichen Zauberwelt des Elfenkönigs Oberon ausgeübt wird. Die Natur ist weniger romantisch als vielmehr gewalttätig, wenn Priamus sie anruft, als er den blutbefleckten Mantel seiner Thisbe findet. „O wherefore, Nature, didst thou lions frame? / Since lion vile hath here deflower’d my dear: / Which is–no, no–which was the fairest dame / That lived, that loved, that liked, that look’d / with cheer.“ Die Natur bringt den Löwen dazu, dass er die Geliebte nicht einfach getötet oder gegessen, vielmehr defloriert, also entjungfert hat. Oberon beschließt gar den Sommernachtstraum mit einer Anrufung und vieldeutigen Zähmung der Natur. Die Hand der Natur soll keine Gewalt mehr über die drei, geschlechtsverwirrten Paare ausüben. Was Menschen zum Beispiel mit einer Hasenscharte (hare lip) im Aussehen an die Grenze zum Tier bringen könnte, soll mit einem mehrdeutigen Zauberspruch von ihnen genommen werden. Doch wird mit der Zügelung der Natur durch den Naturgott Oberon, einer Art Faun, wirklich alles wieder gut?
„So shall all the couples three
Ever true in loving be;
And the blots of Nature’s hand
Shall not in their issue stand;
Never mole, hare lip, nor scar,
Nor mark prodigious, such as are
Despised in nativity,
Shall upon their children be.“

Foto: Thomas Aurin

Das Ensemble singt Money, Money von Fred Ebb und John Kander aus der Musicalverfilmung Cabaret von 1972, In der Nacht ist der Mensch nicht gern alleine von Willy Dehmel und Franz Grothe aus dem Musikfilm Die Frau meiner Träume mit Marika Rökk von 1944 sowie Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da von Otto Ernst Hasse und Theo Mackeben aus dem Spielfilm Tanz auf dem Vulkan von 1938. Doch genau in dieser Liederauswahl bricht in Zeiten der Covid-19-Pandemie ein Dilemma auf. Revuetheater mit Animation, verzweifelte, sexuelle Abenteuer in der Nacht, während der 2. Weltkrieg verloren geht, oder gar eine schwere Sause in der Nacht, wie sie Gustav Gründgens 1938 herbeisang, liegen jenseits dessen, was die Staatsgewalt für epidemiologisch vertretbar hält. Ob in Ballermann auf Mallorca oder auf der Hasenheide in Kreuzberg sind illegale Corona-Partys verboten und werden von der Polizei freundlich, aber mit Nachdruck aufgelöst. Die vielfältigen sexuellen Betätigungen mit Partnerwechseln unter Zauber- und/oder Drogeneinfluss des Sommernachtstraums liegen gerade gar nicht im Trend. Aber die durch umfangreichen Infektionsschutz wie Mund-Nasen-Bedeckung abgesicherte Freilufttheateraufführung muss frau/man gesehen haben.

Torsten Flüh

Gefängnistheater aufBruch
Shakespeare: Sommernachtstraum
Freilufttheater in der Jungfernheide
26., 29., 30. und 31. Juli sowie 1., 2., 5., 6., 7., 8. und 9. August 2020 jeweils um 19 Uhr


[1] Programmheft: Shakespeare: Sommernachtstraum. Berlin: aufBruch, 2020, S. (ohne Seitenzahl – 10).

[2] Siehe: Welterbesiedlungen Berlin: Grosssiedlung Siemensstadt – Ringsiedlung (Website)

[3] Deutsche Aidshilfe: HIV & Drogen: Kokain. (Website)

[4] David Bradby: Bernard-Marie Koltès: Chronology, Contexts, Connections. In: New Theatre Quaterly 49: Volume 13, Part 1. Cambridge: Cambridge University Press, 1997, S. 69.

[5] Nicole Sandt: Dealer und Kunden im Theater. Bei Koltès und Brecht. Berlin: Edition Lavallée, 2008, S. 11.

[6] In der Einsamkeit der Baumwollfelder zitiert nach ebenda S. 15-16, französisch S. 17.

[7] Ebenda S. 16 und S. 17. Eigene Übersetzung von „qui désir“ als Begehrenden statt „Wünschenden“.

[8] Katrin Pahl: Trommelschläger. Kleists camp und Shakespeares puns. In: Andrea Allerkamp, Günter Blamberger, Ingo Breuer, Barbara Gribnitz, Hannah Lotte Lunde, Martin Roussel (Hrsg.): Kleist-Jahrbuch 2017. Stuttgart: Metzler, 2017, S. 147.

[9] Ebenda.

[10] Siehe: Jeremy Hylton: The Complete Works of William Shakespeare: A Midsummer Night’s Dream. MIT 1993. (Website)

[11] Katrin Pahl: Trommelschläger … [wie Anm. 8] S. 148.

[12] Hans-Dieter Schütt in: Programmheft: Shakespeare … [wie Anm. 1] S. 3. 
Zu erinnern ist auch an die Enge in Shakespeares Theater, wie es anlässlich der Aufführungen von „Theater geht“ als „Audiowalk“ von Niels Foerster in der Brotfabrik angesprochen wurde. Siehe: Torsten Flüh: Wissenserschütterung. Zur Theaterpremiere „Theater geht“ in der Brotfabrik: In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. Juni 2020.

[13] Katrin Pahl: Trommelschläger … [wie Anm. 8] S. 148.

[14] Ebenda S. 147.

Hannah Arendts Zigarettenrauchen als Haltung

Philosophie – Zigarettenrauch – Theorie

Hannah Arendts Zigarettenrauchen als Haltung

Zur Ausstellung Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert und Hannah Arendt im Gespräch mit Günter Gaus

Auf dem Plakat zur Ausstellung Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert im Deutschen Historischen Museum raucht sie eine Zigarette. Der Zigarettenrauch kräuselt sich in Kringeln von der Zigarette. Hannah Arendt schaut nach oben. Zwischen ihren Lippen entweicht ein feiner Rauchstrahl. Das Zigarettenrauchen, das aktuell wegen des Sars-Cov-19-Virus als besonders schädlich für die Lunge gilt – eine Wissensformation –, gehörte zur Haltung der Politischen Theorie. Im Gespräch mit Günter Gaus aus der ZDF-Reihe Zur Person vom 28. Oktober 1964 rauchen beide mehrere Zigaretten auf durchaus unterschiedliche Weise. Als Titelmusik für die Reihe diente beziehungsreich Ludwig van Beethovens Musik zu einem Ritterballett. Im Nachhinein sprach Günter Gaus davon, dass es „das beste Gespräch“ gewesen sei, dass er je geführt habe.

Hannah Arendts Politische Theorie wird im Gespräch von ihr in Abgrenzung zur (männlichen) Philosophie formuliert. Günter Gaus führte zwischen dem 10. April 1963 und dem 8. März 2004 dreiundfünfzig Gespräche mit Politiker*innen, Künstler*innen und Schriftsteller*innen. Hannah Arendt war der 17. Gast und die erste Frau. 1929 geboren war für den jungen, doch nicht unerfahrenen Journalisten Gaus Hannah Arendt eine intellektuelle Herausforderung. 1963 geht es für Gaus zunächst um eine Einordnung seiner Gesprächspartnerin als Philosophin und Frau. Die geschlechtliche Einordnung misslingt Gaus nicht zuletzt mit seiner Eröffnungsfrage bei einer Art Raucher*induell. Das Zigarettenrauchen während des Interviews lässt sich in der Retrospektive als eine Art Signatur des 20. Jahrhunderts lesen. Was verrät das Rauchen über Hannah Arendt und die Politische Theorie?

Für die Ausstellung Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert ist zunächst einmal festzustellen, dass sie im Verhältnis zur John Heartfield-Ausstellung in der Akademie der Künste am Pariser Platz und zur Beethoven-Ausstellung der Staatsbibliothek im Standort Unter den Linden online rudimentär ausfällt. Hannah Arendt hätten die Möglichkeiten der Darstellung im Internet gewiss interessiert, obwohl oder auch weil sie im Zeitalter der mechanischen Schreibmaschine und des Zigarettenrauchs publizierte. Ihre Offenheit gegenüber den technischen Publikationsmöglichkeit ihrer Zeit lässt sich durchaus im legendären Gespräch mit Günter Gaus aufspüren. Auf YouTube gibt es immerhin einen ArendtKanal, dessen Ausgangsmaterial wiederum Zur Person ist. Das Gespräch ist transkribiert worden und auf rbb-online verfügbar. Doch der Zigarettenrauch lässt sich nicht transkribieren.

Rauchen und Denken gehörten nach Monika Boll als Kuratorin zusammen, weshalb das Zigarettenetui in der Ausstellung gezeigt wird. „Bei ihren unterschiedlichen Tätigkeiten durften Zigaretten nicht fehlen. In der Ausstellung ist ihr silbernes Zigarettenetui zu sehen, das sie immer in ihrer Handtasche dabei oder auf dem Schreibtisch liegen hatte. »Das war für sie wie die Aktentasche auch ein Arbeitsutensil. Das Rauchen, das Inhalieren und Ausrauchen gehört zum Fassen der Gedanken dazu«, erklärt Kuratorin Dr. Monika Boll.“[1] Wie lässt sich das Rauchen im Interview mit Günter Gaus genauer beschreiben? Auch in dem Film Hannah Arendt (2012) von Margarethe von Trotta raucht Barbara Sukowa in der Titelrolle häufig. Doch in keinem Dokument raucht sie so engagiert und politisch wie in Zur Person.

Wird der Intellekt durch das Rauchen und den Zigarettenrauch dargestellt? War rauchen eine intellektuelle Tätigkeit des 20. Jahrhundert? Nach einer Studie der University of Tel Aviv und des israelischen Krankenhauses Chaim Sheba Medical Center von 2010 haben junge Raucher „offenbar einen niedrigeren Intelligenzquotienten (IQ) als nichtrauchende Geschlechts- und Altersgenossen“ vermeldete die Ärzte Zeitung.[2] Das dürfte in einer historischen Perspektive für das 20. Jahrhundert als überraschend gelten. Denn nicht nur Günter Gaus und Hannah Arendt, deren Intelligenz unbestreitbar war, rauchten um die Mitte des 20. Jahrhunderts gesellig um die Wette. Noch zwischen 2007 und 2018 trafen sich Giovanni di Lorenzo und Helmut Schmidt „auf eine Zigarette“, um geistvolle, oft ironisch gefärbte Gespräche über das Weltgeschehen zu führen.[3] Erst recht trug sich in der Revolution der 68er unter starkem Einfluss von Zigaretten- und anderem Rauch manche systemverändernde Diskussion zu. Noch im Februar 2019 bedauerte Nils Markwardt im Philosophie Magazin der ZEIT, dass „mit dem Rauchen (…) eine philosophische Alltagsübung verloren“ gehe.[4] Markwardt führt nicht zuletzt den Philosophen des Existenzialismus, Jean-Pau Sartre, als Kronzeugen an. Die Wahrnehmung als „Weltaneignung“ eines „unerwartete(n) Ereignis(ses)“ sollte unter Rauch geschehen:
„Wie Jean-Paul Sartre bemerkte, ist sie (die Weltaneignung, T.F.) nämlich auch ein Mittel der Weltaneignung. „Jedes unerwartete Ereignis“, schrieb der französische Denker in seinem Hauptwerk Das Sein und das Nichts, „das meine Augen träfe, war, so schien mir, grundlegend verarmt, sobald ich ihm nicht mehr rauchend entgegentreten konnte. Rauchend-von-mir-aufgenommen-werden-können: diese konkrete Qualität hatte sich universell auf den Dingen ausgebreitet.“ Und jeder, der selbst einmal geraucht hat, weiß tatsächlich allzu gut, dass Bilder, Musik oder Gefühle sich während des kontemplativen Rauchens, vielleicht die konzentrierteste Form der inneren Einkehr, stärker ins Gedächtnis einbrennen können als unter bloßer Frischluftzufuhr.“[5]

Das Rauchen als Praxis der „Weltaneignung“ durch Anreicherung oder Intensivierung des unerwarteten Ereignisses wird zur Selbstvergewisserung der Existenz. Eine bessere Werbung für das Rauchen für intellektuelle Köpfe hätte es kaum geben können. „Mir raucht der Kopf“, beschreibt umgangssprachlich eine hohe Intensität und gewisse Eigendynamik des Denkens im Deutschen. Als Schriftstellerin mit dem Männerpseudonym Georges Sand karikierte sich Amantine Aurore Lucile Dupin de Francueil in einer Tintenzeichnung selbst, obwohl sie auf keinem Portrait mit einer Zigarette gemalt wurde. Rauchen war wenigstens bis in das 19. Jahrhundert eine den Männern vorbehaltene Tätigkeit. In der Novelle Carmen von Prosper Mérimée raucht Titelheldin als Arbeiterin einer andalusischen Tabakfabrik seit 1847. Doch das waren Ausnahmen. Erst im 20. Jahrhundert wird das Rauchen für die Frau zu einer verbreiten Selbstpraxis. Das Deutsche Historische Museum gibt im Bereich Die neue Frau nicht nur einen Hinweis auf „Bubikopf, Zigaretten aufgesteckt im Spitz und knielange Röcke“ als eine „neuartige() Massenkultur“, stellvertretend wird auch die Zigarettenwerbung „Leichte Regatta“ aus der Zeit um 1930 abgebildet.[6] Das 20. Jahrhundert war eines voller Zigarettenrauch. Die letzte Zigarette, die Zigarette danach, auf eine Zigarettenlänge, die Zigarettenpause etc. waren nur einige, sagen wir ruhig, biopolitische Formulierungen. Unter der Biopolitik der Gesundheitsratgeber und Gesundheitskassen droht eine ganze Zigarettenwelt zu verschwinden. Denken und miteinander sprechen wird ohne Zigarette ein anderes werden.

Wir wissen nicht, wann Hannah Arendt begann, Zigaretten zu rauchen. Wir wissen auch nicht, ob Hannah Arendt von George Sand gelesen oder gehört hatte. Vielleicht hatte sie einfach irgendwann die Selbstpraxis des Zigarettenrauchens übernommen. Rein historisch zieht das Bild der „neuen Frau“ der Zwanziger bis frühen Dreißiger Jahre als Zigarettenrauchfahne durch den Raum. Rauchte sie eine bestimmte Zigarettenmarke? Hat sie eine Sprache des Rauchens entwickelt? In Zur Person raucht sie auf sehr verschiedene Arten. Sie nimmt Haltungen ein, die man wahlweise als nonchalant oder lässig bezeichnen könnte. Phasenweise raucht sie kaum und hält die Zigarette nur zwischen Zeige- und Mittelfinger. Dann gibt es ein oder zwei hastige Züge, als müsste eine Verärgerung abgeleitet werden. Zweimal stößt sie den Zigarettenrauch durch beide Nasenlöcher aus, als setze sie zu einer Art Gegenangriff auf eine Frage von Gaus an. Sie denkt, was sie als nächstes sagen wird. Wieweit waren Gaus‘ Fragen vorher abgestimmt? Kamen seine wohlformulierten Fragen vom Zettel? Wie zündet sich Hannah Arendt eine Zigarette an, während Günter Gaus seine Frage stellt?   

Hannah Arendt hat wiederholt Gedanken zum Verhältnis von Intellektualität und Denken formuliert. Im Gespräch mit Günter Gaus spricht sie von einem Erfahrungswissen mit der Intellektualität, das sich in kürzester Zeit gleichschalten lasse. Dieser, wie sie es nennt, „Beruf“ der Intellektualität wird als eine Wissenspraxis von ihr beschrieben und verworfen. Intellektualität nutzt und benutzt Wissensformationen, um, sagen wir ruhig, ohne Nachdenken gleiches Wissen anzunehmen. Das was eine Mehrheit meint zu wissen, wird als eigenes, oft Karriere förderndes Wissen angenommen. Sie distanziert sich im höchsten Maße von Intellektualität als einem Wissen des Richtigen und Erfolgversprechenden. Denn es ging ab 1933 nicht zuletzt um intellektuelle Karrieren im Staatsapparat, Akademien und Universitäten.
„… Was damals in der Welle von Gleichschaltung, die ja ziemlich freiwillig war, jedenfalls noch nicht unter dem Druck des Terrors, vorging: Das war, als ob sich ein leerer Raum um einen bildete. Ich lebte in einem intellektuellen Milieu, ich kannte aber auch andere Menschen. Und ich konnte feststellen, daß unter den Intellektuellen die Gleichschaltung sozusagen die Regel war. Aber unter den anderen nicht. Und das hab ich nie vergessen. Ich ging aus Deutschland, beherrscht von der Vorstellung – natürlich immer etwas übertreibend –: Nie wieder! Ich rühre nie wieder irgendeine intellektuelle Geschichte an. Ich will mit dieser Gesellschaft nichts zu tun haben. Ich war natürlich nicht der Meinung, daß deutsche Juden und deutschjüdische Intellektuelle, wenn sie in einer anderen Situation gewesen wären, als in der sie waren, sich wesentlich anders verhalten hätten. Der Meinung war ich nicht. Ich war der Meinung, das hängt mit diesem Beruf, mit der Intellektualität zusammen. Ich spreche in der Vergangenheit. Ich weiß heute mehr darüber …“[7]

Schon zuvor hatte Gaus sie nach dem Bewusstwerden ihrer „intellektuellen Begabung“ statt der Intelligenz gefragt. Die „intellektuelle Begabung“ wird von Arendt mit ihrer Herkunft beantwortet, in der es eine Bibliothek gab. Arendt verwirft auch das Intellektuelle wie die Begabung. Sie habe das „nie mit der Begabung gekoppelt“. Wurde es denn zu ihrer Zeit verkoppelt? Und wenn, dann wie? Gerade in den Wissensbereichen von Intelligenz und Begabung, wie sie seit der Zeit um 1900 in der Psychologie und Pädagogik z.B. von William Stern mit „Höheren Intelligenztests zur Prüfung Jugendlicher“ in dem Buch Das psychologisch-pädagogische Verfahren der Begabtenauslese 1918 entwickelt worden waren[8], hält Hannah Arendt dagegen, weil sie auf eine Nachträglichkeit des Wissens bestehe. Erst im Nachhinein sei ihr bewusst geworden, dass eine Bibliothek wie die ihrer Familie bzw. des Großvaters keine Normalität war. Begabung und Intelligenz wurden dagegen in der Psychologie, Pädagogik und der Arbeitsorganisation bereits frühzeitig gekoppelt worden. Gaus formuliert seine Frage mit großer Höflichkeit im kursierenden Wissen um die Begabung. Doch genau diese Form des Wissens lässt Arendt nicht zu. Wie Sterns bereits schwieriger Begriff der „Begabtenauslese“ anzeigt, führt die Begabung ein Wissen um Selektionsprozesse mit sich.

Hannah Arendt präferiert für sich die Begriffe Denken und Nachdenken. „Alles Denken ist Nachdenken. Der Sache nachdenken.“[9] Das macht einen Unterschied, weil das von ihr z.B. in den Heften oder „Denktagebücher(n)“ schon im Juli 1950 bedachte Verhältnis von Handeln und Denken anders funktioniert als die (messbare) Intelligenz oder die Intellektualität. Sie knüpft dafür an Heidegger an. In den Heften notiert sie nicht ihre Gedanken, vielmehr schreibt sie ihr Nachdenken. Sie exzerpiert kein Wissen, um es festzuhalten. Vielmehr wird das Wissen auch mit einem poetischen Zitat konterkariert.
„Handeln und Denken: Heidegger kann nur meinen, dass es auf der Selbigkeit von Seyn und Denken beruht, und zwar dann, wenn Denken als das Sein des Menschen verstanden wird im Sinne des Seyns von Sein. Denken wäre dann das im Menschen zum Handeln befreite Seyn. Denken ist hier weder Spekulation noch Kontemplation noch »cogitare«. Es ist eher die vollendete Konzentration oder das, wodurch und worin sich alle anderen »Fähigkeiten« konzentrieren, die absolute Wachheit.
»Why did I wake since waking I shall never sleep again?«“[10]

Dass das Denken, das sei, „wodurch und worin sich alle anderen »Fähigkeiten« konzentrieren“, gibt einen Wink auf das Andenken. Angedacht wird von Hannah Arendt ein ebenso performatives wie praxeologisches Denken. Beim Schreibendenken stellt sich „die absolute Wachheit“ ein, die sogleich das englischsprachige Zitat vom Erwachen folgen lässt – „»Why did I wake since waking I shall never sleep again?«“ -. „Wachheit“ wird zum im Englischen mehrdeutigen „wake“, das daran erinnert, dass man niemals wieder wird schlafen können, wenn man einmal erwacht ist. „Denken als das Sein des Menschen“ spricht die Existenz an. Und es ist im Gespräch mit Günter Gaus als werde diese Art des Denken (mit Zigarette) vorgeführt. Günter Gaus bläst in zwei Einstellungen und Passagen den Zigarettenrauch gleich einem Strahl an Hannah Arendt vorbei. Sollte man das ein zielgerichtetes, telologisches Denken nennen? Doch der Rauchstrahl erfolgt nicht im Voraus, sondern quasi nachträglich. Sie macht das nie. In einigen Momenten könnte man daran denken, dass nicht sie die Zigarette hält, sondern sie sich an dieser festhält.

Die geschlechtliche Ordnung – Mann/Frau, Philosophie/Theorie – wird durch das Rauchen und die Gesten, durch die Performance von Hannah Arendt angegriffen. Sie benutzt wiederholt den Zeigefinger, um eine Pointe zu setzen, oder schaut auf ihre Fingernägel der rechten Hand, um widersprüchliche Erinnerungen anzudeuten. Der Blick auf die Fingernägel unterstreicht ein individuelles Erfahrungswissen, das mit einem Regelverstoß pointiert wird. Denn sie erzählt von der Emigration von Jugendlichen aus Deutschland über Frankreich nach Palästina Anfang der dreißiger Jahre. Doch um das geschlechtliche Wissen von der Nationalität zu unterlaufen, „schmuggelte“ Arendt polnische Kinder unter die deutschen. Was als kecke Anekdote formuliert und mit einer eigentümlichen Geste vorgeführt wird, gibt einen Wink auf eine theoretisch durchdachte Haltung zu Ordnungs- und Geschlechtermodellen. Es ist auch eine pointierte Herausforderung an das Denken und Nachdenken der Zuhörer*innen wie Zuschauer*innen, von denen Arendt sich nicht nur durch die mehr oder weniger verfehlenden Fragen des Journalisten Gaus ein Bild gemacht hat.
„Aus einer sehr frühen Zeit; ich habe damals einen sehr großen Respekt davor gehabt. Die Kinder empfingen eine Berufsausbildung, Umschulausbildung. Hier und da habe ich auch polnische Kinder untergeschmuggelt. Es war eine reguläre Sozialarbeit, Erziehungsarbeit.“[11]  

Das Gespräch ist nicht nur, weil die Kameras sich auf Arendt konzentrieren, eine große Performance. Aufgeführt wird kein Lebenslauf oder eine Geselligkeit, sondern ein Denken, das in Deutschland und im Deutschen Fernsehen bzw. dem Zweiten Deutschen Fernsehen aus Mainz wenigstens einzigartig, wenn nicht konträr war. Ludwig Erhard war am 16. Oktober nach der Ära Adenauer Bundeskanzler geworden. Erst am 10. April war in Lugano der ehemalige SS-Obersturmbannführer und KZ-Mitarbeiter von Adolf Eichmann Erich Rajakowitsch verhaftet worden. Das Wiener Landgericht verurteilte ihn 1965 zu einer skandalös geringen Haftstrafe von zweieinhalb Jahren. Der Bericht vom Eichmann Prozess in Jerusalem 1961, den Arndt geschrieben hatte, hatte zu heftigen Angriffen auf sie geführt, die sie noch immer sehr erregen. Die Frage nach den Reaktionen auf den Bericht vom Eichmann Prozess ruft bei Arndt heftige Reaktionen hervor, die sie zur Zigarette greifen und das Feuerzeug mit beiden Händen halten lässt, während sie die Zigarette mit einem tiefen Zug anzündet.

Sind Gefühle Denken? Wir wissen nicht, was Hannah Arendt fühlt und denkt, als sie im Kontext der Eichmann-Fragen zu einer weiteren Zigarette greift. In dem, was sie im Fernsehstudio mit Scheinwerfern von der Decke und Fernsehkameras sagt, bleibt sie kontrolliert, schlagfertig und politisch eigensinnig. Die beiden zeitgenössischen Wohnzimmersessel mit Synthetikbezug und schmalen, geschwungenen Armlehnen inszenieren eine funktionale Intimität und Behaglichkeit, die es nicht gibt. Später wird Arndt darauf Bezug nehmen, dass ihr Lehrer und Doktorvater Karl Jaspers vor dem Fernsehn sitzen könnte. Sie hat durchaus ein Gespür für die Medialität, in die sie sich mit dem Gespräch begeben hat. Denn bereits im März 1964 hatte sie mit Rolf Hochhuth für das Columbia Broadcasting System und das Creative Arts Television über dessen Stück Der Stellvertreter/The Deputy zum ersten Mal ein Gespräch im Fernsehen geführt. Sie war die Interviewerin und rauchte nicht. Dass Karl Jaspers sie im Fernsehn sehen und hören könnte, ist ihr auch ein wenig peinlich, obwohl erwünscht. – „Wo Jaspers hinkommt und spricht – ich hoffe er hört diese Sendung“[12] – Eine Peinlichkeit, die am Schluss nicht zuletzt an die Medialität und die Performativität des Sprechens erinnern soll und gleichzeitig daran erinnert, dass Arendt und Gaus eben nicht in einem Wohnzimmer zu zweit sitzen. Vielmehr möchte Gaus im Fernsehn den Skandal um das Buch Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht der Banalität des Bösen, das im Piper-Verlag unter seinem Verlagsleiter, dem ehemaligen, zweifellos unerkannten SS-Obersturmbannführer aus der Abteilung Kultur und Kunst im verbrecherischen Reichssicherheitshauptamt Hans Rößner, erschienen und ab dem 17. September 1964 gewiss auf der 16. Internationalen Frankfurter Buchmesse präsentiert worden war, durch einige Informationen über dessen Autorin im Gespräch rahmen. Im Studio befinden sich mehrere Menschen, die z.B. das Glas mit Wasser nachschenken. Hannah Arendt erfuhr nie, mit wem sie es als Verlagsleiter zu tun hatte. Sie winkt im Gespräch der unsichtbaren Person freundlich zu. Denken und Rauchen werden durch ein Glas ergänzt. Da Günter Gaus freundlich und ruhig seine Fragen mit einem Hannoverischen Akzent auf St stellt, entsteht häufig eine Schere zwischen der journalistischen Schärfe seiner Fragen und der gelassenen Wohnzimmeratmosphäre. Doch Hannah Arendt macht das journalistische Ereignis zu einem kleinen Colloquium mit Gaus und den Deutschen, wenigstens den Zuschauern des ZDF.

Die Aufzeichnung von Zur Person wird heute oft in Einzelteile thematisch zerschnitten. Doch Hannah Arendts Antworten formulieren auf unterschiedlichen Ebenen kein abgeschlossenes Wissen, mit dem man sozusagen nach Hause gehen könnte. Sie ist nicht zuletzt rhetorisch geübt, so dass sie ein gewisses Repertoire rhetorischer Figuren abrufen kann. Sie verweist nicht umsonst auf „einen ziemlich großen Teil deutscher Gedichte“, der sich „immer irgendwie im Hinterkopf“ bewege. Was beiläufig als Illustration ihres Verhältnisses zur deutschen Sprache formuliert wird, gibt zugleich einen Wink auf das Denken und wie es von Arndt gesagt wird. Ihre Formulierungen haben immer auch ein poetologisches Reservoir. Und wo wäre die Sprache vieldeutiger als in der Poesie? Das vereitelt indessen eine begriffliche Festlegung. Da Arndt ausgerechnet bei dieser Antwort auf eine englische Redewendung – „in the back of my mind“ – verfällt, gelten die Gedichte auch für ihr Schreiben in Englisch.
„Im Deutschen kenne ich einen ziemlich großen Teil deutscher Gedichte auswendig. Die bewegen sich da immer irgendwie im Hinterkopf – in the back of my mind –; das ist natürlich nie wieder zu erreichen. Im Deutschen erlaube ich mir Dinge, die ich mir im Englischen nicht erlauben würde. Das heißt, manchmal erlaube ich sie mir jetzt auch schon im Englischen, weil ich halt frech geworden bin, aber im allgemeinen habe ich diese Distanz behalten. Die deutsche Sprache jedenfalls ist das Wesentliche, was geblieben ist, und was ich auch bewußt immer gehalten habe.“[13]

Hannah Arendt verlässt sich auf keinen akademischen Konsens, vielmehr ist sie „frech geworden“ und bringt ihm wie der Intellektualität allergrößte Kritik durch rhetorische Figuren entgegen. Das Frechsein hat Folgen für den Konsens als vorherrschenden Diskurs. Sie gebraucht Begriffe wie schmuggeln, Pappenstiel, Propagandagewäsch oder frech, die in keinen akademischen Rahmen oder Akademismus passen. Sie hält die Zigaretten auf verschiedene Arten, so dass sie sie sogar einmal zwischen den Spitzen von Daumen und Zeigefinger an die Lippen führt. Sie pafft. Sie inhaliert. Sie schnaubt. Sie saugt. Sie schmaucht und zieht. Das sind nicht unbedingt gebildete, prätentiöse Arten des Rauchens. Sie geben ihr schon fast einen proletarischen, allemal aber subversiven Hauch. Während sich die deutschen Akademikerfrauen auf die Lockenwickler und Dauerwelle sozusagen eingeschossen haben, ist ihre Frisur schwer zu beschreiben. Sie trägt für den großen Auftritt im Fernsehen gerade keine ondulierte Frisur wie Barbara Sukowa als Hannah Arendt. Die fast schon helmartige Haartracht kleidet eine eigensinnige Kämpferin mit Haltung in einem Kostüm mit Bluse.

Torsten Flüh   

Deutsches Historisches Museum
Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert
Pei-Bau
bis 18. Oktober 2020
Sonntag bis Mittwoch 10:00 bis 18:00 Uhr


[1] Siehe: Heike Mund: Rauchen und Denken gehörten für Hannah Arendt zusammen: Ihr Zigarettenetui. In: Deutsche Welle 11.05.2020.

[2] Suchtkrankheiten: Zusammenhang zwischen Rauchen und IQ. In: ÄrzteZeitung 07.04.2010, 15:17 Uhr.

[3] Siehe: Serie Auf eine Zigarette. In: Die Zeit.

[4] Nils Markwardt: Die letzte Zigarette. In: Die Zeit 11. Februar 2019, 20:44 Uhr.

[5] Ebenda.

[6] Siehe: Die neue Frau. In: Lemo (Lebendiges Museum Online).

[7] Zitiert nach: Zur Person. Günter Gaus im Gespräch: Arendt, Hannah: In: rbb online.

[8] William Stern: Höhere Intelligenztests zur Prüfung Jugendlicher. In: ders.: Das psychologisch-pädagogische Verfahren der Begabtenauslese. Leipzig: Quelle & Meyer, 1918.

[9] Zur Person: … [wie Anm. 7].

[10] Hannah Arendt: Denktagebuch. Herausgegeben von Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann. München/Berlin/Zürich: Piper, 2016, S. 12.

[11] Zur Person: … [wie Anm. 7].

[12] Hannah Arendt betont das „spricht“ mit scharfem spr nach norddeutscher, um nicht zu sagen, Oldenburger Aussprache. In der Transkription ist der Einschub nicht enthalten. Siehe Video.

[13] Zur Peson: … [wie Anm. 7]

Beethovens göttlichste Komposition

Brief – Biographie – Beethoven

Beethovens göttlichste Komposition

Zur Ausstellung der Beethoven-Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin

»Diesen Kuß | der ganzen | Welt!« steht nach Art mittelalterlicher Spruchbänder unterteilt auf den drei Fahnen im Wind über dem Portal der Staatsbibliothek, Unter den Linden 8. Die Ausstellung der Beethoven-Sammlung des Hauses ist ein grandioses Fest im seit 2005 in mehreren Bauabschnitten nunmehr abschließend restaurierten Stammhaus der Staatsbibliothek zu Berlin. Im Humboldt-Saal wird frontal auf ganzer Breite der Schlusschor der 9. Sinfonie von Ludwig van Beethoven gefeiert. Besucher*innen sitzen unter Kopfhörern auf mit wie Notenpapier eingeschlagenen Hockern und leise klingt in die Stille des gedämpft beleuchteten Ausstellungsraums: „Diesen Kuss der ganzen Welt!“ Das gedimmte Licht, die ganze Lichtregie, schützt die ausgestellten, hoch lichtempfindlichen Autographen von des Komponisten Hand. – Die 9. Sinfonie von Ludwig van Beethoven mit großem Orchester und großem Chor darf weltweit derzeit nicht aufgeführt werden.

Die Ausstellung anlässlich des 250. Geburtstags Ludwig van Beethovens im Dezember 2020 wird stärker von dem sanften Ton der Klimaanlage zur konservatorischen Sicherung der einzigartigen, überwiegend mit Bleistift geschriebenen Handschriften untermalt. Bisweilen ein Flüstern, ein Schlurfen, in der Audioecke leise ein Fetzen Musik. Wann Ludwig van Beethoven geboren wurde, ist nicht genau bekannt. Getauft wurde er am 17. Dezember 1770 in Bonn am Rhein. Seit 1800 ertaubte zunehmend einer der größten Komponisten der Musikgeschichte, so dass er in sogenannten „Konversationsheften“ mit seinem Umfeld kommunizierte. Die Menschen aus seinem Umfeld schrieben ihre Anliegen nieder, woraufhin er meistens mündlich antwortete. Die in der Beethoven-Sammlung erhaltenen „Konversationshefte“ wurden wie alle anderen Handschriften nun „vollständig neu katalogisiert und komplett digitalisiert“.[1] Sie stellen vielleicht die größte Nähe zu Beethoven wie seinen Kompositionspraktiken her und sind materiell ausnahmsweise in der Ausstellung zu sehen.    

Gleich vorweg: Die einzigartige, von Friederike Heinze, Martina Rebmann und Nancy Tanneberg kuratierte Ausstellung hätte vom 11. März bis 30. April 2020 gezeigt werden sollen. Wir wissen, dass das unmöglich wurde. Seit 25. Juni ist die Ausstellung nun bis 24. Juli 2020 bei üblichen Hygieneregeln zur Covid-19-Pandemie mit einem Zeitfenster von 60 Minuten zu sehen. Das ist fatal. Die 60 Minuten reichten dem Berichterstatter ganz und gar nicht. Die Ausstellung ist zu umfangreich und die Exponate sind zu außergewöhnlich, um sich in die Sammlung und Ludwig van Beethovens Produktion, seinem Schaffensprozess, in 60 Minuten selbst bei digitaler Vorbereitung mit dem Blog der Staatsbibliothek zu Berlin hineinzudenken. Der Begleitband aus dem Michael Imhof Verlag ist aufwendig und kenntnisreich mit wunderbaren Beiträgen ediert, aber kein Ersatz für einen Ausstellungsbesuch. Katalog und digitaler Auftritt ebenso wie die einzelnen digitalisierten, jetzt Open Access zugängliche Sammlung z.B. mit dem sogenannten Brief an die „Unsterbliche Geliebte“ können nur eine Ergänzung zur Ausstellung sein. Es wäre sehr zu wünschen, dass die Ausstellung verlängert wird.

Beethoven-Biographien gibt es viele. Doch die Lebendmaske, die Brille mit erheblichen Dioptrien, der Spazierstock und all die Handschriften sind dann noch einmal etwas ganz Anderes. Walter Benjamin hätte es womöglich Aura genannt. Die Ausstellung birst fast vor Aura. Für sein Antrittskonzert als Chefdirigent bei den Berliner Philharmonikern am 23. August 2019 in der Philharmonie hatte sich Kirill Petrenko das Autograph der 9. Sinfonie in der Musikabteilung der Staatsbibliothek vorlegen lassen, um sich einzustimmen. Wenn die Biographienschreiber überhaupt bis auf die Ebene der Autographen in der Staatsbibliothek zu Berlin nachforschten, dann befinden wir uns mit den Skizzen, Notblättern, ganzen Opernfassungen des Fidelio, der Sinfonien und Konzerte sowie den „Konversationsheften“ am Nullpunkt der Biographie- und Musik-Literatur. Der englische Dirigent, Musikwissenschaftler, Herausgeber und Beethoven-Experte Jonathan Del Mar berichtet in einer „persönliche(n) Sichtweise“ wie er z. B. im „Autograph des Kaiserkonzerts … mehrere … Stellen“ entdeckte, „an denen Beethoven offenbar beiläufig etwas niederschrieb und die einen Einblick in Beethovens damalige Sorgen geben (Östreich löhne Napoleon auf Blatt 74r) oder seine Gedanken hinsichtlich des Musikcharakters zeigen (dämmernd auf Blatt 75r und nachdrückich auf Blatt 87r)“.[2]  

In den Autographen schauen wir Beethoven beim Denken über die Schulter, lässt sich nicht nur und nicht erst mit Jonathan Del Mars „Sichtweise“ sagen. Dann ist es noch immer eine Frage, wie die „Stellen“ zu lesen und zu kontextualisieren sind. Doch vielleicht gibt die Eigenart „offenbar beiläufig etwas nieder(zuschreiben)“ einen Wink auf ein bisweilen wildes Denken, das zu Papier gebracht werden wollte. Del Mar entdeckte mit Clemens Brenneis auch in einer Skizze „ein paar Takte, die eigentlich für die Partitur vorgesehen waren“. Könnte eine solche Beobachtung für eine Art Montageverfahren im Beethovenschen Denken und Komponieren sprechen?
„Bei genauerer Untersuchung konnte nun festgestellt werden, dass es sich um den Konzertschluss, also die letzten fünf Takte der Ouvertüre zu Die Geschöpfe des Prometheus handelte, obwohl diese Seite als eine „Skizze für ein Orchesterwerk, vielleicht der erste Satz der Sinfonie Nr. 1?“ katalogisiert worden war! Eine tolle Entdeckung, obwohl wir später herausfanden, dass Richard Kramer dies bereits zuvor herausgefunden hatte.“[3]

Der französische Schriftsteller und Musikkritiker Romain Rolland gehört nach Beethovens Sekretär und ersten Biographen Anton Schindler zu den einflussreichsten. Bereits Schindler thematisiert 1840 in der Einleitung seiner Biographie von Ludwig van Beethoven das Genre auf seine Zuverlässigkeit, wenn er von einem Gespräch mit Beethoven schreibt, dass jener gesagt habe, „dass es ganz gewiss zu vermuthen sey, dass viele geschäftige Federn sich auch nach seinem Dahinscheiden beeilen würden, die Welt mit einer Unzahl von Anekdoten und Histörchen über ihn zu unterhalten, die aller Wahrheit ermangeln“.[4] Dabei gilt nun gerade dieser als Quelle der erhaltenen „Konversationshefte“ und als postumer Finder des „Briefes an die Unsterbliche Geliebte“ in einem Geheimfach von Beethovens Schreibtisch. So ist es denn auch Schindler, der in seiner Biographie zuerst einen Kontext von Komposition, „musikalische(r) Idee“, Gefühlen, Krankheit und Brief herstellt, um einen „Centralpunkt“ des künstlerischen Schaffens festzulegen.
„Nachdem diese unheilvollen Stürme ausgetobt hatten und das Gemüth unsers Beethoven wieder etwas beruhigt war, schrieb er die vierte Sinphonie in B-dur, der Form nach unstreitig die abgerundetste von allen andern, und so folgte auf  Sturm und Gewitter plötzlich der heiterste Sonnenschein. So schnell wir solche Uebergänge in der Natur beobachten, eben so schnell war der Uebergang seiner Gemüthsbewegungen, woraus nicht wenige Kontraste erfolgten. Eine musikalische Idee z.B., die sich seiner Phantasie bemächtigte, konnte plötzlich alle Wolken von seiner Stirn verscheuchen, und Alles um ihn herum vergessen machen, nur jenen Centralpunkt nicht, in dem alle seine Gefühle zusammenliefen. Das war die Liebe zu seiner J u l i a, die damals den höchsten Grad erreicht, und sich aller seiner Ideen bemächtigt zu haben schien. Im Sommer von 1806 machte er, wegen des immer mehr zunehmenden Ohrenübels, eine Reise nach einem ungarischen Bade. Von dort schreibt er an seine Geliebte folgende drei interessante Briefe, die ich in seiner Handschrift besitze.“[5]  

Romain Rolland, der 1915 den Literaturnobelpreis erhielt, nachdem er 1903 Vie de Beethoven in den Cahiers de la quinzaine veröffentlicht hatte, fand in der Verlobung Threse von Brunswicks mit Ludwig van Beethoven im Mai 1806 eine gänzlich andere Kontextualisierung der „drei interessante(n) Briefe“, die niemals abgeschickt worden waren. Für den Pazifisten Rolland wird der Frieden in Beethovens Leben und Liebesleben zum Ursprung von Kompositionen und Referenz der „Appassionata“, Klaviersonate Nr. 23. Doch der Titel „Die Leidenschaftliche“ wurde erst postum 1838 durch den Hamburger Verleger Cranz als gewiss verkaufsfördernd der Klaviersonate hinzugefügt.
„Dieser Frieden konnte kein dauernder sein, wenn auch der wohltuende Einfluß der Liebe bis ins Jahr 1810 anhielt. Beethoven verdankt ihm ohne Zweifel die Herrschaft über sich selbst, durch die er seinem Genius die herrlichsten Früchte abrang: die klassische Tragödie der C-Moll-Symphonie und den göttlichen Traum eines Sommertages „Die Pastorale“ (1808), 1807 erscheint die „Appassionata“, zu der ihn Shakespeares „Sturm“1) (Gespräch mit Schindler) inspirierte und in der er seine bedeutendste Sonate sah. Sie ist Theresens Bruder gewidmet, ihr selbst, 1809, die träumerisch-phantastische Sonate op. 78.
In einem undatierten²) (Scheint aber in Korompa, bei den Brunswick geschrieben worden zu sein.), an die „unsterbliche Geliebte“ gerichteten Brief, tritt nicht weniger als in der Appassionata die Stärke seiner Leidenschaft zu Tage.“[6]

Was als „Ohrenübel“ oder „Leiden“ fortwährend umschrieben wird, erschwerte mit Sicherheit die Kommunikation mit der Umwelt entschieden, worauf die „Konversationshefte“ hinweisen und zugleich hinwegtäuschen mögen. Die zunehmende Taubheit war, wie Ludwig van Beethoven an seinen Kurländischen Freund Carl Amenda am 1. Juni 18000 schreibt, nicht nur ein Verlust für das Hören von Musik, vielmehr war sie von so großer Peinlichkeit, dass er ihn bat, sie „als ein großes Geheimiß aufzubewahren und Niemand, wer es auch sei, anzuvertrauen“.[7] Der Brief an Carl Amenda wird in der Ausstellung neben dem an die „Unsterbliche Geliebte“ gezeigt. Das ist frappierend. Denn lexikalisch ist der Brief an Amenda kaum weniger leidenschaftlich als der an die unauffindbare Adressatin des anderen Briefes. Während die sogenannten drei Briefe an die derart inspirierende Geliebte von Beethovens Hand stammen, handelt es sich bei dem Amenda-Brief um eine „Abschrift“ durch Anton Schindler. Wer schreibt wem? Und wie werden die Leidenschaften verteilt?
„Mein lieber, mein guter Amenda, mein herzlicher Freund, mit inniger Rührung, mit gemischtem Schmerz und Vergnügen habe ich Deinen letzten Brief erhalten und gelesen. – Womit soll ich Deine Treue, Deine Anhänglichkeit an mich vergleichen, o das ist recht schön, daß Du mir immer so gut geblieben, ja ich weiß Dich auch mir vor allen bewährt und herauszuheben, Du bist kein Wiener Freund, nein Du bist einer von denen, wie sie mein vaterländerischer Boden hervorzubringen pflegt, wie oft wünsche ich Dich bei mir, denn Dein Beethoven lebt sehr unglücklich: wisse, daß mir der edelste Theil, mein Gehör, sehr abgenommen hat, und ich verschwieg’s, nun ist es immer ärger geworden, ob es wird wieder können geheilt werden, das steht noch zu erwarten, es soll von den Umständen meines Unterleibs herrühren; was nun den betrifft, so bin ich auch fast ganz hergestellt, ob nun auch das Gehör besser werden wird, das hoffe ich zwar, aber schwerlich, solche Krankheiten sind die unheilbarsten.“[8]

Ludwig van Beethoven ist nicht als herausragender Briefeschreiber in die Literatur-, sondern die Musik-Literaturgeschichte eingegangen. Doch der Brief an die „Unsterbliche Geliebte“ und nicht der an Amenda mit dem Hinweis auf den „Unterleib()“ oder Genitalien und einer möglichen Infektionskrankheit ist in die Biographie-Literatur, als ein „Liebesbrief als Welträtsel“ in eine „Geschichte des Liebesbriefs“[9] und die historische Forschung eingegangen. Wer die wie ein Name großgeschriebene „Unsterbliche Geliebte“ war, wird seit der Auffindung des eher dreiteiligen Briefes diskutiert und erforscht. Schnell hatte sich Anton Schindler mit „J u l i a“ bzw. Julie („Giulietta“) Guicciardi als nicht sehr gut informiert erwiesen. Eine gewisse Shakespeare-Begeisterung könnte bei Julia mit Beethoven als Romeo ausgerechnet für Schindlers „wahre“ Biographie Pate gestanden haben. Auch Romain Rollands Therese von Brunsvik hielt den Nachforschungen nicht Stand. Dieter Hildebrandt kommt auf „mehr als ein Dutzend Damen der besseren Gesellschaft“[10], um zum Schluss zu kommen, dass „Beethoven (die Ängste) … nur auskomponieren konnte“, für die „Franz Kafka 100 Jahre später und mehr als zehn Jahre lang eine neue Sprache“ gefunden habe.[11]

Die Suche nach der Adressatin ist nicht zuletzt eine Ursprungsfrage für die Literatur und Musik. Klaus Martin Kopitz nimmt im Begleitband den Brief zum Anlass für eine Abgleichung von „Fakten und Fiktionen“. Er konzentriert sich auf die vermeintlichen Fakten im Brief, die eine Datierung auf den 6. Juli 1812 ermöglichen, obwohl das Datum nur auf den „6ten Juli Morgends . _“ lautet.[12] Das Jahr in der Handschrift mit einem „. _“ anzugeben und auszulassen, könnte auch gelesen werden. Aber wie? Hatte Beethoven das Jahr vergessen? Warum die Platzhalter Punkt und Unterstrich für das Jahr? Für einen Komponisten sind Punkt und Unterstrich mehr oder weniger geläufige Kompositionszeichen. Sie gehen in die Richtung einer Abschließung und einer Zäsur oder Pause. Es lässt an eine Rhythmisierung denken. Jedenfalls hätte man sich fragen können, was die merkwürdige Interpunktion anzeigen soll, bevor man in der Forschung das Jahr 1812 als eines von vieren zu Beethovens Lebzeiten ermittelte, an dem ein 6. Juli auf einen Montag fiel. Gleichviel, der 6. Juli 1812 passt zu einem Bericht aus der deutschsprachigen Prager Oberpostamts-Zeitung, den Kopitz in der Forschung zum Brief erstmals präsentiert.
„Das hier am 4. ausgebrochene heftige Gewitter scheint sich weit verbreitet zu haben. Von mehreren Orten gehen Nachrichten von sehr starken Regengüssen ein; und hier haben wir seitdem immer trübe regnerische, kühle Witterung.“[13]

Klimawandel hin oder her: das Prager Wetter von 1812 erinnert an Berlin 2020. Die Schilderung des „Unwetter(s)“ bietet für Kopitz Gelegenheit, die Fahrt einer „Postkutsche, die zum Kurort Teplitz, einem Treffpunkt der eleganten Welt, unterwegs ist“, zu dramatisieren.[14] Er bestätigt kenntnisreich, dass die „Unsterbliche Geliebte“ als „Antonie Brentano geb. Edle von Birckenstock (1780-1869) …, ab 1798 Gattin des Frankfurter Kaufmanns Franz Brentano (1765-1844)“ zu identifizieren sei.[15] Doch noch bevor er sich auf die verheiratete Antonie Brentano festlegt, kommt es 1812(!) zu „Gesprächen“, die schon deshalb aufhören lassen, weil das Gehör Beethovens seit 1800 gewiss nicht besser geworden sein wird. Wie werden also die Gespräche am 31. Juli und folgende Tage in schwierigen Liebessachen abgelaufen sein?
„Am 31. Juli wird er dort polizeilich registriert und bezieht ein Zimmer im Gasthaus „Zum Auge Gottes“, auf der Wiese 311, das später zum „Grandhotel Pupp“ umgebaut und erweitert wurde, bekannt aus mehreren Filmen, etwa dem James-Bond-Streifen Casino Royale (2006). Es ist anzunehmen, dass es dort zu Gesprächen kommt. Bekannt ist nur das Ergebnis: Beethoven bleibt den Rest seines Lebens allein.“[16]

Gut geschrieben und gut recherchiert, scheint sich das schwierige Enigma der „Unsterblichen Geliebten“ gelüfte zu sein. Psychologie und Handschrift lassen sich bekanntlich seit Johann Caspar Lavaters Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe (1775-1778) aufeinander beziehen. Und der Genie-Kopf Ludwig van Beethoven wie er gezeichnet, gemalt und als Büste transformiert worden ist, dürfte gewiss den Lavaterschen Schemata entsprechen. Die Büste, wie sie vor der Ausstellung aufgestellt ist, dürfte postum nach Jacob Daniel Burgschiets Beethoven Denkmal von 1849 in Bonn sozusagen im Modus klassizistischer Denkmäler transformiert sein. Gegenüber der Lithografie von A. Hatzfeld von nach 1815 machte das Genie postum bei C. Fischer 1843 eine gewisse Verschönerungskur durch, wie sich in der Ausstellung und im Blog anhand der Porträts recherchieren lässt. Unglückerweise sind die Folgen und Auswirkungen der Gehörlosigkeit, wenn wir das Jahr 1812 gelten lassen wollen, nicht recht in Betracht gezogen worden. Starke Schwerhörigkeit und chronische Erkrankungen wirken sich durchaus auf Liebesdinge aus. Gar komplizierte „Gespräche“ über Sehnsüchte und Verzicht mit dem gewiss nicht entzückten Ehemann Franz von Brentano zu führen, dürfte selbst bei einer gewissen Freizügigkeit kaum möglich gewesen sein. Musik schreiben wird für Beethoven auch zu einem Rückzugsort, während das Musikmachen mit anderen wie Carl Amenda bereits stark eingeschränkt, wenn nicht unmöglich geworden ist. Wie sich also dem „Welträtsel“ des Briefes nähern?

Lesen wird oft als Übertragung praktiziert. Beethoven hat viel geschrieben und viele Notenblätter mit Widmungen versehen. Die Widmungen ihrerseits wurden in biographische Beziehungen umgeschrieben, als müsse zuerst eine innige Beziehung bestanden haben, damit daraufhin das Stück komponiert werden konnte. Die Widmung kann allerdings auch allererst eine Beziehung herstellen, wo vorher keine war. Gern und in der Ausstellung wird der Bonmot zitiert, Beethoven habe lieber 1.000 Noten komponiert als Worte geschrieben. Womöglich misslangen ihm auch so manche Wortbeiträge, wenn er sich nicht gerade in einem Brief wie dem von Anton Schindler abgeschriebenen bemühte. Wer nicht richtig hört in einem Gespräch, wird erwiesenermaßen umgehend für bekloppt gehalten. Fragen Sie nie einer vernuschelten Frage nach. Jeder Sprecher wird sich in seiner tiefsten Ehre gekränkt fühlen und zum Beispiel sprichwörtlich fragen: „Kannst Du schlecht hören?“ Ein Katastrophe, erst recht für einen Jahrhundertkomponisten! Bei aller Leidenschaft winkt schon in der Anrede mit „mein Ich“ eine rhetorische Figur des Misslingens herüber, wenn sich die Adressantin wünscht, angesprochen zu werden. Statt angesprochen zu werden, wird sie buchstäblich vom Ich er- oder besetzt.
„Mein Engel, mein alles, mein Ich. – nur einige Worte heute, und zwar mit Bleistift (mit deinem) – erst bis morgen ist meine Wohnung sicher bestimmt, welcher Nichtswürdiger Zeitverderb in d. g. – warum dieser tiefe Gram, wo die Nothwendigkeit spricht – Kann unsre Liebe anders bestehn als durch Aufopferungen, durch nicht alles verlangen. Kannst du es ändern, daß du nicht ganz mein, ich nicht ganz dein bin – Ach Gott blick in die schöne Natur und beruhige dein Gemüth über das müßende – die Liebe fordert alles und ganz mit Recht, so ist es mir mit dir, dir mit mir – nur vergißt du so leicht, daß ich für mich und für dich leben muß, wären wir ganz vereinigt, du würdest dieses schmerzliche eben so wenig als ich empfinden – meine Reise war schrecklich ich kam erst Morgens 4 Uhr gestern hier an, […] – nun geschwind zum innern vom äußern, wir werden unß wohl bald sehn“[17]

Die Gedankenstriche, Zäsuren, Abbrüche und Einschübe zerreißen und verbinden den Text zugleich. Statt abschließenden Punkten lassen Kommata den Redefluss nicht abbrechen. „(mit deinem)“ ist zwischen den Zeilen eher hinter als vor dem Bleistiftstrich eingefügt. Bezieht sich die nachträgliche Ergänzung dann gar nicht auf den „Bleistift“? In der Handschrift ist das Vor- oder Hinter-dem-Gedankenstrich durch einen geschwungenen Strich bis unter die reguläre Zeile schlecht dem „Bleistift“ zuzuschlagen. Wer schreibt, gerät mit der Adressat*in in ein gewisse Konfusion? Und überhaupt erfolgt die geschlechtliche Zuordnung erst nachträglich im dritten Teil des Briefes. In den ersten beiden Teilen bleibt geschlechtlich völlig offen, an wen der Brief, der trotz Lösung der wiederholt drängenden Postfrage, nicht abgeschickt, nicht aufgegeben wird. Die geschlechtliche Offenheit wird nicht nur mit dem „mein Ich“ angeschrieben – seltsames Ich aus zweien -, vielmehr ist der „Engel“ grammatisch männlich und nicht weiblich. Bisweilen kann er beide Geschlechtsmerkmale tragen. Doch in der wilden Vertauschung und Spiegelung von ich und du spielt das Geschlecht keine Rolle für die Vereinigung – „wir ganz vereinigt“ – keine Rolle. Erst als das Ich „im Bette“ sozusagen in seiner geschlechtlichen Rolle am nächsten Morgen zu sich kommt, taucht das Geschlecht der Geliebten auf:
„Guten Morgen am 7ten Juli –
schon im Bette drängen sich die Ideen zu dir meine Unsterbliche Geliebte; hier und da freudig, dann wieder traurig, vom Schicksale abwartend, ob es unß gehört – leben kann ich entweder nur ganz mit dir oder gar nicht, ja ich habe beschlossen in der Ferne so lange herum zu irren, bis ich in deine Arme fliegen kann, und mich ganz hejmathlich bej dir nennen kann, meine Seele von dir umgeben in’s Reich der Geister schicken kann –“[18]  

Wenn „Unsterbliche Geliebte“ ein geschlechtlicher Name ist, dann muss der Brief an (k)eine Frau adressiert sein. Es ist rein handschriftlich keine „unsterbliche Geliebte“, die schon in ihrer grammatischen Konstruktion bei Dieter Hildebrandt Aufmerksamkeit erregt hat, weil das „Unsterbliche“ „wohl weniger die Unsterblichkeit der Geliebten als die seiner Liebe bezeichnen soll“.[19] Grammatisch und syntaktisch könnte „Unsterbliche Geliebte“ indessen auf Dante Aligheris literarische Figur der Geliebten als Beatrice aus der Divina Commedia verweisen.[20] Beatrice als literarische Figur ist unsterblich. Beethoven traf den Dante-Verehrer, wenn nicht gar -Experten Johann Wolfgang Goethe beispielsweise 1812 in Karlsbad. Nicht zu vergessen sind die zahlreichen Kompositionen Beethovens zu Texten, Dramen und Gedichten von Goethe. Die „Unsterbliche Geliebte“ nimmt die für den Komponisten notwendige Funktion einer Muse ein. An die Geliebte wird alles adressiert, weil sie sich der Vereinigung entzieht, um zugleich die musikalische oder dichterische Produktion anzustoßen. Dennoch wäre für Ludwig von Beethoven, der den letzten Teil des Briefes mit „L. | ewig dein | ewig mein | ewig unß“ unterschreibt, die Vereinigung unauflösbar. Kriminologische Nachforschungen nach der „Unsterblichen Geliebten“ sind auch deshalb oft fehl gelaufen, weil der Name für eine Metapher gehalten wurde. Doch die Metapher ist leer. Beethoven hat kaum metaphorisch komponiert. Eher schon könnte ihm eines morgens nach fiebrigen Träumen die infernalische Divina CommediaGöttliche Komödie – in einer ganz eigenen Art zu schreiben, in den Sinn gekommen sein. Richard Zoosmann vermerkt in seiner Übersetzung der Divina Commedia 1928, dass Dante nach einem Dokument am 6. Juli 1295 als Mitglied des Consilium Centrum Virorum erscheint, um einen Streit zu schlichten und sich ein Geschlecht in die „Arte“ – Zünfte oder Künste – einschreiben dürfe.[21] Wir wissen nicht, seit wann dieses Wissen von der Einschreibung in die Künste zirkulierte.

In einer Nische vor dem Ausstellungsraum küsst ein nackter, bärtiger, alter Mann einen nackten, athletischen, jungen Mann. – „Diesen Kuß der ganzen Welt!“ – Überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen. – Die Bronzeplastik ist von dem nicht herausragenden Bildhauer Gustav Eberlein und trägt gewissermaßen zufällig den Titel Gottvater beseelt Adam. Sie wurde 1898 angefertigt und dürfte wohl kaum über das schmale Treppenhaus oder durch ein Fenster der Staatsbibliothek Unter den Linden, die zwischen 1903 und 1914 erbaut wurde, einfach in die antikisierende Nische hineingestellt worden sein. Die Beseelung findet nicht ganz unerotisch statt. Wer die beiden Männer waren, die für Eberlein Modell gestanden haben, wissen wir nicht. Die Haltung des jüngeren Mannes, aber auch die des alten im 2. Obergeschoss der Staatsbibliothek, wo das Geistige in verschiedenen Medien wie in der Musikabteilung aufbewahrt wird, erinnert an Reinhold Begas‘ Prometheus in der Akademie der Künste oder Emil Hundriesers Prometheus an der Universität der Künste aus der gleichen Zeit. Um 1900 ringen somit wenigstens 3 Bildhauer darum, einen geistigen, künstlerischen Produktionsprozess darzustellen. Mal weniger, mal mehr wird der Übertragungsvorgang des Geistes oder auch der Inspiration als Kuss, oder von einem Unsichtbaren geküsst werden, materialisiert, der sich dennoch schwer fassen lässt.

Torsten Flüh

„Diesen Kuß der ganzen Welt!“
Die Beethoven-Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin
bis 24. Juli 2020
Zeitfenster buchen.    

Begleitband
Friederike Heinze, Martina Rethmann, Nancy Tanneberger (Hrsg):
»Diesen Kuß der ganzen Welt!«
Die Beethoven-Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin
24 x 30,5 cm, 208 Seiten, 197 Farb-Abbildungen, Hardcover
ISBN: 978-3-7319-0914-9
25 Euro, zzgl. Porto und Verpackung


[1] Barbara Schneider-Kempf: Grußwort der Generaldirektorin der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. In: Friederike Heinze, Martina Rethmann, Nancy Tanneberger (Hrsg): »Diesen Kuß der ganzen Welt!« Die Beethoven-Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin. Berlin: Michael Imhof Verlag, 2020, S. 6.

[2] Jonathan Del Mar: Die Beethoven-Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin: Eine persönliche Sichtweise. In: Ebenda S. 36.

[3] Ebenda S. 37.

[4] Anton Schindler: Biographie von Ludwig van Beethoven. Münster: Aschendorff’sche Buchhandlung, 1840, S. 1.

[5] Ebenda S. 63.

[6] Romain Rolland: Ludwig van Beethoven. (Deutsch von L. Langnese-Hug) Zürich: Max Rascher, 1918, S. 40-41.

[7] Siehe Beethoven, Ludwig van: Zwei Briefe Beethovens an Carl Amenda in Abschrift von Anton Schindler , 01.06.1800 (Digitalisat)

[8] Zitiert nach Aushang in der Ausstellung.

[9] Dieter Hildebrandt: Die Kunst, Küsse zu schreiben. Eine Geschichte des Liebesbriefs. München: Carl Hanser, 2014, S. 243.

[10] Ebenda S. 252.

[11] Ebenda S. 256.

[12] Vgl. auch den Abdruck des Briefes in: Klaus Martin Kopitz: Der Brief an die „Unsterbliche Geliebte“. Fakten und Fiktionen. In: Friederike Heinze, Martina Rethmann, Nancy Tanneberger: »Diesen … [wie Anm. 1] S. 165.

[13] Ebenda S. 164.

[14] Ebenda.

[15] Ebenda S. 168.

[16] Ebenda S. 166.

[17] Zitiert nach Dieter Hildebrandt: Die … [wie Anm. 9] S. 246-247.

[18] Ebenda S. 248.

[19] Ebenda.

[20] Vgl. zur Darstellung der Beatrice als den Dichter umarmende Muse in der Divina Commedia von Sandro Boticelli: Torsten Flüh: „Sandro Botireli“, Codex Hamilton und La Comedia. Zur Ausstellung Der Botticelli-Coup im Kupferstichkabinett. In: NIGHT OUT @ BERLIN Oktober 15, 2015 21:50

[21] Dante: Die göttliche Komödie. Neuübersetzt in deutschen Terzinen von Richard Zoozmann. Leipzig: Hesse & Becker, 1928, S. 47.

Wissen um den Tod

Verschwörung – Wissenschaft – Existenz

Wissen um den Tod

Zum Suizid und Verschwörungstheorien während der Covid-19-Pandemie

In mehreren Konstellationen nehmen Suizide in der Berichterstattung und in Erzählungen zur Covid-19-Pandemie entscheidende Funktionen ein. An der Schnittstelle von Boulevard-Presse und Wissenschaft erschien am 12. Mai 2020 von Birgit Brükner in der BZ ein kurzer Artikel mit dem Titel Berlins bekanntester Gerichtsmediziner: Corona-Suizide durch Panikmache.[1] Der Direktor des Instituts für Rechtsmedizin der Charité, Prof. Michael Tsokos, hatte in den vorausgegangenen Wochen Kenntnis von mehreren Suiziden erlangt, die er selbst „Corona-Suizid“ nennt. Aus Angst, an Covid-19 erkrankt zu sein, hätten mehrere männliche Personen ihrem Leben durch Suizid ein Ende bereitet. Weiterhin wird eine prognostische Zunahme von Suiziden in Verschwörungstheorien gegen epidemiologische Maßnahmen als Argument in Stellung gebracht.

Den Schreibweisen der Boulevard-Presse entsprechend wird die Beobachtung des Rechtsmediziners als „Gerichtsmediziner“ mit dem Superlativ „bekanntester“ als Sensation angeschrieben. Doch welche sprachlichen Transformationen finden in der Erzählung von sich selbst und einer tödlichen Bedrohung statt? Lassen sich Suizide aus Angst in Krisensituationen auf die von Brükner kolportierte einfache Formel – „Die Betroffenen hatten so viel Angst vor dem Tod, dass für sie nur noch der Tod der Ausweg war“[2] – bringen? Worin unterscheidet sich eine wissenschaftliche Redeweise? Warum liebt die Boulevard-Presse den Superlativ? Trägt der Superlativ zu einer Vereinfachung bei, wenn es um komplexe Vorgänge in schwierigen Zeiten geht? Da Michael Tsokos‘ Studie bislang fast ausschließlich von der BZ, eine „Marke der BILD Gruppe“, aufgegriffen wurde[3], kommt der Frage nach den narrativen Formaten der Boulevard-Presse in der Konstellation von Suizid und Covid-19-Pandemie erhöhte Aufmerksamkeit zu.

Liest man den am 27. Mai 2020 bei der Fachzeitschrift Legal Medicine eingegangenen Brief von Claas Buschmann[4] aus dem Institut für Rechtsmedizin, Institute of Legal Medicine and Forensic Sciences of the Charité, dreht sich die Suizid-Erzählung nahezu um. Denn der Mitarbeiter des Rechtsmediziners Michael Tsokos machte in dem internationalen Fachmagazin für Rechtsmedizin auf Corona-associated suicide – Observations made in the autopsy room aufmerksam. In seinem Artikel berichtet Buschmann von elf Toden durch Suizid als „effects of Corona pandemic lockdown“, die er in der Rechtsmedizin der Charité obduziert habe. Die Suizide werden in ein Verhältnis zu vorhandenen oder nicht vorhandenen psychischen Vorerkrankungen gebracht, um so auf präventive Maßnahmen aufmerksam machen zu können. Denn, so Buschmann und Tsokos, vor allem die mediale Darstellung des „lockdown“ und der Pandemie hätten zu den „Corona-Suiziden“ geführt.
„The effects of the lockdown as well as the media omnipresence of the topic with partly apocalyptic overscription and statements made by medical experts out of context were regarded as triggering the decision to commit suicide.“[5] (Die Auswirkungen des Lockdowns sowie die mediale Allgegenwart des Themas mit teilweise apokalyptischer Überschrift und Aussagen von medizinischen Experten aus dem Zusammenhang wurden als Auslöser für die Entscheidung zum Selbstmord angesehen.)

Einschub: Bloggen geschieht gewissermaßen in Echtzeit. Deshalb werden hier Fotos vom Nettelbeckplatz eingefügt. Als der Blogger bei geöffnetem Fenster zum Nettelbeckplatz an seiner Besprechung schrieb, hörte er mit einem Mal Gesänge. Er hörte wenigstens zwei ausgebildete Frauenstimmen, die offenbar live sozusagen unter seinem Fenster sangen. Durch das Platanenblätterdach über dem Platz konnte er die Sängerinnen, Opernsängerinnen gar, nicht sehen. Seit März finden weltweit keine Opernaufführungen und Konzerte statt. Die Aufnahme des Opernbetriebes ist weiterhin völlig offen. Li Mingwei hat in seine Installation 禮/Lǐ Geschenke und Rituale im Gropius-Bau das Projekt Sonic Blossom eingebaut und zu Invitation for Dawn ins Virtuelle transformiert. Die Opernstimmen auf dem Nettelbeckplatz lassen den Berichterstatter sogleich an Paggliacci von Ruggero Leoncavallo denken. Der Berichterstatter muss den Opernstimmen nachgehen und trifft unter einer Platane die Sopranistin Chantale Nurse und die Koloratursopranistin Suzanne Rigden, die sich schon in einem Gespräch mit einem Passanten, Christian Wagner, finden, der wiederum als Bariton mit dem Vocalconsort Berlin ab dem 12. September den Jesus in Arvo Pärts Passio in der St. Matthäus-Kirche am Kulturforum singen wird. Chantale Nurse und Suzanne Rigden gehören zum Ensemble Vocal Arts-Quebec und geben zur Zeit auf Plätzen in Berlin Pop up-Konzerte. Im Gespräch sind sich die Sängerinnen schnell einig, dass sie für mich noch einmal singen. Der Zwischenfall bringt das Bildkonzept für meinen Blog, in dem es über Suizid, Tod und Verschwörungstheorien geht, völlig durcheinander. Doch ignorieren kann der Blogger das Geschenk zweier Lieder für ihn auf dem Nettelbeckplatz nicht. Denn auch das passiert während der Covid-19-Pandemie.

Buschmann und Tsoros kontextualisieren ihre elf Autopsien der „Corona-Suizide“ mit einem Beitrag vom 22. Mai von Amy Hollyfield auf ABC7News aus San Franzisko, wo Mitarbeiter des John Muir Medical Center in Walnut Creek mehr Tote durch Suizid als durch CoVid-19 verzeichneten.[6] Die Ärzte in San Franzisko plädierten deshalb dafür, den Lockdown zu beenden. Buschmann und Tsoros grenzen sich nicht dezidiert von Amy Hollyfield und den Ärzten ab. Der in San Franzisko sicher noch einmal anders gelagerten Kritik am Lockdown wird von den Rechtsmedizinern der Charité nicht widersprochen. Statt mit der Benennung „Corona-Suizid“ Klarheit über Narrative und insbesondere Zuspitzung von Narrativen durch Entkontextualisierung in den Boulevard-Medien zu schaffen, verkennen die Rechtsmediziner die kulturhistorische Dimension des Suizids, wie sie von Thomas Macho in seinem Buch Das Leben nehmen[7] erforscht worden ist, und das Potential des Namens zur Verschwörungstheorie. Die Argumentation der Verschwörungstheoretiker lautet nun, dass der „Lockdown“ mehr Menschenleben gekostet habe und kosten werde als die Erkrankung durch Sars-Cov-2.[8]

Die Suizide durch Selbststrangulierung (5), Sturz aus großer Höhe (5) und „train suicid“ (1)[9] aus Angst vor Sars-Cov-2 folgen dem Narrativ der christlichen Apokalypse. Entgegen dem verschwörungstheoretischen Verfahren der Verrechnung von Menschenleben folgt die apokalyptische Schreibweise in Überschriften, wie sie von Buschmann beobachtet wurde, einem sehr alten Erzählmodell, das zumindest für die westlichen oder abendländischen Kulturen weiterhin wirkt. Macho hat das Kulturmodell der „Todesantinomie“ von Franz Borkenau in seinem Kapitel über den „Suizid vor der Moderne“ genauer diskutiert.[10] Die „Todesantinomie“ benennt „die Effekte des unauflösbaren Widerspruchs zwischen Leitbildern der Todesüberwindung und der Todeshinnahme“.[11] Dabei ist die „Todesüberwindung“ nach Borkenau „der Kern der christlichen Botschaft“.[12] Doch diese „Todesüberwindung“ wird narratologisch unauflösbar mit der Offenbarung als Apokalypse verknüpft.
„Kurzum, das Ende sei nah, die Vernichtung der Welt und die glorreiche Errichtung des neuen Jerusalem, der Gottesstadt, die keinen Tod mehr kennen werde: »Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal« (Offb 21, 4).“[13]  

Nach Buschmann lassen sich für die Corona-Suizide drei Textelemente identifizieren, die in Berlin während eines nicht genauer benannten Zeitraums ab März bis Mai 2020 elf gewaltsame Tode von eigener Hand generierten: Der „Lockdown“ als befehlsförmige Anordnung von „Kontakt-Beschränkungen“, die „apokalyptischen Überschriften“ und die „statements made by medical experts out of context“. Kurzerhand werden die deutschen „Kontakt-Beschränkungen“ zum Oberbegriff „Lockdown“ der weltweit differierenden Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie und Abflachung der Epidemie-Kurve als Fakt zusammengefasst. Dabei hatte sich bereits im April abgezeichnet, dass „Kontakt-Beschränkungen“ schnell zur „Kontaktsperre“ und zur „Ausgangssperre“ transformiert waren.[14] Einen „Lockdown“ als „Ausgangssperre“ hat es allerdings so nie in Berlin gegeben, vielmehr konnte sich jede und jeder zur sportlichen Betätigung in unbegrenztem Kilometerumfang in Berlin und sogar um Berlin herum zu Fuß oder mit dem Rad bewegen. In Frankreich z.B. war das nicht möglich.

Der Lockdown als eine traumatisierende Erfahrung war und ist insofern sehr wohl von seiner Formulierung abhängig. Er ist kein Phänomen an sich, das eingeordnet werden müsste. Vielmehr wurde er i.d.R. sehr differenziert formuliert. Zu den Folgen der „Kontakt-Beschränkungen“ konnte und kann allerdings bei Verstößen gegen das Infektionsschutzgesetz (IfSG), das am 27. März 2020 durch das Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite[15] geändert und modifiziert wurde, Quarantäne und damit zur räumlichen Isolation verordnet werden. Anders gesagt: der „Lockdown“ wurde im März erst möglich durch eine umfangreiche Produktion von Gesetzestexten, die sich selbstverständlich an das Grundgesetz zu halten hatten. Generelle Kollisionen des Gesetzes mit Grundrechten nach dem Grundgesetz wurden durch Abwägung durchaus vermieden. Allein die Quarantänebestimmungen schränken diese sehr differenziert in § 28 Absatz 1 ein:
„6. § 28 Absatz 1 wird wir folgt gefasst:
„(1) Werden Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt oder ergibt sich, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, so trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist; sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten. (…) Die Grundrechte der Freiheit der Person (Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes), der Versammlungsfreiheit (Artikel 8 des Grundgesetzes), der Freizügigkeit (Artikel 11 Absatz 1 des Grundgesetzes) und der Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13 Absatz 1 des Grundgesetzes) werden insoweit eingeschränkt.“[16]   

Was beispielsweise in der Boulevard-Presse selten Berücksichtigung findet ist die Funktion der Modalverben. In Gesetzestexten entscheiden sie alles. § 28 Absatz 1 ist als eine Kann-Vorschrift formuliert: „sie (die zuständige Behörde) kann insbesondere Personen verpflichten“. Eine Kann-Formulierung im Gesetzestext ist eine relativ schwache im Unterschied zu Soll- oder Muss-Vorschriften. Das Gesundheitsamt oder eine ähnliche „Behörde“ erhält also lediglich unter Abwägung kollidierender Rechte die Möglichkeit „Kranke“ etc. unter Quarantäne zu stellen. Es geht auch lediglich um eine Verpflichtung der Person, die erst in einer weiteren Abwägung der Verhältnismäßigkeit in einen Zwang transformiert werden kann. Nun ist die Kenntnis der Funktion von Modalverben in Gesetzestexten in der Bevölkerung, geschweige die Kenntnis von § 28 Absatz 1 des Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nicht vorauszusetzen. Auch der Berichterstatter hat sie erst recherchieren müssen. Allerdings kann man sich gerade in Krisensituationen in einer Demokratie wie der der Bundesrepublik Deutschland darauf verlassen, dass die Regierung als Legislative keine neuen Gesetze erfinden, sondern „ändern“ bzw. modifizieren wird.   

Nicht nur das Modalverb kann ist entscheidend, vielmehr noch berücksichtigt der Gesetzesgeber die Grundrechte und benennt ausdrücklich jene, die „eingeschränkt“ werden „können“, aber nicht müssen. Der geänderte § 28 Absatz 1 des Infektionsschutzgesetzes gibt auch einen Wink auf die Persönlichkeitsrechte, die ausdrücklich nicht eingeschränkt werden dürfen. In Satz 3 des § 28 Absatz 1 heißt es ausdrücklich: „Eine Heilbehandlung darf nicht angeordnet werden.“[17] Mit der Darf-nicht-Vorschrift ist es dem Staat und seinen Behörden ausdrücklich verboten, eine „Heilbehandlung“ anzuordnen. Das heißt letztlich auch, dass „Kranke“ etc. unter Zwang nicht geimpft werden dürfen. Ein Großteil der Ängste, die durch Verschwörungstheorien verschaltet und kombiniert werden, wird durch das Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite von 27. März 2020 dezidiert ausgeschlossen. Seither werden die Bestimmungen des Gesetzes für Infektionsschutzrecht, Sozialrecht, Wirtschaftsrecht, Baurecht ständig modifiziert und entschärft.  

Der Exkurs zum für den sogenannten Lockdown relevanten Gesetzestext, der am 27. März 2020 sogleich im Bundesanzeiger digital und weltweit zugänglich war, wurde hier eingeflochten, um die hohe imaginäre Besetzung und durchaus Verfälschung der „Kontakt-Beschränkungen“ lesbar werden zu lassen. Abschiedsbriefe und polizeiliche Befragungen haben nach Buschmann die Beweggründe für die „Corona-Suizide“ geliefert. Denn in der Prosektur selbst ließ sich ja nur die Todesursache feststellen und ob sie mit einer faktischen Infektion mit Sars-Cov-2 bestätigt werden konnte. Doch die, um einmal einen umgangssprachlichen Begriff einzufügen, Selbstmörder waren nicht mit dem Virus, sehr wohl aber mit dem Wissen um ihn infiziert. Die Suizid-Begründung als „Konfliktbewältigung“ weist dabei eine deutliche Ähnlichkeit zu Verschwörungstheorien auf, wie sie in den Mosse-Lectures im Sommersemester 2020 hätten diskutiert werden sollen.[18] Die von Brükner nach den Abschiedsbriefen und polizeilichen Befragungen kolportierten Fälle werden dramatisiert, wenn es beispielsweise heißt:
„Der 39-jährige Mitarbeiter einer europäischen Botschaft nahm sich am 20. März das Leben. Kriminalpolizeiliche Ermittlungen ergaben, dass der Mann befürchtet hatte, sich mit SARS-CoV-2 infiziert zu haben. In den Tagen vor dem Tod hatte ein leichter grippaler Infekt bestanden. Ein Abstrich war durch zwei Hausärzte unabhängig voneinander als nicht notwendig angesehen und daher abgelehnt worden. Nach Angabe von Bekannten sei der Mann dennoch „regelrecht paranoid“ gewesen, sich angesteckt zu haben.“[19]  

Wir erfahren aus der Fallgeschichte nicht, welche Lebensumstände den „39-jährigen Mitarbeiter einer europäischen Botschaft“ zu seiner Befürchtung einer Infektion veranlasst haben. Als eine Verkettung unglücklicher Umstände könnte die Verweigerung der „Abstrich(e) … durch zwei Hausärzte“, was die geläufige Praxis war, angesehen werden. Denn sie hätte die Infektion widerlegen können. Ob die Fallgeschichte wirklich gleich eine Diagnose „Corona-Suizid“ erlaubt, bleibt fraglich. Vielmehr gibt die Fallgeschichte einen Wink u.a. auf den Roman Der Eros des Nordens von Petri Tamminen, der 2007 erschien und den Umgang mit einer projizierten HIV-Infektion verarbeitet. Die Infektionsparanoia wäre insofern unabhängig vom Virus, während sie gleichzeitig auf narrative Prozesse und Strategien verweist.
„Kaum hat er das negative Testergebnis bekommen und die Aids-Beratungsstelle verlassen, da tastet Harri schon wieder nach seinen Lymphknoten: Womöglich, überlegt er, hat er sich überhaupt erst infiziert, als ihm einige Tage zuvor mit einer Spritze die Blutprobe für den Test entnommen wurde. … Kein negativer HIV-Test kann ihn beruhigen.“[20]   

Die Bandbreite der Reaktionen auf AIDS als Wissensformation war in den 80er und 90er Jahren beträchtlich. Der Suizid gehörte gewiss auch dazu, obwohl das nicht in der von Buschmann und Tsoros angelegten Autopsie beschrieben worden ist. Mit einer großen Diversität wurden Praktiken im Umgang gegen eine Infektion und mit einer Infektion entwickelt. Sehr schnell war bei SARS-Cov-2 klar, dass sich das Virus wie bei HIV auch durch Geschlechtsverkehr übertragen lässt. Trotzdem wird Covid-19 nicht als Geschlechtskrankheit wahrgenommen. Erst langsam dringt in den öffentlichen Diskurs, dass SARS-Cov-2 auch Sexualpraktiken betrifft. Die AIDS-Hilfe hatte schon im März auf die Übertragbarkeit durch Sexualkontakte hingewiesen, da sich das Virus im Blut und im Sperma befindet. Durch die respiratorische Übertragungsweise von SARS-Cov-2, die zu einer rasanten epidemiologischen Verbreitung führte und führt, wurden allerdings die sexuellen Übertragungsmöglichkeiten strukturell ausblendet, obwohl sie genauso virulent sind. Entgegen der schwierigen Benennung einer neuen Suizidart – „Corona-Suizid“ – sieht Thomas Macho die „Frage nach dem Suizid“ als „ein Leitmotiv der Moderne“.[21]
„Für sich genommen bezeugen die Debatten um Nachahmungssuizide im 19. Jahrhundert, um Kinder- und Schülersuizide zur Jahrhundertwende, erst recht die faschistische Verschränkung von Mord und Selbstmord im »Viva la muerte!« allerdings noch keine Umwertung des Suizids, wie sie Friedrich Nietzsches Zarathustra forderte, sondern eine ambivalente Faszination, die zwischen Abwehr und Identifikation, moralischer Verurteilung und heroischer Idealisierung, Krankheitsdiagnose und ästhetischem Bekenntnis hin und her schwankte.“[22]

Der Suizid wie er mit „Corona-Suizid“ benannt und verfehlt wird, korrespondiert nicht zuletzt mit einer „Umwertung des Suizids“ durch das Szenario der Pandemie als Wissenserschütterung. Durch den permanent anschwellenden und sich auf vielfältige Weise widersprechenden Corona-Diskurs entsteht die Fiktion, dass wir schon vielmehr wüssten als zu Beginn der Pandemie. Risikofaktoren lassen sich anscheinend plötzlich mit Blutgruppen abgleichen, Apps verschaffen ein paradoxes Sicherheitswissen vor der Nähe des Todes. Thomas Macho hat am 18. April 2020 das Sterben in Zeiten der Pandemie im philosophie magazin bedacht. Da gab es zwar Suizid im Kontext der Covid-19-Pandemie, aber noch keinen „Corona-Suizid“. Die relativ schmalen Zahlen – 11 Corona-Suizide im Verhältnis zu 214 an Covid-19 Verstorbenen – und Texte zum „Corona-Suizid“ wären für Macho womöglich ein befragenswerter Bereich des Suizids in der Moderne. Denn der „Corona-Suizid“ lässt sich als ebenso elastisch wie verfehlend beschreiben. Das Wort Corona lässt sich bereits als eine ebenso weit verbreitete wie sehr elastische Benennung der Infektion von SARS-Cov-2 darstellen. Corona animierte zu humorvollen Witzen mit Flaschen einer Biermarke ebenso wie mit der spanischen Krone. Gegenüber dem Fachbegriff für die Pandemie und dem für das Virus wird Corona auf äußerst vielfältige fiktionale Weise gebraucht und verknüpft. Corona lässt sich zwischenzeitlich als ein hoch anschlussfähiges Trivialwissen für alles gebrauchen, das fachlich nicht festgelegt ist. Dieses sehr elastische und leicht ins Paranoide überspringende Wissen benennt einen neuartigen Suizid unter Vorbehalt. Statt Benennung beobachtet Macho etwas anderes:
„Manchmal zwingt sich geradezu der Eindruck auf, die übermächtige Präsenz des Todes in Bildern, Nachrichten und Statistiken verstärke nur die Abwehr, eine kollektive Angst, die sich jedem Gespräch und Trost energisch widersetzt. Leben wird als Überleben demaskiert; die Frage nach dem guten und richtigen Leben verstummt.“[21]  

Das neuartige Wissen um den Tod erhält mit der Pandemie, in der wir uns alle auf dem Globus befinden, eine andere Dringlichkeit. Wir können uns unseren eigenen Tod nicht vorstellen. Der Tod macht in Massengräbern, wie es sie in Deutschland bislang nicht gegeben hat, auf erschreckende Weise alle gleich in einer Zeit, in der Friedhöfe aufgelöst werden, weil in Berlin nicht mehr „richtig“ gestorben und begraben wird. Eine Grabstein-Kultur wie sie insbesondere um 1900 auf den Berliner Friedhöfen grandiose Bauten und Verkehrungen hervorgebracht hat, ist zwischenzeitlich verfallen. Die Namen und Professionen wie die des „innigstgeliebte(n) Mann(es), unser stets treusorgende(n) Vater(s), Schwiegervater(s) und herzensgute(n) Opa(s) de(s) Innereien-Großhändlers Albert Hauschild“ auf dem Georgen-Parochial-Friedhof II werden nahezu widerstandslos dem Verfall zu Staub hingegeben.

Torsten Flüh

Ensemble Vocal Arts-Quebec

Vocalconsort Berlin
Arvo Pärt
Passio (Johannespassion)
Samstag, 12. September 2020 von 20:00 bis 21:30 UTC+02
St.-Matthäus-Kirche.


[1] Birgit Brükner: Berlins bekanntester Gerichtsmediziner: Corona-Suizide durch Panikmache. In: BZ 12. Mai 2020 16:21 Aktualisiert 13.05.2020 06:43.

[2] Ebenda.

[3] Siehe auch Christian Gehrke: Rechtsmediziner Michael Tsokos: Berliner nehmen sich aus Angst vor Corona das Leben. In: Berliner Kurier 1.06.20, 13:35 Uhr
Fanny Jimenez: „Corona-Suizid“: Charité-Rechtsmediziner Michael Tsokos über ein neues Motiv in der Pandemie. In: BusinessInsider 18. Mai 2020.

[4] Claas Buschmann: Corona-associated suicide – Observations made in the autopsy room. In: Legal Medicine Received 27 May 2020; Accepted 31 May 2020 Legal Medicine 46 (2020) 101723 Available online 03 June 2020.

[5] Ebenda.

[6] Amy Hollyfield: Suicides on the rise amid stay-at-home order, Bay Area medical professionals say. In: abc 7 News May 22 2020.

[7] Thomas Macho: Das Leben nehmen. Suizid in der Moderne. Berlin: Suhrkamp, 2017.

[8] Diese Argumentation als eine zentrale der Verschwörungstheorien zu Covid-19 begegnete dem Berichterstatter zum ersten Mal beim Besuch eines langjährigen Freundes und Betriebswirtschaftlers.

[9] Claas Buschmann: Corona … [wie Anm. 4].

[10] Thomas Macho: Das … [wie Anm. 7] S. 64-65.

[11] Ebenda S. 65.

[12] Ebenda S. 66.

[xiii] Ebenda S. 67.

[14] Vgl. zu „Kontakt-Beschränkungen“ auch Torsten Flüh: Vom Wissenswunsch und zu Informationspraktiken. Ein nachträglicher Osterspaziergang über das Charité-Gelände und Heinrich von Kleists Charité-Vorfall. In: NIGHT OUT @ BERLIN 15. April 2020.

[15] Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite. Bonn 27. März 2020. (Bundesanzeiger)

[16] Ebenda.

[17] Ebenda.

[18] Siehe Torsten Flüh: Fledermäuse, Pangoline, Labore und die Gattung Homo sapiens sapiens. Wie Verschwörungstheorien Sinn stiften und Narrative vom Patient Zero bis zur Artengrenze übertragen werden. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. April 2020.

[19] Birgit Brükner: Berlins … [wie Anm. 1]

[20] Christina Hucklenbroich: Die bizarren Ängste eingebildeter Aidskranker. In: Welt 27.07.2007.

[21] Thomas Macho: Das … [wie Anm. 7] S. 200.

[22] Ebenda.

[23] Thomas Macho: Sterben in Zeiten der Pandemie. In: philosophie magazin 18.04.2020.

Verpassen des Traumas

Literaturen – Trauma – Erzählen

Verpassen des Traumas

Zum Verhältnis von Literaturen und Epidemien in Geschichte, Roman und Drama

Franz Kafka hat, obwohl er 1918 an der Spanischen Grippe erkrankte, die Pandemie in keinem Roman oder einer Erzählung beschrieben. 2018 erschienen zum einhundertjährigen Gedenken an die Spanische Grippe und ihre 50 bis 100 Millionen Todesopfer mehrere Aufsätze und Bücher, unter denen die Journalistin Laura Spinney den Bestseller The Pale Rider veröffentlichte. Im April kursierte das Buch mit dem deutschen Titel 1918 – Die Welt im Fieber als eine Art Geheimlektüre. Der Freund eines Freundes kaufte gleich die restlichen vier Exemplare beim Hanser Verlag. Indessen urteilte Stephan Speicher in der Süddeutschen Zeitung bereits am 13. Februar 2018, Spinney richte „viel Unfug an“.[1] Traumata und Krisen lassen sich anscheinend schwer in Literaturen verwandeln. Obwohl viele epidemiologische Maßnahmen der Covid-19-Pandemie aus der Forschung zur Spanischen Grippe generiert und modifiziert worden sind, gleitet der vermeintliche Zugriff auf das Ereignis in „Unfug“ ab.  

Stephen Greenblatt bedenkt in seinem Cultural Comment What Shakespeare Actually Wrote About the Plague in The New York am 7. Mai 2020 das Verhältnis von wiederholten Pest-Epidemien zwischen 1564 und 1616 sowie den Literaturen intensiver.[2] Denn es muss als ein komplexeres beschrieben werden. So hat 1832 Franz Freiherr von Gaudy sehr gezielt für den schon damals schnelllebigen Buchmarkt seine Gedanken-Sprünge eines der Cholera Entronnenen geschrieben, um in seiner Vorrede zu versichern, „daß das ominöse Wort „Cholera“, außer auf dem Titelblatte und in obiger Zeile, nicht ein einzigesmal wieder vorkommt“.[3] Ob die „Gedanken-Sprünge“ der Cholera oder doch eher den in der Auto-Kritik karikierten Gesetzen der Buchmessen geschuldet sind, bleibt offen. Die „Freudensprünge“ darüber, dass der Kopf nach dem Krankenlager „wenigstens im früheren Zustande“ gefunden wurde, und die „Gedanken-Sprünge“ werden von Gaudy kunstvoll und sprunghaft mit einem Trennstrich verkoppelt.

Der Kulturkommentar von Stephen Greenblatt beantwortet nicht nur die Frage, was Shakespeare wirklich über die Pest schrieb, er führt auch einen kulturellen Prozess der Ersetzung im Schreiben vor. Denn der Shakespeare-Experte, Literaturwissenschaftler und Theoretiker des New Historicism schreibt mitnichten nur über William Shakespeare. Gerade dann, wenn Greenblatt über die Pestbeschreibung von Macbeth als Herrscherfigur schreibt, kommentiert er das Krisenmanagement eines ganz anderen Herrschers. Wer meinte, er habe oder kontrolliere die Pest-, Cholera-, Spanische-Grippe- oder Covid-19-Pandemie durch Benennung, hat sie schon verfehlt. Der kulturelle Akt der Benennung ist ein ebenso trügerischer wie mächtiger. Er wird zu einer Machtfrage und kann zu einem beeindruckenden Machtverlust führen, wie es Mike Pompeo am 24. März 2020 bei der Videokonferenz der G7-Außenminister zur „Coronakrise“ mit dem Versuch der Benennung als „Wuhan-Virus“ passiert ist.[4] Außer der Trump-Regierung spricht niemand von „Wuhan-Virus“.  

Die Frage der Benennung war bereits beim Tod Georg Wilhelm Friedrich Hegels 1831 zum Streitpunkt geworden.[5] Laura Spinney schreibt als Wissenschaftsjournalistin die Geschichte des Jahres 1918 mit einer fulminanten Eröffnung um. Sie beansprucht, die Spanische Grippe als politische Kraft aus ihrer Rolle als „Fußnote der Geschichte“ herauszuschreiben. 1918 wird anders als im englischen Originaltitel The Pale Rider schon deshalb als Literatur interessant, weil unterschiedliche Wissensbereiche angesprochen und verkoppelt werden. 1918 rückt das Jahr ins Gedächtnis, das gemeinhin das Ende des Ersten Weltkrieges benennt, während der bleiche Reiter eher das Bild der apokalyptischen Reiter aus der Offenbarung des Johannes aufruft. Erst im Untertitel wird die Spanische Grippe als Schlüssel zum Geschichtswissen des Jahres 1918 bzw. als Apokalypse genannt. So eröffnet Spinney ihren wissenschaftshistorischen Aufriss denn auch mit einem weltgeschichtlichen Szenario:
„Kaiser Wilhelm II. dankte am 9. November 1918 ab, und in den Straßen von Paris jubelten die Menschen. »À mort Guillaume!«, riefen sie. »À bas Guillgume!« Tod Wilhelm! Nieder mit Wilhelm! Währenddessen lag, hoch über dem siebten Arrondissement der Stadt, der Dichter Guillaume Apollinaire auf dem Totenbett. Als herausragender Vertreter der französischen Avantgarde-Bewegung hatte sich der Mann, der den Begriff »Surrealisms« erfand und Persönlichkeiten wie Pablo Picasso und Marcel Duchamp inspirierte, 1914 als Kriegsfreiwilliger gemeldet. Nachdem er durch einen Granatsplitter eine Kopfverletzung erlitten und die anschließende Operation, bei der ihm ein Loch in den Schädel gebohrt wurde, überlebt hatte, starb er im Alter von 38 Jahren an der Spanischen Grippe und erhielt den Status »Mort pour la France«.“[6]

Mit der fulminanten Eröffnung durch die Koinzidenz von der Abdankung Kaiser Wilhelm II. am 9. November 1918 und dem Tod des Dichters Guillaume Apollinaire wird von Laura Spinney die weltgeschichtliche Bedeutung der Spanischen Grippe beansprucht. Da der Dichter nicht nur von einer Kugel im Kopf getroffen worden war, sondern bereits im Februar 1918 eine Lungenentzündung bekommen hatte, zählte er nach dem kursierenden Wissen der letzten Monate wenigstens zur „Risikogruppe“ der Vorerkrankten. Doch den Begriff kannte Spinney beim Schreiben ihres Buches noch nicht. Womöglich hätte Apollinaire als Angehöriger einer „Risikogruppe“ auch nicht ganz der Dramaturgie der beiden, sagen wir ruhig, Abdankungen entsprochen. Spinney weiß im Eröffnungsabsatz ihr Wissen von der Spanischen Grippe rhetorisch elegant zu setzen. Die beiden Wilhelme werden im Französischen als Guillaume zum Verwechseln ähnlich und der Tod des Dichters zur „Metapher“. Der Dichter wird mit dem Titel »Mort pour la France«, in etwa gestorben für Frankreich, den Kriegstoten des Ersten Weltkriegs zugeschlagen, während ein noch unbekannter Virus der wahre Feind war. Doch der Zufall erhält erst durch Spinneys literarische Überschneidungen den Sinn einer Analogie und Überbietung.
„Der Tod des Dichters steht als Metapher für das kollektive Vergessen – wir alle haben das größte Massaker des zwanzigsten Jahrhunderts aus unserem Bewusstsein gelöscht. Die Spanische Grippe infizierte jeden dritten Erdbewohner, 500 Millionen Menschen. Zwischen dem ersten Krankheitsfall, der am 4. März 1918 gemeldet wurde, und dem letzten, irgendwann im März 1920, tötete die Grippe, 50 bis 100 Millionen Menschen, …“[7]

Die rhetorischen Schreibweisen der Überbietungen und der großen Zahlen[8] werden von Laura Spinney angewendet und beschworen. Einerseits beansprucht sie ein historisches Wissen von der Spanischen Grippe als Wahrheit, andererseits benutzt sie die rhetorische Figur Metapher auf eigenwillige Weise. Die geschickte Übersetzung von Wilhelm in Guillaume mit dem Effekt einer überbietenden Analogie generiert eben auch das Wissen von der Spanischen Grippe als „Massaker“ oder Killervirus. Nicht Wilhelm II. wird zum Zeugen für das Jahr 1918, sondern der Grippetod des Dichters. Literarische Elastizität und Festlegung der Metapher für ein „kollektives Vergessen“ versprechen ein geheim gehaltenes Wissen, das die Autorin anlässlich des Jahrhundertjubiläums zu entschlüsseln beansprucht. Dieser Anspruch mit der prognostischen Ankündigung einer neuerlichen Pandemie pendelt zwischen Wissenschaft, Fakten, Erzählungen, Anekdoten und Bedrohung hin und her, so dass sich 1918 leicht als ein erweitertes Dispositiv über die Covid-19-Pandemie legen lässt. Doch gerade deshalb verfehlt das Buch die aktuelle Pandemie auch.

Spinney ist nicht die erste oder einzige Autor*in, die über die Spanische Grippe geschrieben hat. Es gibt zahlreiche Autor*innen wie der Mediziner und Medizinhistoriker Harald Salfellner oder der Lyriker und Romanautor Sjón, die in den vergangenen Jahren das Wissen von der Spanischen Grippe literarisch bearbeitet haben. Harald Salfellner brachte 2018 in seinem Prager Vitalis Verlag Die Spanische Grippe heraus und kündigt nun schon dessen „zweite Ausgabe des Werkes … mit zahlreichen Bezügen zur COVID-19-Pandemie“ an.[9] Der isländische Autor Sigurjón Birgir Sigurðsson hat als Sjón 2013 den Roman Der Junge, den es nicht gab veröffentlicht, in dem in der Hauptstadt Reykjavic 1918 die Spanische Grippe ausbricht.[10] Doch die Pandemie ist nur ein Aspekt des fast einhundert Jahre später geschriebenen Romans, um nicht zuletzt von der Liebe zum Stummfilm zu erzählen. Die doch ein wenig vom Weltgeschehen abgerückte Insel Island wird mit der Grippe in einen historischen Kontext von neuem Medium Stummfilm und Pandemie integriert. Anders gesagt: Entweder wird die Pandemie zum Schauplatz weltgeschichtlicher Sensationen im mikrologischen Böhmen wie bei Salfellner oder sie rückt eine zumindest in der Eröffnungssequenz homosexuelle Szene in eine bereits 1918 imaginär verknüpfte Welt, die mit genauem Datum – „(12.-13. Oktober 1918)“[11] – als Zwischentitel eine historische Zeit herstellt.
„Er schließt die Augen. Ja, das ist er, der »Indianer«, aber nicht irgendein beliebiger. Nicht umsonst hat er die Geräusche lange und gründlich studiert, um dieses eine unter allen anderen herauszuhören. Und jetzt ist er sicher, dass die Maschine näher kommt und sich eine Steigung hinaufarbeitet. Es dauert nicht lange, bis das Dröhnen den höchsten Punkt der Anhöhe erreicht, dort, wo der Berg nach Osten hin abfällt, und direkt darunter er selbst, auf Knien, den »Kunden« tief in seinem Rachen.“[12]

Die Überschneidungen in der Wahrnehmung des „Jungen“, den Sjón beschreibt, den es allerdings nie gegeben hat, geben einen Wink auf das literarische Verfahren. Der „Indianer“ ist ein zeitgenössisches Motorradmodell, das von einer Frau gefahren wird, welches der „Junge“ am Geräusch erkennt, als er Oralsex mit einem Mann gegen Geld hat. Was geschieht, passiert gleichzeitig auf mehreren Ebenen, ohne dass sich ein Inhalt der Metapher ermitteln ließe. Man könnte sagen, dass der „Junge“ nicht ganz bei der Sache ist. Doch Motorgeräusch und, sagen wir, Dienstleistung werden literarisch miteinander verknüpft, wenn er „(d)urch das anschwellende Motorengeheul und die Bewegungen von Kopf und Hand (…) auch (…) erregt“ wird.[13] Als historische Signatur dient die frühe, amerikanische Motorradmarke „Indian“, die zu einem bestimmten „Indianer“ wird, der in den Bergen Islands dröhnt. Die „Maschine“ spielt insofern zugleich auf alle Indianer- und Freiheits-Mythen an. Das historische Wissen von Motorrädern, Stummfilm, Indianern und Spanischer Grippe wird insofern von Sjón kombiniert, um von einem Jungen auf Island zu erzählen, den es (nicht) gegeben haben wird.

Stephen Greenblatt hat kürzlich das Geschichtswissen zu William Shakespeare in Hinblick auf die Theaterpraxis, die Dramen und wiederholte Epidemien angesichts der aktuellen Covid-19-Pandemie ausführlicher bedacht. Bereits im Audio-Walk Theater geht von Nils Foerster wurde das Theater zu Shakespeares Zeiten angesprochen.[14] Doch Shakespeare hat nie eine Pest-Epidemie beschrieben, obwohl die Londoner Theater auf sicher existenzbedrohende Weise zu seinen Lebzeiten mehrfach über Monate geschlossen werden mussten. Zwar hat Sandra Krämer anlässlich des 250. Shakespeare-Jubiläums 2014 auf dessen medizinisches Wissen hingewiesen, aber die epidemiologische Frage berücksichtigte sie mit „Pest, Pocken, Syphilis“ nicht. Die Pest und andere Krankheiten kommen vielmehr als Verwünschungen und somit in sozialen Interaktionen in den Texten vor.
„„Die Pest ihm!“ (V,1) flucht Posthumus in Cymbeline. Und auch Thersites in Troilus und Cressida versieht seinen General Agamemnon in Gedanken mit „Eiterbeulen, prall überall, vorne, hinten, oben, unten“ (II, 1). Die Pest wünschen sich nicht nur viele Protagonisten Shakespeares gegenseitig an den Hals, sondern sie wütete unerbittlich in ganz Europa. Daneben verunsicherten weitere noch nicht von den antiken Autoritäten beschriebene Infektionskrankheiten (Englischer Schweiß, Pocken, Malaria) die Bevölkerung, allen voran eine neue Geschlechtskrankheit.“[15]

Wiederholt wurde in der Shakespeare-Forschung darauf hingewiesen, dass As you like it auf Boccaccios Decamerone basiere oder zumindest davon angeregt worden sei, weil es eine Art Urtext der Quarantäne sei. So kehrte denn auch Decamerone erstens als Lektüre zum Covid-19-Lockdown wieder und zweitens als Rahmen für neue Texte und Erzählungen während der Quarantäne-Maßnahmen. Giovanni Boccaccios erotisches Erzählwerk aus der Mitte 14. Jahrhunderts stieß „Formate des Erzählens“ an. So haben Martina Bengert, Jörg Dünne und Max Walther am 21. März 2020 den Blog TRIAKONTAMERON als ein „Decamerone 2020“ eröffnet. Das von Boccaccio entwickelte Format einer „Erzählgemeinschaft“ wurde nicht nur zu einem Schlüsseltext der erotischen Literatur, vielmehr noch wurde die unterhaltsame Erzählung von Liebespraktiken derart populär, dass der Name des Dichters in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als „Wein-Restaurant und Kabarett“ an der Hamburger Kirchenallee gegenüber dem Hauptbahnhof zwischenmenschliche Kontakte versprach.[16] In der zweiten Juni-Hälfte liest sich das Programm von Triakontameron fast schon als wenn nicht vergessene, so doch verworfene Erinnerung.
„Zwischen der katastrophischen Vorstellung einer völlig ungeordneten Eskalation und dem nicht weniger unrealistischen Zustand einer baldigen Rückkehr zur Normalität – als sei nichts Wesentliches geschehen – liegt im Moment vielleicht das Schwierigste, aber auch Interessanteste: sich wie vor über 700 Jahren die temporäre Erzählgemeinschaft des Decamerone neue, vorübergehende Gewohnheiten zurechtzulegen, um das, was in den kommenden Tagen (Wochen? Monaten?) des erzwungenen social distancing auf uns zukommt, in Form von Alltagspraktiken strukturierbar zu machen.“[17]  

Obwohl sich die Welt noch mitten in der Pandemie befindet, es keine zuverlässigen Medikamente, geschweige einen Impfstoff gibt, Tausende überall auf der Welt sterben, Theater geschlossen oder im Notbetrieb bespielt werden müssen, an Orchesterkonzerte z.B. der Berliner Philharmoniker oder Opernaufführungen international z.B. an der New Yorker Met gar nicht zu denken ist, stellt sich eine durchaus verstörende öffentliche Wahrnehmung von „Normalität“ ein. Insofern wird aktuell weniger ein Aushalten als vielmehr ein Paradox von „Normalität“ praktiziert. Könnte es Shakespeare unter anderen Bedingungen und Formaten des Wissens damit ähnlich gegangen sein, bis die Pest sich in eine Verwünschung verwandelte? Stephen Greenblatt hat in The New Yorker das relativ alte Epidemie-Wissen zu Shakespeares Zeiten in Erinnerung gerufen, das sich strukturell kaum von den Maßnahmen der letzten Monate unterscheidet.
„It was early recognized that the rate of infection was far higher in densely populated cities than in the country; those with the means to do so escaped to rural retreats, though they often brought infection with them. Civic officials, realizing that crowds heightened contagion, took measures to institute what we now call social distancing. Collecting data from parish registers, they carefully tracked weekly plague-related deaths. When those deaths surpassed thirty, they banned assemblies, feasts, archery contests, and other forms of mass gathering. Since it was believed that it was impossible to become infected during the act of worship, church services were not included in the ban, though the infected were not permitted to attend. But the public theatres in London, which routinely brought together two or three thousand people in an enclosed space, were ordered shut. It could take many months before the death rate came down sufficiently for the authorities to allow theatres to reopen.”[18]

Während gelegentlich in den deutschen Medien schon über die Effizienz und Notwendigkeit der zurückliegenden Maßnahmen gestritten wird, lässt sich allein schon mit Blick auf Shakespeares London erkennen, dass in epidemischen Entwicklungen nahezu die gleichen verordnet worden sind. So gesehen ist das Epidemie-Wissen ein altes, das den gesellschaftlichen Umgang mit einer ansteckenden Krankheit ohne Aussicht auf Heilung aus Erfahrung regelt. Nur, weil das 21. Jahrhundert bis auf Epidemio- und Virologen als Fachleute vergessen hatte, dass in früheren Zeiten derartige Praktiken in gewissen Zeitabständen wiederholt werden mussten, kam es als ein neuartiges, wenn nicht gar willkürliches Wissen vor. Womit sich die Mehrheit des Weltbevölkerung zu Beginn des 21. Jahrhunderts schwer tut, ist sich nach einem tendenziellen Nicht-Wissen zu Verhalten. Ausschläge aller Arten werden stattdessen zwischen leugnen und freiwilliger Selbstquarantäne bis Ende 2020 praktiziert. Greenblatt erinnert daran, dass Shakespeare gerade in den schwierigsten Zeiten seine bekanntesten Stücke schrieb, ohne dass er darauf direkt reagiert habe, vielmehr finde sich bei ihm ein gedämpfter Unterton.
“In Shakespeare, epidemic disease is present for the most part as a steady, low-level undertone, surfacing in his characters’ speeches most vividly in metaphorical expressions of rage and disgust. Mortally wounded in the feud between the Capulets and the Montagues, Mercutio calls down “A plague on both your houses.” “Thou art a boil,” Lear tells his daughter Goneril, “A plague-sore, or embossed carbuncle / In my corrupted blood.” “Here’s gold,” the misanthropic Timon of Athens offers his visitor. “Be as a planetary plague, when Jove / Will o’er some high-viced city hang his poison / In the sick air.””[19]

Shakespeare wendet das Wissen von der Pest weniger als Krankheitswissen an.[20] Denn von den Infektionswegen, den Erregern und den genauen Krankheitsverläufen weiß er nur wenig. Aber er weiß, dass sie meist tödlich verläuft und ganze Häuser bzw. Familien infizieren und auslöschen kann. Obwohl er wenig von einer globalen oder planetarischen Pandemie wissen kann, lässt sie sich für ihn als „a planetary plague“ imaginieren. An dem Punkt überschneidet sie sich indessen mit „Jove“, d.h. Jupiter als Göttervater und insofern mit den biblischen Texten der Apokalypse. Gleichzeitig wird das historische Übertragungswissen von den Miasmen mit dem „poison / In the sick air“ angesprochen[21], während wir heute wissen, dass ein Floh als Kleinlebewesen den Mikroorganismus des Pest-Virus von Ratten auf Menschen durch Biss überträgt. Das literarische Wissen von der Pest speist sich bei Shakespeare weder aus einem Medizinwissen, wie es Sandra Krämer in Anschlag bringt, noch wird es allein „vividly in metaphorical expressions“ eingesetzt. Vielmehr generiert es sich über elastisch kombinierte Textquellen als Wissen. Doch Greenblatt macht während der Pandemie anlässlich der Frage, was Shakespeare wirklich über die Pest schrieb, eine andere durchaus überraschende Beobachtung. Das Epidemie-Wissen von der Pest wird nicht als deren Beschreibung, sondern als Umschreibung der Herrschaftspraktiken von Macbeth eingesetzt.
„The words, then, perfectly capture the experience of living in the inescapable presence of an epidemic disease and hearing constantly the ominous tolling of the church bells. But the strange thing about these lines from “Macbeth” is that they are not intended as a description of a country in the grip of a vicious plague. Instead, they describe a country in the grip of a vicious ruler. The character who speaks them, Ross, has been asked how Scotland fares under Macbeth, who is nominally the country’s legitimate king. But everyone suspects what is the case, that he has come by his exalted position through underhand means: “I fear / Thou play’dst most foully for’t.””[22]     

Greenblatt beschreibt mit seiner Shakespeare Lektüre eine Herrschaftsfigur, die aktuell kaum weniger an „a planetary plague“, sehr wohl aber an das Regierungshandeln Donald Trumps erinnern. Die literarische Bearbeitung des Traumas als „a description of a country in the grip of a vicious ruler” transformiert die Epidemie in ein Szenario ungerechter oder gar bösartiger Herrschaft, das auf frappierende Weise an die Praktiken von Donald Trump und Jair Bolsonaro erinnert. Die Pest wie Sars-Cov-2 bleiben weiterhin unsichtbar und schwer beschreibbar. Doch das epidemiologische Geschehen erzeugt Bilder von überfüllten Leichenhallen, Armeelastwagen in Schlangen mit Särgen, Eisstadien als Leichenhäuser, Massengräbern auf Notfriedhöfen, während die zur Regierung aufgeforderten Institutionen sichtbar versagen, sich zerstreiten, so dass Gesundheitsminister und andere Mitwirkende gefeuert werden müssen. Zur Beschreibung eines Landes im Griff eines bösartigen Herrschers gehört gleichzeitig die Erosion seiner Macht bei der Einhegung der Epidemie.     

Torsten Flüh

Postscriptum: Die Fotos vom Haus der Kulturen der Welt, des Berliner Ensembles, des Deutschen Theaters, des Gorki etc. wurden am 17. Juni zwischen ca. 21:00 und 22:30 Uhr aufgenommen. Vor dem Brandenburger Tor fand eine kurze und kleine Demonstration von Landwirten mit Treckern und Anhängern unter Polizeischutz statt, die eine politische Normalität erzeugten. Das HKW und die Theater sind weiterhin ohne regulärem Spielbetrieb und verwaist, während am Schiffbauerdamm die Restauranttische gut gefüllt waren.


[1] Stephan Speicher: Das unerkannte Gift. In: Süddeutsche Zeitung 13. Februar 2018, 18:54.

[2] Stephen Greenblatt: What Shakespeare actually wrote about the Plague. In: The New Yorker 7. Mai 2020.

[3] Franz Freiherr von Gaudy: Gedanken-Sprünge eines der Cholera Entronnenen. Glogau: Heymann, 1832, S. 2. (Digitalisat)

[4] Siehe: Christoph Schult: Streit über „Wuhan-Virus“. In: Der Spiegel 24.03.2020, 18.04 Uhr.

[5] Siehe: Torsten Flüh: Das „Gewebe der Penelope“. Zum Staat in Zeiten der Pandemie und Hegels Tod während der Cholera-Epidemie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. Mai 2020.

[6] Laura Spinney: 1918. Die Welt im Fieber. München: Hanser, 2018, S. 11.

[7] Ebenda S. 12.

[8] Zum Problem der großen Zahl in der Epidemie siehe auch: Torsten Flüh: Der Geist der Zahl. Über Zahlen in Zeiten der Pandemie und im Roman Die Pest von Albert Camus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. April 2020.

[9] Harald Salfellner: Die Spanische Grippe. (Zweite Ausgabe) Prag: Vitalis, 2020. (Verlagsseite zum Buch).

[10] Sjón: Der Junge, den es nicht gab. Frankfurt am Main: S.Fischer, 2015. (Original 2013).

[11] Ebenda S. 8.

[12] Ebenda S. 10.

[13] Ebenda S. 11.

[14] Siehe: Torsten Flüh: Wissenserschütterung. Zur Theaterpremiere Theater geht von Nils Foerster in der Brotfabrik. In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. Juni 2020.

[15] Sandra Krämer: William Shakespeare (1564–1616): Mit dem medizinischen Wissen seiner Zeit vertraut. In: Deutsches Ärzteblatt 2014; 111(16): A-688 / B-596 / C-574.

[16] Die verwitweten Hamburger Großtanten des Berichterstatters sprachen noch in den 70er und 80er Jahren von ihren Besuchen im Boccaccio. Siehe Postkarte.

[17] Martina Bengert, Jörg Dünne, Max Walther: Das Triakontameron. Temporäre Gemeinschaft in Zeiten des Corona-Virus. In: TRIAKONTAMERON 21. März 2020.

[18] Stephen Greenblatt: What … [wie Anm. 2].

[19] Ebenda.

[20] Der Begriff Krankheitswissen wird erst in jüngerer Zeit für das Wissen von einer Krankheit bei Betroffenen wie bei in der Öffentlichkeit verwendet. Siehe z.B. Robert-Koch-Institut: Erste Ergebnisse der Studie „Krankheitswissen und Informationsbedarfe – Diabetes mellitus (2017)“  In: Journal of Health Monitoring 3/2018.

[21] Vgl. zum Modell der Miasmen Torsten Flüh: Fledermäuse, Pangoline, Labore und die Gattung Homo sapiens sapiens. Wie Verschwörungstheorien Sinn stiften und Narrative vom Patient Zero bis zur Artengrenze übertragen werden. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. April 2020.

[22] Stephen Greenblatt: What … [wie Anm. 2].

Wissenserschütterung – Zur Theaterpremiere Theater geht in der Brotfabrik

Theater – Katharsis – Montage

Wissenserschütterung

Zur Theaterpremiere Theater geht von Nils Foerster in der Brotfabrik

Theater geht nicht nur, Theater begeistert bei der Premiere in der Brotfabrik. Es klatscht am Schluss 1 Person. Doch es kann und soll bis in den Juli hinein, möglichst oft wiederholt werden. Wenigstens dutzende, wenn nicht hunderte Mal. Sie müssen eine bestimmte Aufführung an einem festgesetzten Tag buchen. Und dann geht das Theater ab, nur für Sie. Das Theater passiert live und im Theater, den Räumen der Brotfabrik am Caligariplatz in Berlin-Weißensee. Die Brotfabrik hat auch eine Galerie, ein Restaurant und ein Kino. Das Kino im Kopf macht Theater als Audio-Walk für eine Person. Nils Foerster ist mit seiner Theaterproduktion als Reaktion auf die Kontaktbeschränkungen in Deutschland und Berlin im Kleinen ein großer Wurf gelungen. Wenn alles klappt und Sie in Stimmung sind, werden Sie automatisch auf dem Caligariplatz nach Shirley Basseys James-Bond-Song Goldfinger tanzen.

Nach einer Reihe von Pre-Walks war am Freitag, den 5. Juni um 18:00 Uhr Theaterpremiere für mich und Uraufführung von Theater geht. Das Publikum darf sich zwar auch setzen, aber die Lösungsformel heißt: Kein Theater im Sitzen, mehr Theater im Gehen. Das ist nicht ganz neu als Theater- und Aufführungspraxis, aber erstmalig nach dem Lockdown wegen der Covid-19-Pandemie. Nils Foerster hatte schon Befürchtungen, dass die herbei gesehnten Lockerungen ihm sein Theaterprojekt kaputt machen könnten. Ich kann ihn beruhigen: dieses Theater geht weiter. Es kommt genau zur richtigen Zeit im richtigen Format. Denn Nils Foerster und sein Team transformieren den Theaterbegriff der Katharsis zeitnah und neu. Was war noch einmal Katharsis? Warum sollte Katharsis jetzt wichtig sein, während sich doch schon alles blitzschnell normalisiert?

Brauche ich Katharsis? Brauchen wir Katharsis so wie Toilettenpapier, Mehl, Hefe, Nudeln, Masken, Desinfektionsmittel, Tomatensoße? Ach, Sie haben schon vergessen, wie sich das anfühlte, als Sie vor der leeren Mehl-Palette standen? Sie wollen sich gar nicht daran erinnern, als das Toilettenpapier restlos ausverkauft war? Auch den 10., 13. und 14. März müssen Sie nun wirklich nacherleben? Und gibt es da den sehr altmodischen Begriff der Katharsis für die Dramen- bzw. Theaterform der Tragödie? Friedrich Nietzsche geht in seiner Schrift Die Geburt der Tragödie lediglich einmal namentlich auf den Begriff als „pathologische Entladung“ ein, indem er an ihre Verwerfung durch Goethe erinnert:
„Jene pathologische Entladung, die Katharsis des Aristoteles, von der die Philologen nicht recht wissen, ob sie unter die medicinischen oder die moralischen Phänomene zu rechnen sei, erinnert an eine merkwürdige Ahnung Goethe’s. „Ohne ein lebhaftes pathologisches Interesse“, sagt er, „ist es auch mir niemals gelungen, irgend eine tragische Situation zu bearbeiten, und ich habe sie daher lieber vermieden als aufgesucht. Sollte es wohl auch einer von den Vorzügen der Alten gewesen sein, dass das höchste Pathetische auch nur aesthetisches Spiel bei ihnen gewesen wäre, da bei uns die Naturwahrheit mitwirken muss, um ein solches Werk hervorzubringen?““[1]

Der Begriff der Katharsis wird von Goethe auf ambige Weise bestätigt und verworfen, um sogleich als Effekt des „aesthetische(n) Spiel(s)“, der Ästhetik bzw. der Art und Weise der Aufführung nahegelegt zu werden. Die Katharsis an der Grenze von Medizin und Moral fände insofern ohne Bezug auf einen Schmerz außerhalb des Spiels statt. Doch gleichzeitig formuliert Goethe, dass er „vermieden“ habe, „irgend eine tragische Situation“ aufzusuchen. Die „tragische Situation“, die (nicht nur) Goethe meidet, lässt sich nach Freud an der Schnittstelle von Medizin und Moral besser als Trauma beschreiben. Doch Nietzsche knüpft direkt an Goethe an, wenn er in § 22 seiner Tragödientheorie kurz zuvor seine „Erfahrungen“ als „Zuhörer“ beim „Anhören“ von Isoldes Schlussgesang, dem sogenannten Liebestod aus Richard Wagners Tristan und Isolde, beschrieben hatte.
„Diese so tiefsinnige letzte Frage dürfen wir jetzt, nach unseren herrlichen Erfahrungen, bejahen, nachdem wir gerade an der musikalischen Tragödie mit Staunen erlebt haben, wie wirklich das höchste Pathetische doch nur ein aesthetisches Spiel sein kann: weshalb wir glauben dürfen, dass erst jetzt das Urphänomen des Tragischen mit einigem Erfolg zu beschreiben ist. Wer jetzt noch nur von jenen stellvertretenden Wirkungen aus ausseraesthetischen Sphären zu erzählen hat und über den pathologisch-moralischen Prozess sich nicht hinausgehoben fühlt, mag nur an seiner aesthetischen Natur verzweifeln: wogegen wir ihm die Interpretation Shakespeare’s nach der Manier des Gervinus und das fleissige Aufspüren der „poetischen Gerechtigkeit“ als unschuldigen Ersatz anempfehlen.“[2]

Nietzsche argumentiert mit Goethe und Shakespeare, um deutlich zu machen, dass die Katharsis als „Urphänomen des Tragischen“ nicht als „stellvertretende Wirkungen aus ausseraesthetischen Sphären“ zu betrachten ist. Die Reinigung für griechisch κάθαρσις (katharsis) wird von Nietzsche mit Wagners „Musikdrama“ Tristan und Isolde insofern ein immanent ästhetischer Prozess, für den es keiner Erinnerung an ein Trauma bedarf. Nach Martin Vöhler folgen Josef Breuer und Sigmund Freud dem „Impuls“, „die gezielte Erregung und „Entladung“ der Emotionen“ als „Pathologisierung der Katharsis“ in die Psychologie aus der Tragödientheorie einzuführen. Nietzsche rekurriere „seit der „Geburt der Tragödie“ (1872) auf Bernays“ und stelle „die kathartische „Entladung“ in den Dienst des gesteigerten Lebens“.[3] In dieser Weise findet sich in den nachgelassenen Fragmenten von Nietzsche eine weitere Wirkungsweise der „Musik“ als Prozess.
„Um diese Erkenntniß von der Musik zu bekommen, mußte sie durch Bach Beethoven Wagner sich gleichsam wiederfinden und aus dem Dienste der Civilisation erlösen. Sei die griechische Musik welche sie wolle, die Katharsisschilderung des Aristoteles erlaubt uns den Analogieschluß, daß sie für die Griechen dieselbe Wirkung hatte wie für uns, d.h. daß sie also nicht herabgesunken war zur gefälligen Kunst.“[4]

Was bearbeitet Nietzsche mit dem Fragment aus dem Umfeld der Geburt der Tragödie? In allen Schriften Nietzsches kommen nur einmal der Begriff der Katharsis und einmal der, man kann wohl sagen, Neologismus Katharsisschilderung vor.[5] Die Erweiterung der Katharsis zur Katharsisschilderung gibt dabei bereits einen Wink, dass Aristoteles sie in der Lektüre Nietzsches selbst als einen Vorgang beschreibt. Die Katharsis wird insofern aus einem phänomenologischen in einen praxeologischen Denkansatz überführt. Nietzsche will damit vor allem gegen die Musik als „gefällige() Kunst“ argumentieren. Anders gesagt: die Katharsis ist nicht „gefällig“ oder nur unterhaltend, vielmehr löst sie im „Zuhörer“ selbst einen nicht nur gefälligen, nicht nur angenehmen Prozess aus. Dieser Prozess kann zu heftigen Reaktionen und Emotionen, gleichwohl „herrlichen Erfahrungen“ führen. Was macht die Musik so besonders? Es sind nicht die Worte im „Dienste der Civilisation“ und des Wissens, vielmehr findet die auditive Wahrnehmung jenseits der „Civilisation“ statt. Dort geschieht Katharsis. Das kann man das Unter- oder Unbewusste nennen.

Das Zuhören spielt für die Katharsis bei Nietzsche und in seiner Schrift zur Tragödie wie zum Theater die entscheidende Rolle. Damit sind wir bei Nils Foersters Konzept des Audio-Walks als Theaterkonzept. Ich möchte hier die sinnliche Erfahrung des Zuhörens ganz besonders herausstellen. Nicht zuletzt beschreibt die Formulierung Stimmen hören etwas Unheimliches. Wenn jemand Stimmen hört, dann ist das unheimlich und beängstigend, weil sich die Stimmen visuell nicht bestätigen lassen. Auf dem Audio-Walk lässt uns Nils Foerster Stimmen hören, die auf keiner Bühne zu sehen sind, aber sich imaginieren lassen. Wir hören Stimmen von Menschen, die laut Krisengesetzen abwesend sein müssen! Im 21. Jahrhundert können wir uns mit audiovisuellen Medien darüber hinwegtäuschen, dass die Menschen (nicht) da sind. Aber ein Audio-Walk im Theater und auf der Bühne ist nicht einfach ein Hörspiel oder Podcast oder Berieselung von Spotify etc. Bei der Berieselung geht es nicht ums Zuhören. Beim Audio-Walk unbedingt.  

Michael Lüthy hat insbesondere das Katharsis-Konzept für die Performance-Kunst der 1960er und 1970 erforscht.[6] Er diskutiert sowohl die ästhetische Wirkungsweise wie das psychoanalytische Konzept für die Kunstform Performance, um diese letztlich als „Infragestellung und Negation“ von „künstlerischen Konventionen“ zu beschreiben.[7] Bei der von Lüthy analysierten Performance-Kunst geht es um entschieden visuelle Performances wie die von Vito Acconcis. „Seine Performances thematisierten dabei gezielt drei zentrale Potenzen des Feldes: den künstlerischen Produktionsakt, das Sehen sowie den Erfahrungsraum der Galerie.“[8] Mit der sinnlichen Verschiebung zum Auditiven verändert sich auch der Katharsis-Prozess. „Ja, und wo ist denn da das Theater“, fragte ein Freund, dem ich von Theater geht erzählte, gleich. Das Theater beginnt auf einem Stuhl gegenüber einem ehemaligen Pferdestall aus den 1870er Jahren, der schon als Galerie genutzt wurde und nun in einer Art Sommercamp hätte renoviert werden sollen. Da aber keine Sommercamps epidemiologisch als ratsam erscheinen, wurde nun eine Firma mit dem teilweisen Abriss und Wiederaufbau beauftragt. Mooooment!

Zurück auf Anfang: Der Hof der Brotfabrik ist leer. Große Leere. Mit dem Kopfhörer auf den Ohren wartet der Audio-Walker genannte Zuhörer auf genau 18:00 Uhr. Dann schnurrt das Mobile, deutsch Handy, und die Audiodatei wird heruntergeladen. Die Führung übernimmt (zunächst) Cortana, die „Sprachausgabe“ von Microsoft. Es ist eine weibliche Stimme. Wahrscheinlich ließe sie sich auch als männliche einstellen. Cortana übernimmt die Begrüßung und Führung. Sie hat noch einen Assistenten, der klanglich unterschieden sagt, was ich genau machen und wohin ich gehen soll. Erst einmal soll ich mich auf den Stuhl mit „01“ setzen. Die Leere ist wichtig. Es sind keine anderen Menschen da. Und falls doch andere Menschen auf dem Hof sein sollten, dann gehören sie nicht zur Inszenierung. Zufälle passieren immer wieder. Das ein wenig unheimliche Theater beginnt mit Cortana und mir. Cortana ist eine Maschine, die fast so heißt wie die „Virusfamilie“ Corona, aus der sich das zweite Mitglied so ungünstig verbreitet, dass es die Theater (und noch mehr) lahmlegt. Ich höre der Maschine zu.

Die Sprachausgabe als Hörschauspielerin ist schon einmal klasse. Ich bin mir gar nicht sicher, wie viele Menschen wie oft derzeit oder noch vor kurzem mit Siri, Alexa oder Cortana gesprochen haben. Das kam eigentlich in keiner Nachrichtensendung vor. Warum nicht? Als ginge es nicht ganz ohne Menschen, hängen irgendwie alle am Zoom oder anderen Videoschaltungen, um Menschen, bisweilen ihre Liebsten und dann auch noch Menschen als Lustpartner zu sehen. Ich habe vor dem Lockdown, während des Lockdowns und auch danach nicht mit Cortana gesprochen. Auch Zoom etc. bleibt für mich weit unter einem kathartischen Zuhörensmoment. Der Sprachausgabesound klingt weiterhin irgendwie hölzern oder blechern, was möglicherweise als neutral konstruiert worden ist. Cortana und ich sind für mich jedenfalls schon mal ganz großes Theater. Und dann kommt eine Menschenstimme, die Leiterin der Galerie, die über die Galerieräume spricht.

Es gibt also Menschenstimmen, die Galeristin, die Pastorin, der Schauspieler, die Schauspielerin an der Kasse eines Supermarktes etc. und die Sprachausgabe im Audio-Walk. Dann kommen wir zur Station 2 unter einer Weide, wo mir erzählt wird, dass Weiden im Chinesischen immer auch eine erotische Bedeutung haben. „Ja, ja, denke ich mit meinen Chinesischkenntnissen. Weiden sind das Pendant zu Blüten oder Blumen Huā.“ Das ist nun schon eine erotische Anspielung und wird sogleich mit einer Rückschau auf den Hof durch eine Geschichte über Shakespeares Theater während der Pest-Epidemie 1592 erweitert. Welchen Einfluss die Pest-Epidemie auf Shakespeare und die Londoner Theater gehabt haben könnte, interessierte bis vor kurzem niemand. Plötzlich erweisen sich die geschlossenen Theater von London im Jahr 1592 als Referenz und Verbündete im Leiden der Theater und der Unterhaltungsindustrie während der Covid-19-Pandemie. Das epidemiologische Wissen, von dem wir noch vor kurzer Zeit gar nicht wussten, was wir darüber wissen, wird in der Audio-Walk-Montage in der Brotfabrik plötzlich präsent. Über die Pest-Epidemie hat Shakespeare nie direkt geschrieben. Aber die Pest kommt als medizinisches Wissen seiner Zeit in seinen Dramen vor.

Und dann gibt es da irgendwo und von irgendwem zu Theater geht eine Formulierung, die die Angst vor Zwang ausspricht. Man werde zu nichts gezwungen, heißt, dass es die Angst gibt, man könne zu irgendetwas gezwungen werden. Mir persönlich sind nicht einmal die Kontaktbeschränkungen als Zwang bewusst geworden. Ich habe sie nie als Zwang empfunden. Zwang ist für mich zu willkürlich, als dass ich ihn auf die Epidemie-Szenarien des Robert-Koch-Instituts, der WHO, der Regierungen, der Virologen und Epidemiologen etc. beziehen könnte. Den Zwang kann ich schlecht einem/einer einzelnen Wissenschaftler/in oder Institution zuschreiben. Natürlich zwingt mich das verbreitete Wissen über die Epidemie wie die Wirkung des Virus‘ Sars-Cov-2 aus der „Virusfamilie“ der Coronaviridae, meine Lebenspraxis zu verändern. Aber mir war es von Anfang an unangemessen, wenn nicht unsinnig oder gar konspirativ diesen Zwang in der Macht eines/r Virologen/in zu personalisieren oder zu institutionalisieren. Das was die Wissenschaft von dem Virus wusste, weiß und vielmehr noch, was wir immer noch nicht wissen, erschien mir so überzeugend, dass ich weniger Angst vor Zwang als vielmehr vor sozialen, wenn nicht menschlichen und allzumenschlichen Verhaltensweisen hatte und habe.

Der Audio-Walk ist Mitmachtheater. Das liegt natürlich am Zuhören und der Katharsis. Die Szene 4, wo ich sonst die Stufen zur Bühne z.B. ratten in the box hochsteige, geht ganz einfach. Ich muss mich erst einmal nur auf die Zahlenkombination „10.03.“ stellen und zuhören. Den 10.03.2020 hatte ich schon lange vergessen. Was ist noch am 10.03.2020 passiert? Oder am 13.03. und am 14.03.? Wie fühlt sich das an, daran erinnert zu werden, wie das öffentliche Leben heruntergefahren wurde? Über den Audio-Walk kommen fast so trocken wie von der Sprachausgabe die Anordnungen, wie die Kontaktbeschränkungen eingeführt wurden. Das Stehen auf den Stufen und das Zuhören werden kathartisch. Oder anders gesagt: Ich bin geflasht! Da sitzt gar nicht einmal jedes Wort, das mich durchbohrt, vielmehr trifft mich der Schock, den ich gar nicht zugelassen habe. Noch einmal anders: Während gerade alle fleißig normalisieren, verschenken sie die Chance, die größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg zumindest für Deutschland unbearbeitet und unbedacht zu vergessen. Doch Theater ist genau dafür zuständig. Bravo!

Wir wissen absolut nicht, ob die größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg schon zu Ende ist. Vieles spricht dafür, dass es nicht so sein wird. Aber geradewegs träumerisch, verhalten sich sehr viele Menschen, als wäre die Pandemie als Krise bereits vorbei, was einen Wink auf die Dimension des Imaginären im Wissen geben könnte. Oder wie Claudia Reiche es schon im Live Talk über Die Mondmaschine am 1. April sagte: die Fiktion des Wissens. Eine Krise ist immer eine Erschütterung der Wissensmodelle. Denn sie wird nicht zuletzt als eine wahrgenommen, weil das, nennen wir es einmal, Alltagswissen nicht (mehr) funktioniert. Darin liegen die wirkliche Herausforderung, unser Wissen neu zu justieren und auszuhalten, was wir alles nicht wissen. Gleichzeitig – und das thematisiert Nils Foerster mit der Szene 11 – haben wir fast unbemerkt in kürzester Zeit Unmengen von Wissen generiert und internalisiert. Wir haben einen anderen Blick bekommen. Was sehen Sie, wenn Sie selbst ungesehen auf den Caligariplatz blicken? Was möchten Sie den Menschen auf dem Platz mitteilen? Etwas Positives? Etwas Negatives? Oder doch erst einmal dazwischenfahren, dass viel zu viele Menschen viel zu nah aufeinander hocken?

Wie wir auf das reagieren, wie wir wahrnehmen, was auf dem Platz passiert, ist eine Wissensfrage und wie wir mit „unserem“ Wissen umgehen. Das Wissen verändert uns und hat uns bereits ein wenig verrückt. Es gibt noch viele andere brillante Szenen auf dem Audio-Walk – plötzlich steht da ein ganzer Ständer mit der „Verlagsvorschau Frühjahr 2020“ von Theater der Zeit mit einem Szenenfoto von den Proben der Passionsfestspiele Oberammergau. Und dann kam der Super GAU. – Übrigens: anders als bei Tschernobyl 1986 wurde nie der Begriff GAU (Grösster Anzunehmender Unfall) strukturierend für die Pandemie verwendet. – Sie finden nicht vom 16. Mai bis 4. Oktober 2020 statt. Dabei wurden 1633 die Passionsfestspiele als Versprechen dafür eingerichtet, dass „nach monatelangem Leiden und Sterben an der Pest“ sich die Oberammergauer durch Gott gerettet fühlten.[9] Die Verlagsvorschau: Makulatur. Natürlich kann nicht jede Szene besprochen und schon gar nicht sollen sie verraten werden. Die 109 Minuten werden jedenfalls nicht lang. Und im besten Fall stellt sich Katharsis ein.

Torsten Flüh

Brotfabrik Bühne
Theater geht
Audio-Walk für eine Person
Bis Ende Juli 2020
Walk buchen


[1] Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie. Nietzsche Source: KGWB/GT-22 — Die Geburt der Tragödie: § 22. Erste Veröff. 02/01/1872.

[2] Ebenda.

[3] Martin Vöhler: Die Pathologisierung der Katharsis im 19. Jahrhundert: Bernays, Freud, Nietzsche (119). In: Languages of Emotions. (Freie Universität Berlin)

[4] Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1871. Ebenda eKGWB/NF-1871,9[36].

[5] Katharsis + Katharsisschilderung: http://www.nietzschesource.org/#

[6] Michael Lüthy: Eine Kunst in ihrer Zeit. In: Struktur und Wirkung der Performance-Kunst. In: Grenzen der Karthasis in den modernen Künsten. Transformationen des aristotelischen Modells seit Bernays, Nietzsche und Freud, hrsg. von Martin Vöhler und Dirck Linck, Berlin/New York 2009, S. 199-230. (online)

[7] Ebenda Katharsis und Kritik.

[8] Ebenda.

[9] Theater der Zeit: Verlagsvorschau Frühjahr 2020. Berlin, 2020, S.4.

„Wer Leidet der Schneidet/Wer Schneidet der Leidet“ oder John Heartfields visuelle Kombinatorik

Trauma – Material – Kombination

„Wer Leidet der Schneidet/
Wer Schneidet der Leidet“
oder John Heartfields visuelle Kombinatorik

Zur bahnbrechenden Ausstellung John Heartfield – Fotografie plus Dynamit in der Akademie der Künste

Bereits am Abend des 4. März[1] kündigte ein Ausschnitt der komplexen Montage einer zähnefletschenden Hyäne mit Zylinder die Ausstellung John Heartfield – Fotografie Plus Dynamit an der Glasfassade der Akademie der Künste am Pariser Platz vom „21.3.-21.6.20“ an. Es kam anders. Am Morgen des 2. Juni wurde die Ausstellung nun tatsächlich sang- und klanglos für den Publikumsverkehr nach Zeitfenster-Ticket geöffnet. Das ist schmerzhaft. Ein Einschnitt. Planmäßig wird die Ausstellung in modifizierter Weise ab 17. Januar 2021 im Museum de Fundatie in Zwolle, Niederlande, und ab 14. Juli 2021 in der Royal Academy of Arts, London, zu sehen sein. In Berlin werden sie immerhin bis 23. August wegen der anhaltenden Kontaktbeschränkungen weniger Besucher*innen sehen können. Ein Verlust. Denn diese Ausstellung verdiente Besucherströme. Gleichwohl überschneiden sich mit der Ausstellung von vorne herein digitale mit analogen Formaten, die ad hoc noch einmal digital verstärkt worden sind.

Die Deutschen – vielleicht besonders – waren noch nie besonders gut in der Bearbeitung eines Traumas. Der aktuelle Normalisierungswunsch während der andauernden COVID-19-Pandemie gibt einen Wink, dass frau/man sich wieder einmal dem Trauma nicht stellen können oder wollen. Die Ausstellung am Pariser Platz hält dafür gleich im ersten Raum mit einer multimedialen Inszenierung – Foto, Film, Sound – unter dem Titel „Wer Leidet der Schneidet/Wer Schneidet der Leidet“ von Marcel Odenbach, einer Auftragsarbeit der Akademie der Künste, eine andere Sichtweise bereit, die zugleich als Interaktive 360°-Panorama-Tour im Internet bereitgestellt worden ist. Die rhetorische Figur des Chiasmus als Titel gibt weiterhin einen Wink auf John Heartfields erste Fotomontage aus dem Weltkriegsjahr 1917/1918 mit dem handschriftlichen Motto „So sieht der Heldentod aus“ zwischen zwei Fotos von Hermann Vieth.[2] Zwischen den beiden übereinander montierten Fotos vom Weltkriegsschlachtfeld hält die Inschrift von Hand eine Wunde offen, um allererst auf sie hinzuweisen und sie zu verstärken.

Das nennt man eine Koinzidenz: Die John Heartfield-Ausstellung wendet sich mit dem „Foto als Waffe“[3] gegen Nationalismus wie den Nationalsozialismus, gegen Rassismus, gegen Faschismus, gegen Kapitalismus und gegen Militarismus. Themen, die John Heartfield vor 100 Jahren mit der Praxis der Fotomontage bearbeitet und visualisiert, kehren während der Pandemie wie unter einem Brennglas wieder. Populismus transformiert sich zu offen nationalistischen, faschistischen, rassistischen und militaristischen Drohungen und Befehlen vor der „Kirche der Präsidenten“ mit der Bibel in der Hand eines Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika. Das lässt sich nur Propagandafoto nennen oder zumindest ein irgendwie auch gründlich missglückter Versuch, mit der Bibel in der rechten Hand vor der episkopalen Kirche mächtig und wie bei den Evangelikalen vom Gott der Christen autorisiert zu erscheinen. Es lässt sich leicht als eine visuelle Praxis der Evangelikalen entschlüsseln, die um so mehr die amerikanische Ausprägung der englischen Staatskirche, der anglikanischen, verletzt und missachtet. Derartige (Selbst-)Darstellungen z.B. Adolf Hitlers hat John Heartfield nahezu systematisch aufgegriffen, dekonstruierend zerschnitten und entlarvend neu kombiniert.

Die Politik der Bilder und die Politik mit Fotografien hat in diesen Tagen Hochkonjunktur. Deshalb sind Fotografien nicht zuletzt Donald Trump so wichtig, dass er den Weg zur Kirche mit Staatsgewalt räumen lässt und Demonstranten ihr Recht auf freie Meinungsäußerung entreißt. Die John Heartfield-Ausstellung und der Katalog werden gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes. Das nun weitestgehend digital realisierte Veranstaltungsprogramm zur Ausstellung wird durch die Bundeszentrale für politische Bildung gefördert. Im Geleitwort stellen Werner Heegewaldt (Archiv der Akademie der Künste), Ralph Keuning (Museum de Fundatie) und Rebecca Salter (Royal Academy of Arts) Fragen, die sich zwischenzeitlich wie von selbst zu beantworten scheinen:
„Hat sich Heartfields Kunst der politischen Fotomontage überlebt? Oder sind andere visuelle Ausdrucksformen entstanden, die sein Prinzip der (De-)Konstruktion von Bildern künstlerisch weiterentwickeln? Bereits in der Weimarer Republik war die Fragmentierung der politischen Öffentlichkeit ein Kennzeichen. Politsatire bediente vor allem das eigene Lager. Wie sieht das heute aus? Sind durch die sozialen Medien Teilöffentlichkeiten entstanden, die überwiegend als Echoräume Gleichgesinnter und vorrangig der politischen Affirmation dienen? Ist der Dialog über Fakten nicht vielfach dem Dialog über Meinungen gewichen?“[4]   

Wie sähe eine Fotomontage von John Heartfield auf Donald Trumps Machtdemonstration aus? Die Covid-19-Pandemie hat den Kuratorinnen der Ausstellung Angela Lammert, Rosa von der Schulenburg und Anna Schultz für Berlin die gebührende Aufmerksamkeit verdorben. Angesichts der jüngsten Bild- und Sprach-Politik aus dem Weißen Haus, die bislang nicht auf dem Niveau von John Heartfield bearbeitet worden ist, wirken ihre methodologischen, wissenschaftlich fundierten Aufsätze im Katalog fast ein wenig harmlos, was sicherlich daran liegt, dass sie sich nicht vorstellen konnten, was sich Anfang Juni 2020 visuell und verbal in Washington abspielen sollte. „President Trump Delivers Remarks“ vom 2. Juni 2020, in denen er das Gesetz beschwört, um gleichzeitig mit dem Einsatz tausender Soldaten des Militärs zu drohen[5], wären für Heartfield Bildmaterial für Fotomontagen gewesen. Die Szene vor der episkopalen ST John’s Church in Washington, die historisch als „Kirche der Präsidenten“ gilt, vom 1. Juni hat das Weiße Haus als Video nicht veröffentlicht. Auch der Fototermin am 2. Juni vor dem Nationalschrein für Papst Johannes Paul II. in Washington, der Ekel und heftige Proteste der Katholischen Kirche in Amerika auslöste[6], bleibt eher semi-offiziell. Aber die Fotos existieren und kursieren im Internet und in den Printmedien.

Für John Heartfield wären die Fotos der Fototermine gerade unumgängliches Bildmaterial, weil sie im Rahmen des Termins immer die Selbstdarstellungen des Politikers als Präsidenten aufführen. Fototermine sind symbolische Handlungen, insofern Trump seinen massigen Körper vor die Kirche oder neben eine überlebensgroße Statue von Johannes Paul II. stellt. Es sollen Kontextualisierungen und Analogisierung zweifelsohne im Modus der Verkennung und Verfälschung vorgenommen werden. Insofern muss man sagen, dass Trump seinen Körper und sein Grinsen in das Foto mit Kirche oder Papst montiert, als sage er „Ich, Donald Trump, Präsident der USA, spreche im Namen der Kirche und Gottes“. Rosa von der Schulenburg schreibt dementsprechend zu Heartfields Fotomontagen:
„Der Einsatz visueller Rhetorik (wozu auch die Montagetechnik gerechnet werden kann) interessiert heute Forschende und Lehrende im Bereich der Bildsemiotik, der Medienwissenschaften, des Kommunikationsdesigns und des Produkt- und Marketingmanagements gleichermaßen. Die Montagetechnik spielt eine wichtige Rolle beim Einsatz rhetorischer Figuren wie Zitat, Kommentar, Hyperbel, Repetitia, Klimax, Antiklimax, Variation, Chiasmus, Konvergenz bzw. Kongruenz, Divergenz, Analogie, Mensch-Tier-Vergleich, Parabel, Antithese, Paradoxon, Ironie – um nur einige aus Heartfields Repertoire aufzuzählen.“[7]

Fotos oder kurz Pics werden bei Facebook oder Twitter heutzutage kaum auf ihre Konstruktion und Rhetorik befragt. Pics sind die Währung der Aufmerksamkeit in sozialen Medien, die mit „Gefällt mir“, „Love“, (neuerdings) „Umarmung“, „Haha“, „Wow“, „Traurig“ oder „Wütend“ per Klick entgolten wird. Auf der Fotoplattform Instagram werden die Fotos mit Herz, Kommentar und Schwalbe bewertet. Das schnell erfasste Pic für picture/Bild wird noch schneller durchgeklickt. Welche Rhetorik im Pic verwendet wird, sieht kaum jemand. Welche Wiederholungen und Standards der Selbst-Darstellung eingesetzt werden, interessiert nur nach der Anschlussfähigkeit und damit der Analogie. In „Trump mit Bibel vor ST John’s Church“ sehen all jene die Macht verkörpert, die in die visuellen Praktiken der evangelikalen Kirchen eingeübt sind. Das Bild ist stimmig für sie. Sie werden sich gar in ihrem Begehren, die göttliche Macht verkörpert zu sehen, bestätigt finden. Die evangelikale Macht des Göttlichen ist selbstredend total bzw. totalitär.[8] Dass es Trump dabei einzig und allein um eine weitere Lüge seiner Macht geht, wie John Heartfield sie in der Fotomontage Adolf, der Übermensch: Schluckt Gold und redet Blech 1932[9] dekonstruiert, erscheint nicht einmal als Montage in Fernsehnachrichten oder -magazinen.

Fotomontagen können insofern durch Figuren der „visuellen Rhetorik“ allererst die Konstruktion des scheinbar natürlichen oder wahren Ausgangsmaterials aufdecken, denn der Kopf der Montage stammt aus einem Foto von einem Auftritt Adolf Hitlers auf einer Kundgebung im Lustgarten in Berlin am 4. April 1932.[10] Rosa von der Schulenburg hat für die Fotomontage Hakenkreuzottern die komplexe visuelle Rhetorik analysiert und kontextualisiert.    
„Eine Fotomontage, die definitiv nur die Handschrift Heartfields trägt, erschien am 19. Oktober 1933 in der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung (AIZ). Zwischen der erläuternden Überschrift Zum Brandstifter-Prozess in Leipzig und dem kommentierenden Untertitel Sie winden sich und drehen sich und nennen sich deutsche Richter (Polysyndeton, Metapher) bilden zwei ineinander gewundene Schlangenleiber in formvollendeter Symmetrie Paragrafenkörper (Mensch-Tier-Vergleich, visualisierte Metapher) mit jeweils einem Kopf am oberen und am unteren Ende. Als Richter werden sie durch die zur Amtstracht gehörenden Baretts (Synekdoche) kenntlich. (…) Mit der Überschrift Hakenkreuzottern (Wortmontage, Neologismus durch „Kontamination“), dem gleichen Bildmotiv und der gleichen Untertitelung wie in der AIZ wurde Heartfields Fotomontage – nun in klassisch emblematischer Form – als Postkarte in Deutsch im tschechischen Exil gedruckt.“[11]

ohne Titel (um 1928)

Das Foto ist immer ein Aufriss der Zeit, den Roland Barthes in der Temporalität des «ça-a-été» beschrieben hat.[12] Es ist eine Wunde oder ein Schock, ein Schnitt, der dennoch den Praktiken des Fotografierens und im Porträt denen der Selbst-Inszenierungen unterliegt. Erst in einer komplexen Rahmung des Fotos durch Text-Bild-Montagen, wie sie Rosa von der Schulenburg für die Postkarte aus dem tschechischen Exil mit Überschrift und Untertitel analysiert hat, werden aus den fotorealistischen Schlangenkörpern der beiden Kreuzottern in ihrer Verschlingung mit piktographischen Elementen der Hakenkreuze und anthropomorphen Baretten entlarvende „Hakenkreuzottern“. Wie wurden nun die Fotomontagen generiert? Unterscheiden sich die sprachlichen von den bildlichen Montagen, die als Postkarte, wie von der Schulenburg es sieht, zum „Emblem“ tendiert?[13] Hat sich bei Heartfield die Renaissance-Praxis der Emblematik in die Moderne zur Fotomontage-Postkarte transformiert?   

Die Ausstellung und der Katalog John Heartfield – Fotografie plus Dynamit bieten eine methodologische Vielfalt, die nicht zuletzt wiederholt durch Archivfunde angestoßen worden ist. Angela Lammert widmet insbesondere zwei Aspekten der Archivfunde eine gesonderte Aufmerksamkeit. In ihrem Aufsatz Material Prozess Archiv kommt Heartfields „Sammlung von unregelmäßig beschnittenem Fotomaterial“ zum Zuge.[14] Ebenso befasst sie sich in ihrem Katalogbeitrag Bilder vom Gräuel als (nicht) benutztes Material mit dem durchaus verstörenden Fund eines „Konvolut(s) von Gräuelbildern“.[15] Beide Artikel bearbeiten insofern nicht nur neue Aspekte aus dem Nachlass, vielmehr forcieren sie die Frage nach dem Material der Fotomontagen, das entweder zur Montage bereits zugeschnitten und archiviert worden ist oder als Fotografie mit rückseitiger Beschriftung – „Komsomolzin Partisanin Tanja, von Faschisten zu Tode gequält im Dorf Petrischtschewo, Landkreis Vereisk, Bezirk Moskau“[16] – unbeschnitten beiseitegelegt worden ist. In einem größeren Kontext von Materialität, Material und Praktiken ihrer Be- und Verarbeitung in Literaturen und bildenden Künsten werden die Archivfunde zu einer methodologischen Herausforderung.[17]

Das gefundene Montagematerial, das in der Ausstellung z.B. mit Gewehren und Händen[18] besonders berücksichtigt wird, stößt eine neue Diskussion um John Heartfield als visuellen Künstler an. Lässt sich einerseits eine visuelle Rhetorik als politische Arbeitsweise ausmachen, so rückt mit den Archivfunden anderseits die Praxeologie der Fotomontage in die Aufmerksamkeit. Fotomontagen werden nicht zuletzt zu einem eigensinnigen Schauplatz des Wissens und der Wissenschaft. Das lässt sich bereits mit Adolf, der Übermensch: Schluckt Gold und redet Blech bedenken. Denn die rhetorische Figur wird damit visualisiert, dass Heartfield für den Oberkörper ein Röntgenbild als Wissensform benutzt. Das Röntgenbild legt ein verborgenes Wissen über den Körper mittels der wissenschaftlichen Methode der Röntgenstrahlen frei. Es funktioniert insofern als eine technologische Übertragung des Wissens vom menschlichen Körper auf den politischen Körper Adolf Hitler. Geröntgt und visualisiert wird ein korrupter Politik(er)körper. Lammert hat für das Material mehrere Fragen formuliert:
„Verortet man Heartfield heute nicht nur im politischen, sondern auch im die Grenzen der bildenden Kunst überschreitenden künstlerischen Milieu, stellen sich Fragen wie: Unterscheidet sich seine Materialsammlung von der anderer „Monteure“? Ist das in den Archiven Erhaltene ein Tagebuch ungenutzter Möglichkeiten? Werden „Gespenster aus der Vergangenheit“ sichtbar, die mit ihrer Auffindung gewissermaßen „aus der Zukunft“ unseren Blick auf das Thema neu justieren? Schließlich ist das „Werk als Verlauf“ und die Darstellung seiner Entstehung nicht mit dem Archiv und seiner Erfassung gleichzusetzen.“[19]     

Lammert stellt die Frage nach der Materialsammlung. Es gibt unterschiedliche Praktiken des Sammelns, die verschiedene Sammlungen generieren.[20] Sie zieht für ihren Vergleich „eine erst 2004 wieder aufgetauchte Mappe mit 82 Blättern“ zu Bertolt Brechts Kriegsfibel heran.[21] Diese wird auch in der Ausstellung präsentiert. Er „sammelte anders“, wie Lammert feststellt. „Bei den Fotografien und Zeitungsausschnitten, die Brecht während seines amerikanischen Exils auf einzelnen montierten Seiten in eine Buchabfolge brachte, handelt es sich um Recherchen zu Typen und Rollen in seinen Stücken.“ Besondere Aufmerksamkeit weckt eine Art Typologie von Küssen bzw. Lippenstiftabdrücken von Frauen, „soldier girls“, die durchaus sexistische und rassistische Züge aufweisen, wenn es etwa zur farbigen Lucile Steward heißt:
The rosebud design used by Lucile Steward is small but effective. It is made by pursing the lips to a point, then pressing them steadily against the back of the envelope until the lipstick is transformed. Care must be taken not move during the transfer, else design will be blurred. Lucile’s soldier is Private A. Harper whom she met five years ago when she took a with his family in Harlem. She works in a beauty parlor and writes Harper frequently.“[22]  

Die intimen Lippenstiftabdrücke für die Rückseite des Umschlags von Briefen an amerikanische Soldaten im Kriegsdienst sind ebenso erotisch bis durch die Benennung als „rosebud design“ an die Grenze zur Pornographie wie „designed“, also funktional, auf den Gebrauch hin hergestellt. Das Design der Lippen erlaubt eine semiologische Einordnung und Wiedererkennbarkeit. Der Kuss wird nicht nur zum Zeichen der Liebe. Vielmehr wird der er wie heute mit dem Design Research von Gesche Joost zum Ding im Semantic Web, das sich finden lässt. Doch dieses zeichenhafte Ding rosebud design ist durch seine Benennung mehrdeutig. Rosebud ist im Amerikanischen nicht nur die Rosenknospe, vielmehr noch eine auf den Punkt gebrachte Anspielung auf den Anus als Fetisch.[23] Nicht anders verhält es sich mit „Blossom Chan’s brother“ oder „Full lip design“ als soldatenbetreuende Maßnahmen. Im Krieg dürfen gar die ausgetauschten Lippenstiftabdrücke inzestuöse Züge wie bei Chan annehmen. Lammert schreibt:
„Es ist die Abfolge von Bildern, nicht die Montage auf einem Blatt, die Brechts Aufmerksamkeit weckt. Eine der nächsten Seiten zeigt denn auch ein Fototableau mit im Regal aufgereihten Männerhüten, deren Einkerbungen wie Umkehrungen der vorangestellten Kussmünder wirken. „Angewandtes Theater“ – so der Titel eines von ihm verfassten und zwischen die Blätter gelegten Textes – nennt Brecht diese Form des Sammelns …“[24]

Brechts Sammlung fasziniert nicht zuletzt durch Erotik, in die sie als Soldatenbetreuung jenseits der offiziellen Moralstandards verwickelt ist. Die Kussmünder der Soldatenbräute sollen medial als Design in die Köpfe der Soldaten passen, weshalb die Männerhüte entsprechen eingekerbt sind. Brecht hat den Begleittext ebenfalls ausgeschnitten, der das Kriegsdesign der Kussmünder offen formuliert: „There are many ways of building and maintaining the morale of a fighting man. No way is better, though, than the simplest of these: mail from home. And no mail from home is more eagerly received than mail from a soldier’s girl.“ Im Design – „rosebud design“, „full lip design“ – überschneiden sich „Bildsemiotik“ und psychologisch-sexuelle Manipulation im Dienste der Kriegsmaschinerie. Bei aller praxeologischen Anlage der Sammlung für ein „Angewandtes Theater“ dürfte Bertolt Brecht nicht ganz unempfindlich für Passgenauigkeit von Kussmündern und Männerhüten gewesen sein. Dagegen ist John Heartfields Sammlung nach Lammert weit funktionaler angelegt.
„Sie waren Material für Buchumschläge und nicht zuletzt für Motive der Fotomontagen, Und: Der Monteur selbst stellt sich in den gemeinschaftlichen Projekten als Material zur Verfügung.“[25]  

So sieht der Heldentod aus

Welche Rolle spielt das Material, das in der Praxis der Fotomontage von Heartfield nicht verwendet wird? In ihren Überlegungen zu den „Gräuelbildern“ kommt Lammert auch auf So sieht der Heldentod aus zu sprechen. Von Heartfield wurde diese Montage selbst als Urszene der Fotomontage als „Widerspruch“ 1967 in einem Gespräch mit Bengt Dahlbäck verortet.[26] Der Propagandabegriff „Heldentod“ wird rhetorisch mit „den Aufnahmen der verwesenden Körper“ kontrastiert[27]. Der „Heldentod“ auf den Fotos widerspricht vor allem den Denkmälern und Narrativen, in denen er als glorios, als schöner Tod dargestellt wird. Doch wenn Heartfield die beiden Fotos übereinander montiert hat und der handschriftliche Eintrag als Untertitel sowie als Titel dazwischen gesetzt wird, dann erscheint er dort auch als Reaktion auf ein Trauma wie Wunde im Griechischen τραύμα. Das Trauma ist noch keine Gräuelbild und schon gar keine Fotomontage. Heartfield selbst war offenbar nicht auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs. Doch das Trauma wird von ihm zum Material transformiert. Der „Widerspruch“ kam nachträglich hinzu, was für einen „deutschen Mann“ recht üblich sein dürfte.
„Das ergab natürlich schon wieder einen Kontrapunkt, einen Widerspruch, und es sagte etwas anderes aus. Das war dort die Idee. Das war mir noch nicht so klar, wo das hinführte und dass es bei mir zur Fotomontage führte.“[28]   

Krieg und Leichen – Die letzte Hoffnung der Reichen (1932)
„Hyäne mit Zylinder und „Pour le mérite“. Der „Pour le mérite“ war der höchste preußische Kriegsorden, Heartfield macht ihn zum „Pour le profit“! Diese AIZ-Ausgabe wurde 1932 beschlagnahmt und auf Protest namhafter Schriftsteller und Künstler wieder freigegeben.“ Heartfield Online

Aus der ungeheuerlichen Materialfülle der Ausstellung und des digital erschlossenen Nachlasses von John Heartfield entspinnt sich ein Netzwerk künstlerischer Praxis mit anderen Künstler*innen, politischen Aktivitäten, biographischen Verwerfungen, Materialien und Fotomontagen die medial zwischen Theaterinszenierungen, Buchumschlägen, Illustrationen für Illustrierten, Postkarten und Plakaten etc. wandern. Es spricht einiges dafür, dass die Digitalisierung, die Ausstellung und der Katalog nicht einfach ein Abschluss sind, vielmehr eröffnen sie eine Anzahl neuer Anfänge und Forschungsansätze im Bereich der visuellen Medien. Es gibt bei Heartfield Fotomontagen, die durch theatralisch, akrobatische Aktionen vielleicht sogar aktivistische Performances wie Was geht hier vor? Bildmaterial generiert wurden, um das Material in So macht man Dollars anders zu kombinieren. Aus der Kombinatorik der Elemente einer Fotomontage entspringt plötzlich ein Widerstand gegen Bilderfluten und Datenströme.

Torsten Flüh

Postscriptum: Die Ausstellungen im Museum de Fundatie und in der Royal Academy of Arts in London werden andere Schwerpunkte setzen. In Zwolle wird John Heartfields Zeit in der DDR und in London das Exil stärker berücksichtigt werden. Die Struktur der Ausstellung bleibt bestehen. Der Katalog wird in weiteren Sprachversionen erscheinen. Rosa von der Schulenburg hat als Leiterin des Archivs und Kuratorin 900 Arbeiten für die Ausstellungen gesichtet. Aus konservatorischen Gründen können nicht an allen Orten die gleichen, meist äußerst fragilen Arbeiten gezeigt werden. Insofern wird jede der drei Ausstellungen einmalig gewesen sein.

John Heartfield
Fotografie plus Dynamit
Akademie der Künste
Pariser Platz
bis 23. August 2020
mit Online-Ticket
Di – So 11–19 Uhr, letzter Einlass: 18 Uhr

Kosmos Heartfield
Virtuelle Ausstellung

Interaktive 360°-Panorama-Tour

Heartfield Online
Neubearbeitung und Digitalisierung des Nachlasses

Katalog:
John Heartfield.
Fotografie plus Dynamit
Angela Lammert, Rosa von der Schulenburg und Anna Schultz im Auftrag der Akademie der Künste, Berlin (Hg.)
Akademie der Künste, Berlin / Hirmer Verlag 2020
312 Seiten, 250 Abbildungen
ISBN 978-3-7774-3442-1
€ 39,90
€ 29,90 (Angebot limitiert bis zum 23.8.2020)


[1] Zum 4. März in der Akademie der Künste siehe: Torsten Flüh: Von der Liebe zu Büchern und dem Hass. Zur Buchpremiere von Ingo Schulzes Roman Die rechtschaffenen Mörder und dem Buchhandel in Zeiten der COVID-19-Pandemie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 31. März 2020.

[2] Heartfield online: So sieht der Heldentod aus. (online)

[3] „BENÜTZE FOTO ALS WAFFE!“ ist der Titel einer Seite „(z)ur Ausstellung der Arbeiten von John Heartfield auf der Großen Berliner Kunstausstellung“ von 1929 in der AIZ (Arbeiter Illustrierte Zeitung). Siehe: Angela Lammert, Rosa von der Schulenburg, Anna Schultz (Hrsg.): John Heartfield – Fotografie Plus Dynamit. München: Hirmer, 2020, S. 39.

[4] Werner Heegewaldt, Ralph Keuning, Rebecca Salter: Geleitwort. In: Ebenda S. 8.

[5] The White House: President Trump Delivers Remarks 02.06.2020.

[6] Erzdiözese Washington: USA: Erzbischof von Washington kritisiert Trumps Besuche bei Kirchen. In: Vatican News 03 Juni 2020, 11:37.

[7] Rosa von der Schulenburg: Hakenkreuzottern. Zur visuell-verbalen Rhetorik von Heartfields Fotomontagen. In: Angela Lammert, Rosa von der Schulenburg, Anna Schultz (Hrsg.): John … [wie Anm. 3] S. 54.

[8] Erstaunlich ist allerdings, dass die Pressestrategen die Verfänglichkeit dieser Fototermin-Inszenierung selbst erkannt haben. Denn auf Instagram wird vom White House am 2. Juni lediglich ein vermeintlich entschlossen zur St. John’s Church marschierender Präsident mit dem Text bzw. der irreführenden Bildbeschriftung „@realDonaldTrump walks from the White House to the Historic St. John’s Church that was damaged during a night of unrest.“ gepostet. (Instagram)

[9] Heartfield online: Adolf, der Übermensch: Schluckt Gold und redet Blech (online)

[10] Vgl. Angela Lammert, Rosa von der Schulenburg, Anna Schultz (Hrsg.): John … [wie Anm. 3] S. 44.

[11] Rosa von der Schulenburg: Hakenkreuzottern… [wie Anm. 7] S. 57-58.

[12] Roland Barthes: La chambre claire. Note sur la photographie. Paris: Gallimard, 1980, S. 120.

[13] Rosa von der Schulenburg: Hakenkreuzottern… [wie Anm. 7] S. 58.

[14] Angela Lammert: Material Prozess Archiv. In: Angela Lammert, Rosa von der Schulenburg, Anna Schultz (Hrsg.): John … [wie Anm. 3] S. 69.

[15] Angela Lammert: Bilder vom Gräuel als (nicht) benutztes Material. In: Ebenda S. 97.

[16] Ebenda.

[17] Vgl. zur Materialität und dem Material auch: Torsten Flüh: Flugblatt – Zeitung – Blog. Materialität und Medialität als Literaturen. Wien: Passagen, 2017.

[18] Siehe: Heartfield online: ohne Titel [Gewehre, Bajonette, Dolche, Kanone und Hand] (online)

[19] Angela Lammert: Material … [wie Anm. 14] S. 70.

[20] Vgl. zum Sammeln: Von den Energien und dem Zwischen des 禮/Lǐ. Eine Fortsetzung zu Lee Mingweis 禮/Lǐ Geschenke und Rituale. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. Mai 2020

[21] Angela Lammert: Material … [wie Anm. 14] S. 70.

[22] Transkription nach Foto aus der Ausstellung.

[23] Siehe Wiktionary rosebud.

[24] Angela Lammert: Material … [wie Anm. 14] S. 71.

[25] Ebenda S. 73.

[26] Ebenda S. 102 und Fußnote 19.

[27] Ebenda S. 102

[28] Ebenda.

Von den Energien und dem Zwischen des 禮/Lǐ

Sammlung – Bild – Forschung

Von den Energien und dem Zwischen des 禮/Lǐ

Eine Fortsetzung zu Lee Mingweis 禮/Lǐ Geschenke und Rituale  

Lee Mingweis Ausstellung im Gropius Bau ändert sich permanent. Denn sie bietet lediglich einen Rahmen für neue Praktiken. Beim zweiten Besuch des Berichterstatters hatte sich bis auf die Reproduktion von Picassos Guernica im Lichthof aus farbigem Sand fast alles verändert. Berührten die Besucher*innen das Bild als Reaktion auf ein traumatisches Kriegsverbrechen, veränderte es sich. „SAND BITTE NICHT BETRETEN | PLEASE DO NOT TOUCH THE SAND“, steht auf den Stufen zum Lichthof. An der Wand hängt ein Bildschirm, auf dem zu sehen ist, wie Lee Mingwei in traditioneller chinesischer Kleidung mit Assistent*innen den Sand auf dem Boden mit Reisigbesen fegt. Wichtiger als das fertige Bild auf Zeit ist die östliche Praxis des meditativen Fegens, durch die das Bild energetisch verwandelt werden wird.

Der Künstler knüpft an einen Ritus des tibetischen Buddhismus an, bei dem Mönche über Tage ein komplexes Mandala aus Sand erstellen, um es in einer Zeremonie durch Zusammenfegen zu transformieren. Für das Programm der Ausstellung im Gropius Bau war geplant, dass Lee Mingwei „den letzten Teil von Guernica in Sand an einem einzigen Tag von Mittag bis Sonnenuntergang (…) vollenden“ wollte. „Zugleich (sollte) eine Person aus dem Publikum über den Sand gehen. Dann (sollte) eine zweite Person an die Reihe (kommen) und so (sollte) es bis abends weiter“ gehen. Dann sollte eine Sechsergruppe mit Lee „den Sand zur Mitte der Arbeit“ hin fegen.[1] Für den Rest der Ausstellung hätte der zusammengefegte Sand als Transformation des zum Gropius Bau beziehungsreichen Gemäldes im Lichthof zu sehen sein sollen.

Ob und wann die zeremonielle Transformation mit Lee stattfinden wird, lässt sich derzeit noch nicht einschätzen. Doch Guernica aus Sand ist in mehrfacher Hinsicht mit der Geschichte des Gropius Baus, der bis 1945 als Kunstgewerbemuseum in der damals Prinz-Albrecht-Straße genannten Niederkirchnerstraße diente, verknüpft. Die Planungen für den Einsatz der Legion Condor über eine Luftbrücke und der Luftwaffe im Spanischen Bürgerkrieg fanden im Reichsluftfahrtministerium statt. Die zumindest technischen Voraussetzungen für den Luftangriff am 26. April 1937 auf Guernica u. a. mit dem neuentwickelten Jagdflugzeug Messerschmidt Bf 109 wurde vom Leiter des Technischen Amtes und Kunstflieger Ernst Udet im Reichsluftfahrtministerium schräg gegenüber des Gropius Baus, dem heutigen Finanzministerium der Bundesrepublik Deutschland, geplant. Es gibt mit dem Bild insofern eine historische Koinzidenz mit dem Gebäude, das seinerseits gegen Ende des 2. Weltkriegs durch Luftangriffe schwer beschädigt wurde.

Das Bild, Guernica aus Sand, wiederholt in gewisser Weise die Energie aus Wut und Bestürzung, wie Lee sagt, mit der Picasso es für den Spanischen Pavillon auf der Weltausstellung in Paris malte. Zu Beginn des Jahres 1937 hatte Picasso den Auftrag erhalten, ein Gemälde für den Pavillon zu malen. Die Weltausstellung fand vom 25. Mai bis 25. November statt. Als er am 28. April die Nachricht vom Bombardement Guernicas erhielt, begann er das Gemälde wie im Fieber zu skizzieren und zu malen.[2] „In barely a month and a half, Picasso produced fifty or so drawings and sketches, and made various modifications to the huge canvas.“[3] Anders gesagt: Lee Mingwei lenkt mit Guernica in Sand nicht nur die Aufmerksamkeit auf eine inter-kulturelle Transformation des Bildes, vielmehr erinnert er an die energetische Genese des Bildes. Durch das Projekt Rethinking Guernica des Museo Nacional Centro De Arte – Reina Sofia in Madrid wird ebenfalls dieser Aspekt der Genese des Bildes erinnert. Nicht zuletzt die Vielzahl der Zeichnungen und Skizzen gibt einen Wink auf ein kombinatorisches Collageverfahren.

Guernica aus Sand wird durch eine eigene Energie durchdrungen. Im Sand stehen die Behälter mit dem verschiedenfarbigen Sand, als hätten die Sandmaler*innen ihre Arbeit am Bild gerade oder noch nicht beendet. Das Bild ist (noch) nicht fertig. Wie wir aus dem Interview mit Lee wissen, befindet es sich in einem Zwischenzustand. Es soll von ihm noch vollendet werden, um „zugleich“ verwandelt zu werden. Im Unterschied zu Picassos Gemälde wird Guernica aus Sand insofern nie fertig werden oder sein. Vielleicht macht es gerade der pandemiebedingte Aufschub noch einmal besonders deutlich, dass es im tibetischen Buddhismus ebenso wie chinesischen Konfuzianismus mehr um das Tun und Machen geht, als darum etwas fertig werden zu lassen. Der Taoismus hat den Weg zum philosophischen Prinzip transformiert. François Jullien hat nicht zuletzt als Chinakenner auf „die diskursive Gewitztheit eines chinesischen Denkers wie Zhuangzi“ hingewiesen.[4] Er fragt, ob sie nicht genau darin bestehe, die Logik nach „Aristoteles‘ Prinzip der Widerspruchsfreiheit“, „die angeblich aller Kommunikation gemeinsam ist, zu durchkreuzen? So müsste man also »sprechen, ohne zu sprechen«; oder »jemanden finden, der das Sprechen vergessen hat, um mit ihm zu reden« … Ist es nicht gerade die Strategie des Zen (der Kōans), dieses implizite Protokoll der Rationalität durch einen jähen Einbruch implodieren zu lassen?“[5]

Wie um das 禮/Lǐ, das auch Guernica aus Sand unterliegt, zu entfalten, finden in einem Nebenraum Performances unter dem Titel Our Labyrinth statt. Einzelne Tänzer*innen fegen in einem Kostüm mit einem Besen Reis über den Boden. Das „Bild“ verändert sich permanent, bis der Reis wieder in der Mitte zusammengefegt wird. In den Zwischenzeiten ruht der Reis in einem Kranz aus gefaltetem Papier, wie es auf ähnliche Weise für Guernica vorgesehen ist. Die Tänzer*innen bewegen sich mit einem Fußglöckchen sehr ruhig und konzentriert über den ausgelegten Tanzboden. Das Fegen wird zu einer rituellen Tätigkeit, die nicht einfach mit dem Ziel ausgefüllt wird, einen Boden zu säubern. Vielmehr wird das tänzerisch, rituelle Fegen zu einer Tätigkeit für sich. Lee hat dafür eine Rahmenhandlung formuliert.
„Wenn ich mit Tänzer*innen zusammenarbeite, lade ich sie ein, zwei Dinge zu tun: Sie sollen sich ganz langsam bewegen, wie Morgennebel über einem Sumpfgebiet, und sie sollen ,ihr Herz auf den Reis hören lassen‘, indem sie ihre nächste Bewegung nicht ,durchdenken, planen‘. Der Reis wird sie durch den Tanz leiten.“[6]

Mit The Living Room thematisieren Stephanie Rosenthal und Lee Mingwei das Thema der Sammlung. Über 11 Wochen werden 11 verschiedene Sammlungen im Raum inszeniert und zu bestimmten Zeiten von den 11 Sammler*innen vorgestellt. Wegen der Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie darf auf der Couch und den Bänken nur eine Person Platz nehmen. Die Sammlungen sollen nach Lees Wunsch Anlass geben, über sie mit dem Publikum ins Gespräch zu kommen. Die Präsentation der Sammlung soll in der Berliner Version von The Living Room insbesondere einen Prozess anstoßen. Noch bis 31. Mai lädt Karen Stuke um 16:00 Uhr mit ihrer Caruso-Sammlung in den Living Room ein. Dem Raum wird ein Zitat von Lee vorangestellt.
„Ich interessiere mich sehr dafür, welche Objekte wir sammeln und wie wir sie kuratieren, um Ungekannte an unseren privaten Sammlungen teilhaben zu lassen.“[7]  

Wie entstehen Sammlungen? Welche Sammlungspraktiken wendet Karen Stuke für ihre Caruso-Sammlung an? Es gibt Sammler, die bauen dem Objekt ihres Sammelns einen Schrein. Fans sammeln häufig leidenschaftlich, um ihrem Star nah zu sein. Wayne Koestenbaum hat in seinem Buch Jackie O. Der Fan und sein Star nicht sehr viel über seine Sammlung verraten, obwohl sein ganzes Buch eine Jackie-O.-Sammlung ist. Allerdings schreibt er: „Denkmäler und Souvenirs bleiben, um Jackie zu verkörpern und als Krypten und Wunderländer zu dienen.“[8] Enrico Caruso eignet sich als Star perfekt. Karen Stuke kann sich ganz genau daran erinnern, wie sie im Grammophon-Salon-Schumacher oder im Schallplatten Antiquariat ihre erste Schellackplatte für 18 € kaufte und diese von Enrico Caruso stammte. An die erste Platte etc. erinnern sich die meisten Sammerler*innen. Die antiquarische Platte war mit 18 € relativ günstig, weil sie, wie Stuke herausfand, millionenfach gespreßt worden war. Ob Enrico Caruso außerdem schon lange vorher und durch eine Fernsehausstrahlung in den 60er Jahren von The Great Caruso mit Mario Lanza in der Titelrolle von 1951 in ihrer Gedanken spukte, ob es Erzählungen vom Hörensagen waren, die Karen Stuke zur Caruso-Sammlerin werden ließen, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit sagen.

Bevor Karen Stuke anfing, Caruso zu sammeln, hat es ein Ereignis oder einen Zufall gegeben. In dieser Anfangsphase gab es auch ein Grammophon, das offenbar selbstgebastelt war und nicht den Standards der industriell hergestellten Geräte entsprach. Enrico Caruso eignet sich hervorragend für eine Sammlung, weil die Künstlerin, Photographin und Galeristin Stuke immer wieder neue Felder des großen Caruso-Mythos mehr aus Zufall als aus Systematik erschloss. Sie begann Fragen zu stellen, weil ihr Ungereimtheiten auffielen. Das findet sie, sei eine logische Konsequenz. Das Caruso-Wissen bereitet auch Lust und erhält eine Eigendynamik. Caruso ist ein Mythos, der sich anscheinend ungehemmt ausdehnt, gleichviel wie viel man von ihm weiß. Längst hat sich der Mythos von dem am 2. August 1921 im Grand Hotel Vesuvio in Neapel verstorbenen, weltberühmten Tenor abgelöst und verselbständigt. Das Grand Hotel Vesuvio führt nach der „Startseite“, der eigenen „Geschichte“ an dritter Stelle „Caruso“ als festen Bestandteil seines Mythos. Caruso heißt das Restaurant im Dachgarten des Hotels. Taktvoll verschweigt das 5-Sterne-Haus am Hafen von Neapel an der Via Partenope, die nach einer Sirene der griechischen Mythologie benannt ist, auf seiner Seite, dass Enrico Caruso im Alter von 48 Jahren fataler Weise im Haus verstarb.

Es gehört zur Eigenart der Mythen, dass sie sich nur schwer zurechtrücken lassen. Karen Stuke ist dennoch oder gerade deshalb nach Neapel und Sorrent gereist und hat sich nach hartnäckigen Recherchen ins Sterbezimmer ihres Sammlungsobjektes einquartieren lassen. Sie hat das vermeintliche Sterbebett mit einer gewissen Unschärfe zugleich imaginiert und fotografiert. Dazu gibt es auch zwei gespenstische Fotografien von Carusos letztem Blick auf zwei üppig drapierte Fenstervorhänge. Da der Startenor an einer Rippenfellentzündung und Blutvergiftung starb, dürfte seinem Blick eine fiebrige Unschärfe zu eigen gewesen sein. Leicht ufert der Mythos auf der Suche im Internet aus. Caruso ist eine Wissensmaschine. Hotelterrassen erhalten vermutlich immer wieder aufs Neue Gedenktafeln, so dass zuletzt am 5. April 1995 die Stadtverwaltung von Sorrent eine mit folgender, elegischer Inschrift anbringen ließ: „Il grande tenore Enrico Caruso – Dalle Terrazze di questo albergo unendo nell’amore e nella bellezza napoli e sorrento trascorse giorni felici offrendo le ultime testimonianze del suo bel canto.“ (Der große Tenor Enrico Caruso verbrachte auf der Terrasse dieses Hotels glückliche Tage im Angesicht von Liebe und Schönheit der Regionen Neapel und Sorrento unter Darbietung seines schönen Gesangs.)

Wann wird das Sammeln zum Forschen? Längst ist Caruso zu einem mythologischen Gütesiegel geronnen. Überall auf der Welt tragen Osterias, Restaurants und Eisdielen z.B. in der Forther Hauptstraße in Forth, Bayern, den mythologischen Namen Caruso. Karen Stuke hat irgendwann beim Sammeln begonnen nachzuforschen. Das künstlerische Sammeln bekommt so Züge wissenschaftlicher Forschung. Zwischenzeitlich hat sie sogar einen leibhaftigen Enkel Enrico Carusos kennengelernt. Caruso hat sich als Künstlerin-Sammlung verselbständigt, so dass Karen Stuke ihn mittlerweile als Medienstar erforscht und ihm mit dem Stern „Enrico Caruso“ einen eigenen Star im Internet mit exakten Koordinaten hinzugefügt hat: „The coordinates of the star are RA 09h30m54.36 +08°11’26.9“ and it is located in the constellation Leo.“ Stuke hat dem „Verewigten“ einen Stern geschenkt. Doch Enrico Caruso war seinen Zeitgenossen und Kolleg*innen auch darin voraus, dass er als einer der Ersten 1903 das neue Medium Grammophon benutzte, um seinen Gesang und seine Stimme zu verbreiten und zu verewigen.

Caruso war nicht nur ein Opern-, vielmehr noch ein Medienstar. Ein bisschen war Caruso wie Travis Scott, der mit seinem zehnminütigen Auftritt als Hologramm im Online Koop-Survival-Spiel Fortnite am 24. April 2020 ca. 12 Millionen Menschen auf einen Schlag erreichte. Auch Travis Scott hat sich schon jetzt damit verewigt. Die Schellackplatte, die Stuke für 18 € erwarb, war nicht zuletzt deshalb so günstig, weil Carusos Platten wie sein „Vesti la giubba“ als Canio in Pietro Mascagnis Il Pagliacci (Der Bajazzo) vom 17. März 1907 Referenzaufnahmen wurden und Bestseller waren, millionenfach gepresst und verkauft wurden. Caruso sang fortan von jedem Grammophon weltweit in den Salons der sich dem Ende neigenden Kaiserzeit. Die Tonqualität ist heute leicht metallisch befremdlich. Nicht zuletzt gehörte Caruso bis zu seiner letzten Vorstellung im Herbst 1920 dem Ensemble der Metropolitan Opera an, die 1883 in New York eröffnet worden war und 3.625 Plätze hatte, während das Teatro alla Scala nur 2.030 und die Wiener Staatsoper mit 1.709 Sitz- und 567 Stehplätzen deutlich weniger Zuschauern Platz boten. Am 13. Januar 1910 hatte er gar die weltweit erste Direktübertragung aus einem Opernhaus, der Met, mit Arien aus Cavalleria Rusticana und Il Pagliacci für das Radio gesungen.

Caruso hat unterdessen ein reiches und medial vielfältiges Nachleben, wie Karen Stuke mittlerweile erforscht hat. So gibt es ganze Briefmarkenserien in Staaten, die Caruso nie bereist hat. In den Evénements du 20ème siècle erschien sein Konterfei 1998 u.a. neben Marilyn Monroe auf der 225F-Marke der Republik Niger. Und am 25. Mai 1996 schaffte es Caruso auf den Bogen der Storia della Canzone Italiana von San Marino. Am 15. Mai 1999 erinnerte die Post Argentiniens mit einer Sondermarke an das Centenary of the american debut of Enrico Caruso, wo er allerdings erst 1917 auftrat.[9] Doch Caruso lebt bis auf den heutigen nach, wenn immer wieder junge Tenöre als neue Carusos benannt werden. Digital ist Caruso ebenfalls im neuen Jahrtausend remastered worden, mit zweifelhaftem Ergebnis wie Karen Stuke sagt. Wie Caruso wirklich gesungen hat, weiß heute kein Mensch mehr. Doch um noch einmal auf Stukes Grammophon für die Straße im Kinderwagen zurückzukommen: Sie hat zwischenzeitlich ein historisches Foto gefunden, auf dem ein Straßenmusikant nicht mit einem Leierkasten, sondern einem Grammophon zu sehen ist. Womöglich erklang „Vesti la giubba“ mit Caruso auch an der Straßenecke.

Lee Mingweis Installationen und Projekte gehen immer auf ein eigenes, persönliches Erlebnis zurück. So war es die Krankheit der Mutter, die ihn dazu bewogen hat, das Projekt Sonic Blossom zu entwickeln. Während der Covid-19-Pandemie ist es als Invitation for Dawn zu einem digitalen Projekt transformiert worden. Doch jene Praktiken der Begegnung, die Lee besonders wichtig sind, funktionieren im Museum dann doch noch einmal wesentlich intensiver. Eine Sänger*in geht mit Mund- und Nasenschutz durch die Ausstellung und spricht eine/n Besucher*in an, ob sie ihr/m ein Lied singen dürfe. Die Person kann es ablehnen oder der Sänger*in in einen Raum folgen, in dem ein Stuhl in einiger Entfernung vor einer Plexiglasscheibe steht. Die Sänger*in bittet, Platz zu nehmen und singt ein kurzes Lied. Lee Mingwei glaubt nicht, dass dieses Ritual wirklich heilen könne. Aber er erprobt die Möglichkeit, „etwas derart Immaterielles und Intimes wie ein Lied geben und empfangen zu können“. Neben der Opernsänger*in steht zur Zeit der „transformation cloak“ oder Verwandlungsumhang, den sie wegen der Vorsichtsmaßnahmen zur Zeit nicht tragen kann. Er soll den Sänger*innen „die Kraft des Schenkens“ verleihen.
„Die Gestaltung des Umhangs erinnert an die Blüte der Chrysantheme und spiegelt somit die im Titel anklingende Figur des sich blütenartig entfaltenden Klangs wider.“[10]    

Auf eine ausführliche Biographie des Künstlers verzichtet die Ausstellung 禮/Lǐ Geschenke und Rituale einerseits, andererseits laden die Installationen und Projekte dazu ein, an der Bio-Graphie von Lee Mingwei gewissermaßen mitzuschreiben. Seinen Arbeiten, von denen es noch einige mehr im Gropius Bau zu erleben gibt, liegt eine ungeheuer großzügige Geste des Schenkens zugrunde, weil sie mit den intimsten Erfahrungen des Künstlers selbst verknüpft sind. Ausgespart wird in der Ausstellung allerdings das Male Pregnancy Project von 1999, das neben dem 禮/Lǐ noch einen anderen Wink auf die auto-bio-graphischen Praktiken von Lee Mingwei gibt.[11] Denn das Male Pregnancy Project als Performance über die (un)mögliche Schwangerschaft eines Mannes thematisiert die Geschlechterfrage auf queere Weise. Lee wünschte sich nicht nur als Mann schwanger zu werden, vielmehr deckte er die Schwächen des männlichen Geschlechts auf und erzeugte in den USA heftige Reaktionen. In dem Film The World’s First Male Pregnancy von Sophie Lepault und Capucine Lafait wird das Projekt einerseits als digitale Kunst mit unterschiedlichen Bildmedien und andererseits als eine Frage der Gefühle entfaltet.[12]

Lee Mingwei bemühte schon in seinem Frühwerk keine Frage der Identität, vielmehr verschob er sie auf eine Ebene des Empfindens und der Teilnahme wie Teilhabe. So spricht er von einer Eifersucht auf die Schwangerschaft seiner Schwester, die er als Mann habe nicht nachempfinden können. Das starke Geschlecht der Männer wird mit seiner Schwäche konfrontiert. Lee ging mit seinem Projekt in New York insofern einen eigenen und besonderen Weg, weil er die Problematik nicht als eine der Transsexualität, vielmehr der Gefühle und Medien formuliert und aufführt. 2009 hat er in einem Interview mit The Scotsman bekräftigt, dass er auf seine Schwester und ihre Erfahrung der Schwangerschaft neidisch war, obwohl er als „a homosexual man“ kein Verlangen danach habe, physisch eine Frau zu werden. In Anknüpfung an François Jullien ließe sich sagen, statt zu einem Identitätskonzept der Trans- verschiebt es Lee zur „Inter-Sexualität“, was nicht verwechselt werden sollte mit der biologischen Intersexualität.
„Wenn der Begriff des »Inter-Kulturellen« einen Sinn haben soll, kann er nur darin bestehen, dieses Zwischen, dieses Zwiegespräch als neue Dimension der Welt und der Kultur zur Entfaltung zu bringen. Dadurch wird gleichzeitig das eine wie das andere durchkreuzt, der falsche Universalismus des – denkfaulen – Uniformen und das mit ihm korrelierende – sektiererische – Phantasma der Identität.“[13]        

禮/Lǐ Geschenke und Rituale feiert das Zwischen. Gerade in einer tiefgreifenden Krise von Wissen und Wissenschaft, weil wir kaum wissen können, wie wir richtig mit Sars-Cov-2 umgehen sollen, wann es eine Therapie oder gar eine Impfung geben wird, in dieser komplexen Krise von Globalismus und Transfer lässt sich in der Ausstellung ein Zwischen als andere Perspektive und Praxis erkunden. Wir wissen nicht, ob oder auf welche Weise sich Lee Mingwei mit der politischen Philosophie François Julliens beschäftigt hat, ob er sich mit Michel Foucault oder Roland Barthes‘ L’impire de signe auseinandergesetzt hat. Vielleicht hat er gar Jacques Derrida gelesen – oder auch nicht. Aber mit der von Stephanie Rosenthal kuratierten Ausstellung wird eine Inter-Kulturalität eröffnet, die Rituale und damit kulturelle Praktiken in die Aufmerksamkeit rückt, die mit ein wenig Glück nachwirken werden. Während global eine Rückkehr zu einer imaginären Normalität diskutiert und angestrengt wird, Donald Trumps „America first“-Anspruch die Vereinigten Staaten von Amerika an den Rand eines Bürgerkriegs treibt und Untergangsszenarien heraufbeschwört, sollten wir uns mehr auf das Zwischen konzentrieren, wie es Lee Mingwei in seiner Kunst vorschlägt.

Torsten Flüh

Lee Mingwei
禮 Li – Geschenke und Rituale
bis 12. Juli 2020
Zeitfenster-Ticket
Samstag bis Mittwoch 10:00 bis 19:00
Donnerstag und Freitag 10:00 bis 21:00
Dienstag geschlossen
Gropius Bau
Niederkirchnerstraße 7
10963 Berlin


[1] Zitiert nach: Ein Austausch in verschiedene Richtungen. Ein Interview zwischen Lee Mingwei und Stephanie Rosenthal. (2020) (Der Katalog konnte bisher nicht erscheinen. Ein Auszug findet sich hier.)

[2] Vgl. dazu Rethinking Guernica. Museo Nacional Centro De Arte. Reina Sofia. (Dokumentation)

[3] Ebenda. (Realisation)

[4] François Jullien: Es gibt keine kulturelle Identität. Berlin: edition suhrkamp, 2017, S. 86.

[5] Ebenda S. 86-87.

[6] Zitiert nach Aushang Our Labyrinth in der Ausstellung.

[7] Zitiert nach Aushang The Living Room in der Ausstellung.

[8] Wayne Kostenbaum: Jackie O. Der Fan und sein Star. Stuttgart: Klett-Cotta, 1997, S. 330.

[9] Siehe: Karen Stuke: Caruso sings again! Postal stamps. (Link)

[10] Zitiert nach Aushang.

[11] Lee Mingwei: The Male Pregnancy Project. (Website)

[12] Sophie Lepault & Capucine Lafait: The World’s First Male Pregnancy. (ohne Jahr) (YouTube)

[13] François Jullien: Es … [wie Anm. 4] S. 96.

Mehr Li – 更禮儀 – Gèng lǐyí – Mehr Rituale

Geschenk – Leere – Teilhabe

Mehr Li – 更禮儀 – Gèng lǐyí – Mehr Rituale

Zu Lee Mingweis wegweisender, partizipatorischer Ausstellung 禮 Li – Geschenke und Rituale im Gropius Bau

An diesem Freitag, den 22. Mai 2020, wird der Berichterstatter in der Niederkirchnerstraße plötzlich mit der Leere konfrontiert. Die Straße ist leer. Es ist einer jener Momente, der anders als zum Vatertag am Vortag, an dem laut Tagesspiegel auf der Greenwichpromenade am Tegeler See „die Menschen dicht an dicht“ sitzen, keine Normalität vortäuscht. Der Vormittag nach dem Feiertag mit den Freiheiten, die sich genommen werden, lässt den Schrecken hervorspringen, dass es eben dort, wo sonst internationale Reisebusse und VIP-Shuttles aneinandergereiht stehen, leer ist. Kein einziger Reisebus. Vereinzelte Fußgänger*innen, Fahrradfahrer*innen, ein E-Roller steht verlassen auf dem Bürgersteig. Die Leere ist ein Schock, ein Geschenk und ein Auftrag.

Leere und Normalität lassen sich mit der ersten umfassenden Werkschau in Europa des in Taichung auf Taiwan geborenen und in den USA aufgewachsenen Künstlers Lee Mingwei konstellieren. Man mag sich die Normalität an der Greenwichpromenade, der Ostsee und auf Sylt malen, wie man will, die Leere auf der Niederkirchnerstraße vor dem Berliner Abgeordnetenhaus, der Gedenkstätte Topographie des Terrors und dem Gropius Bau mit der Ausstellung von Lee Mingwei, die am 27. März hätte eröffnet werden sollen, lässt sich nicht leugnen. Die Leere korrespondiert zumindest in einer globalisierten Welt mit einer Störung der kapitalistischen Normalität. Wo es leer ist, finden nicht nur keine Geschäfte statt, vielmehr muss der Mensch erst einmal einen Umgang mit der Leere finden und einüben. Diese Übungen können zu Ritualen werden, die in der Kunst abseits einer kapitalistischen Logik ausgeübt werden. Davon handelt 禮 Li – Geschenke und Rituale.  

Die ausgestellten Arbeiten von Li Mingwei reagieren oft auf ein Trauma. Sie wiederholen Handlungen als Reaktionen auf ein Trauma. Die schwere Erkrankung der Mutter, das Kriegsverbrechen der Zerstörung von Guernica, die Zerstörung der Twin Towers, die zufällige Begegnung mit einem Überlebenden der Shoah im Schlafwagenabteil, die Einsamkeit auf einem Campus einer amerikanischen Elite-Universität etc. Lee nennt es in einem Gespräch mit seiner Berliner Kuratorin und Direktorin des Gropius Baus, Stephanie Rosenthal, lieber „Zufall“. Es ist eine nicht nur zeitgemäße, ja, aktuelle Ausstellung von Kunstarbeiten, Installationen geworden, in denen Praktiken entwickelt wurden, um auf Zufall und Trauma zu reagieren, vielmehr noch werden die Besucher*innen eingeladen, dieses oder jenes Ritual fortzuführen. Die Teilnahme an der Installation, indem man z.B. ein zerrissenes Kleidungsstück in der Arbeit The Mending Project im Museum zum Flicken bringt, macht mitten in der Covid-19-Pandemie therapeutisch Sinn.  

Die Partizipation ist für Lee Mingwei die entscheidende Dimension seiner künstlerischen Arbeit. „Lee Mingwei creates participatory installations, where strangers can explore issues of trust, intimacy, and self-awareness, and one-on-one events, where visitors contemplate these issues with the artist through eating, sleeping, walking and conversation.“[1] Das Teilnehmen wie Teilhaben an den Installationen generiert Erfahrungen und Fragen von Vertrauen, Intimität und Selbsterfahrung.[2] Bereits für das Dining-Project 1997 organisierte er Ereignisse mit fremden Besuchern in seiner Wohnung, um über diese Fragen nachzudenken. 2000 kam das Sleeping Project hinzu. Beide Projekte sind durch ein Losverfahren im Gropius Bau persönlich zu erleben. Allerdings wird das Dining-Project wegen der Covid-19-Pandemie auf ein Teetrinken mit Mitarbeiter*innen des Museums begrenzt. Lee Mingwei sitzt in seinem Studio in New York fest. Deshalb wird das Sleeping Project in getrennten Betten im Museum ebenfalls von Mitarbeiter*innen übernommen.

„One-on-one events“ sind im Moment durch social distancing erheblich erschwert, um es einmal so zu schreiben. Es sei denn, sie werden in den digitalen Raum des Internets verlegt. Die Ausstellung ist bereits durch den Gropius Bau digital gut aufgestellt. Es wurde eine ganze Seite mit digitalen Aktivierungen eingerichtet. Im virtuellen Interview von Anfang Mai spricht Terri Fujii von der Galerie Perrotin Tokyo mit Lee Mingwei in New York.[3] Lassen sich seine partizipatorischen Installationen ins Internet transformieren? Lee schlägt zwei Installationen vor, die er für das Internet besonders geeignet hält. Es sind das Letter Writing Project und das Sonic Blossom Project. Beide Projekte hat der Künstler für die verspätete Eröffnung ins Virtuelle transformiert. Aus dem Letter Writing Project wurde das Letter to Oneself Project und das Sonic Blossom Project wurde zum Invitation for Dawn Project, bei dem weltweit eine Sänger*in für eine Zuhörer*in ein Lied zu einer bestimmten Zeit über Zoom singt. Sie, ja, Sie als Leser*in dürfen sich bewerben.

Man kann in diesen Tagen allerdings in Berlin wieder ins Museum, in den Gropius Bau gehen. Das Letter Writing Project ist dort möglicherweise intensiver, sinnlicher, aber auf jeden Fall anders zu erleben. Genau darum geht es Lee Mingwei mit seinen Arbeiten. Stephanie Rosenthal möchte mit Lees partizipatorischen Installationen nicht zuletzt das Museum, den Gropius Bau, als Ort und Institution erforschen und überdenken.[4] Der Ausstellungsrundgang beginnt insofern mit einer Überraschung, Irritation oder einem Geschenk. Die auf Rezeption eingestellten Besucher*innen werden sogleich eingeladen, in einer der drei ähnlichen, fast transparenten, offenen Zellen einen Brief im Knien, Sitzen oder Stehen zu schreiben. Mir gefällt hier der Begriff Zelle besser als Kabine oder das englische Box, weil es an die Mönchszelle als Schreibort erinnert. Einem Ort der Kontemplation und Imagination.

Mit den Zellen zum Schreiben wird das Museum als Ort der Anschauung und des Wissens aufgebrochen. Im Museum sollte gesammelt und angeschaut werden, was wissenschaftlich – kunsthistorisch, geisteswissenschaftlich, historisch oder naturwissenschaftlich etc. – als wertvoll angesehen wurde. The Writing Project fordert dazu auf, derartige Erwartungen umzuschreiben. Die Besucher*innen dürfen sich in dem Kunstraum der Zelle mit einem anderen ihrer selbst auseinandersetzen. Zwar gab es immer auch Markplätze, wo Schreiber auf Schreibaufträge warteten, aber die Zelle als Raum für den Einzelnen zum Schreiben ist ein ebenso materieller wie virtueller Raum. Wenn man einen Brief schreibt, geht es darum seinen Dank, seine Fragen, seine Wünsche an jemanden, der imaginiert wird, zu adressieren. Es verschiebt sich der Auftrag der musealen Anschauung zur Kontemplation.  

Zellen sind Räume der Kontemplation, wie es Lee nennt. Die Kontemplation hat mit 禮/Li zu tun. Ist 禮 eine Philosophie? Ist es eine Praxis? – Zunächst beginnt das Writing Project mit einem Verlust. So erzählt es Lee Mingwei. Als seine Großmutter mütterlicherseits starb, begann er Briefe in größeren Zahl an sie zu schreiben. Wofür schreibt man Briefe an eine Verstorbene? In der Ausstellung wird, wenn sich die Besucher*in zu fragen beginnt, wofür die aufgestellten Zellen in minimalistischem Design gedacht sind, warum hier Bleistifte mit dem Aufdruck „GROPIUS BAU LEE MINGWEI  禮 LI, GIFTS & RITUALS“ in Reis aufgestellt sind, langsam klar, dass das Writing Projekt nicht fertig oder abgeschlossen ist, sondern die aktive Partizipation erfordert. Desinfektionsflasche – „Bitte desinfizieren Sie sich hier die Hände.“ – und Bleistifte leiten bereits das Ritual ein – „Bitte nehmen Sie sich hier einen Stift“. Die Kontemplation bedarf einer genauen Vorbereitung – „BITTE ZIEHEN SIE IHRE SCHUHE AUS“. Und dann betritt die Besucher*in die Zelle und schreibt einen Dankesbrief an … – Lee Mingwei.

Die genauen Rituale, die gleich mit der ersten Installation für die Partizipation erfordert werden, geben einen Wink, worum es mit 禮 immer wieder gehen wird. Es geht um einen rücksichtsvollen Umgang miteinander, um Achtsamkeit und Höflichkeit ohne Zweck. Das konfuzianische 禮 wird der Zweck selbst.[5] Einen Brief an eine Tote schreiben. Einen Brief an sich selbst schreiben. Jemanden danken. Das könnte man auch ein Briefschreiben für nichts nennen, das leicht verschoben an ein Gebet erinnert. Auf einem Kärtchen in der Zelle steht, dass die „offenen Briefe an der Wand (…) gelesen werden“ dürfen. Wer hat schon einen Brief gelesen? Ist das nicht unfassbar intim, den Brief eines/er Fremden zu lesen? Das wissenschaftliche Regelwerk des Museums wird mit dieser Intimität wenigstens auf die Probe gestellt.
„Sie können außerdem das Briefpapier benutzen, um selbst einen Brief zu verfassen. Der Künstler lädt Sie ein, darin einen Dank, eine Einsicht oder eine Entschuldigung zu formulieren, die Sie bisher noch nicht zum Ausdruck bringen konnten.
Sie können den Umschlag entweder verschließen und adressieren oder offen lassen. Bitte befestigen Sie Ihren Brief an einer der Kabinenwände. Adressierte Umschläge werden vom Gropius Bau für Sie verschickt.“[6]   

Das Letter Writing Project lässt sich auffächern in eine ganze Bandbreite von Adressierungen. Fällt es doch im Zeitalter der Posts, Tweets, Messenges und SMS‘ etc. aus der Zeit. Wer hat wann zuletzt einen Brief mit einem Bleistift auf Briefpapier geschrieben und verschickt? Den Berichterstatter erinnert die Schreibzelle u.a. an das japanische Genre der Kopfkissenbücher bzw. Kopfkissennotizen, 枕草子, Makura no Sōshi, was ihm ein angenehmer Gedanke ist. An wen waren die Notizen, die in einem Kopfkissen aufbewahrt werden, adressiert? Schrieb sie beispielsweise Sei Shonagon für sich selbst? Ordnete sie damit ihre Welt für sich selbst? – „One would imagine that he could do without a stick.“[7] – Das Schreiben und Adressieren wird zu einem Ritual, auf das Lee Mingwei einmal einen weiteren Wink gegeben hat.
„Die unverschlossenen Briefe werden von Lee gesammelt. Er plant, sie am Ende des Projekts in einer Zeremonie zu verbrennen. Lee meint: „Diese sehr schweren und intensiven Emotionen gehören eigentlich dem Himmel oder dem Wasser. Das Feuer wird die Emotionen freisetzen.“ Bislang hat Lee über 60.000 Briefe gesammelt.“[8]     

In dem virtuellen Interview mit Terri Fujii nimmt Lee Mingwei in einem traditionellen chinesischen Hemd eine Gestik des Lehrers an. Was lehrt er? Er lehrt Kontemplation als Praxis des Fragens nach sich selbst: „Ausgehend vom bereits existierenden The Letter Writing Project reagiert die neu entwickelte Arbeit Letter to Oneself auf die aktuelle Krise und lädt die Öffentlichkeit ein, Briefe an sich selbst zu schreiben, die sich mit folgenden Fragen beschäftigen: Wie gestaltet sich die aktuelle Situation für Sie? Was beunruhigt Sie am meisten? Was gibt Ihnen Hoffnung?“[9] Sich die drei Fragen zu stellen und sie in einem Brief an sich selbst zu formulieren, darf als eine der größtmöglichen Herausforderungen in der „aktuelle(n) Krise“ bedacht werden. Es sind die drei Fragen, vor denen sich viele, wenn nicht die meisten Menschen an die Greenwichpromenade, die Ost- oder Nordsee etc. flüchten. Anders gesagt: Die Greenwichpromenade am Tegeler See erinnert eben an jenen Breitgrad 0, von dem aus bei London die Welt und das Wissen über sie eingeteilt, gemessen wird. Doch dieses Wissen wird vom epidemiologischen Geschehen des Sars-COV-2 heimgesucht.

Die aktuelle Krise, das lehrt Lee Mingwei, wirft jede/n auf sich selbst zurück. Er selbst formuliert die Fragen mit großer Ruhe und einem Lächeln. Schließlich war er als Starkünstler der Olympischen Spiele in Tokyo vorgesehen. Die Vernissage am 27. März hätte ein großes Fest nicht zuletzt mit den anderen mitwirkenden Künstler*innen werden sollen. Nun haben sie sich zu einem Zoom-Meeting getroffen. Doch was ist ein Zoom-Meeting mit Lee Mingwei gegen ein Treffen mit ihm im Gropius Bau? Im virtuellen Interview spricht er nicht von seiner Situation in New York, das seit Wochen eines der, wie man sagt, Epizentren der Pandemie ist. Am 24. Mai 2020 hat die New York Times die interaktive Seite US Coronavirus Deaths 100.000 veröffentlicht, um mit 1.000 Namen, das sind 1%, daran zu erinnern, dass hinter der (über)großen Zahl[10] von nahezu 100.000 Toten durch Sars-COV-2 einzelne Menschen und die Trauer um sie verborgen wird. Beunruhigt Sie das am meisten? Wie lässt sich das als Wissen aushalten?

Der Letter to Oneself kann unter einem gewissen Aufwand der Normalverdrängung oder der Verdrängung von Wissen zur Herstellung von Normalität einfach niedergeschrieben werden. Es sind ganz simple Fragen, die Lee Mingwei formuliert hat. Doch sie sind, wenn man sich ihnen aussetzt, wenn man sie aushält, am schwierigsten zu beantworten. Werden sie beispielsweise derzeit in der Volksrepublik China oder in Taiwan bedacht oder bearbeitet? Wahrscheinlich nicht. Welche Rolle spielt 禮 für das Verhalten während der Krise? In ihrem Wuhan Diary zwischen dem 17. Januar und 1. Februar 2020 hat die Dokumentarfilmerin Ai Xiaoming beschrieben, wie sie reagierte. Stellt sie Fragen an sich selbst? Oder projiziert sie eher ihre Fragen nach außen und stürzt sich in eine Hilfsaktion, um sich nicht selbst fragen zu müssen? Sie fasst schließlich ihre Erfahrungen mit den jungen Freiwilligen zusammen, um dies als eine positive Erfahrung der geteilten Werte für die Öffentlichkeit zu bewerten. Doch das war, wie wir heute nur allzu gut einschätzen können, der Beginn der Pandemie.
„On a positive note, I’ve been really moved by the young volunteers. They are ordinary people who have stepped forward, making an effort to save a city on the verge of collapse. The young people have taken on the responsibilities voluntarily, sacrificing their own safety for the benefit of the public good. In so doing, they have also formed a link among themselves based on shared values. In this regard, I think this is also an opportunity for new social forces to grow.“[11]

Beschreibt Ai Xiaoming eine Praxis des 禮 Li? Die Aufopferung der eigenen Sicherheit zum Wohl der Öffentlichkeit durch die jungen Freiwilligen könnte als neue soziale Kraft den Regeln des Li entsprechen. Doch im Vergleich mit den Geschenken und Ritualen bei Lee Mingwei wirken sie eher aktionistisch. Ai wie die Freiwilligen umgehen geradezu den Letter to Oneself. Das macht einen Unterschied und gibt zugleich einen Wink auf seine partizipatorische Kunst. 禮 hat nicht zuletzt einen vielfältigen Bedeutungswandel erfahren. Es wird mit dem Konfuzianismus ebenso wie mit dem Taoismus und dem postkonfuzianischen 禮記Liji, dem Buch der Riten, Sitten und Gebräuche (Richard Wilhelm) in Verbindung gebracht. Der Anteil des Übersetzers bei der Zuspitzung äußerst elastischer und poetischer Lehren sollte nicht zu gering geschätzt werden. Unter Maß und Mitte wird eine ganze Reihe von Aussprüchen gesammelt.
„Dschung Ni sprach: Der Edle hält sich an Maß und Mitte, der Gemeine widerstrebt Maß und Mitte. Maß und Mitte des Edlen bestehen darin, daß er ein Edler ist und allezeit in der Mitte weilt. Die Mittelmäßigkeit des Gemeinen besteht darin, daß er ein Gemeiner ist und vor nichts zurückscheut.
Der Meister sprach: Maß und Mitte sind das Höchste, aber selten sind die Menschen, die lange dabei verweilen können.
Der Meister sprach: Warum der Weg nicht begangen wird, das weiß ich: Die Klugen gehen (mit ihren Meinungen) darüber hinaus, und die Törichten erreichen ihn nicht. Warum der Weg nicht erkannt wird, das weiß ich: Die Tüchtigen gehen (in ihren Handlungen) darüber hinaus, und die Untüchtigen erreichen ihn nicht. Unter den Menschen gibt es keinen, der nicht ißt und trinkt, aber selten sind die, die den Geschmack unterscheiden können.
Der Meister sprach: Ach, daß der Weg nicht begangen wird!“[12]

Der Gelehrtenname des Konfuzius, Dschung Ni, gibt einen Wink auf die anonyme Herkunft des Textes im Modus von Aussprüchen, der nicht nur postum geschrieben worden ist. Die Herkunft der Bücher des Konfuzius und seiner Philosophie, die in Tempeln tradiert wurde, ist insofern auch vage. Durch die literarische Transformation in Gespräche erweist sich das Li auch besonders anschlussfähig für Transformationen. In einer Fußnote merkt Richard Wilhelm zum „Untüchtigen“ an, dass „(h)ier (…) das Thema von der Überkreuzung von Wissen und Handeln zum erstenmal angeschlagen“ werde, das „weiterhin eine große Rolle“ spiele.[13] Die „Überkreuzung von Wissen und Handeln“ wird von Richard Wilhelm als ein Unwissen der Untüchtigen angeschrieben. Doch zugleich geht es mehrdeutig um das Wissen von „Maß und Mitte“, die als „das Höchste“ insofern aufgeschoben werden, als sie nur „selten“ oder fast nie erreicht werden. Das Wissen wird insofern von den Tüchtigen wie den Untüchtigen kaum in Praktiken umgesetzt. Doch das eher taoistische Machen generiert mit Umsicht nachträglich Wissen.
„曲禮上: 曲禮》曰:「毋不敬,儼若思,安定辭。」安民哉!
Qu Li I: The Summary of the Rules of Propriety says: Always and in everything let there be reverence; with the deportment grave as when one is thinking (deeply), and with speech composed and definite. This will make the people tranquil.“[14]
(Die Zusammenfassung der Regeln des Anstands sagt: Immer und in allem soll es Ehrfurcht geben; mit einem Verhalten, das bis in die Grabestiefe gedacht, und mit Sprache gefasst und bestimmt wird. Dies wird die Menschen ruhig machen.)

Das Wissen des 禮 lässt sich als eine Praxis sozialen Verhaltens formulieren. Es wird durch Rituale gerahmt. Mit anderen Worten: Wenn sich wie aktuell, soziale Distanz in Kombination mit dem Wunsch, etwas flicken zu lassen, wie im Mending Project praktiziert werden sollte, dann lässt sich eine Plexiglasscheibe zwischen den Akteur*innen einbauen. Lee Mingwei hat als New Yorker 2001 nach dem Anschlag auf die Twin Towers begonnen zu flicken. The Mending Project setzt dieses Ritual der Reparatur im Gropius jeden Nachmittag fort. Seit 2009 ist daraus eine ästhetisch komplexe Installation entstanden. Von geflickten Kleidungsstücken auf einem Tisch sind unzählige Fäden zu bunten Garnrollen gespannt. Allein schon die Buntheit der Garne im Raum und Garnrollen an der Wand bringt zur eher traurigen Arbeit des Flickens eine, soll man sagen, Fröhlichkeit zurück. – Fortsetzung folgt.

Torsten Flüh

PS: Am 22. Mai 2020 war auch das Restaurant Beba im Gropius Bau mit seinem unglaublich freundlichen Service, selbstgemachten Limonaden und leckeren Gerichten, einem sehr empfehlenswerten Lunch für 12 € wieder geöffnet. Einen Tisch kann und sollte man über open table reservieren. Ansonsten gelten die Rituale, die zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie empfohlen werden.

Lee Mingwei
禮 Li – Geschenke und Rituale
bis 12. Juli 2020
Zeitfenster-Ticket
Samstag bis Mittwoch 10:00 bis 19:00
Donnerstag und Freitag 10:00 bis 21:00
Dienstag geschlossen
Gropius Bau
Niederkirchnerstraße 7
10963 Berlin



[1] Lee Mingwei: Artist Statement. http://www.leemingwei.com/artist.php

[2] Vergleiche zur partizipatorischen Kunst auch: The Team Interviewed by Torsten Flüh. In: Barbara Lüneburg: TransCoding – From `Highbrow Art‘ to Participatory Culture

Social Media – Art – Research. Bielefeld: transcript, 2018, S. 28-50. (Open Access)

[3] GaleriePerrotin: A Virtual Interview with Lee Mingwei, uploaded 17.05.2020. (Das Interview muss allerdings früher stattgefunden haben, weil Lee Mingwei sagt, dass seine Berliner Ausstellung noch geschlossen sei. Es öffnete aber bereits am 11. Mai wieder.) 

[4] Siehe zur Frage des Museums und der Ausstellung auch: Torsten Flüh: I am not an artist. Philippe Parreno fasziniert im Gropius Bau mit einem Organismus als Ausstellung. In: NIGHT OUT @ BERLIN Mai 28, 2018 21:12.

[5] Vgl. zum Zweck bei Hegel: Torsten Flüh: Der Geist der Maschine. Zu Georg Wilhelm Friedrich Hegels Kunstphilosophie und der Granitschale vor dem Alten Museum. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. Mai 2020.

[6] Zitiert nach Zettel in der Ausstellung.

[7] The pillow book of Sei Shonagon (Records of civilization: sources and studies, no.77 / UNESCO collection of representative works: Japanese series). Translated and edited by Ivan Morris. New York, Columbia University Press, 1967. (archive.org)

[8] Zitiert nach Texttafel in der Ausstellung.

[9] Siehe Lee Mingwei: Letter to Oneself (2020).

[10] Zur großen Zahl siehe: Torsten Flüh: Der Geist der Zahl. Über Zahlen in Zeiten der Pandemie und im Roman Die Pest von Albert Camus. In: NIGHT OUT @ Berlin 29. April 2020.

[11] Ai Xiaoming: Wuhan Diary. In: New Left Review 122 Mar/Apr 2020: A Planetary Pandemic. London 2020. (Artikel online)

[12] Anonym: Li Gi – Das Buch der Riten, Sitten und Gebräuche. Übersetzt von Richard Wilhelm Jena 1930. (Zeno)

[13] Ebenda.

[14] Chinese Text Project: Qu Li I, 1. (Englisch translation: James Legge) (ctext.org)

Der Geist der Maschine

Maschine – Geist – Intelligenz  

Der Geist der Maschine

Zu Georg Wilhelm Friedrich Hegels Kunstphilosophie und der Granitschale vor dem Alten Museum

Hegels plötzlicher Tod am 14. November 1831 trifft zusammen mit der Aufstellung der Granitschale im Lustgarten vor dem Alten Museum, wo sie heute wieder aufgestellt ist.[1] Sie ist einzigartig, gilt als „Biedermeierweltwunder“ und noch heute als größte geschliffene Schale aus Granit weltweit.[2] Da die Alte Nationalgalerie seit 12. Mai nach Zeitfensterkarten wieder geöffnet ist, stolperte der Blick des Berichterstatters bei Recherchen zu Spuren von Hegels Berliner Zeit über die beiden erhaltenen kleinformatigen Ölgemälde der Granitschale von Johann Erdmann Hummel. Getrennt nur durch den hier Kupfergraben genannten Spreearm wurde in unmittelbarer Nähe zu Hegels Wohnhaus, Am Kupfergraben 4a, nicht nur das Alte Museum zwischen 1825 und 1830 nach Plänen von Friedrich Karl Schinkel erbaut, vielmehr wurde seit November 1828 daneben die Granitschale geschliffen.

Das künstlerische Wunderwerk der Granitschale trifft insofern auf Hegels Phänomenologie des Geistes, die eine Philosophie vom Kunstwerk als „Kunst-Religion“ enthält und deren „Vorrede“ er kurz vor seinem Tod bearbeitet haben soll.[3] Johann Christian Gottlieb Cantian, der wie Hegel auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof beigesetzt ist, hatte im Auftrag von Friedrich Wilhelm III. seit 1826 die Granitschale angefertigt. Natur und Geist treffen auf ungeahnte Weise aufeinander. Cantian stellt nicht nur Berechnungen an, um eine größtmögliche Scheibe von einem Findling, dem Großen Markgrafenstein, abzuspalten, er wendet die Geometrie ebenso an, um aus der Granitscheibe, eine Schale nach antiker Form zu schleifen. Mehr noch: er setzt eine Dampfmaschine ein, um die langwierige Schleif- und Polierarbeit zu bewältigen. Was heißt der Einsatz einer Maschine für den Geist der Hegelschen Philosophie?

Am 14. November 1831 treffen widerstreitende Wissensformationen von Epidemie-Kurve und Normalität aufeinander. Wie in der vorausgegangenen Besprechung über Hegels Tod, dessen widerrechtliche Bestattung auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof und divergierende Erzählungen thematisiert, geht es um Formate vom Seuchentod, von der Vollendung und vom schönen Tod.[4] Mit der Aufstellung der Granitschale werden gleichzeitig längerfristige Planungen und Berechnung vollzogen und umgesetzt, als handle es sich um einen normalen Tag. Während der Cholera-Epidemie seit etwa September gingen anscheinend die abschließenden Arbeiten an der kalkulierten Aufstellung der überdimensionalen, extrem schweren Schale aus Naturstein weiter. Für die Aufstellung auf einem Sockel vor dem Museum musste wie bei vorausgegangenen Phasen eine Holzkonstruktion eingesetzt werden, um das Kunstwerk unter Beteiligung etlicher Arbeitsmänner an seinen Platz zu befördern. Trotzdem erfolgte Aufstellung nur „provisorisch()“ wie eine Aufschrift als Teil des Rahmens noch heute verrät. Das gibt einen Wink auf die Berechnungen und die Probleme, die daraus entstanden waren.  

In der Phänomenologie des Geistes führt Hegel 1807 den Begriff „Werkmeister“ ein. Er zeichnet sich durch sein „instinktartiges Arbeiten aus“, das Hegel mit einer Naturbeobachtung beschreibt. Denn der Werkmeister arbeite, „wie die Bienen ihre Zellen bauen“.[5] Das instinktive Arbeiten des Werkmeisters ist unterdessen nach Hegel nur eine Erscheinung des Geistes – nicht zuletzt, weil es dem Modus einer Wiederholung unterliegt. Bienen bauen immer nur die fast gleichen „Zellen“. Deshalb wird der Werkmeister lediglich als eine Vorstufe des Geistes einschränkend gebraucht. Denn „(d)er Geist ist K ü n s t l e r“.[6] Das Verhältnis von Werkmeister und Künstler muss von Hegel in Bezug auf den Geist und nicht nur die geistige Tätigkeit geklärt werden. Der Werkmeister mit seiner Handlungsstruktur der „Vermischung“ muss von natürlichem und bewusstlosem Arbeiten gereinigt werden[7], damit der Geist zum Künstler werden kann.
„In dieser Einheit des selbstbewußten Geistes mit sich selbst, insofern er sich Gestalt und Gegenstand seines Bewußtsein ist, reinigen sich also seine Vermischungen mit der bewußtlosen Weise der unmittelbaren Naturgestalt. Diese Ungeheuer an Gestalt, Rede und Tat lösen sich zur geistigen Gestaltung auf, – einem Äußern, das in sich gegangen, – einem Innern, das sich aus sich und an sich selbst äußert; zum Gedanken, der sich gebärendes und seine Gestalt ihm gemäß erhaltendes und klares Dasein ist. Der Geist ist K ü n s t l e r.“[8] 

Hegels Reinigungsphantasie des Werkmeisters zum Künstler, um den Geist vom Natürlichen oder auch Tierischen zu reinigen, wird zu einem – beispielsweise mit der größten Granitschale – Problem. Gilt Cantian nur als Werkmeister oder als Künstler? Ist die „Gestalt“ der Schale ein „Ungeheuer“? Welche Rolle spielt das mathematische Wissen für die Herstellung der Schale? Wie ist das in der Granitschale sozusagen verkörperte Wissen in der Forschung marginalisiert worden? Wie stellt Johann Erdmann Hummel in seinen Gemälden das Verhältnis von Mensch und Natur dar? Wie wird die Maschine zugleich dargestellt und versteckt? Wie wird Cantian unter der provisorisch aufgestellten Granitschale visualisiert? Wie machen die Spiegelungen auf der Oberfläche der Granitschale das Große klein? Geht von den Spiegelungen ein Schrecken aus? Wie wird die Beherrschung der Natur in einem der härtesten Steine als Materie und Material zu einer Schwierigkeit? Warum wird die Aufstellung der Granitschale zu einem Problem der Größe und der Werte? Welchen Wink geben die Versetzung und Wiederaufstellung der Granitschale vor dem Alten Museum im Jahr 1997? Auf bedenkenswerte Weise wird das vermeintlich biedermeierliche Weltwunder mit seinen lexikologischen Verbindungen zu Beschaulichkeit, Betulichkeit, Gemütlichkeit, Idyll zu einem Schauplatz der Widersprüche.[9]

Hegel kommt in seiner Phänomenologie des Geistes einmal auf die Maschine zu sprechen. Im Abschnitt der „Beobachtung der Natur“[10] durch die „Beobachtende Vernunft“ schreibt er ausführlicher über den „Vernunftinstinkt“. Er unterscheide den Menschen zwar vom Tier, doch „(s)eine Befriedigung“ folge nur einem „Zweck als D i n g“.[11] Deshalb wird es Hegel wichtig, die Unangemessenheit dieser Art Zweck als das „Organische“ vom Verstand abzutrennen. Denn das Organische kenne nur „das zweckmäßige Tun als solches“.[12] Dieses Tun des Individuums sei aber noch zweckloser als das Tun einer Maschine, deren Wirksamkeit wenigstens „einen bestimmten Inhalt“ habe.
„Was das Organische zur Erhaltung seiner selbst als Individuum, oder seiner als Gattung tut, ist daher diesem unmittelbaren Inhalte nach ganz gesetzlos, denn das Allgemeine und der Begriff fällt außer ihm. Sein Tun wäre sonach die leere Wirksamkeit ohne Inhalt an ihr selbst; sie wäre nicht einmal die Wirksamkeit einer Maschine, denn diese hat einen Zweck, und ihre Wirksamkeit hierdurch einen bestimmten Inhalt.“[13]  

Auf welches Maschinenmodell bezieht sich Hegel um 1807? Arbeitet bei ihm schon im Hintergrund eine Dampfmaschine? Die „Maschine“ wird von Hegel vor allem gegen die Genußmaschine in L’Homme machine (1747) von Julien Offray de la Mettrie formuliert, deren Zweck und Wirksamkeit mit der Befriedigung der volupté durch die jouissance angeschrieben wird.[14] Sie funktioniert nach dem Modell der Uhr als Maschine zum Messen der Zeit und ihres Ineinandergreifens von Zahnrädern.[15] Das Maschinenmodell wird sich bei Hegel selbst dann nicht verändert haben, als er 1817 die Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse veröffentlicht, obwohl er sich nun den der Maschine verwandten Begriff des „Mechanismus“ für sein Philosophieren nutzbar macht. [16] Als Ludwig Boumann 1845 den dritten Teil der Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften, „Die Philosophie des Geistes“, in der Werkausgabe herausgibt, hat sich der Maschinenbegriff postum in § 526 leicht verschoben. Nunmehr geht es um einen gesellschaftlichen Aspekt der Maschine, der sich in Hegels zu Lebzeiten veröffentlichten Schriften so nicht finden lässt.
„Die damit zugleich abstraktere Arbeit führt einerseits durch ihre Einförmigkeit auf die Leichtigkeit der Arbeit und die Vermehrung der Produktion, andererseits zur Beschränkung auf eine Geschicklichkeit und damit zur unbedingten Abhängigkeit von dem gesellschaftlichen Zusammenhange. Die Geschicklichkeit selbst wird auf diese Weise mechanisch und bekommt die Fähigkeit, an die Stelle menschlicher Arbeit die Maschine treten zu lassen.“[17]

Die Maschine geistert auf unterschiedliche, gar widersprüchliche Weise durch die Ausgaben von Hegels Schriften und Werken. Bei Boumanns Herausgabe kündigt sich über die Maschine eine Veränderung und moderner Widerspruch zur „menschliche(n) Arbeit“ an. Ludwig Boumanns ca. 14 Jahre verspätete Herausgabe der Philosophie des Geistes schreibt bereits die industrielle Produktion als Problem im „System der Bedürfnisse“ an, das Hegel selbst bis 1831 auch deshalb verborgen bleibt, weil die Dampfmaschine am Packhof nahe dem Schloss und ein paar Hundert Meter entfernt von Universität und Wohnhaus ein Unikat bearbeitet. Sie treibt eine Schleif- und Poliermaschine von kaum vorstellbarer „Einförmigkeit“ an, um die herum mit dem ungeheuer großen und schweren Granitstein eine Holzkonstruktion mit Fenstern gebaut worden ist. Die runde Granitscheibe, die binnen 2 Jahre zu einer Schale geschliffen wird, hat schließlich einen Durchmesser von 6,91 Meter und ein Gewicht von ca. 75 Tonnen.[18] Während Hegel in seiner Kunstphilosophie das „Geradlinigte und Ebne des Kristalls“ als „künstlerischen Geist“ feierte, entgeht ihm der Schliff der Granitschale durch eine Maschine in seiner Nähe. Hätte er daran doch seine Philosophie diskutieren oder gar bestätigt finden können.
„(…) der Begriff streift das ab, was von der Wurzel, dem Geäste und Geblätter, worin das Geradlinigte und Ebne des Kristalls in inkommensurable Verhältnisse erhoben ist, so daß die Beseelung des Organischen in die abstrakte Form des Verstandes aufgenommen und zugleich ihr Wesen, die Inkommensurabilität für den Verstand erhalten wird.“[19]

Eduard Gärtner: Klosterstraße mit Parochialkirche (1830)

In der Encyklopädie wird im Unterschied zur Phänomenologie die Intelligenz in der Kategorie „Der theoretische Geist“ wichtig.[20] Insofern wird der Geist weiter aufgespalten und systematisiert. Doch bei allem Bestreben die Intelligenz genauer zu bestimmen, wird sie auch mit einer elastischen Formulierungen in 20 Paragraphen mit Unterteilungen auf 12 Seiten als eigentümliche „Dialektik“ bedacht. Denn ein Problem der Intelligenz stellen ihre Vielfältigkeit, die „Menge der Formen“ und Zufälligkeit, ja, ihre Flüssigkeit dar. Beobachten lässt sich bei Hegel in der Encyklopädie, dass sich die Intelligenz als „Dialektik“ und „reine Sujektivität“ schwer fassen lässt. Die Intelligenz wird selbst zur „Dialektik“.

„§. 368

.. – Dieser B e g r i f f und die Dialektik ist die Intelligenz selbst, die r e i n e  S u b j e k t i v i t ä t des Ich, in welcher die Bestimmtheiten als flüssige Momente, und welche das absolut-C o n c r e t e , die N a c h t des Selbst ist, in welcher die unendliche Welt der Vorstellungen, welche jede Intelligenz ist, so wie die eigene  B e s t i m m u n g e n ihrer Thätigkeit, welche als Kräfte genommen worden, a u f g e h o b e n sind. Als das einfache Identische dieser Mannichfaltigkeit bestimmt sie sich zu dieser E i n f a c h h e i t einer Bestimmtheit, zum V e r s t a n d e , zur Form einer Kraft, eine isolirten Thätigkeit, und faßt sich als Anschauung, Vorstellungskraft, Verstandes=vermögen u. s. f. auf. Aber dieses Isoliren und die Abstractionen von Thätigkeiten und diese Meynungen von ihnen sind nicht der Begriff und die vernünftige Wahrheit ihrer selbst.“[21]

Die Intelligenz als „Dialektik“ wird für Hegel jener Raum und Schauplatz, mit dem er paradoxer Weise die Seele zu retten beansprucht. Während erwartet werden dürfte, dass die Intelligenz in ihren Wissensformen dem Glauben an die Seele widerspricht, ermöglicht es die Dialektik quasi ihr Überleben. Die Intelligenz wird damit bei Hegel zu einer gewissermaßen eigensinnigen Dialektik. Sie wird zum vielfältigen Wissen zwischen „Gefühl“ und „reproduktiver Einbildungskraft“ (§ 376), mathematischer „Subsumption“ (§ 377), zeichenhaftem „Gedächtnis“ (§ 379) und „Denken“ (§ 385) zum Zweck des „freye(n) Willen(s)“ (§ 387). Zwischen „dumpfe(m) Weben des Geistes“ und freiem Willen wird die Intelligenz vielfältig tätig. Eine genauere Beschreibung zu ihrer Messbarkeit, wie sie um 1900 z. B. von Hugo Münsterberg entwickelt und ausgeübt wird[22], bleibt aufgespart. 

„§. 369.

Die Intelligenz ist als S e e l e unmittelbar bestimmt, als B e w u ß t s e y n ist sie im Verhältnis zu dieser Bestimmtheit als zu einem äußern Objecte; als Intelligenz findet sie sich so bestimmt; so ist sie 1) G e f ü h l, das dumpfe Weben des Geistes in sich selbst, worin er sich s t o f f a r t i g ist, und den ganzen S t o f f seines Wissens hat. Um der U n m i t t e l b a r k e i t willen, in welcher der Geist als fühlend oder empfindend ist, ist er darin schlechthin nur als e i n z e l n e r und s u b j e c t i v e r.“[23]

Die Intelligenz als ein Wissen aus Mathematik, Vorstellung und „reproduktiver Einbildungskraft“ kommt bei der Anfertigung der Granitschale durch Cantian zum Zuge. Wie Sybille Eichholz erforscht hat, stellt Cantian wiederholt Berechnungen an, um den Großen Markgrafenstein in den Rauenschen Bergen bei Fürstenwalde an der Spree östlich von Berlin zu vermessen, zu wenden, zu spalten, zu transportieren, zu formen durch schleifen, zu wenden und aufzustellen. Es ist gewissermaßen eine komplexe Ingenieurleistung, die das monumentale Kunstwerk zu einer Zeit hervorbringt, als die Berufsbezeichnung des Ingenieurs kaum gebräuchlich ist. Zum Wenden des Findlings fertigte Cantian eine Zeichnung an. Denn der Rohling soll nicht senkrecht, sondern waagerecht abgespalten werden. Dafür werden 95 Eisenkeile eingesetzt. Für die Wendung des Rohlings muss eine aufwendige Holzkonstruktion in den Rauenschen Bergen aufgebaut werden, die in einer maßstabsgetreuen Zeichnung überliefert ist.[24] Um die Abspaltung kalkulieren zu können, bedarf es nicht zuletzt einer Materialkenntnis des Steinmetzes. Der Transport erfordert weitere Berechnungen und Planungen:
„Der Transport aus den Bergen bis zum Schiff dauerte 6 Wochen. Täglich kam man 600 Fuß (188 Meter) voran. Das Transportschiff aus Holz war 126 Fuß (39,5 Meter) lang, 17 Fuß (5,3 Meter) breit und etwa 5 Fuß (1,6 Meter) hoch und speziell für diesen Transport ausgesteift.“[25]   

Für die Berliner Granitschale gibt es ein Vorbild aus der Antike. Die Porphyr-Schale befindet sich seit Ende des 18. Jahrhunderts in der Sala Rotunda des Vatikan.[26] Sie hat bereits um 1818 einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt, als z.B. der Germanist Friedrich Heinrich von der Hagen, Professor an der Universität zu Breslau und seit 1824 in Berlin, seine Briefe in die Heimat u.a. aus Italien, genauer Rom sendet und als Buch veröffentlicht mit dem Hinweis auf eine „sehr große, zierlich ausgearbeitete Porphyr-Schale“.[27] Anders gesagt: selbst wenn die Porphyr-Schale keine genaueren Beschreibungen erfahren hat, gehört sie als Sammlungsstück der Vatikanischen Museen seit dem 17. Jahrhundert zu den Attraktionen, die auf der Grand Tour gesehen werden. Englische Adelige wie William Cavendish, 6. Herzog von Devonshire, Winckelmann und Goethe sowie Cantian kannten die Porphyr-Schale. So war es denn auch der Herzog von Devonshire als englischer Gesandter in Berlin, der 1826 auf der Akademie-Ausstellung in Berlin eine „kreisrunde Granitschale mit 6 Fuß (1,83 Meter) Durchmesser und zwei weitere kleinere Schalen“ von Cantian orderte.[28] Das Profil der Granitschale entspricht dem der Porphyr-Schale.[29] Schließlich sicherte Cantian „die Lieferung einer Schale mit 17 Fuß (5,34 Meter) Durchmesser zu und betonte, dass sie noch beeindruckender ausfallen werde, als „die herrliche Porphyrschale aus Neros Goldenem Haus in der Sala Rotunda des Vatikans““.[30]

Doch die Größe von Cantians Granitschale wird zum Problem. Sie sollte wie die Porphyr-Schale in der Sala Rotunda in der Rotunde von Karl Friedrich Schinkels Museum aufgestellt werden. Es geht also um eine Kopie und Vergrößerung des römischen Vorbildes, die misslingt. Die Granitschale wird nicht nur in den optischen Proportionen zu groß, sie gefährdet mit ihrem Gewicht auch die Statik der Rotunde. Die sorgfältig berechneten Planungen werden insofern von der Faszination durch den sehr großen Naturstein, seine nicht zuletzt maschinelle Bemeisterung und dem Streben nach Größe durchtrieben. Cantian hat sich sozusagen verrechnet, obwohl und weil er ein Weltwunder mit den technischen Mitteln seiner Zeit geschaffen hat. Er hat, mit Hegel gesagt, ein „Ungeheuer an Gestalt“ geschaffen. An der Granitschale wird nicht zuletzt das Drama einer Vermischung von Natur und Geist ausgetragen. Schließlich kommt es zwischen Cantian und Schinkel zu einem Disput darüber, wie die Schale vor dem Museum aufgestellt wird. Cantian wollte die Schale auf hohe Säulen aufstellen, Schinkel wollte sie bodennah quasi herabsetzen. Schinkel setzte sich durch.

JOH. ERDMANN HUMMEL 1769 – 1852
DIE GRANITSCHALE im LUSTGARTEN zu BERLIN (IN PROVISORISCHER AUFSTELLUNG)

Die kleinformatigen Gemälde – 75,0 cm x 45,0 cm Granitschale beim Schleifen und 89,0 cm x 66,0 cm Granitschale im Lustgarten – von Johann Erdmann Hummel in der Alten Nationalgalerie machen das Große, das Ungeheure klein. Ein drittes, größeres Gemälde, das das Umdrehen der fertiggeschliffenen Schale am Packhof mit einer aufwendigen Holzkonstruktion und durch Winden gesteuerte Seile im Jahr 1831 dokumentierend darstellte, ist II. Weltkrieg verlorengegangen.[31] Mit großem Detailreichtum für die visuellen Effekte auf der polierten Granitoberfläche verarbeitet Hummel in seinen Gemälden nicht nur ein optisches Wissen, vielmehr inszeniert er daran ein Verhältnis von Natur, Kunst und Größe, das auch verstört. Auf der Oberfläche der Schale spiegeln sich nicht nur Fenster, eine Seelandschaft und Menschen. Sie werden durch die Krümmung auch verzerrt und verkleinert. Der Wunsch nach Größe und Erhöhung, wie er von Cantian mit dem Wunsch nach einer Aufstellung der Schale auf Säulen angedacht wird, nimmt in den Spiegelszenarien eine gegenläufige Wendung. Cantian mit Zylinder als Bezwinger des Natursteins spiegelt sich winzig auf der unterseitigen Oberfläche. Der Physiker Hans Joachim Schlichting hat darauf aufmerksam gemacht, dass Hummel in Granitschale im Lustgarten, die Licht- und Schattenverhältnisse genau bedenkt und sichtbar macht.
„Das Gesicht des Mannes mit dem Handstock wird so hell beleuchtet, dass es am beschatteten Boden der Granitschale wie in einem Spiegel reflektiert wird. Da im beschatteten Bereich kaum Streulicht auftritt, wirkt dieser Bereich wie ein fast perfekter Spiegel. Statt eines Teils der Granitschale sieht man den kopfstehenden Kopf eines sein Spiegelbild betrachtenden Mannes.
Anders ist es beim Soldaten im Vordergrund. Sein anamorphotisch verzerrtes Spiegelbild hebt sich nur undeutlich aus dem granitfarbenen Untergrund heraus. Denn er steht im Schatten und trägt dunkle Kleidung, so dass er nur wenig Licht zur Schale strahlt.“[32]  

Doch Hummel verarbeitet in seinen Gemälden nicht nur das Wissen der Optik mit der Granitschale, vielmehr lässt er auf der spiegelnden Oberfläche der Granitschale beim Schleifen mittig das Spiegelbild einer von Wald umgebenen Seeoberfläche, auf der sich Wolken spiegeln, erscheinen. Doch dieses Spiegelbild ist eine Imagination von Natur, die es am Standort der Schleifmaschine nicht gegeben haben kann. Um den Packhof am Kupfergraben und auf dessen anderem Ufer standen Gebäude. Die spiegelverkehrte Abbildung der Natur im Dampfmaschinenhaus ist eine imaginäre. Obwohl Hummel den Mechanismus der Schleifmaschine mit dem Zahnrad, Zahn für Zahn detailgenau bis auf die Schrauben und Rostflecken malt, bleibt doch die Antriebskraft der Dampfmaschine verborgen, um nicht zu sagen, versteckt. Ein Wasserspiegel auf dem Schalenboden wird bis auf die schmale Abflußkante genau gemalt. Die Konstruktion der Poliermaschine spiegelt sich detailliert und abgeschattet im Wasserfilm. Anders gesagt: Die Maschine wird bei Hummel zu einer komplexen Spiegelmaschine, die sich in Einzelspiegelungen auflöst. Erst dann, wenn sich die vielfachen und unterschiedlichen Spiegelungen erschließen, wird das Bild sichtbar, lässt sich aber nicht mehr in einer Einheit sehen. Seit den 1820er Jahren hatten sich auf der Chausseestraße vor dem Oranienburger Tor gegenüber den Begräbnisplätzen Maschinenbauer wie Franz Anton Egells oder Julius Conrad Freund angesiedelt, um Dampfmaschinen zu konstruieren.

Für die Granitschale als Wunderwerk der Ingenieurskunst und der Maschinenbauer, denn ohne diese wäre der faszinierende Schliff gar nicht möglich geworden, stellen sich im Jargon schnell diverse Spitznamen wie „Suppenschüssel“ und „Granitbecken“ sowie für den Maler „Perspektiv-Hummel“ ein.[33] Die Spitznamen verkleinern das Wunder und machen das Inkommensurable kommensurabel. Durch die Aufstellung im Freien wurde der Spiegelglanz, der die Größe sozusagen noch überstrahlte, vergänglich. Ohne den Glanz und die Spiegeleffekte ist die Granitschale heute nur noch groß. Auch Johann Christian Gottlieb Cantian spiegelt sich verschattet, verzerrt und verkleinert auf der Oberfläche der Granitschale in Hummels Gemälde. Optisch mag das richtig erfasst sein, doch visuell spielt dem Künstler, Steinmetz und Ingenieur sein Werk damit einen Streich.

Torsten Flüh

Alte Nationalgalerie
(Regeln zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie:
Buchung eines Zeitfensters, 1,5 m Abstand, Mund- und Nasenschutz)
Dienstag bis Sonntag 10:00 Uhr bis 18:00 Uhr
Online-Zeitfensterticket

Altes Museum
(Regeln zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie:
Buchung eines Zeitfensters, 1,5 m Abstand, Mund- und Nasenschutz)
Dienstag bis Sonntag 10:00 Uhr bis 18:00 Uhr
Online-Zeitfensterticket

Granitschale im Lustgarten
(Bitte beachten Sie die allgemeinen Regeln zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie: 1,5 m Abstand, kein Mund- und Nasenschutz notwendig, Gruppen bis 10 Personen, ab 25. Mai 2020 werden Stadtrundfahrten und -führungen erlaubt – Stand 07.05.2020)

Überrest des Großen Markgrafensteins in den Sandbergen bei Rauen auf einer Höhe von ca. 129 m nach weiterer Drehung mit der Abbruchkante aus vermutlich touristischen Gründen. Die Gegend wird 1825 nicht bewaldet gewesen sein.

[1] Jutta Schneider: Der Bär von Berlin. Jahrbuch des Vereins für die Geschichte Berlins 1997. Über: Sibylle Einholz: Die Große Granitschale im Lustgarten. Zur Bedeutung eines Berliner Solitärs. Luise Berlin S. 114. (Link)

[2] Siehe: Biedermeierweltwunder. In: Academic (Deutsch Wikimedia).

[3] Wolfgang Bonsiepen: Einleitung. In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. (Herausgegeben von Hans Friedrich Wessels und Heinrich Clairmont). Hamburg: Meiner, 1988, S. LV.

[4] Siehe: Torsten Flüh: Das „Gewebe der Penelope“. Zum Staat in Zeiten der Pandemie und Hegels Tod während der Cholera-Epidemie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. Mai 2020.

[5] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie … [wie Anm. 3] S. 455.

[6] Ebenda S. 458.

[7] Ebenda.

[8] Ebenda.

[9] Siehe „Typische Verbindungen zu >biedermeierlich<“ In: Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache. Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute. biedermeierlich.

[10] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie … [wie Anm. 3] S. 166-200.

[11] Ebenda S. 177.

[12] Ebenda S. 178.

[13] Obwohl in der Ausgabe der Phänomenologie von Wessels und Clairmont an dieser Stelle nicht ausdrücklich auf das Werk von Julien Offray de La Mettrie hingewiesen wird (Siehe S. 630), spielt Hegel doch weitaus häufiger auf La Mettrie wie eben mit dem Begriff Maschine an. Ebenda.

[14] Siehe: „La Volupté des sens, quelque aimable & chérie qu’elle ſoit, quelques éloges que lui ait donnés la plume apparemment reconnoissante d’un jeune Medecin françois, n’a qu’une ſeule jouïssance qui est son tombeau. Si le plaisir parfait ne la tüe point sans retour, il lui faut un certain tems pour ressusciter. Que les resources des plaisirs de l’esprit sont différentes ! plus on l’approche de la Vérité, plus on la trouve charmante. Non seulement sa jouissance augmente les desirs ; mais on joüit ici, dès qu’on cherche à jouir.“/ „Die Wollust der Sinne, so liebenswert und süß sie auch sein mag, ein Lob, das ihm von der anscheinend dankbaren Feder eines jungen Arztes zuteil wurde, hat nur einen Genuss, der das Grab war. Wenn perfektes Vergnügen sie nicht im Gegenzug tötet, dauert es eine gewisse Zeit, bis sie wiederbelebt ist. Wie unterschiedlich sind die Freuden des Geiestes? Je näher du der Wahrheit kommst, desto charmanter ist sie. Nein, nur Genuss erhöht die Wünsche; aber wir genießen hier, sobald wir versuchen zu genießen.“ La Mettrie in seinem an den Mediziner Albrecht von Haller in Göttingen adressierten Brief als Einleitung zu L’Homme Machine 1748 (Wikisource)

[15] Vgl. zum Maschinenmodell und den Zahnrädern: Torsten Flüh: Nietzsches „intelligente Maschinen“. Zur Intelligenz und Maschine bei Nietzsche, dem Technikmuseum Berlin und dem Riesen-Dampfhammer. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. Juli 2019.

[16] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Heidelberg: Oßwald, 1817, §. 142. S. 101.

[17] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften. Dritter Theil. Philosophie des Geistes. (Herausgegeben von Ludwig Boumann) Berlin: Duncker und Humblot, 1845, S. 396, § 526.

[18] Siehe Biedermeierweltwunder [wie Anm. 2].

[19] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie … [wie Anm. 3] S. 462.

[20] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Encyklopädie … [wie Anm. 15] S. 238-250.

[21] Ebenda S. 240-241.

[22] Siehe: Torsten Flüh: Klassenfragen, Intelligenz und Obdachlosigkeit. Zu Mike Savages Mosse-Lecture über das Semesterthema Klassenfragen. In: NIGHT OUT @ BERLIN 13. Januar 2020.

[23] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Encyklopädie … [wie Anm. 15] S. 241.

[24] Im Laufe des 19. Jahrhunderts ist der Große Markgrafenstein vermutlich aus touristischen Gründen, um seine Größe zur Geltung zu bringen, wieder in die Senkrechte gedreht worden. Sie Foto und: Bilddatei Blatt Nr.2 „Drehen der Schale am Markgrafenstein“ (Wikimedia)

[25] Zitiert nach: Biedermeierweltwunder [wie Anm. 2].

[26] Siehe: Musei Vaticani: Sala Rotonda.

[27] D. Friedrich Heinrich von der Hagen: Briefe in die Heimat aus Deutschland, der Schweiz und Italien. Dritter Band. Breslau: Josef Max, 1819, S. 96/97.

[28] Zitiert nach: Biedermeierweltwunder [wie Anm. 2].

[29] Siehe: 14 Granitschale vor dem Museum in Berlin. (deacademic)

[30] Zitiert nach: Biedermeierweltwunder [wie Anm. 2].

[31] Johann Erdmann Hummel: Die Granitschale auf dem Transport. (135 cm x 190 cm) In: Vorstand der Deutschen Jahrhundertausstellung (Herausgeber): Katalog zur Ausstellung deutscher Kunst aus der Zeit von 1775–1875 in der Königlichen Nationalgalerie Berlin. München: F. Bruckmann, 1906. (Wikimedia)

[32] Hans Joachim Schlichting: Sehen lernen, was offen vor unseren Augen liegt. Optische Alltagsphänomene unter dem Blickwinkel der Physik. Undatiertes Manuskript. (PDF)

[33] Leonie Gehrke: JOHANN ERDMANN HUMMEL: DAS SCHLEIFEN DER GRANITSCHALE & DIE GRANITSCHALE IM LUSTGARTEN, 1831. In: Sensetheatmophere 21. Juli 2013.