Maschine – Geist – Intelligenz
Der Geist der Maschine
Zu Georg Wilhelm Friedrich Hegels Kunstphilosophie und der Granitschale vor dem Alten Museum
Hegels plötzlicher Tod am 14. November 1831 trifft zusammen mit der Aufstellung der Granitschale im Lustgarten vor dem Alten Museum, wo sie heute wieder aufgestellt ist.[1] Sie ist einzigartig, gilt als „Biedermeierweltwunder“ und noch heute als größte geschliffene Schale aus Granit weltweit.[2] Da die Alte Nationalgalerie seit 12. Mai nach Zeitfensterkarten wieder geöffnet ist, stolperte der Blick des Berichterstatters bei Recherchen zu Spuren von Hegels Berliner Zeit über die beiden erhaltenen kleinformatigen Ölgemälde der Granitschale von Johann Erdmann Hummel. Getrennt nur durch den hier Kupfergraben genannten Spreearm wurde in unmittelbarer Nähe zu Hegels Wohnhaus, Am Kupfergraben 4a, nicht nur das Alte Museum zwischen 1825 und 1830 nach Plänen von Friedrich Karl Schinkel erbaut, vielmehr wurde seit November 1828 daneben die Granitschale geschliffen.
Das künstlerische Wunderwerk der Granitschale trifft insofern auf Hegels Phänomenologie des Geistes, die eine Philosophie vom Kunstwerk als „Kunst-Religion“ enthält und deren „Vorrede“ er kurz vor seinem Tod bearbeitet haben soll.[3] Johann Christian Gottlieb Cantian, der wie Hegel auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof beigesetzt ist, hatte im Auftrag von Friedrich Wilhelm III. seit 1826 die Granitschale angefertigt. Natur und Geist treffen auf ungeahnte Weise aufeinander. Cantian stellt nicht nur Berechnungen an, um eine größtmögliche Scheibe von einem Findling, dem Großen Markgrafenstein, abzuspalten, er wendet die Geometrie ebenso an, um aus der Granitscheibe, eine Schale nach antiker Form zu schleifen. Mehr noch: er setzt eine Dampfmaschine ein, um die langwierige Schleif- und Polierarbeit zu bewältigen. Was heißt der Einsatz einer Maschine für den Geist der Hegelschen Philosophie?
Am 14. November 1831 treffen widerstreitende Wissensformationen von Epidemie-Kurve und Normalität aufeinander. Wie in der vorausgegangenen Besprechung über Hegels Tod, dessen widerrechtliche Bestattung auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof und divergierende Erzählungen thematisiert, geht es um Formate vom Seuchentod, von der Vollendung und vom schönen Tod.[4] Mit der Aufstellung der Granitschale werden gleichzeitig längerfristige Planungen und Berechnung vollzogen und umgesetzt, als handle es sich um einen normalen Tag. Während der Cholera-Epidemie seit etwa September gingen anscheinend die abschließenden Arbeiten an der kalkulierten Aufstellung der überdimensionalen, extrem schweren Schale aus Naturstein weiter. Für die Aufstellung auf einem Sockel vor dem Museum musste wie bei vorausgegangenen Phasen eine Holzkonstruktion eingesetzt werden, um das Kunstwerk unter Beteiligung etlicher Arbeitsmänner an seinen Platz zu befördern. Trotzdem erfolgte Aufstellung nur „provisorisch()“ wie eine Aufschrift als Teil des Rahmens noch heute verrät. Das gibt einen Wink auf die Berechnungen und die Probleme, die daraus entstanden waren.
In der Phänomenologie des Geistes führt Hegel 1807 den Begriff „Werkmeister“ ein. Er zeichnet sich durch sein „instinktartiges Arbeiten aus“, das Hegel mit einer Naturbeobachtung beschreibt. Denn der Werkmeister arbeite, „wie die Bienen ihre Zellen bauen“.[5] Das instinktive Arbeiten des Werkmeisters ist unterdessen nach Hegel nur eine Erscheinung des Geistes – nicht zuletzt, weil es dem Modus einer Wiederholung unterliegt. Bienen bauen immer nur die fast gleichen „Zellen“. Deshalb wird der Werkmeister lediglich als eine Vorstufe des Geistes einschränkend gebraucht. Denn „(d)er Geist ist K ü n s t l e r“.[6] Das Verhältnis von Werkmeister und Künstler muss von Hegel in Bezug auf den Geist und nicht nur die geistige Tätigkeit geklärt werden. Der Werkmeister mit seiner Handlungsstruktur der „Vermischung“ muss von natürlichem und bewusstlosem Arbeiten gereinigt werden[7], damit der Geist zum Künstler werden kann.
„In dieser Einheit des selbstbewußten Geistes mit sich selbst, insofern er sich Gestalt und Gegenstand seines Bewußtsein ist, reinigen sich also seine Vermischungen mit der bewußtlosen Weise der unmittelbaren Naturgestalt. Diese Ungeheuer an Gestalt, Rede und Tat lösen sich zur geistigen Gestaltung auf, – einem Äußern, das in sich gegangen, – einem Innern, das sich aus sich und an sich selbst äußert; zum Gedanken, der sich gebärendes und seine Gestalt ihm gemäß erhaltendes und klares Dasein ist. Der Geist ist K ü n s t l e r.“[8]
Hegels Reinigungsphantasie des Werkmeisters zum Künstler, um den Geist vom Natürlichen oder auch Tierischen zu reinigen, wird zu einem – beispielsweise mit der größten Granitschale – Problem. Gilt Cantian nur als Werkmeister oder als Künstler? Ist die „Gestalt“ der Schale ein „Ungeheuer“? Welche Rolle spielt das mathematische Wissen für die Herstellung der Schale? Wie ist das in der Granitschale sozusagen verkörperte Wissen in der Forschung marginalisiert worden? Wie stellt Johann Erdmann Hummel in seinen Gemälden das Verhältnis von Mensch und Natur dar? Wie wird die Maschine zugleich dargestellt und versteckt? Wie wird Cantian unter der provisorisch aufgestellten Granitschale visualisiert? Wie machen die Spiegelungen auf der Oberfläche der Granitschale das Große klein? Geht von den Spiegelungen ein Schrecken aus? Wie wird die Beherrschung der Natur in einem der härtesten Steine als Materie und Material zu einer Schwierigkeit? Warum wird die Aufstellung der Granitschale zu einem Problem der Größe und der Werte? Welchen Wink geben die Versetzung und Wiederaufstellung der Granitschale vor dem Alten Museum im Jahr 1997? Auf bedenkenswerte Weise wird das vermeintlich biedermeierliche Weltwunder mit seinen lexikologischen Verbindungen zu Beschaulichkeit, Betulichkeit, Gemütlichkeit, Idyll zu einem Schauplatz der Widersprüche.[9]
Hegel kommt in seiner Phänomenologie des Geistes einmal auf die Maschine zu sprechen. Im Abschnitt der „Beobachtung der Natur“[10] durch die „Beobachtende Vernunft“ schreibt er ausführlicher über den „Vernunftinstinkt“. Er unterscheide den Menschen zwar vom Tier, doch „(s)eine Befriedigung“ folge nur einem „Zweck als D i n g“.[11] Deshalb wird es Hegel wichtig, die Unangemessenheit dieser Art Zweck als das „Organische“ vom Verstand abzutrennen. Denn das Organische kenne nur „das zweckmäßige Tun als solches“.[12] Dieses Tun des Individuums sei aber noch zweckloser als das Tun einer Maschine, deren Wirksamkeit wenigstens „einen bestimmten Inhalt“ habe.
„Was das Organische zur Erhaltung seiner selbst als Individuum, oder seiner als Gattung tut, ist daher diesem unmittelbaren Inhalte nach ganz gesetzlos, denn das Allgemeine und der Begriff fällt außer ihm. Sein Tun wäre sonach die leere Wirksamkeit ohne Inhalt an ihr selbst; sie wäre nicht einmal die Wirksamkeit einer Maschine, denn diese hat einen Zweck, und ihre Wirksamkeit hierdurch einen bestimmten Inhalt.“[13]
Auf welches Maschinenmodell bezieht sich Hegel um 1807? Arbeitet bei ihm schon im Hintergrund eine Dampfmaschine? Die „Maschine“ wird von Hegel vor allem gegen die Genußmaschine in L’Homme machine (1747) von Julien Offray de la Mettrie formuliert, deren Zweck und Wirksamkeit mit der Befriedigung der volupté durch die jouissance angeschrieben wird.[14] Sie funktioniert nach dem Modell der Uhr als Maschine zum Messen der Zeit und ihres Ineinandergreifens von Zahnrädern.[15] Das Maschinenmodell wird sich bei Hegel selbst dann nicht verändert haben, als er 1817 die Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse veröffentlicht, obwohl er sich nun den der Maschine verwandten Begriff des „Mechanismus“ für sein Philosophieren nutzbar macht. [16] Als Ludwig Boumann 1845 den dritten Teil der Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften, „Die Philosophie des Geistes“, in der Werkausgabe herausgibt, hat sich der Maschinenbegriff postum in § 526 leicht verschoben. Nunmehr geht es um einen gesellschaftlichen Aspekt der Maschine, der sich in Hegels zu Lebzeiten veröffentlichten Schriften so nicht finden lässt.
„Die damit zugleich abstraktere Arbeit führt einerseits durch ihre Einförmigkeit auf die Leichtigkeit der Arbeit und die Vermehrung der Produktion, andererseits zur Beschränkung auf eine Geschicklichkeit und damit zur unbedingten Abhängigkeit von dem gesellschaftlichen Zusammenhange. Die Geschicklichkeit selbst wird auf diese Weise mechanisch und bekommt die Fähigkeit, an die Stelle menschlicher Arbeit die Maschine treten zu lassen.“[17]
Die Maschine geistert auf unterschiedliche, gar widersprüchliche Weise durch die Ausgaben von Hegels Schriften und Werken. Bei Boumanns Herausgabe kündigt sich über die Maschine eine Veränderung und moderner Widerspruch zur „menschliche(n) Arbeit“ an. Ludwig Boumanns ca. 14 Jahre verspätete Herausgabe der Philosophie des Geistes schreibt bereits die industrielle Produktion als Problem im „System der Bedürfnisse“ an, das Hegel selbst bis 1831 auch deshalb verborgen bleibt, weil die Dampfmaschine am Packhof nahe dem Schloss und ein paar Hundert Meter entfernt von Universität und Wohnhaus ein Unikat bearbeitet. Sie treibt eine Schleif- und Poliermaschine von kaum vorstellbarer „Einförmigkeit“ an, um die herum mit dem ungeheuer großen und schweren Granitstein eine Holzkonstruktion mit Fenstern gebaut worden ist. Die runde Granitscheibe, die binnen 2 Jahre zu einer Schale geschliffen wird, hat schließlich einen Durchmesser von 6,91 Meter und ein Gewicht von ca. 75 Tonnen.[18] Während Hegel in seiner Kunstphilosophie das „Geradlinigte und Ebne des Kristalls“ als „künstlerischen Geist“ feierte, entgeht ihm der Schliff der Granitschale durch eine Maschine in seiner Nähe. Hätte er daran doch seine Philosophie diskutieren oder gar bestätigt finden können.
„(…) der Begriff streift das ab, was von der Wurzel, dem Geäste und Geblätter, worin das Geradlinigte und Ebne des Kristalls in inkommensurable Verhältnisse erhoben ist, so daß die Beseelung des Organischen in die abstrakte Form des Verstandes aufgenommen und zugleich ihr Wesen, die Inkommensurabilität für den Verstand erhalten wird.“[19]
In der Encyklopädie wird im Unterschied zur Phänomenologie die Intelligenz in der Kategorie „Der theoretische Geist“ wichtig.[20] Insofern wird der Geist weiter aufgespalten und systematisiert. Doch bei allem Bestreben die Intelligenz genauer zu bestimmen, wird sie auch mit einer elastischen Formulierungen in 20 Paragraphen mit Unterteilungen auf 12 Seiten als eigentümliche „Dialektik“ bedacht. Denn ein Problem der Intelligenz stellen ihre Vielfältigkeit, die „Menge der Formen“ und Zufälligkeit, ja, ihre Flüssigkeit dar. Beobachten lässt sich bei Hegel in der Encyklopädie, dass sich die Intelligenz als „Dialektik“ und „reine Sujektivität“ schwer fassen lässt. Die Intelligenz wird selbst zur „Dialektik“.
„§. 368
.. – Dieser B e g r i f f und die Dialektik ist die Intelligenz selbst, die r e i n e S u b j e k t i v i t ä t des Ich, in welcher die Bestimmtheiten als flüssige Momente, und welche das absolut-C o n c r e t e , die N a c h t des Selbst ist, in welcher die unendliche Welt der Vorstellungen, welche jede Intelligenz ist, so wie die eigene B e s t i m m u n g e n ihrer Thätigkeit, welche als Kräfte genommen worden, a u f g e h o b e n sind. Als das einfache Identische dieser Mannichfaltigkeit bestimmt sie sich zu dieser E i n f a c h h e i t einer Bestimmtheit, zum V e r s t a n d e , zur Form einer Kraft, eine isolirten Thätigkeit, und faßt sich als Anschauung, Vorstellungskraft, Verstandes=vermögen u. s. f. auf. Aber dieses Isoliren und die Abstractionen von Thätigkeiten und diese Meynungen von ihnen sind nicht der Begriff und die vernünftige Wahrheit ihrer selbst.“[21]
Die Intelligenz als „Dialektik“ wird für Hegel jener Raum und Schauplatz, mit dem er paradoxer Weise die Seele zu retten beansprucht. Während erwartet werden dürfte, dass die Intelligenz in ihren Wissensformen dem Glauben an die Seele widerspricht, ermöglicht es die Dialektik quasi ihr Überleben. Die Intelligenz wird damit bei Hegel zu einer gewissermaßen eigensinnigen Dialektik. Sie wird zum vielfältigen Wissen zwischen „Gefühl“ und „reproduktiver Einbildungskraft“ (§ 376), mathematischer „Subsumption“ (§ 377), zeichenhaftem „Gedächtnis“ (§ 379) und „Denken“ (§ 385) zum Zweck des „freye(n) Willen(s)“ (§ 387). Zwischen „dumpfe(m) Weben des Geistes“ und freiem Willen wird die Intelligenz vielfältig tätig. Eine genauere Beschreibung zu ihrer Messbarkeit, wie sie um 1900 z. B. von Hugo Münsterberg entwickelt und ausgeübt wird[22], bleibt aufgespart.
„§. 369.
Die Intelligenz ist als S e e l e unmittelbar bestimmt, als B e w u ß t s e y n ist sie im Verhältnis zu dieser Bestimmtheit als zu einem äußern Objecte; als Intelligenz findet sie sich so bestimmt; so ist sie 1) G e f ü h l, das dumpfe Weben des Geistes in sich selbst, worin er sich s t o f f a r t i g ist, und den ganzen S t o f f seines Wissens hat. Um der U n m i t t e l b a r k e i t willen, in welcher der Geist als fühlend oder empfindend ist, ist er darin schlechthin nur als e i n z e l n e r und s u b j e c t i v e r.“[23]
Die Intelligenz als ein Wissen aus Mathematik, Vorstellung und „reproduktiver Einbildungskraft“ kommt bei der Anfertigung der Granitschale durch Cantian zum Zuge. Wie Sybille Eichholz erforscht hat, stellt Cantian wiederholt Berechnungen an, um den Großen Markgrafenstein in den Rauenschen Bergen bei Fürstenwalde an der Spree östlich von Berlin zu vermessen, zu wenden, zu spalten, zu transportieren, zu formen durch schleifen, zu wenden und aufzustellen. Es ist gewissermaßen eine komplexe Ingenieurleistung, die das monumentale Kunstwerk zu einer Zeit hervorbringt, als die Berufsbezeichnung des Ingenieurs kaum gebräuchlich ist. Zum Wenden des Findlings fertigte Cantian eine Zeichnung an. Denn der Rohling soll nicht senkrecht, sondern waagerecht abgespalten werden. Dafür werden 95 Eisenkeile eingesetzt. Für die Wendung des Rohlings muss eine aufwendige Holzkonstruktion in den Rauenschen Bergen aufgebaut werden, die in einer maßstabsgetreuen Zeichnung überliefert ist.[24] Um die Abspaltung kalkulieren zu können, bedarf es nicht zuletzt einer Materialkenntnis des Steinmetzes. Der Transport erfordert weitere Berechnungen und Planungen:
„Der Transport aus den Bergen bis zum Schiff dauerte 6 Wochen. Täglich kam man 600 Fuß (188 Meter) voran. Das Transportschiff aus Holz war 126 Fuß (39,5 Meter) lang, 17 Fuß (5,3 Meter) breit und etwa 5 Fuß (1,6 Meter) hoch und speziell für diesen Transport ausgesteift.“[25]
Für die Berliner Granitschale gibt es ein Vorbild aus der Antike. Die Porphyr-Schale befindet sich seit Ende des 18. Jahrhunderts in der Sala Rotunda des Vatikan.[26] Sie hat bereits um 1818 einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt, als z.B. der Germanist Friedrich Heinrich von der Hagen, Professor an der Universität zu Breslau und seit 1824 in Berlin, seine Briefe in die Heimat u.a. aus Italien, genauer Rom sendet und als Buch veröffentlicht mit dem Hinweis auf eine „sehr große, zierlich ausgearbeitete Porphyr-Schale“.[27] Anders gesagt: selbst wenn die Porphyr-Schale keine genaueren Beschreibungen erfahren hat, gehört sie als Sammlungsstück der Vatikanischen Museen seit dem 17. Jahrhundert zu den Attraktionen, die auf der Grand Tour gesehen werden. Englische Adelige wie William Cavendish, 6. Herzog von Devonshire, Winckelmann und Goethe sowie Cantian kannten die Porphyr-Schale. So war es denn auch der Herzog von Devonshire als englischer Gesandter in Berlin, der 1826 auf der Akademie-Ausstellung in Berlin eine „kreisrunde Granitschale mit 6 Fuß (1,83 Meter) Durchmesser und zwei weitere kleinere Schalen“ von Cantian orderte.[28] Das Profil der Granitschale entspricht dem der Porphyr-Schale.[29] Schließlich sicherte Cantian „die Lieferung einer Schale mit 17 Fuß (5,34 Meter) Durchmesser zu und betonte, dass sie noch beeindruckender ausfallen werde, als „die herrliche Porphyrschale aus Neros Goldenem Haus in der Sala Rotunda des Vatikans““.[30]
Doch die Größe von Cantians Granitschale wird zum Problem. Sie sollte wie die Porphyr-Schale in der Sala Rotunda in der Rotunde von Karl Friedrich Schinkels Museum aufgestellt werden. Es geht also um eine Kopie und Vergrößerung des römischen Vorbildes, die misslingt. Die Granitschale wird nicht nur in den optischen Proportionen zu groß, sie gefährdet mit ihrem Gewicht auch die Statik der Rotunde. Die sorgfältig berechneten Planungen werden insofern von der Faszination durch den sehr großen Naturstein, seine nicht zuletzt maschinelle Bemeisterung und dem Streben nach Größe durchtrieben. Cantian hat sich sozusagen verrechnet, obwohl und weil er ein Weltwunder mit den technischen Mitteln seiner Zeit geschaffen hat. Er hat, mit Hegel gesagt, ein „Ungeheuer an Gestalt“ geschaffen. An der Granitschale wird nicht zuletzt das Drama einer Vermischung von Natur und Geist ausgetragen. Schließlich kommt es zwischen Cantian und Schinkel zu einem Disput darüber, wie die Schale vor dem Museum aufgestellt wird. Cantian wollte die Schale auf hohe Säulen aufstellen, Schinkel wollte sie bodennah quasi herabsetzen. Schinkel setzte sich durch.
Die kleinformatigen Gemälde – 75,0 cm x 45,0 cm Granitschale beim Schleifen und 89,0 cm x 66,0 cm Granitschale im Lustgarten – von Johann Erdmann Hummel in der Alten Nationalgalerie machen das Große, das Ungeheure klein. Ein drittes, größeres Gemälde, das das Umdrehen der fertiggeschliffenen Schale am Packhof mit einer aufwendigen Holzkonstruktion und durch Winden gesteuerte Seile im Jahr 1831 dokumentierend darstellte, ist II. Weltkrieg verlorengegangen.[31] Mit großem Detailreichtum für die visuellen Effekte auf der polierten Granitoberfläche verarbeitet Hummel in seinen Gemälden nicht nur ein optisches Wissen, vielmehr inszeniert er daran ein Verhältnis von Natur, Kunst und Größe, das auch verstört. Auf der Oberfläche der Schale spiegeln sich nicht nur Fenster, eine Seelandschaft und Menschen. Sie werden durch die Krümmung auch verzerrt und verkleinert. Der Wunsch nach Größe und Erhöhung, wie er von Cantian mit dem Wunsch nach einer Aufstellung der Schale auf Säulen angedacht wird, nimmt in den Spiegelszenarien eine gegenläufige Wendung. Cantian mit Zylinder als Bezwinger des Natursteins spiegelt sich winzig auf der unterseitigen Oberfläche. Der Physiker Hans Joachim Schlichting hat darauf aufmerksam gemacht, dass Hummel in Granitschale im Lustgarten, die Licht- und Schattenverhältnisse genau bedenkt und sichtbar macht.
„Das Gesicht des Mannes mit dem Handstock wird so hell beleuchtet, dass es am beschatteten Boden der Granitschale wie in einem Spiegel reflektiert wird. Da im beschatteten Bereich kaum Streulicht auftritt, wirkt dieser Bereich wie ein fast perfekter Spiegel. Statt eines Teils der Granitschale sieht man den kopfstehenden Kopf eines sein Spiegelbild betrachtenden Mannes.
Anders ist es beim Soldaten im Vordergrund. Sein anamorphotisch verzerrtes Spiegelbild hebt sich nur undeutlich aus dem granitfarbenen Untergrund heraus. Denn er steht im Schatten und trägt dunkle Kleidung, so dass er nur wenig Licht zur Schale strahlt.“[32]
Doch Hummel verarbeitet in seinen Gemälden nicht nur das Wissen der Optik mit der Granitschale, vielmehr lässt er auf der spiegelnden Oberfläche der Granitschale beim Schleifen mittig das Spiegelbild einer von Wald umgebenen Seeoberfläche, auf der sich Wolken spiegeln, erscheinen. Doch dieses Spiegelbild ist eine Imagination von Natur, die es am Standort der Schleifmaschine nicht gegeben haben kann. Um den Packhof am Kupfergraben und auf dessen anderem Ufer standen Gebäude. Die spiegelverkehrte Abbildung der Natur im Dampfmaschinenhaus ist eine imaginäre. Obwohl Hummel den Mechanismus der Schleifmaschine mit dem Zahnrad, Zahn für Zahn detailgenau bis auf die Schrauben und Rostflecken malt, bleibt doch die Antriebskraft der Dampfmaschine verborgen, um nicht zu sagen, versteckt. Ein Wasserspiegel auf dem Schalenboden wird bis auf die schmale Abflußkante genau gemalt. Die Konstruktion der Poliermaschine spiegelt sich detailliert und abgeschattet im Wasserfilm. Anders gesagt: Die Maschine wird bei Hummel zu einer komplexen Spiegelmaschine, die sich in Einzelspiegelungen auflöst. Erst dann, wenn sich die vielfachen und unterschiedlichen Spiegelungen erschließen, wird das Bild sichtbar, lässt sich aber nicht mehr in einer Einheit sehen. Seit den 1820er Jahren hatten sich auf der Chausseestraße vor dem Oranienburger Tor gegenüber den Begräbnisplätzen Maschinenbauer wie Franz Anton Egells oder Julius Conrad Freund angesiedelt, um Dampfmaschinen zu konstruieren.
Für die Granitschale als Wunderwerk der Ingenieurskunst und der Maschinenbauer, denn ohne diese wäre der faszinierende Schliff gar nicht möglich geworden, stellen sich im Jargon schnell diverse Spitznamen wie „Suppenschüssel“ und „Granitbecken“ sowie für den Maler „Perspektiv-Hummel“ ein.[33] Die Spitznamen verkleinern das Wunder und machen das Inkommensurable kommensurabel. Durch die Aufstellung im Freien wurde der Spiegelglanz, der die Größe sozusagen noch überstrahlte, vergänglich. Ohne den Glanz und die Spiegeleffekte ist die Granitschale heute nur noch groß. Auch Johann Christian Gottlieb Cantian spiegelt sich verschattet, verzerrt und verkleinert auf der Oberfläche der Granitschale in Hummels Gemälde. Optisch mag das richtig erfasst sein, doch visuell spielt dem Künstler, Steinmetz und Ingenieur sein Werk damit einen Streich.
Torsten Flüh
Alte Nationalgalerie
(Regeln zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie:
Buchung eines Zeitfensters, 1,5 m Abstand, Mund- und Nasenschutz)
Dienstag bis Sonntag 10:00 Uhr bis 18:00 Uhr
Online-Zeitfensterticket
Altes Museum
(Regeln zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie:
Buchung eines Zeitfensters, 1,5 m Abstand, Mund- und Nasenschutz)
Dienstag bis Sonntag 10:00 Uhr bis 18:00 Uhr
Online-Zeitfensterticket
Granitschale im Lustgarten
(Bitte beachten Sie die allgemeinen Regeln zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie: 1,5 m Abstand, kein Mund- und Nasenschutz notwendig, Gruppen bis 10 Personen, ab 25. Mai 2020 werden Stadtrundfahrten und -führungen erlaubt – Stand 07.05.2020)
[1] Jutta Schneider: Der Bär von Berlin. Jahrbuch des Vereins für die Geschichte Berlins 1997. Über: Sibylle Einholz: Die Große Granitschale im Lustgarten. Zur Bedeutung eines Berliner Solitärs. Luise Berlin S. 114. (Link)
[2] Siehe: Biedermeierweltwunder. In: Academic (Deutsch Wikimedia).
[3] Wolfgang Bonsiepen: Einleitung. In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. (Herausgegeben von Hans Friedrich Wessels und Heinrich Clairmont). Hamburg: Meiner, 1988, S. LV.
[4] Siehe: Torsten Flüh: Das „Gewebe der Penelope“. Zum Staat in Zeiten der Pandemie und Hegels Tod während der Cholera-Epidemie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. Mai 2020.
[5] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie … [wie Anm. 3] S. 455.
[6] Ebenda S. 458.
[7] Ebenda.
[8] Ebenda.
[9] Siehe „Typische Verbindungen zu >biedermeierlich<“ In: Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache. Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute. biedermeierlich.
[10] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie … [wie Anm. 3] S. 166-200.
[11] Ebenda S. 177.
[12] Ebenda S. 178.
[13] Obwohl in der Ausgabe der Phänomenologie von Wessels und Clairmont an dieser Stelle nicht ausdrücklich auf das Werk von Julien Offray de La Mettrie hingewiesen wird (Siehe S. 630), spielt Hegel doch weitaus häufiger auf La Mettrie wie eben mit dem Begriff Maschine an. Ebenda.
[14] Siehe: „La Volupté des sens, quelque aimable & chérie qu’elle ſoit, quelques éloges que lui ait donnés la plume apparemment reconnoissante d’un jeune Medecin françois, n’a qu’une ſeule jouïssance qui est son tombeau. Si le plaisir parfait ne la tüe point sans retour, il lui faut un certain tems pour ressusciter. Que les resources des plaisirs de l’esprit sont différentes ! plus on l’approche de la Vérité, plus on la trouve charmante. Non seulement sa jouissance augmente les desirs ; mais on joüit ici, dès qu’on cherche à jouir.“/ „Die Wollust der Sinne, so liebenswert und süß sie auch sein mag, ein Lob, das ihm von der anscheinend dankbaren Feder eines jungen Arztes zuteil wurde, hat nur einen Genuss, der das Grab war. Wenn perfektes Vergnügen sie nicht im Gegenzug tötet, dauert es eine gewisse Zeit, bis sie wiederbelebt ist. Wie unterschiedlich sind die Freuden des Geiestes? Je näher du der Wahrheit kommst, desto charmanter ist sie. Nein, nur Genuss erhöht die Wünsche; aber wir genießen hier, sobald wir versuchen zu genießen.“ La Mettrie in seinem an den Mediziner Albrecht von Haller in Göttingen adressierten Brief als Einleitung zu L’Homme Machine 1748 (Wikisource)
[15] Vgl. zum Maschinenmodell und den Zahnrädern: Torsten Flüh: Nietzsches „intelligente Maschinen“. Zur Intelligenz und Maschine bei Nietzsche, dem Technikmuseum Berlin und dem Riesen-Dampfhammer. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. Juli 2019.
[16] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Heidelberg: Oßwald, 1817, §. 142. S. 101.
[17] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften. Dritter Theil. Philosophie des Geistes. (Herausgegeben von Ludwig Boumann) Berlin: Duncker und Humblot, 1845, S. 396, § 526.
[18] Siehe Biedermeierweltwunder [wie Anm. 2].
[19] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie … [wie Anm. 3] S. 462.
[20] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Encyklopädie … [wie Anm. 15] S. 238-250.
[21] Ebenda S. 240-241.
[22] Siehe: Torsten Flüh: Klassenfragen, Intelligenz und Obdachlosigkeit. Zu Mike Savages Mosse-Lecture über das Semesterthema Klassenfragen. In: NIGHT OUT @ BERLIN 13. Januar 2020.
[23] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Encyklopädie … [wie Anm. 15] S. 241.
[24] Im Laufe des 19. Jahrhunderts ist der Große Markgrafenstein vermutlich aus touristischen Gründen, um seine Größe zur Geltung zu bringen, wieder in die Senkrechte gedreht worden. Sie Foto und: Bilddatei Blatt Nr.2 „Drehen der Schale am Markgrafenstein“ (Wikimedia)
[25] Zitiert nach: Biedermeierweltwunder [wie Anm. 2].
[26] Siehe: Musei Vaticani: Sala Rotonda.
[27] D. Friedrich Heinrich von der Hagen: Briefe in die Heimat aus Deutschland, der Schweiz und Italien. Dritter Band. Breslau: Josef Max, 1819, S. 96/97.
[28] Zitiert nach: Biedermeierweltwunder [wie Anm. 2].
[29] Siehe: 14 Granitschale vor dem Museum in Berlin. (deacademic)
[30] Zitiert nach: Biedermeierweltwunder [wie Anm. 2].
[31] Johann Erdmann Hummel: Die Granitschale auf dem Transport. (135 cm x 190 cm) In: Vorstand der Deutschen Jahrhundertausstellung (Herausgeber): Katalog zur Ausstellung deutscher Kunst aus der Zeit von 1775–1875 in der Königlichen Nationalgalerie Berlin. München: F. Bruckmann, 1906. (Wikimedia)
[32] Hans Joachim Schlichting: Sehen lernen, was offen vor unseren Augen liegt. Optische Alltagsphänomene unter dem Blickwinkel der Physik. Undatiertes Manuskript. (PDF)
[33] Leonie Gehrke: JOHANN ERDMANN HUMMEL: DAS SCHLEIFEN DER GRANITSCHALE & DIE GRANITSCHALE IM LUSTGARTEN, 1831. In: Sensetheatmophere 21. Juli 2013.
3 Kommentare