Geisterkunst aus tiefem Grau zu intensiver Farbigkeit

Kino – Algorithmus – Geister  

Geisterkunst aus tiefem Grau zu intensiver Farbigkeit

Zur gefeierten Weltpremiere von Gerhard Richters und Corinna Belz‘ Moving Picture 946-3 mit Live-Musik von Rebecca Saunders

Die Weltpremiere von Gerhard Richters und Corinna Belz‘ Moving Picture 946-3 mit Live-Musik von Rebecca Saunders in der Reithalle der Karlskaserne am 12. Juni 2020 bei den Schloss Festspielen Ludwigsburg musste wegen der Covid-19-Pandemie abgesagt werden. Nun fand sie am 14. September im Zoo Palast im Rahmen des Musikfestes Berlin statt. Vom 31. August bis 8. September 2019 war die erste Version der zusammen erarbeiteten audiovisuellen Collage im Kiyomizu-dera – 清水寺 – Tempel in Kyoto gezeigt worden. Aus unzähligen Farbstreifen wurde nach sechsjähriger Forschungs- und Entwicklungsarbeit, einem von Gerhard Richter erprobten mathematischen Prinzip folgend[1], ein Bewegungsbild mit Mustern gezeigt, das Rebecca Saunders mit und für den Trompeter Marco Blaauw als Material dient.

Bevor die visuellen wie akustischen Farbexplosionen einsetzen, wurde ganz in Grau Ghost Trio (1975/1976) von Samuel Beckett in der Produktion des Süddeutschen Rundfunks gezeigt. Samuel Beckett führte selbst Regie und experimentierte nicht zuletzt mit dem Grau des Schwarz/Weiß-Fernsehens. Aus dem einheitlichen Grau werden nach und nach in einem Raum geisterhaft eine Liege, eine Tür, ein Fenster, ein Hocker mit einer Gestalt per Kamerafahrten herangezoomt. Fetzen des zum Teil beim Heran- und Herauszoomen bearbeiteten Klaviertrios D-Dur von Ludwig van Beethoven, genannt nach Carl Czerny „Geistertrio“, werden hörbar. Obwohl das restaurierte Kino Zoo Palast von 1956/1957 erbaut wurde, gab eines der Hauptkinos der Berlinale mit seinem roten Samtvorhang den perfekten Rahmen für Samuel Beckett, Gerhard Richter, Corinna Belz, Rebecca Saunders und den in Rot gekleideten Trompeter Marco Blaauw. Stürmischer Schlussapplaus!

Die Geister und das Geistige werden von Samuel Beckett anders in Szene gesetzt, als es Carl Czerny 1842 in Anknüpfung an die Erscheinung des Geistes in William Shakespeares Hamlet imaginierte und in der Musik mit Über den richtigen Vortrag der sämtlichen Beethovenschen Klavierwerke normierend hören wollte: „Der Charakter dieses sehr langsam vorzutragenden Largo ist geisterhaft schauerlich, gleich einer Erscheinung aus der Unterwelt“.[2] In der deutschen Version des Stückes von Samuel Beckett kommen alle Erscheinungen aus einem gleichmachenden Grau hervor. Die Stimme im Off spricht zunächst vom Grau und der Liege, der Tür rechts und dem Fenster am Ende des Raumes, bevor diese überhaupt sichtbar werden. Das unterscheidet die im Netz kursierende Version von Ghost Trio des BBC von 1977, bei der Donald McWinnie unter der Anleitung von Beckett Regie geführt hatte.[3] Insofern wurde mit Ghost Trio in der SDR-Fassung eine echte Rarität, die das Internet noch nicht kennt, gezeigt.

Die Geistertrio-Version vom Mai 1977 wird insofern bedenkenswert, als sie das Medium Fernsehen technisch sehr viel ausgefeilter nutzt und abstrakter wirkt. Der Mann, der wartet und eine Zeitung liest, wie es in einer ersten Skizze heißt, wird nunmehr eine Gestalt mit überlangem, pelzigem Haar, die auf einem Hocker vornübergebeugt sitzt und ihren Kopf auf einen Gegenstand gelegt hat, der ein Buch oder ein Kasten sein könnte. Die Kamera muss sich mehrfach auf die Gestalt zubewegen, bei der erst im Bereich einer Naheinstellung Takte aus dem 2. Satz des Klaviertrios hörbar, doch nie ganz präsent werden. Erst als die Gestalt am Kopfende einer grauen Liege oder Pritsche an die Wand schaut, erscheint im Gegenschnitt das fleischige Gesicht eine Mannes. Der Schauspieler Klaus Herm war bei den Aufnahmen ca. 52 Jahre alt, wurde aber auf ein unschätzbares Alter geschminkt. Er bewegt sich auf sehr langsame Weise, so dass er ebenfalls ein Geist sein könnte.
„A man is waiting, reading a newspaper, looking out of the window, etc., seen first at distance, then again in close-up, and the close-up forces a very intense kind of intimacy. His face, gestures, little sounds. Tired of waiting he ends up getting into bed. The close-up enters into the bed. No words or very few. Perhaps just a few murmurs.“[4]

Der graue Raum wird nicht nur zu einem der Geistererscheinungen, vielmehr nannte Samuel Beckett erst kurz vor Produktionsbeginn von Tryst um in Ghost Trio.[5] Tryst wird im Englischen auch für Rendezvous oder als ein Ort des Wartens auf einen Spuk gebraucht.[6] Dementsprechend wird fraglich, ob Beckett während des Schreibens bereits an das Klaviertrio D-Dur von Beethoven dachte oder diese Bezugnahme erst während der Produktion im Studio entstand. Die SDR-Produktion nutzt die technischen Möglichkeiten des Fernsehens, der Unschärfe, Kamerafahrten und Klangregie auf virtuose Weise. Denn erst durch diese werden die Fetzen aus dem Klaviertrio geisterhaft und überschneiden sich zugleich mit einem Musikwissen, das einen gespenstischen Zug bekommt. Die besondere und durchaus filmische Intimität mit dem Wesen stellt sich umso mehr ein, als von ihm die Musik ausgeht. Klingt sie in ihm? Hört sie die Musik? Oder kommt sie aus ihm? –  Beckett lässt diese Fragen auf gespenstische Weise offen.     

Foto: Monika Karczmarczyk

Gespenstisch hatte der Abend bereits mit Not I von Samuel Beckett begonnen. In extremer Naheinstellung spricht die Schauspielerin Billie Whitelaw in der Regie von Anthony Page hektisch den Beckett-Text. Not I von 1973 ist auf YouTube mit einer Einführung der Schauspielerin vorhanden. Der Mund und das Sprechen wirken von einer Person, einem Subjekt abgetrennt. Der Mund spricht von selbst und wird zum Gespenst. Die Fernsehproduktion von BBC London und RM Productions London erlaubt allererst die Inszenierung von Not I, der auf dem Theater nicht mit vergleichbarer Irritation gesprochen werden könnte. Indem der gespenstische Mund auf ein Mädchen einredet, könnte die Imagination einer inneren Stimme entstehen. Inszeniert wird darüberhinaus die Sprache ohne Subjekt, die ein Mädchen atemlos zwingt, in die Welt zu gehen.
„MOUTH: . . . . out . . . into this world . . . this world . . . tiny little thing . . . before its time . . . in a godfor– . . . what? . . girl? . . yes . . . tiny little girl . . . into this . . . out into this . . . before her time . . . godforsaken hole called . . . called . . . no matter . . . parents unknown . . . unheard of . . . he having vanished . . . thin air . . . no sooner buttoned up his breeches . . . she similarly . . . eight months later . . . almost to the tick . . . so no love . . . spared that . . . no love such as normally vented on the . . . speechless infant . . . in the home . . . no . . . nor indeed for that matter any of any kind . . . no love of any kind . . . at any subsequent stage . . . so typical affair . . . nothing of any note till coming up to sixty when– . . . what? . . seventy?. . good God! . .“

Foto: Monika Karczmarczyk

Rebecca Saunders Musik für Moving Picture 946-3 ist nicht zuletzt 2019 im Kiyomizu-dera-Tempel in Kyoto entstanden. Der weltberühmte, buddhistische Tempel des Reinen Wassers ist dem Geist bzw. der buddhistischen Gottheit Kannon in den Bergen über Kyoto gewidmet.[7] In den Darstellungen des Tempels bleibt die Gottheit indessen unsichtbar, während ein Eremit und der Tempelgründer auf Bildrollen dargestellt wurden. Wahrscheinlich bekommt Kannon eine eher animistische Gegenwart in der den Tempel umgebenden Natur, womit eine japanische Transformation des buddhistischen Gottes in einen animistischen Kami 神 vorliegen dürfte.[8] Doch so detailliert erklärt es nicht einmal der Tempelorden auf seiner Website. Die Kyoto-Version Moving Picture 946-3 nimmt insofern Bezug auf ein japanisch-buddhistisches Geist- und Geisternarrativ. Der Film nimmt mit seinen Farben, die zu Beginn an gemischte, übereinander geordnete Spektralfarben erinnern können, Bezug auf die buddhistische Lehre von den Erscheinungen und der Leere.

Foto: Monika Karczmarczyk

Marco Blaauw gibt links vor der riesigen Leinwand des großen Kinos im Zoo Palast das Zeichen, dass der Film gestartet wird. Die Farbstreifen erscheinen waagerecht auf der Leinwand, zeitlich genau abgestimmt bläst Blaauw seinen ersten Ton auf seiner gestopften Doppel-Trichter-Trompete. Durch den zweiten Trichter bekommt der Ton zugleich eine weitere Färbung. Sebastian Schottke regelt am Regiepult den Klang, der sich zugleich einer Einordnung entzieht. Die Farbstreifen haben sich in die Senkrechte zu sich permanent bewegenden Farbmustern transformiert. Rebecca Saunders Musik ist an den 30.000 Einzelbildern des 37-minütigen Films orientiert. Ein Bild pro Sekunde wären 2.220, bei 30.000 kommt man auf 13,5 Bilder pro Sekunde. Die Farbmuster können für den Blick als Tier- oder Menschengestalten für Bruchteile von Sekunden zwischen indisch-hinduistischer Malerei und europäischem Symbolismus sichtbar werden. – Es sind übrigens jene Muster, wie sie Gerhard Richter für die drei Chorfenster des Kloster Troley im Saarland ausgewählt hat. – Doch dann sind sie schon wieder im Farbmuster verschwunden. Aus den Farben steigen Geister und Geistiges, Gottheiten indisch auf. Überschneidungen, Wiederholungen, Überblendungen. In der Musik entstehen Echos und Überlagerungen.

Foto: Monika Karczmarczyk

Die Kinematographie als Kombination des Films mit der Live-Musik vermag zu berauschen und zu begeistern. Die Musik trägt zweifellos dazu bei, was sichtbar wird. Sie basiert auf einem von Gerhard Richter erprobten mathematischen Prinzip. Ce Christina Jian hat beispielsweise formuliert, dass „gerade die für ihre agnostische Leere bekannten Abstrakten Bilder (von Gerhard Richter, T.F.), die auf vielen Ebenen ein Resonanzverhältnis zu wissenschaftlichen Visualisierungstechniken aufweisen, ohne direkten Bezug auf sie zu nehmen“. „Maßgeblich“ sei „für diese Analogie (…) Richters Konzept der Bildschöpfung und die daraus erwachsenden Qualitäten der Bildstruktur, die wiederum besondere Anforderungen an Wahrnehmung und Deutung dieser Werke stellen.“[9] Anders gesagt: Richter verwendet ein mathematisches Prinzip, das einem Algorithmus gleichkommt, um (k)ein Wissen anzusprechen und Leere herzustellen. Rebecca Saunders knüpft auditiv mit Marco Blaauw daran an.

Torsten Flüh

Rebecca Saunders beim
Musikfest Berlin 2020
Karajan-Akademie der Berliner Philharmoniker
Enno Poppe, Leitung
Saunders | Djordjević | Poppe
22.09.2020 20:00 Uhr


[1] Siehe: Schlossfestspiele: Moving Picture 946-3. 12. Juni 2020.

[2] Carl Czerny: Über den richtigen Vortrag der sämtlichen Beethovenschen Klavierwerke. Wien, 1842. (Reprint hrsg. von Paul Badura-Skoda, 1963) S. 99.

[3] Siehe YouTube: Samuel Beckett „Ghost Trio“. (YouTube)

[4] Französisch von Josette Hayden (7 January 1968) übersetzt von James Knowlson und zitiert in James Knowlson: Damned to Fame: The Life of Samuel Beckett. London: Bloomsbury, 1996, S. 555.

[5] Michael Maier: Geistertrio: Beethoven’s Music in Samuel Beckett’s Ghost Trio. In: Samuel Beckett Today/Aujourd’hui, Samuel Beckett in the Year 2000. S. 268-269.

[6] Wiktionary: tryst.

[7] Kiyomizu-dera: Kannon Reijo: Why the temple is sacred. https://www.kiyomizudera.or.jp/en/learn/

[8] Zum Diskurs des Kamis siehe auch: Torsten Flüh: Berberi. Robert Kochs Reise um die Welt. Kindle, 2012.

[9] Ce Christina Jian: Erkenntnis als Zweifel. Zum Konzept des technischen Bildes bei Gerhard Richter. In: all-over. Magazin für Kunst und Ästhetik. October 2012.

Schreib einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert