Das „Gewebe der Penelope“

Staat – Vernunft – Recht

Das „Gewebe der Penelope“

Zum Staat in Zeiten der Pandemie und Hegels Tod während der Cholera-Epidemie

Georg Wilhelm Friedrich Hegel erinnert einmal an Penelope. Seine „Vorrede“ zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts eröffnet er 1821 in Berlin mit einer mythologischen Redewendung, „das, was die Philosophie vor sich bringe, sei ein so übernächtiges Werk, als das Gewebe der Penelope, das jeden Tag von vorne angefangen werde“.[1] Um an kein Ende für das Totentuch ihres Schwiegervaters zu kommen, trennt die Gemahlin des Odysseus jede Nacht das Gewebte wieder auf, um am nächsten Tag von neuem mit dem Weben zu beginnen. Hegel erinnert insofern an eine Praxis des Unfertigen. Im Namen Penelope selbst wird bisweilen die merkwürdige Tätigkeit des Webens und Auflassens mit πήνη (pēnē: Gewebe) und λέπειν (lépein: abreißen, abschälen) bedacht.[2] Für seine Grundlinien hat Hegel indessen Penelopes Arbeit am Text vom lateinischen textus wie Gewebe verworfen.

Eineinhalb Jahre nach dem Tod Hegels, der als Philosoph der Vernunft gilt, gibt Eduard Gans die Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse für die Werkausgabe heraus. Hegels Vorrede mit Penelope bleibt erhalten. Gans erinnert in seiner „Vorrede“ vom 29. Mai 1833 daran, dass, als Hegel im Wintersemester „1831 wieder einmal“ zum „Kollegium“ zur Philosophie des Rechts „zurückgekehrt war, (…) ihn, nach einigen Stunden, der Tod (übereilte)“.[3] Hegel verstarb am 14. November 1831 im Alter von 61 Jahren. In Berlin war zu jener Zeit eine Cholera-Epidemie ausgebrochen. Entgegen aller Vernunft wurde der „Verewigte“ nicht in einem mit Kalk präparierten Seuchengrab an der Liesenstraße, damals relativ weit außerhalb der Stadt, sondern auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof unter Anteilnahme seiner Kollegen und Studenten der Berliner Universität auf Wunsch neben Fichte beigesetzt.

Die Todesursache von Georg Wilhelm Friedrich Hegel ist in der Hegelforschung umstritten. Es gibt Stimmen, die weiterhin davon ausgehen, dass Hegel an der Cholera verstorben ist, wie jüngst Marco D’Eramo in seiner heftigen Replik auf Giorgio Agamben schreibt: „Hegel perished from cholera in 1831“.[4] Es gibt aber auch solche, die den Tod an der Cholera in Abrede stellen.[5] Unstrittig ist allerdings, dass „Hegel mit seiner Verknüpfung von Vernunft und Freiheit“[6] durch den Tod eine Art Ausnahmesituation unter den Freunden und Studenten der Berliner Universität auslöste.[7] Am 27. August jährt sich Hegels Geburtstag zum 250. Mal. Nach der Logik der Jahrestage sind Hegel und seine Schriften sozusagen in diesem Jahr und in diesen Monaten der Pandemie besonders im Schwange. Die Vernunft wird weitgehend zur Staatsräson nach der COVID-19-Epidemie-Kurve erklärt. Das ist gut so. Doch wie heute gab es in den Tagen des November 1831 Interessenkonflikte und einen Rechtsbruch, wie Olaf Briese erforscht hat.
„Aber zuvor wirkte noch eine Art retardierenden Moments: der öffentlich betrauerte Tod des Philosophen Hegel. Dieser Tod riß die Gebildeten Berlins zum letzten Mal aus der allseits schon beschworenen Sicherheit. Dennoch war er ein wichtiges Element der auch bei dieser Epidemie wirksamen Heilsökonomie – nicht nur, weil Hegels Begräbnis die strikte polizeiliche Weisung der anonymen Bestattung bei Nacht und Nebel auf abgelegenem Seuchenfriedhof mit Folgen für die ganze Stadt durchbrach.“[8]

Johann Gottlieb Fichte † 29. Januar 1814 / Georg Wilhelm Friedrich Hegel † 14. November 1831
Johanna Marie Fichte, geb. Rahn † 24. Januar 1819 / Marie Hegel, geb. von Tucher † 6. Juli 1855

Der Rechtsbruch, der mit Hegels „Leichenbegleitung“ (Marheineke) am 16. November 1831 verbunden ist[9], lässt sich Anfang Mai 2020 drastischer einschätzen, als er noch Anfang März empfunden werden konnte. Als solle das ganze Gewebe nicht nur der Penelope, sondern von Hegels Rechtsphilosophie über Nacht aufgelöst werden, begleiteten die Schüler und Kollegen vom großen Hörsaal der Universität Unter den Linden den „Unsterbliche(n)“ (Marheinke) über die Friedrichstraße bis vor das Oranienburger Tor auf den Friedhof der Dorotheenstädtischen Gemeinde.[10] Das Bakterium Vibrio cholerae ist 1831 noch unbekannt, die Seuchenärzte und die Polizei müssen von Ausdünstungen bzw. Miasmen in der Luft ausgehen.[11] Der kollektive Rechtsbruch hätte derzeit einen Einsatz der Berliner Polizei mit mehreren Hundertschaften, Straßensperren und Hubschraubereinsatz zur Folge, wenn man nur einmal an die Beisetzung einer Verstorbenen aus dem Remmo-Clan am 27. April denkt.[12] Der Hegel-Schüler und Berliner Jura-Professor Eduard Gans gab 1833 nicht nur die Grundlinien der Philosophie des Rechts heraus, vielmehr bezieht er sich schon 1824 in der „Vorrede“ zu seinem 4 bändigen Erbrecht in weltgeschichtlicher Entwicklung ausdrücklich auf dessen „Rechtsphilosophie“ und nahm trotzdem an der „Leichenbegleitung“ teil.[13]

Eduard Gans 22. März 1797 – 5. Mai 1839

Der Tod Hegels in Zeiten der Berliner Cholera-Epidemie ruft eine durch Olaf Briese gut zugängliche Produktion an zahlreichen Erzählungen in Listen, Reden, Gedichten, Briefen und Zeitungsnachrichten bis zu einer neuen, revidierten Kabinettsorder König Friedrich Wilhelm III. zur „Beerdigung der Cholera-Leichen auf den gewöhnlichen Begräbnißplätzen“[14] hervor. Die von Hegel „vorausgesetzt(e)“ Methode des „wissenschaftlichen Beweisens, diese speculative Erkenntnisweise überhaupt, die wesentlich sich von anderer Erkenntnisweise unterscheidet,“[15] wird mit seinem Tod zur Unzeit in Frage gestellt, weil bis auf den heutigen Tag nicht bewiesen werden kann, ob er an der Cholera verstorben war oder nicht. Stattdessen gibt es widerstreitende Texte, die wie Franz Adam Löffler als Nachruf an Hegel in den Berlinischen Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen selbst wiederum die Wissenschaft in Szene setzen.
„Den schönen Stolz der Erde zu verderben
Ruft eifersüchtig eine bess’re Welt
Den hohen Denker zu sich – er muß sterben,
Weil er dem Kreis der Seeligen gefällt;
Denn um an Ihm sich himmlisch zu entzücken,
Muß jene Welt den Theuern uns entrücken!

Die Hoheit seines Geist’s, des Herzens Tiefe
Führt‘ ihn auf eine wundervolle Flur:
Daß er den Glauben und das Wissen riefe
Zu einem Seyn; – ein Priester der Natur
Hat göttlich groß der Wissenschaft das Leben
In ihrem Seyn sein göttlich Seyn gegeben!
…“[16]

Clemenz August Carl Klenze 22. Dezember 1795 – 14. Juli 1838

Mit ungefähr einem Monat Verspätung auf das Ereignis wird Löfflers Nachruf, um Sinn ringend, in der „Beilage“ zu Berlins damals wichtigsten Zeitung veröffentlicht. Das Wissen und die Wissenschaft müssen von Löffler in etwas ungelenken Versen gerettet werden, um dem Tod doch noch einen Sinn zuzuschreiben. Die zwei Welten werden in einem Konkurrenzverhältnis aus antiker Mythologie und Seinslogik aufgerufen. Nicht nur werden Glauben und Wissen zu einer Vereinigung aufgefordert, vielmehr noch hat Hegel „göttlich groß der Wissenschaft das Leben/In ihrem Seyn sein göttlich Seyn gegeben“. Gleich dem Schöpfer der Wissenschaft muss er als quasi Gott und zugleich Priester sein Leben für jene geben. Es soll nicht weniger als nach Hegel der Widerspruch von Religion und Wissenschaft aufgelöst werden. Doch in Hegels Schriften lässt sich beobachten, wie Anspielungen aus der Religion z. B. auf das Schibboleth des Alten Testaments zu einer Wissens- und Wissenschaftsfrage vom Gesetz transformiert werden.   
„Die Form des Rechten als einer P f l i c h t und als eines G e s e t z e s wird von ihm (dem Volk, T.F.) als ein t o d t e r, k a l t e r  B u c h s t a b e und als eine F e s s e l empfunden; denn es erkennt in ihm nicht sich selbst, sich in ihm somit nicht frey, weil das Gesetz die Vernunft der Sache ist, und diese dem Gefühle nicht verstattet, sich an der eigenen Particularität zu wärmen. Das G e s e t z ist darum, […], vornehmlich das Schiboleth, an dem die falschen Brüder und Freunde des sogenannten Volkes sich abscheiden.“[17]

Friedrich Christian Adolf von Motz 18. November 1775 – 30. Juni 1830
Albertine Ernestine Luise von Motz, geb. von Hagen 17. Februar 1779 – 24. Dezember 1852

Das Schibboleth macht nur in seiner Funktion als mündlich ausgesprochenes Codewort Sinn nach dem Buch der Richter im jüdischen Tanach bzw. dem christlichen Alten Testament. In der biblischen Erzählung vom Sieg des Richters Jiftach über die Efraimiter geht es um ein Urteil nicht über ein Wissen oder Unwissen, vielmehr über eine Differenz in der Aussprache des Wortes Schibboleth, das paradoxer Weise in der Bedeutung von Strömung, Strom oder Flut gebraucht wurde. Doch dieses Wort wird benutzt, um die Efraimiter von den Angehörigen Gileads als eine Art Flüchtlingsstrom aufzuhalten und zu selektieren. Die Aussprache des Wortes Schibboleth und nicht der Sinn oder Inhalt, der sich aus seinem Gebrauch erschließt, entscheidet über Tod oder Leben. Auf diese Weise gibt Hegel einen Wink auf die Funktion des Gesetzes als Schibboleth. Das Abscheiden in einer binären Logik von 0 und 1 wird hier von Hegel mit der Anknüpfung an das Buch der Richter formuliert.
„5 Gilead schnitt Efraim die Jordanfurten ab. Und wenn die Flüchtlinge aus Efraim sagten: Ich will hinüber!, fragten ihn die Männer aus Gilead: Bist du ein Efraimiter? Wenn er Nein sagte, 6 forderten sie ihn auf: Sag doch einmal Schibbolet! Sagte er dann Sibbolet, weil er es nicht richtig aussprechen konnte, ergriffen sie ihn und machten ihn dort an den Furten des Jordan nieder. So fielen damals zweiundvierzigtausend Mann aus Efraim.“ (Richter, 12, 5-6)

Hegels Formulierung zum Verhältnis von Volk und Gesetz nach den Regeln der Wissenschaft wird auf zweierlei Weise lesbar. In historischer Perspektive auf seinen Tod und die „Leichenbegleitung“ nehmen sich die Freunde die widerrechtliche Freiheit, den Toten nicht wie vorgeschrieben „bei Nacht“ auf einem Seuchenfriedhof weiter außerhalb der Stadt an der Chaussee nach Oranienburg unbegleitet beisetzen zu lassen, vielmehr „wärmen“ sie „sich an der eigenen Particulariät“ und provozieren so sogar eine Gesetzesänderung, die die Regeln für „die Beerdigung der Cholera-Leichen“ aufweicht. In der aktuellen Perspektive der „Kontakt-Beschränkungen“[18] zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie gelten Beisetzungen für das Bundesland Berlin als „systemrelevant“ und „bis zu 20 Personen“ dürfen zusammentreffen, „sofern (es) aus zwingenden Gründen erforderlich (ist) (…) die anwesenden Personen [haben sich] in eine Anwesenheitsliste einzutragen, die mindestens die folgenden Angaben enthalten muss: Vor- und Familienname, vollständige Anschrift und Telefonnummer“.[19] Insofern schränkt das Gesetz heute weitaus weniger „Gefühle“ des Volkes ein, als es Hegel rechtsphilosophisch formuliert. Es ist allerdings erstaunlich, dass Stephan Laudien in seinem Interview mit dem Hegel-Experten Klaus Vieweg weiterhin wenigstens ungenau von „Kontaktsperren“ schreibt.[20]  

Karl Friedrich Schinkel 13. März 1781 – 9. Oktober 1841

Das Gesetz als „Vernunft der Sache“ wird aktuell bis auf die Ebene des Grundgesetzes diskutiert und durch Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes beispielsweise hinsichtlich eines Demonstrationsverbots oder der Ausübung der Religionsfreiheit abgeglichen. Während diese Entscheidungen oft mit Häme gegen die gesetzlichen Maßnahmen nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) und seinen Ergänzungen seit März 2020 kommentiert werden, handelt es sich doch lediglich um eine Ausdifferenzierung und Abstimmung mit anderen Gesetzen. Das IfSG verfährt indessen sehr wohl nach der „Vernunft der Sache“, lässt sich sagen. Dies galt auch für die Maßnahmen gegen die Cholera-Epidemie im November 1831. Ist es also nur das Gefühl der Trauer, das den „Verein von Freunden des Verewigten“ – Karl Ludwig Michelet, Philipp Marheineke, Johannes Schulze, Eduard Gans, Leopold von Henning, Heinrich Gustav Hotho, Fritz Förster, Ludwig Boumann, Karl Rosenkranz etc. – zur Umgehung des Gesetzes veranlasst? Hegels Witwe Marie interveniert frühzeitig, wie aus einem Brief an ihre Mutter Susanne von Tucher vom 15. November hervorgeht:
„Man hat durch Vermittlung unseres Freundes Schulze (den ich zu seinem Ende holen ließ) es bewirkt, daß er mit allen Ehren, die seiner würdig, morgen als den dritten Tag nicht auf dem Choleraleichenwagen und Kirchhof, nicht bei Nacht, sondern Nachmittag 3 Uhr mit einem zahlreichen Gefolge auf den Kirchhof, wo Solger und Fichte ruhen, Marheineke eine Rede hält, begraben wird. – Welche Teilnahme, welche Bestürzung und Trauer von allen Seiten – sein Andenken lebt in Segen! –“[21]

Johannes Karl Hartwig Schulze 15. Januar 1786 – 20. Februar 1869

Erst am dritten Tag nach seinem Tod wird der Leichnam aus dem Wohnhaus Am Kupfergraben 4a zunächst in den nahgelegenen großen Hörsaal der Universität überführt, um anschließend auf dem „Begräbnisplatz für die Friedrich-Werdersche und Dorotheenstädtische Gemeinde“ neben Fichte begraben zu werden. Carl Ludwig Michelet und Philipp Marheineke halten ihre Reden in der Universität. Friedrich Förster spricht am Grab. Der Brief von Marie Hegel an ihre Mutter in Nürnberg gibt einen Wink, dass die Cholera als Todesursache als ehrlos oder zumindest die daraus folgende Bestattung als unwürdig empfunden wird. Die Cholera gilt als eine Seuche der armen Bevölkerung besonders in den Ansiedlungen vor der Stadtmauer wie den sogenannten „Familienhäuser(n)“ vor dem Hamburger Tor in der Gartenstraße.[22] Im 19. Band von Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Werke durch den „Verein von Freunden des Verewigten“ platziert eröffnend Karl Hegel 1887 zum Tod den Brief seiner Mutter an Friedrich Immanuel Niethammer vom 2. Dezember 1831. In diesem erzählt Marie Hegel die Besorgnisse ihres Mannes wegen seines „schwachen Magen(s)“ und wie er die Cholera-Kurve beobachtete, um Ende Oktober beruhigt wegen dem „Anfang der Collegien“ in die Stadt zurückzukehren. Das „Wort des Schreckens“ lehnt sie ab.
„… Wie es vorüber war, nannten die Ärzte seinen Tod intensive Cholera, eine Cholera ohne alle äußern Symptome, und machen mit diesem Wort des Schreckens dieß herrliche Ende in der Vorstellung zu etwas Grauenhaftem – darum schreib‘ ich zu Ihrer und anderer Freunde Beruhigung so ausführlich w i e  e s  w a r. — Er steht mir in seiner Vollendung – im Leben und im Tod so rein und so herrlich da …“[23]

Michelet, Marheinecke und Förster benutzen den Begriff Cholera in ihren Reden nicht. Vielmehr löst der Tod im Kontext der Cholera-Epidemie ein Problem des Wissens und der Wissenschaft ebenso wie der „Besitznahme“ aus, wie es sich nämlich bei der Benennung des Todes als „intensive Cholera, (…) ohne äußere Symptome“ im Brief an Niethammer angekündigt hatte. Der Akt der Benennung bzw. Bezeichnung kommt dem Schibboleth gleich. Das Wissen und die Wissenschaft, die sich um „äußer(e) Symptome“ für innere, tödliche Vorgänge herausbildet, fehlen. Marie Hegels Argumentation gegen den Tod als Cholera folgt durchaus dem medizinischen Wissen, das von zeichenhaften Symptomen auf Krankheiten schließt. Wogegen sie sich allerdings ganz im Sinne der Grundlinien wehrt ist „(d)ie Besitznahme durch die Bezeichnung“, die Eduard Gans 1833 als „Zusatz“ zu § 57 in den „Collegien“ ergänzt haben wird:
„Zusatz. Die Besitznahme durch die Bezeichnung ist die vollkommenste von allen, denn auch die übrigen Arten haben mehr oder minder die Wirkung des Zeichens an sich. Wenn ich eine Sache ergreife, oder formire, so ist die letzte Bedeutung ebenfalls ein Zeichen, und zwar für Andere, um diese auszuschließen, und um zu zeigen, daß ich meinen Willen in die Sache gelegt habe. Der Begriff des Zeichens ist nämlich, daß die Sache nicht gilt, als das, was sie ist, sondern als das, was sie bedeuten soll.“[24]   

Martin August Freund 8. März 1806 – 6. Januar 1827

Die Bezeichnung des Todes bzw. der Todesursache als Cholera wird nach Hegel selbst durch Gans zu einem Problem der „Besitznahme“ und des Abscheidens wie des Abschiedes. Bereits Carl Ludwig Michelet gibt in seiner kurzen „Vorlesungsansprache“ den an Hegel geschulten Ton der Trauerreden an. Der plötzliche Tod Hegels darf für den Historiker nicht dem Wissen der Mediziner überlassen werden. Im Diskurs der Geschichtswissenschaft muss der Tod gerade in seiner Plötzlichkeit in die Geschichte Preußens eingeordnet werden. Nicht zuletzt muss das „Eigenthum“ Preußens beansprucht und verteidigt werden.
„Unser Eigenthum, die Gedankenwelt der Philosophie, blieb unversehrt und unangetastet. Jetzt ist der Tod in unser Innerstes eingedrungen. Der späteste der grossen Genien, deren Gedanken ich Ihnen in dieser Vorlesung darzustellen bezwecke [Hegel], hat der Zeit das Zeitliche zurückgegeben. Ehren wir den grossen Mann, unser Aller Lehrer, und den Lehrer aller Philosophen für Jahrhunderte und Jahrtausende mit der letzten Ehre! Bestatten wir ihn heute feierlich!“[25]

„MARTIN AUGUST FREUND AUS UTHLEDE“

Der plötzliche Todesfall wird auch für den Theologen Marheineke zu einer Frage des Wissens. – Fragt man heute selbst kundige Menschen in Berlin-Kreuzberg nach der Grabstelle von Philipp Marheineke, kann es passieren, dass einer antwortet, er kenne wohl den Marheinekeplatz an der Bergmannstraße in Kreuzberg, habe sich allerdings nie gefragt, was oder wer Marheineke gewesen sei. Indessen liegen die Marheineke Markthalle und der Marheinekeplatz schräg gegenüber dem Friedhof II der Dreifaltigkeit-Gemeinde, wo Philipp Konrad Marheineke bestattet und die Grabstelle als Ehrengrab erhalten ist. – Doch Marheineke transzendiert einerseits den Geist und verteidigt gleichsam den „neuen Bau des Wissens“, den Hegel „gegründet“ habe.
„Wer so, wie unser entschlafener Freund, schon mitten in diesem Leben sich von sich, vom Ich und dessen Sucht, vom Schein und aller Eitelkeit zu befreien, sich in die ewige Wahrheit denkend zu vertiefen wußte, welches das Wirken des ewigen Geistes ist hinter allen vergänglichen Erscheinungen des Lebens in der Natur und Geschichte, wer so, wie dieser König im Reiche des Gedankens, einen neuen Bau des Wissens gegründet hat auf dem unwandelbaren Felsen des Geistes, der hat sich eine Unsterblichkeit errungen, wie wenige, der hat seinen Namen den glänzendsten und unvergeßlichsten unseres Geschlechts hinzugefügt, der hat vollbracht, was er selbst in einem seiner Werke sagt: „Das Leichteste ist, was Gehalt und Gediegenheit hat, zu beurtheilen, schwerer, es zu fassen, das schwerste, was beides vereinigt, seine Darstellung hervorzubringen.““[26]

Philipp Konrad Marheineke 1. Mai 1780 – 31. Mai 1846

In dem Maße wie Philipp Marheineke als Theologe und Prediger an der Dreifaltigkeitskirche, die an der Mauerstraße in der Friedrichstadt stand, den Geist zum Felsen erklärt, also gleichsam materialisiert, verwirft er den Tod insbesondere Hegels als Ende des Lebens. Der plötzliche und in gewisser Weise kaum erklärliche Tod an einer epidemischen und eben deshalb gleichmachenden Infektionskrankheit erschüttert nicht nur das Wissen in seinen Grundfesten und die Größe des „grossen Mann(es)“, vielmehr gleicht es den einzigartigen Geist auch ab. Um mit einer Formulierung den Geist zu retten, muss er vom Ich als Individuum abgelöst und in „das Wirken des ewigen Geistes (…) hinter allen vergänglichen Erscheinungen des Lebens in der Natur und Geschichte“ eingespeist werden. Dementsprechend wird Marheineke 1832 postum zum Herausgeber der zweibändigen Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Nebst einer Schrift über die Beweise vom Daseyn Gottes.

Friedrich Christoph Förster ordnet den Tod Hegels in seiner Grabrede gleichsam als Naturereignis ein, wenn er eröffnend an „das Gewitter, welches seit Monaten über unserer Stadt sich drohend lagert“ aus dem „plötzlich und unerwartet ein zuckender Strahl herabfährt und ein gewaltiger Donnerschlag (…) ein Unglück fürchten läßt“. Das Naturereignis und eine Mythologie des Unglücks werden von dem einundvierzigjährigen Förster gleichsam poetologisch bemüht. Seiner Poetologie des Widerspruchs gegen das Naturereignis gelingt es, die Widersprüche in Sätze zu fassen.
„So soll denn keine unwürdige Klage an seinem Grabe laut werden; allein er selbst, der Verewigte, gönnte dem tiefen Gefühle, der reinen Empfindung ihr Recht; die ihm näher standen, sahen oft in seinem Auge die Thräne der Wehmut und des Schmerzes glänzen, und wer, der ihn kannte, der ihn liebte wie wir, könnte bei diesem Abschiede sich der Thränen erwehren? …; solch‘ ein Verlust will nicht bloß empfunden, er will ausgesprochen seyn und wahrhafte Beruhigung werden wir erst dann gewinnen, wenn wir für unser inneres Seelenleid das Wort finden, und uns des Vorzuges bewußt werden, daß dies unser Schmerz ist, daß wir es sind, die ihn verloren haben, daß uns dieser Stern im dem Sonnensysteme des Weltgeistes geleuchtet hat!“[27]  

„Herr Johann Jacob Fröhlich
Bürger und Lederfabrikant allhier
geboren d. 24. Januar 1737
zu Bischweiler im Elsass
starb d. 6. Januar 1806
Er nahm das Lob eines redlichen
Mannes mit in das Grab

Im Unterschied zu Michelet und Marheineke appelliert Förster weniger an das Wissen, die Wissenschaft und den Geist, vielmehr kommen paradoxerweise Gefühle und Empfindungen zum Zuge. Sind es doch Gefühle und Empfindungen, die Hegel in seinen Schriften wie den Grundlinien diskreditiert und im Widerspruch zur Vernunft positioniert hat. Gefühle gehören nicht in die Wissenschaft der Logik, wie Hegel schon 1812 in Nürnberg schreibt: „Das Studium dieser Wissenschaft, der Aufenthalt und die Arbeit in diesem Schattenreich ist die absolute Bildung und Zucht des Bewußtseyns. Es treibt darin ein von sinnlichen Zwecken, von Gefühlen, von der bloß gemeynten Vorstellungswelt fernes Geschäfte.“[28] Doch im Moment des plötzlichen Todes in einer vom Wissen um die Cholera-Epidemie gesättigten Zeit, kehren ausgerechnet die Gefühle und Empfindungen als ein, so könnte man sagen, anderes Wissen vom Verlust und der Empathie wieder.

Torsten Flüh

Berlin-Feuerland (Führungen)
Begräbnisplatz der Friedrich-Werderschen
und Dorotheenstädtischen Gemeinde
Die Führungen ab 25. Mai 2020 (Standt 7. Mai. 2020)

Dorotheenstädtischer Friedhof
Chausseestraße 126
10115 Berlin
März – Oktober 8:00 bis 20:00 Uhr

Friedhof II Dreifaltigkeit-Gemeinde
Bergmannstraße 29-41
10961 Berlin
März – Oktober 8:00 bis 20:00 Uhr


[1] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Berlin: Nicolai, 1821, S. IV. (Digitalisat)

[2] Johannes Schmidt: Penelope. In: Wilhelm Heinrich Roscher (Hrsg.): Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Band 3,2. Leipzig: Teubner, 1909, Sp. 1911-1914. (Digitalisat)

[3] Georg Wilhelm Friedrich Hegel/Philipp Konrad Marheineke (Hg.): Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Werke. 8. Band. (Georg Wilhelm Friedrich Hegel/Eduard Gans (Hg.): Grundlinien der Philosophie des Rechts). Berlin: Duncker und Humblot, 1833, S. XIV.

[4] Marco D’Eramo: The Philosopher’s Epidemic. In: New Left Review 122 Mar/Apr 2020: A Planetary Pandemic. London 2020, S. 24. (Article in NLR 122)

[5] Holger Althaus: Hegel und die heroischen Jahre der Philosophie: eine Biographie. München: Hanser, 1992, S. 578.

[6] Klaus Vieweg im Interview mit Stephan Laudien: Freies Entscheiden ist mehr als bloßes Auswählen. Uni Jena Meldung vom: 10. April 2020, 07:48 Uhr.

[7] Siehe Olaf Briese: Angst in den Zeiten der Cholera. Panik-Kurve, Berlins Cholerajahr 1831/32 Seuchen-Cordon II. Berlin 2003, S. 13.

[8] Ebenda.

[9] Ebenda S. 304.

[10] Ebenda S. 303.

[11] Erst in den 1850er bildet sich durch Pettenkofer und Griesinger ein Wissen darüber heraus; dass „die Cholerainfection durch die Ausleerungsstoffe als allgemeine Thatsache anerkannt wird. Wilhelm Griesinger: Infectionskrankheiten. Erlangen: Enke, 1857, S. 260. (Digitalisat)

[12] Pascal Bartosz, Felix Hackenbruch: Polizei begleitet Beerdigung mit Hubschrauber und Straßensperren. Der Tagesspiegel 27.04.2020, 16:20 Uhr.

[13] Eduard Gans: Das Erbrecht in weltgeschichtlicher Entwicklung: eine Abhandlung der Universalrechtsgeschichte. Berlin: Maurer, 1824, S. XXXIX.

[14] König Friedrich Wilhelm III. an Ludwig Gustav v. Thile, o.O., 27. November 1831. In: Olaf Briese: Angst … [wie Anm. 7] S. 314.

[15] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien … [wie Anm. 1] S. IV

[16] Franz Adam Löffler: Nachruf an Hegel. In: Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, Nr. 297, 19. Dezember 1831, Erste Beilage, [S. 4]. In: Olaf Briese: Angst … [wie Anm. 7] S. 323.

[17] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien … [wie Anm. 1] S. XIV.

[18] Siehe zum Unterschied zwischen „Kontakt-Beschränkungen“ und „Kontaktsperre“: Torsten Flüh: Vom Wissenswunsch und zu Informationspraktiken. Ein nachträglicher Osterspaziergang über das Charité-Gelände und Heinrich von Kleists Charité-Vorfall. In: NIGHT OUT @ BERLIN 15. April 2020.

[19] Bundesverband Deutscher Bestatter e.V.: Kompakt: Verordnungen und Maßnahmen der Bundesländer zu Covid-19. 24. April 2020.

[20] Klaus Vieweg im Interview mit Stephan Laudien: Freies … [wie Anm. 6]

[21] Olaf Briese: Angst … [wie Anm. 7] S. 300.

[22] [Anonym.] Berlin, 18. September. In: Morgenblatt für die gebildeten Stände, Nr. 232 und 233, 28. Und 29. September 1831. In: Ebenda S. 179.

[23] Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Werke. Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten. 19. Band, 1. Theil. Briefe von und an Hegel, hrsg. von Karl Hegel. Leipzig: Duncker und Humblot, 1887, S. 379-380. (Digitalisat)

[24] Georg Wilhelm Friedrich Hegel/Philipp Konrad Marheineke (Hg.): Georg … [wie Anm. 3] S. 97.

[25] Carl Ludwig Michelet [Vorlesungsansprache, Vormittag des 16. November 1831]. In: Carl Ludwig Michelet: Wahrheit aus meinem Leben. Berlin 1884. Zitiert nach: Olaf Briese: Angst … [wie Anm. 7] S. 302.

[26] Ebenda S. 303.

[27] Ebenda S. 304.

[28] Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Wissenschaft der Logik. Bd. 1,1. Nürnberg 1812, S. XXVII-XXVIII. (Digitalisat)

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