Heitere Harmonie und Zersplitterung – Zum Eröffnungskonzert des Musikfestes Berlin

Sonate – Ordnung – Symphonie

Heitere Harmonie und Zersplitterung

Zum Eröffnungskonzert des Musikfestes Berlin mit der Staatskapelle Berlin unter Daniel Barenboim

Das Musikfest Berlin 2020 wurde am 29. August offiziell mit dem Orchesterkonzert der Staatskapelle Berlin unter Leitung von Daniel Barenboim. Es war das zweite Konzert eines Orchesters in der Philharmonie und Berlin überhaupt seit Mitte März. Dem Einen oder Anderen mögen deshalb bei den ersten Tönen der Symphonie Nr. 39 Tränen in die Augen geschossen sein. Daniel Barenboim hatte für dieses Ereignis die letzten drei Symphonien von Wolfgang Amadeus Mozart ausgewählt. Sie bilden nicht nur eine Art kompositorisches Vorspiel zu den Werken Ludwig van Beethovens, vielmehr wurden die Kompositionen von 1788 im 19. Jahrhundert nachträglich nach dem Schema des Sonatensatzes analysiert und bewertet. Zweifelhaft ist in der musikhistorischen Forschung, ob sie zu Mozarts Lebzeiten – er starb am 5. Dezember 1791 – jemals aufgeführt worden sind. Daniel Barenboim dirigiert und lässt die Symphonien mit einer großen Zuversicht spielen.

Der künstlerische Leiter des Musikfestes Berlin, Winrich Hopp, begrüßte in seiner Eröffnungsrede den Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble, der als Musikliebhaber bekannt ist. Als Bundestagspräsident ist Schäuble Dienstherr der Bundestagspolizei. Wie sich in den Mozart-Symphonien aus einem Thema zu Beginn eine komplexe Symphonie entwickelt, gilt als Inbegriff der Harmonie. Alles greift fast schon mechanisch ineinander. Es-Dur, g-Moll und C-Dur als Tonarten wechseln zwischen hellen und dunklen Tonarten, so dass die Symphonie Nr. 41 mit C-Dur als letzte mit einer hellen, sehr heiteren Stimmung im Molto Allegro endet. Daniel Barenboim arbeitet vor allem die Harmonie der Kompositionen heraus. Die Welt scheint im wahrsten Sinne des Wortes in Ordnung. Ordnung generiert Harmonie. Doch am 29. August 2020 zeigte sich zumindest die öffentliche Ordnung in Berlin am Reichstagsgebäude, dem Sitz des Deutschen Bundestages, kurzzeitig in verstörender Unordnung.

Die Ordnung feiert gerade mit den Regeln zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie für die Künstler*innen wie Zuschauer*innen beim Musikfest im großen Saal der Philharmonie eine Hochzeit. Alle Wege, alle Sitzplätze, alle Besucherdaten werden bis ins Detail geordnet und von einer Vielzahl von Ordner*innen begleitet, moderiert und im Ernstfall rigoros überwacht. Es geht um die Sicherheit für die Gesundheit der Künstler*innen und Besucher*innen. Winrich Hopp spricht in seiner Rede von den vielen Tests, die in den letzten Wochen mit Wissenschaftlern und dem technischen Dienst der Philharmonie durchgeführt worden seien. Er bedankt sich ausdrücklich beim technischen Leiter der Philharmonie, dem applaudiert wird. Orchesterarbeit sei Ensemblearbeit und verweise darauf, dass der Begriff Ensemble vom lateinischen insimul komme, das zusammen, miteinander und nicht auseinander heiße. Die Staatskapelle als Ensemble muss zwar wie das Publikum auf Distanz auseinander sitzen, spielt aber zusammen aufeinander abgestimmt. Auch in dieser Hinsicht verstehe sich das Musikfest nicht nur als Beitrag zur Kunst, vielmehr noch als Arbeit für die Gesellschaft und, so möchte ich hinzufügen, für die Gesellschaftsordnung.

Woher schöpfte Wolfgang Amadeus Mozart die Harmonie? Das Kompositionsschema der Symphonie, das Mozart weiterentwickelte und in seinen Symphonien, Nr. 39, 40 und 41 zu einer gewissen Perfektion führte, deckt sich keinesfalls mit den Lebensumständen, die nicht nur schwierige finanzielle Verhältnisse betreffen. Am 9. November 1791 gewann Fürst Karl Lichnowsky einen Prozess gegen Mozart, weil er geliehenes Geld nicht zurückgezahlt hatte und vermutlich nicht zurückzahlen konnte. Mozart stirbt wenige Wochen später im Alter von 35 Jahren an einer Krankheit, die vom Totenbeschauer nur ungenau beschrieben werden kann, so dass in der musikhistorischen Forschung vielerlei Diagnosen nachträglich gestellt wurden. Denn Wien wurde im 18. Jahrhundert z.B. in den Jahren „1777, 1784, 1786, 1787, 1790, 1794, 1796 und 1800“ von mehreren Epidemien z.B. Pocken mit zahlreichen Todesfällen heimgesucht.[1] Die verheerende Pest-Epidemie von 1679 führte 1693 zur Errichtung der Wiener Pestsäule oder Dreifaltigkeitssäule als Gnadensäule für die überstandene Seuche.[2] Sie erinnerte nicht nur an die Pest, vielmehr wurde sie selbst im März 2020 zum Ort der Fürbitten um einen glimpflichen Ausgang der Covid-19-Pandemie und zum „Ort der Hoffnung“.[3] Anders gesagt: Seit 1693 wird die Wiener Pestsäule immer wieder zum Ort der Bitten um ein schnelles Ende einer z.B. Pocken-Epidemie. Zu Mozarts Lebzeiten fünfmal.

Wolfgang Amadeus Mozart lebte in einer Zeit plötzlich auftretender Epidemien. Auch sein Wirkungsort Salzburg wurde von Epidemien heimgesucht. 1547 erschien die erste „Pestordnung“ für das Fürstbistum Salzburg. „Fürsterzbischof Maximilian Gandolf Graf von Kuenburg erließ 1679 eine Infektionsordnung.“[4] Das Wissen um den möglichen Ausbruch einer Epidemie aus heiterem Himmel, sozusagen, gehörte für Mozart zum sozialen Wissen. An der Wiener Pestsäule sowie vergleichbaren Kunstwerken in Kirchen wie Darstellungen des von „Pestpfeilen“ durchbohrten Heiligen Sebastian[5] dienen im 17. und 18. Jahrhundert sowohl als Mahnung und Erinnerung an Krankheit und Tod durch plötzlich auftretende Epidemien wie als Adressaten der Fürbitten, davor verschont zu bleiben. Für die Zuversicht in eine geordnete Welt sprechen die wiederkehrenden Epidemien und Mozarts früher Tod nicht. Doch als Freimaurer wünschte sich Mozart ein von Regeln über alle gesellschaftlichen Schichten hinweg beherrschbares Leben. Von der Katholischen Kirche gab es heftige Gegenwehr gegen die Freimaurer, die Mozart nicht verborgen geblieben sein wird.

Foto: Monika Karczmarczyk

In der Zauberflöte wird Mozart ca. 3 Jahre nach den Symphonien ganz im Sinne der Spätaufklärung der Freimaurerei die Welt- und vor allem Geschlechterordnung musikalisch mitgestalten, wie bereits 2018 mit einer Repertoireaufführung der Oper besprochen wurde. „Die Zauberflöte führt die neuen Werte der europäischen Aufklärung vor und übt ihre Geschlechterrollen fast mit jeder Strophe ein.“[6] Die ausdifferenzierte Regelhaftigkeit der Symphonien von 1788 wird zu einem Versprechen auf eine (bessere) Weltordnung nach den Epidemien von 1784, 1786 und 1787. Wolfgang Amadeus Mozart befindet sich an einer Schnittstelle zweier Systeme, als er sich von den katholischen und feudalen Strukturen des Salzburger Hofes in der Anstellung als Hofkapellmeister löst und nach Wien übersiedelt, wo Fürst Karl Lichnowsky Mitglied der gleichen Loge wie Mozart ist.[7] Obwohl Maynard Solomon seine Biographie als Melancholie-Erzählung angelegt hat[8], wie sie seit der Romantik für den Künstler als Narrativ und Wissen entwickelt wird, lässt sich das Dilemma einer systemischen Schnittstelle erahnen.

Foto: Monika Karczmarczyk

Daniel Barenboim entfaltet vom ersten Takt der Symphonie Nr. 39 Es-Dur Kv 543 mit der Staatskapelle Berlin in kleinerer Besetzung eine ungemeine Klangkultur. Das hochkarätige, sehr junge Ensemble der Staatskapelle ist perfekt aufeinander eingespielt. Der Maestro kennt die Werke sehr genau und dirigiert ohne Notenpult. Das Musikgedächtnis Daniel Barenboims ist legendär. Er hat die Partitur im Kopf und in seinem Körper. Er kennt jede Note und jeden Takt. Die Symphonie Nr. 40 g-Moll KV 550 klingt gar nicht gedämpft oder melancholisch, vielmehr setzt sie mit dem ersten Satz in Molto Allegro auch sehr fröhlich ein. Die Symphonie gehört zu den beliebtesten und meistgespielten überhaupt. Ein Klassik-Radio-Hit. Doch im 19. Jahrhundert wurde sie sogar als tragisch empfunden. Der Schlusssatz mit Allegro assai klingt bei Barenboim wirklich sehr fröhlich. Die schnellen Tempi werden mit dem jungen Ensemble auch als heitere Stimmung ausgeführt. Es gibt keine Brüche. Soviel Heiterkeit bekommt schon fast einen manischen Zug.

Foto: Monika Karczmarczyk

Die Symphonie Nr. 41 in C-Dur wird von Daniel Barenboim ebenfalls mit größter Zuversicht dirigiert. Es gibt keinen bekannten Adressaten der Symphonie und keinen Namen einer Widmung oder Titel, der durch Mozart mitgeteilt wäre. Im Programm wird dennoch „Jupiter“ als Titel abgedruckt, als könne damit ein Inhalt identifiziert werden. Die Kunst der Symphonie bei Mozart gehorcht indessen keiner Erzählung als Programmatik des Komponierens. Im Ringen um eine Interpretation tauchen immer wieder Namen auf. Keine Symphonie ähnelt einer anderen, wohl aber das Satzschema. 1739 veröffentliche Johann Mattheson in Hamburg sein Lehrwerk Der vollkommene Capellmeister, in dem eine „Gründliche Anzeige aller derjenigen Sachen, die einer wissen, können, und vollkommen inne haben muß, der einer Kapelle mit Ehren und Nutzen vorstehen will“.[9] Der barock formulierte Titel gibt einen Wink auf das, was Mattheson „Klangrede“ nennt:
„Die Mittel und Wege der Ausführung und Anwendung sind in der Rhetorik lange so verschiedentlich und abwechselnd nicht anzutreffen, als in der Musik, wo man sie viel öffterer verändern kann, obgleich das Thema gewisser massen dasselbe zu bleiben scheinet. Eine Klangrede hat vor einer andern viele Freiheit voraus, und günstigere Umstände : daher bey einer Melodie der Eingang, die Erzehlung und der Vortrag gar gerne etwas ähnliches haben mögen, wenn sie nur durch die Tonarten, Erhöhung und Erniedrigung und andre dergleichen merckliche Abzeichen, (davon die gewöhnliche Redekunst nichts weiß,) von einander unterschieden sind.“[10]

Foto: Monika Karczmarczyk

Wir wissen nicht, ob Mozart den Lob der Rhetorik bei Mattheson, der 1764 in Hamburg starb, gelesen hat oder vom Hörensagen kannte. Die Rhetorik in der Musik nennt Mattheson „Klangrede“. Die Rhetorik als „Klangrede“ ist bedenkenswert. Denn nach Mattheson ist sie in der Musik „viele Freiheit voraus“, weil sie sich unter anderem nicht an die Erzählung halten muss. Mattheson spielt mit der Rhetorik nicht nur auf Vortragskunst des Redens und der Verfertigung von Reden an, vielmehr geht es ihm um eine Praxis der Rede in ihren formalen Stilmitteln. Die Stilmittel der Paraphrasierung, der Umstellungen und Steigerungen, der „Erhöhung und Erniedrigung“, der Wiederholung und Unterbrechung, der „Tonarten“, Tempi und Dehnungen oder auch der Metalespsis[11] etc. sind wichtiger als das, was Mattheson „Schluß“ nennt.
„Man möchte vielleicht mit besserm Rechte sagen: der Schluß sey mit dem Eingange einerley. Denn das ist wirklich wahr. Da findet sich ein und dieselbe Sache, ein und der selbe Satz in einer und der derselben Stimme. Aber, wie denn? Macht es nicht David im achten und 103ten Psalm eben so? und gibt es nicht Leute, welche des Königlichen Dichters Wohlredenheit der Demosthenischen und Ciceronischen weit vorziehen, wenn sie absonderlich auf des Propheten musikalische Gaben ihrer Augen richten?“[12]   

Foto: Monika Karczmarczyk

Mattheson liest Psalm 8 und 103 in rhetorischer Hinsicht und erkennt darin die „musikalische(n) Gaben“ des Propheten. Es mag sein, dass die Lehre vom Sonatensatz als eine nachträgliche Formalisierung in der Musikwissenschaft und Kompositionslehre als nicht mehr aktuell angesehen wird. Doch knüpft sie mittelbar an die „Klangrede“ als Rhetorik in der Musik an. Bei Ludwig van Beethoven wird sich in den Klaviersonaten die Harmonie aus der Klangrede umkehren. Das wird noch zu thematisieren sein. Doch das, was Beethoven kennen und wissen konnte durch sein Musikmachen in Bonn, bekommt in Wien eine andere Wendung. Beethoven bricht mit Haydn und Mozart. Indessen machte Johann Adolph Scheibe auf die Lehren des „vollkommenen Kapellmeister(s)“ ein Lobgedicht, das auf nicht zuletzt rhetorische Weise die Lehren wiederholt:
„Music, die nicht ans Herz, nicht an die Seele dringt,
Aus Tönen zwar besteht, doch nur die Ohren zwingt,
Der nicht Natur und Kunst Klang, Anmuth, Krafft gegeben,
Ist nur ein todtes Werck, es fehlt ihr Geist und Leben.
Das hat Aristoren und Aristid erkannt,
Itzt thut es Matthesons durchdringender Verstand.
Doch er thut mehr, als sie. Wer hat so viel verrichtet?
Er singt, Er spielt, Er setzt, Er lehrt, Er schreibt, Er dichtet.“[13]

Der vollkommene Kapellmeister adressiert sich mehrdeutig an „Tonrichter()“, wie überhaupt Matthesons Wissenschaft von der Musik durch eine reichhaltige und witzige Rhetorik geprägt ist. Denn die „Tonrichter()“ sollen über die Töne und die Musik ebenso urteilen, sie ausführen wie komponieren können. Dabei geht es vor allem um Choräle und geistliche Chormusik. Den Begriff der Symphonie oder Sinfonia gebraucht Mattheson nicht. Er kursiert für komplexere Kompositionen einer Kapelle noch nicht. Allerdings gibt Matthesons Behandlung der Musik als eine „Wissenschaft“ bereits einen Wink, dass neben der „Klangrede“ auch die Mathematik in ihren unterschiedlichen Bereichen für ein Kompositionswissen wichtig wird. Mozarts wesentliche Errungenschaft wird es vom Anfang des 18. Jahrhunderts gewesen sein, gegen dessen Ende eine Kompositionsform entwickelt zu haben, die in ihrer regelhaften Durchdachtheit mit seinen drei letzten Symphonien einen gewissen Höhepunkt erreicht hat. Ein gewisses Verständnis für die Vielfalt und Kombinatorik der Rhetorik mag ihm eigen gewesen sein, ohne dass er sie hätte benennen können.

Die Symphonie Nr. 41 klingt bei Daniel Barenboim und der Staatskapelle machtvoll oder gar wie eine Feier der Macht. Das Schema der vier Sätze wird in allen drei Symphonien beibehalten und modifiziert 1. Satz Adagio – Allegro bzw. Molto allegro und Allegro vivace, 2. Satz Andante con moto bzw. Andante und Andante cantabile, 3. Satz immer Menuetto: Allegretto und im 4. Satz wieder Allegro-Variationen zwischen Allegro, Allegro assai und Molto Allegro. Die unterschiedlichen Elemente der Musik werden schematisch mit der Grundtonart und den, sagen wir an dieser Stelle ruhig, Melodien kombiniert und modelliert. Und selbstverständlich sprechen sie auch Herz und Verstand an. Denn Mozart wird als Musiker und Freimaurer eine Vorstellung von Verstand gehabt haben. Um so verstörender war es am 29. August nun, dass dem Berichterstatter schon auf der Hinfahrt auf dem Bahnhof Potsdamer Platz eine größere Anzahl von Männern und Frauen mit Kindern an Händen und in Kinderwagen beim Aussteigen entgegendrängten. Sie waren mit Spruchbändern, Fahnen und bunten Hüten versehen. Doch waren alle ohne Mund-Nase-Bedeckung.

Nach dem Konzert zersplitterte die Fiktion der Mozart-Symphonien abrupt. Auf der Rückfahrt über Potsdamer Platz und Friedrichstraße geriet der Berichterstatter gar in eine Ansammlung zweier Gruppen die T-Shirts mit querdenken.de und querdenken-bregenz.at trugen. Die Querdenker-Gruppen verbrüderten sich auf dem Bahnsteig, im U-Bahnwagen und tauschten geradezu euphorisch ihr verqueres Wissen über Gesellschaft, Politiker, Mächtige und „Corona“ aus. Mund-Nase-Bedeckungen wurden im Wagen unter das Kinn geschoben, so dass sie sich für etwaige Kontrollen gewappnet wähnten, sonst aber gern ihre Tröpfchen lachend und johlend unter den Fahrgästen mit Masken versprühten. Es entwickelte sich zu einer derart widerwärtigen Szene, dass ich mehrere Stationen vor meinem Ziel ausstieg und lieber zu Fuß nach Hause ging. Die Querdenker benutzten die Berliner Öffentlichkeit in der U-Bahn insbesondere gegenüber Menschen mit arabischem und afrikanischem Migrationshintergrund, die sich an die Regeln hielten, um als Gruppe ihre Macht vorzuführen. – Von der versuchten Erstürmung des Bundestages im Reichstagsgebäude war noch nichts bekannt.

Torsten Flüh

Musikfest Berlin
bis 23. September 2020
Für einige Konzerte gibt es weiterhin Karten.


[1] Vgl. Das Zeitalter der Seuchen. In: Stadt Wien: Wien Geschichte Wiki. Epidemien.

[2] Wikipedia: Wiener Pestsäule.

[3]Joanna Łukaszuk-Ritter: Der Glaube siegt: Die Wiener Pestsäule als Ort der Hoffnung. CNA (Catholic News Agency) 11 April, 2020 / 11:30 AM.

[4] Salzburgwiki: Pest.

[5] Agathe Lukassek: Heiliger Sebastian: Durbohrtes Vorbild der Athleten. In: katholisch.de 20.01.2020.

[6] Torsten Flüh: Indiens und Europas Mythen der Geschlechter. Kalki Subramaniam spricht mit Claudia Reiche über Hijra Fantastik und sieht Die Zauberflöte in der Deutschen Oper. In: NIGHT OUT @ BERLIN Dezember 4, 2018 19:21.

[7] Maynard Solomon: Mozart: A Life, New York: Harper Collins, 1995.

[8] Vgl. dazu auch Aby Warburgs Melancholie-Forschungen im Mnemosyne Atlas in Torsten Flüh: Von Melancholie und Hosenkampf zum Algorithmus. Zur Ausstellung Zwischen Kosmos und Pathos – Berliner Werke aus Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne in der Gemäldegalerie. In NIGHT OUT @ BERLIN 26. August 2020.

[9] Johann Mattheson: Der vollkommene Capellmeister. Hamburg: Christian Herold, 1739. (Digitalisat)

[10] Ebenda S. 26.

[11] Zur Metalepsis siehe: Torsten Flüh: Das „Weib“* als Schwan und die Geschlechterfrage. Zu Katrin Pahls queerer Kleist-Lektüre mit Sex Changes with Kleist. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. März 2020.

[12] Johann Mattheson: Der … [wie Anm. 9] S. 26.

[13] Ebenda ohne Seitenzahl (S. 31).

Allegro con brio, doch auch ein wenig traurig

Klavierkonzert – Trauer – Sonatenform

Allegro con brio, doch auch ein wenig traurig

Igor Levit spielt Ludwig van Beethovens 32 Klaviersonaten beim Musikfest Berlin

Die Klaviersonate Nr. 21 in C-Dur, genannt „Waldstein“, eröffnet im ersten Satz mit dem Tempo und der Stimmungsangabe Allegro con brio. Igor Levit hat die Sonate für sein erstes Konzert in der Berliner Philharmonie als vierte ausgewählt. Er spielt in seinen 8 Klavierkonzerten also nicht Sonate Nr. 1 bis Sonate Nr. 32 chronologisch nacheinander weg, vielmehr beginnt er zwar mit der heiteren und noch ganz klassischen Sonate Nr. 1 in f-Moll, Beethovens Opus 2 überhaupt, das erste von 8 Konzerten. Doch dann kombiniert er die Sonaten auf eigene Weise: Nr. 12, Nr. 25, Nr. 21. Das ist ein künstlerisches Statement, eine Komposition. Allegro con brio, also schnell/fröhlich mit Schwung in C-Dur ist musikalisch schon sehr fröhlich. Nach dem finalen Prestissimo, äußerst schnell, und einer kurzen Stille durchdringen Bravo-Rufe den Konzertsaal. – Doch nichts ist wie gewohnt.

Ja, es gibt Bravo-Rufe, stürmischen Beifall für Igor Levits erstes Klavierkonzert, doch unter Einhaltung der Regeln zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie. Die Stiftung Berliner Philharmoniker und die Berliner Festspiele haben als Veranstalter mit Experten aus der Charité ein Sicherheitskonzept ausgearbeitet, das es überhaupt erlaubt, Konzerte in der Philharmonie stattfinden zu lassen. Die eingeladenen, internationalen Orchester aus Amsterdam und USA können nicht anreisen. Das Programm des Musikfestes Berlin 2020 ist nach den nationalen und internationalen Regeln zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie modifiziert worden. Das ist schmerzlich. Trotzdem sind die Musiker*innen, Orchester, Kurator*innen und Organisator*innen glücklich, überhaupt spielen zu dürfen. Wer eine Karte für die ausverkauften Konzerte ergattert hat, freut sich wie der Berichterstatter über alle Maßen und ist dankbar. Endlich wieder Musik live nach mehr als 6 Monaten. Die Philharmonie ist ausverkauft, doch fast leer.

Der Rahmen gehört zur Musik. Eine Mitarbeiterin der Philharmonie tritt mit Mikrofon ruhig auf die Bühne: „Guten Abend verehrtes Publikum. Sie dürfen jetzt auf Ihren Sitzplätzen die Maske abnehmen. Nach dem Konzert setzen Sie bitte die Mund-Nasen-Bedeckung wieder auf und verlassen das Gebäude auf dem Weg, den Sie gekommen sind …“ So oder so ähnlich lautet jetzt die Begrüßung in der Philharmonie und in anderen kulturellen Einrichtungen wie Theatern und Konzertsälen wird es nicht anders sein. In der Philharmonie sind alle Mitarbeiter*innen indessen noch ein wenig freundlicher und stilvoller. Die meisten Mitarbeiter*innen tragen stilvolle, dunkelviolette Mund-Nasen-Bedeckungen, MNB, mit dem Philharmonie-Logo. Ein Farbenleitsystem sorgt für den Zugang zum Sitzplatz. Keine Garderobe. Keine Abendprogramme. Keine Pausen mit Getränken und Häppchen. Der Konzertbesuch in Corona-Zeiten verlangt ein hohes Maß an Disziplin und Verzicht.

Die MNB ist (in Deutschland) zum Mode- und Kultobjekt geworden. Als meine Mutter im April die ersten Masken für mich, Familie und Freunde nähte, sagte ein Freund noch: „Niemals. Ich bin doch kein Chinese.“ Die Maske hat sich als schick durchgesetzt. Weltkunst verkaufte Masken für die Kunstwelt in limitierter Auflage. Ich bestellte Norbert Biskys Painkiller für mich und eine andere Kunstmaske für einen Freund zum Geburtstag. Der Painkiller ging auf unerklärliche Weise auf der Rückbank eines Autos bei einem Ausflug zur Vernissage einer Wilhelm Imkamp-Ausstellung im Fagus Werk von Walter Gropius in Ahlfeld verloren. Jetzt trage ich eine hell türkise Maske aus japanischem Tenugui-Stoff mit weißen Koi. Es spricht für einen gewissen Mangel an praktischer Intelligenz, wenn sich Menschen der Mund-Nasen-Bedeckung im ÖNV oder in der Philharmonie verweigern. Sie kommen einfach nicht in die Philharmonie hinein. So ist das! Nach der freundlichen Mitarbeiterin der Philharmonie betritt die Staatsministerin für Kultur und Medien, Prof. Monika Grüter, mit MNB die Bühne, nimmt am mittig aufgestellten Mikrofon die Maske ab und beginnt ihre Rede. – Ein neues Ritual.

Die Staatsministerin bei der Bundeskanzlerin spricht in ihrem Grußwort davon, dass die Kultur und die Musik, die „Kunst überlebensnotwendig für unsere Demokratie“ und die Gesellschaft seien.  „Das Musikfest Berlin zeige, dass gemeinsamer Kulturgenuss auch unter den geltenden Beschränkungen möglich sei, freute sich Kulturstaatsministerin Monika Grütters. In ihrer Eröffnungsrede unterstrich Grütters nicht nur die Bedeutung des gemeinsamen Erlebens von Kunst und Kultur. Sie wies auch darauf hin, wie wichtig gerade in Zeiten der Krise die kreativen Impulse und Innovationen seien, die von Künstlern, von Komponisten, von der neuen Musik und auch von Beethovens Werken ausgingen.“[1] Sie erinnerte daran, dass Igor Levit ab dem 12. März 2020 eine Reihe von 52 „Hauskonzerten“ aus seiner Berliner Altbauwohnung auf Twitter übertrug. Tausende Followers verfolgten die „Hauskonzerte“ am Flügel. Levit war offenbar allein in der Wohnung. Er stellte absolut unprätentiös seine Webcam auf und an, begann in Socken eine kurze Einführung zum Stück und spielte ein äußerst abwechslungsreiches Programm.

Die „Hauskonzerte“ und der Twitter-Account verraten viel über den Pianisten Igor Levit und sein gesellschaftliches Engagement. 2019 veröffentlichte er bei Sony Classical die Einspielung der kompletten Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven, mit denen er sich zuvor 15 Jahre lang beschäftigt hatte. Ungefähr ab August 2019 folgten überschwängliche Kritiken, Interviews und Porträts auf allen Kanälen. Vier Tage nach Yom Kippur 2019 und nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle nahm Igor Levit an der Demonstration gegen Antisemitismus in Berlin teil und spielte vor der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße auf einem Flügel. Im November 2019 erhielt er Morddrohungen per E-Mail. Am 2. April 2020 spielte Igor Levit im Schloss Bellevue beim Bundespräsidenten die sogenannte Waldstein von Ludwig van Beethoven, nachdem Frank Walter Steinmeier seine Videobotschaft zur Corona-Epidemie hatte aufzeichnen lassen. Wie sich auch beim eröffnenden Klavierkonzert in der Philharmonie zeigen sollte, engagiert sich Levit auf im Konzertformat unkonventionelle Weise, indem er z.B. als Zugabe eine ihm erst kurz zuvor zugeschickte, neue Komposition des New Yorker Jazzpianisten Fred Hersch mit dem Titel Trees spielte. – Auf Fred Herschs Komposition Trees werde ich zurückkommen.

Die Hauskonzerte auf Twitter sind nicht zuletzt für die Blog-Forschung interessant. Denn Levit nutzte damit als einer der Ersten das Medium Kurz-Blog für Konzerte aus seiner Wohnung, als das öffentliche Leben zum Erliegen gekommen war. Eine einfache Webcam oder gar nur das Smartphone erwiesen sich als so leistungsfähig, dass eine akzeptable Ton- und Bildqualität zum Zuhören einlud. Statt Hasskommentare und Lügenbotschaften verwandelte Levit aus der Not heraus das Medium in einen Raum der Empathie und des Zuhörens. Er half geradezu bei der Strukturierung des Tagesablaufes, weil sich die Follower auf ein Konzert am Abend freuen konnten. Das Repertoire reichte von Schubert bis Orgelchoralvorspiele für Klavier von Johann Sebastian Bach durch Ferruccio Busoni transkribiert am 24. Mai 2020. Richard Wagner war ebenso dabei. Kurioses wechselte mit ganz Großem.

Foto: Monika Karczmarczyk

Das Musikfest Berlin stellt seine Konzerte digital als Aufzeichnungen für eine begrenzte Zeit zur Verfügung. So wird das erste Klavierkonzert von Igor Levit noch bis 3. September 2020 15:59 bereitgehalten. Sie sollten sich also das Konzert anhören. Es war für mich in seiner Kombinatorik der Sonaten – Nr. 1, Nr. 12, Nr. 25, Nr. 21 – überraschend und lehrreich. Wo kommt Beethoven mit seinen Sonaten her? Wo entwickelt er sich hin? Was ist überhaupt eine Klaviersonate? Und wie spielt und spricht Igor Levit über Musik? Igor Levit spielt die Klaviersonaten vor allem aus dem Kopf. Für die Zugabe hat er ein Tablet mit den Noten zur Hand. Das ist nur ein winziger Unterschied, weil es an der Musik nichts ändert. Die Klaviersonaten von Beethoven, so unterschiedlich und komplex sie sein mögen, beherrscht Igor Levit aus seinem Kopf und Körper. Wiederholt gräbt er sich in die Tastatur hinein. Da Beethoven sich in Wien mit der Sonate Nr. 1 f-Moll op. 2 selbst als Klaviervirtuose und Komponist in Wien vorstellt und einführt, entsteht in Anknüpfung an seinen Lehrer Joseph Haydn eine individuelle Auseinandersetzung über das Musikmachen.

Foto: Monika Karczmarczyk

Die Sonatenform ist nicht voraussetzungslos, doch wurde sie als Modell zum Komponieren wesentlich nachträglich Ende des 19. Jahrhunderts erforscht und als Musikwissen kanonisiert. Die Josef Hayden gewidmete Sonate ist in 4 Sätzen mit den Tempi Allegro, Adagio, Menuett. Allegretto – Trio und Prestissimo komponiert. Es gibt auch zwei- und dreisätzige Klaviersonaten von Beethoven. Joseph Haydns sechs Klaviersonaten sind allesamt in 3 Sätzen komponiert. Auch die achtzehn Klaviersonaten von Wolfgang Amadeus Mozart haben regelmäßig 3 Sätze. Insofern darf man sicher formulieren, dass Beethoven von Anfang an das Schema oder die Regel durchbricht. Es hört sich, wie das Thema gesetzt und auskomponiert wird, noch recht geordnet und regelhaft an. Haydn und Mozart lassen grüßen. Doch bereits in der ersten Klaviersonate wird durch Variation ein Eigensinn hörbar. Besonders der dritte Satz, Menuett. Allegro – Trio, fällt aus dem Schema. Die Sonate bleibt aber nach der Lehrmeinung im ersten Satz der Sonatenhauptsatzform von Exposition, Durchführung, Reprise und Coda verschrieben.[2]   

Foto: Monika Karczmarczyk

Die Widmungen der Klaviersonaten haben zu vielfachen Spekulationen in der Musikgeschichte und der Interpretation geführt. Josef Haydn die Sonate Nr. 1 zu widmen, leuchtet ein und ist unverfänglich, zumal dann wenn an die Sonatenform des Lehrers angeknüpft wird. Doch die erste Sonate unterscheidet und setzt sich auch deutlich ab von der Lehre des Meisters. Die Widmung bekommt als Ehrerbietung und Abgrenzung, wenn nicht Überbietung einen ambivalenten Zug. Zumal schon Graf Ferdinand von Waldstein-Wartenberg Beethoven ins „Stammbuch“ geschrieben hatte: „Sie reisen itzt nach Wien zur Erfüllung ihrer so lange bestrittenen Wünsche. Mozart’s Genius trauert noch und beweinet den Tod seines Zöglinges. Bey dem unerschöpflichem Hayden fand er Zuflucht, aber keine Beschäftigung; durch ihn wünscht er noch einmal mit jemanden vereinigt zu werden.“ Er hielt Haydn für geniefrei. Die Widmung der Sonate Nr. 12 an Fürst Karl von Lichnowsky lässt sich als Dank für mäzenatische Förderung lesen, weil der Fürst zuvor schon Mozart als Mäzen finanziert hatte. Es geht insofern um eine gegenseitige Wertschätzung. Doch es ist auch bekannt, dass sich der Fürst von Lichnowsky mit Mozart wie mit Beethoven über finanzielle Angelegenheiten überwarf. In der Wertschätzung schimmert eine gewisse feudale Abhängigkeit und Macht durch. Die Widmung der Sonate Nr. 21 an Graf Ferdinand von Waldstein, dem ersten Förderer Beethovens noch in Bonn, gibt in gewisser Weise Rätsel auf, weil Beethoven um 1804 in Wien offenbar keinen Kontakt mehr zu ihm hatte. Mit dem Namen der Grafen durch die Widmung versehen wird ein Verhältnis generiert, von dem sich wiederum kaum wissen lässt, ob es für die Komposition eine Rolle spielte. Die Praxis der Widmung als Benennung wird allerdings gern als Wissensgeste aufgegriffen.

Foto: Monika Karczmarczyk

Die Widmung kann auch die Form einer Adressierung annehmen: Komponiert als ein Gedanke an… Wir wissen nicht, ob Fred Hersch Trees ausdrücklich Igor Levit gewidmet hat. Soviel Levit erzählt, hat Hersch ihm die Komposition wohl wie heute üblich per E-Mail zugeschickt. Sie sei etwas Gutes, das während der Pandemie und des Lockdowns entstanden sei, wie Levit sagt. Und die Komposition ist „zart, ja, zart“. Das ist viel gesagt vor einer Zugabe im klassischen Konzertbetrieb. Fred Hersch, der die zarte Musik an der Grenze von Klassik und Jazz während der Covid-19-Pandemie komponiert hat, ist gewissermaßen ein Experte für Epidemien. Er ist ein Überlebender der AIDS-Epidemie in den 90er Jahren, was er öffentlich wiederholt gesagt hat. „In the early ’90s, we all thought we were going to die. (…) My friends were dropping like flies.“[3] Fred Hersch möchte in erster Linie als Jazzpianist und Komponist wahrgenommen. Doch seine Kompositionen würden ohne die Erfahrung der Epidemie und der eigenen AIDS-Erkrankung möglicherweise anders ausfallen. „I’d like for people to think I’m a reasonably nice person, a good musician, and that I just happen to be gay and I’m dealing with a disease. It’s not the first thing in the file folder.“[4] Der Lockdown war nicht zuletzt eine Wiederkehr der Epidemie-Erfahrung für Hersch, der darauf mit Zartheit in Trees reagierte. – Igor Levit brachte Trees als Zugabe in der Philharmonie beim Musikfest Berlin mit größter Konzentration und Zartheit zur Uraufführung. Ein Widmung.

Torsten Flüh

Musikfest Berlin
Igor Levit spielt Beethoven
Musikfest Berlin digital


[1] Monika Grütter: Kultur erleben – mit Abstand oder digital. Die Bundesregierung 26.08.2020. Musikfest Berlin.

[2] Vgl. dazu Markus Gorski: 1. Satz aus der Klaviersonate op.2, Nr.1, f-moll. In: Lehrklaenge.de.

[3] Howard Reich: Fred Hersch: Despite struggles, a great pianist flourishes. In: Chicago Tribune September 19, 2012.

[4] Ebenda.

Von Melancholie und Hosenkampf zum Algorithmus

Ausstellung – Bilderatlas – Algorithmus

Von Melancholie und Hosenkampf zum Algorithmus

Zur Ausstellung Zwischen Kosmos und Pathos – Berliner Werke aus Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne in der Gemäldegalerie

Die Eröffnung der Ausstellung Aby Warburg: Bilderatlas Mnemosyne ist jetzt für den 4. September im Haus der Kulturen der Welt vorgesehen. Währenddessen hat bereits seit dem 8. August die Ausstellung zum Bilderatlas in der Gemäldegalerie mit einigen Monaten Verspätungen geöffnet. Denn beide Ausstellungen sollten im Frühjahr 2020 beginnen. Doch dann war der „knapp zwanzigminütige Spaziergang durch den Tiergarten“[1], wie er noch im Begleitband vorgeschlagen wird, unmöglich geworden. Neville Rowley und Jörg Völlnagel hatten sich spontan im Frühjahr 2019 dazu entschlossen, mit ihrer Ausstellung an die des Bilderatlas durch Axel Heil und Robert Orth im HKW anzuknüpfen. Der von Aby Warburg in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre in der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek in Hamburg projektierte Bilderatlas erhält nun in Berlin nachträgliche Präsenz.

Jörg Völlnagel diskutiert das Format Bilderatlas im Kontext der Digitalisierung ganzer Sammlungen für das Internet und der „Ausstellungspraxis im Museum“[2]. Konzipierte Aby Warburg seinen Bilderatlas Mnemosyne als „Museum Total“? In welchem Verhältnis steht Warburgs Bilderatlas zum Versprechen des Semantic Web, in dem sich Dinge wie Bilder oder auch Bilder als Dinge finden lassen (sollen), wie es 2016 am Hasso-Plattner-Institut der Universität Potsdam auf der dwerft-Konferenz diskutiert wurde? Wird sich Mnemosyne, die griechische Göttin der Erinnerung, in einen Algorithmus verwandeln lassen? Wie wird die Ausstellungspraxis im Museum vom globalen Digital-Museum berührt werden, wenn aktuell Museumsbesuche nur nach den Regeln zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie möglich sind? Hat die Pandemie, die die Kuratoren mit ihren Folgen für das Museum nicht ahnen konnten, die Institution Museum noch einmal getroffen? Die kleine, aber feine Ausstellung von 50 kommentierten Sammlungsstücken aus 10 Museen der Staatlichen Museen Berlin reißt hinter den Bildern Fragen auf.

Der Bilderatlas Mnemosyne knüpft mit seiner konstellativen Ikonographie an die Antike an, so dass die Berliner Antikensammlung nicht nur mit einem Objekt, dem Deckel einer Pyxis[3] mit der Darstellung von Helios, Selene und Eros in der Ausstellung vertreten ist. Vielmehr konstelliert der Bilderatlas mit einer als „2“[4] nummerierten Anordnung den Deckel mit dem Atlas Farnese und weiteren antiken Motiven von Vasen etc. die visuellen Narrative. Melancholie, Laokoon und die Nymphe kommen vor. Als Aby Warburg mit seinem Bilderreservoire von Ausschnitten aus Zeitungen, Zeitschriften, Fotosammlungen u. ä. begann zu arbeiten, gehörte die Laokoon-Gruppe zum Inventar einer Vielzahl von Antikensammlungen wie der Kieler. Doch Warburg setzte nicht erst bei der Antike mit seinem Bilderatlas ein, sondern nahm bereits eine kleine Babylonische Ritualglocke und Tonlebermodelle aus Assyrien auf, die heute im Vorderasiatischen Museum verwahrt werden. Die Antike wird zwar zu einem Kristallisationspunkt der Bilder und ihrer wandelbaren Lesbarkeit, aber die Antikensammlung dominiert nicht.

Die Bildquellen sind bei Warburg vielfältig. Aus der Berliner Sammlung des Kunstgewerbemuseums hatte Warburg einen Teller mit Laokoon und seinen Söhnen vermutlich aus Faenza um 1550 eingefügt. So wird Laokoon von den Kuratoren vor allem als „Leiden“ seines Arrangeurs selbst und als eines am Kriegsverlust gelesen. Neville Rowley macht die Bruchstücke des Tellers, der 1945 beim Bombardement des Friedrichshain Bunkers in den Flammen zerstört wurde, zu „einem Sinnbild der aktuellen Ausstellung“.
„Denn zum einen zeugen sie von einem der bevorzugten Forschungsthemen Warburgs, der im Leiden des Laokoon und seiner Söhne, die von den Schlangen angegriffen wurden, seinen eigenen Kampf gegen die Dämonen wiederzuerkennen glaubte. Zum anderen zeigen sie, welch große Rolle die Sammlungen der Staatlichen Museen zu Berlin – und dabei nicht unbedingt deren bekannteste Objekte – bei der Entwicklung von Warburgs Denken und der Entstehung des Bilderatlas gespielt haben.“[5]

Die Vielfalt der Bildquellen für den Bilderatlas in der Ausstellung aus unterschiedlichen Museumssammlungen gibt einen Wink, dass Aby Warburg einst mit seinem Verfahren das kategorisierende Wissen der einzelnen Museums-Sammlungen sprengte und weiterhin sprengt. Bilder sind keinesfalls (nur) ein Gegenstand des Wissens von Kunsthistorikern, die wie Jacob Burckhard mit der Renaissance im 19. Jahrhundert Rangordnungen von Epochen aufstellen. Vielmehr werden Bilder wie die Tonlebermodelle aus Assyrien selbst zum Gegenstand des Wissens, weil sie als gleichsam lexikalisches Wissen für die Befragung der realen Lebern von Opfertieren, Schafen, verwendet wurden, wie es 2016 der Assyriologe Stefan Maul in seiner Mosse-Lecture entfaltet hat. Durch die Tonlebermodelle wird ein gleichsam binäres Zukunftswissen vom Lesen der Opfertierlebern vermittelt. Es handelt sich „mit der Einteilung in +- und –-Werte um ein binäres System (…). Die Orakellebern erzeugen, anders gesagt, Algorithmen, die hoch ausdifferenziert sind. Um die Funktion der Orakellebern in kleiner Größe ein wenig zugespitzt zu formulieren, lässt sich von einem Taschenrechner oder Taschencomputer sprechen. Die Rechenvorgänge durch Benennung, Bewertung und Bestimmung unterscheiden sich in der Funktionsweise kaum“.[6]  

Die „Schafsleberstücke()“[7], wie Neville Rowley schreibt, im Bilderatlas aus den Vorderasiatischen Museum können insofern an der Schnittstelle von Bild, Schrift und Wissen die Funktion einer Wissensfrage vom Leben und der Welt einnehmen. Mit den Tonlebermodellen wird die Leber des Opferschafes als Substitut für die Welt intelligibel. Wie Stefan Maul angemerkt hat, wurden für ein Orakel oft sehr große Mengen an Lebern verbraucht, gelesen und wieder gelesen. In der Konstellation mit der babylonischen Bronzeglocke mit einer Verzierung aus Menschenkörpern mit teilweise erhobenen Armen ließe sich eine Befragungs- oder Orakelzeremonie erkennen. Anders gesagt: Die Befragung der mikrokosmischen Orakellebern und die der makrokosmischen Gestirne, sagen wir ruhig, Sternenbilder, die allererst zu Bildern zusammenspringen müssen, damit sie lesbar werden können, bilden nicht einfach ein kosmologisches Weltbild ab, vielmehr führen sie Wissenspraktiken vor. So auch der Hosenkampf, auf den zurückzukommen sein wird.

Aby Warburgs Bilderatlas ist kein Museum.[8] Das Museum des 19. bis 20. Jahrhunderts und seine Wissenspraktiken werden zwischenzeitlich vielfach diskutiert. Insofern lässt sich der Bilderatlas Mnemosyne als eine Befragung eben dieser Wissenspraktiken nicht allein im Kontext der Bilder und der Kunst sehen. Georges Didi-Huberman hat den Bilderatlas von der mythologischen Figur des Atlas und seines Leidens an der Welt, denn der Atlas Farnese trägt die Welt als Strafe auf seinen Schultern, im Kontext der Fröhlichen Wissenschaft nach Friedrich Nietzsche gelesen. Doch die Fröhliche Wissenschaft sei nicht einfach eine Befreiung vom lastenden Wissen, das mit Mühe erarbeitet, erlernt werden muss. Vielmehr bestehe „die große Kraft (von Nietzsches) Entwicklung“ darin,
die Unruhe lebendig zu erhalten, das heißt die Offenheit für das Unheimliche, die Fremdheit, die Exterritorialität. Wenn Erkennen darin besteht, alles und jedes als problematisch zu betrachten, also darin, die Wahrheit jeweils im unbekannten, fremden, deplatzierten Teil des Betrachteten zu suchen – weshalb Nietzsche sagte, dass die Wahrheit  selbst »auf dem Boden der Moral« gesucht werden müsse –, dann bedeutet das, dass Atlas , selbst wenn er von seiner Last befreit würde, in seinem Leiden gleichwohl keine Linderung erführe.“[9]   

Jörg Völlnagel geht in seinem Aufsatz zur „Utopie einer grenzenlosen Sammlung“ einen anderen Weg, um die Wissenspraktiken des Museums mit Aby Warburg zu befragen. Er geht eher von einem „Nachleben der Antike“[10] in den Bildern aus. Dieses „Nachleben“ lässt sich in unendlichen Transformationen und Kombinationen bis in die Reklame für die Fischwirtschaft – „Eßt Fisch, dann bleibt Ihr gesund und frisch.“ – aufspüren. Im Mädchen mit einem Fisch im Einkaufsnetz am Arm der Mutter entdeckte Warburg eine Wiederkehr des Motivs der antike Nymphe. In einer weiteren Seefisch-Werbung hält ein nackter Knabe einen Dorsch, der größer als er selbst ist. Der Knabe passt nicht in das Schema der Nymphe. Er könnte mit griechischen Eroten, einem Amor oder Cupido des Barock auch über die Begierde, lateinisch cupido, nach Fisch korrespondieren.

Völlnagel widerspricht der These, dass der Bilderatlas den Anspruch eines Musée Imaginaire von André Malraux habe. Bei ihm gibt es durch die „Bildpaare“ die Wissensgeste, sich als Beherrscher der Bilder darzustellen. Völlnagel macht das gleichsam warburgisch an einer Fotografie von Malraux als Kulturminister für die Illustrierte Paris Match vom Juni 1954 deutlich.(S. 39) Das totale Museum der Bilddaten, wie es heute der Google-Algorithmus herstellt und verfehlt, bleibt zwar auch in Bewegung. Doch herrscht im Internet immer der Terror der Benennung und nicht das vieldeutige Bild vor. Völlnagel sieht deshalb die Ausstellung in der Gemäldegalerie vielmehr als „eine Versuchsanodrnung“.  
„Mit seinen dokumentierten konstellativen Versuchsanordnungen im Atlasprojekt rührt Aby Warburg (…) an die Grundprinzipien einer Ausstellung. Nicht Systematik und Deutungshoheit sollten die Maßgabe sein, sondern eine ständige Revision des Dar- und Ausgestellten, ein permanentes öffentliches Hinterfragen auch der eigenen Forschungsarbeit, der Episteme. Demgemäß wäre jede Ausstellung eine Versuchsanordnung im Wortsinne – sie wäre vorläufig, experimentell und erkenntnis- respektive erfahrungsorientiert; sie kann Maßstäbe setzen, sollte jedoch nicht kanonisch aufzufassen sein.“[11]

Für den Hosenkampf ist ein eigener kleiner Raum eingerichtet. In der Mitte steht nach landläufiger Praxis ein Urlaubssouvenir, ein Mitbringsel von einer Nordlandreise Aby Warburgs. Das Objekt, eine hölzerne Schachtel, ist als Kunstobjekt ebenso zweifelhaft wie sein Sujet, sagen wir ruhig, schlüpfrig. Auf einer Brautschachtel aus Norwegen wird neben Blumenmotiven das Zerren von sieben Frauen in blauen Röcken um ein weißes Stück Stoff gezeigt. Durch eine Legende „Efter Spaadom stal syv Quinder xattes om en mans buxe“ und die Jahreszahl „1702“ wird das Stoffstück als eine Männer(unter)hose sichtbar. Warburg „vermachte“ den Gegenstein, das Kästchen, norwegisch: tine, den Berliner Museen, wo es sich heute im ethnologischen Museum Europäischer Kulturen befindet. Im Bilderatlas platzierte Warburg das Kästchen in dem Ensemble 32 neben Komödianten, einem Schachbrett, zwei Bechern und weiteren Darstellungen des Hosenkampfes aus dem Kupferstichkabinett.

Die volkstümlich anmutende Darstellung korrespondiert mit weit expliziteren und einem illustrierten Traktat des Hosenkampfes, bei dem es nicht nur um die Verehelichung einer jungen Frau in Konkurrenz zu anderen geht. Vielmehr werden auch sexuelle Praktiken dargestellt. Im Traktat bzw. „Satyrische(m) Gesicht“ verwandelt sich 1703 die erotische Bildkomposition in eine Lehre zur Eheanbahnung und Warnung der „Venus Knaben“ vor „Sieben Weiber(n)“ im Hosenkampf. Die bräutlichen Frauen, haben sich nun in „Sieben böße() Weiber“ verwandelt, die sich „umb ein Paar stinckende Manns-Büxen“ schlagen. Der Hosenkampf, den Aby Warburg durch seine Lektüren im Berliner Kupferstichkabinett gekannt haben könnte, findet im 18. Jahrhundert insofern auf verschiedene Weisen seine Legitimation und Auflösung. Auf der tine wird er mit der Formulierung „Laut Weissagung sollen sieben Frauen um die Hose eines Mannes streiten“ ungewöhnlich stark als soziales Wissen normalisiert. Möglicherweise hätte Aby Warburg ein Vergnügen daran gefunden, dass der Google-Algorithmus heute für „Hosenkampf“ zwar als erstes „Der Hosenkampf“ von circa 1555 aus der Lippenheideschen Kostümbibliothek der Berliner Kunstbibliothek (https://smb.museum-digital.de/index.php?t=objekt&oges=79846) listet, so dann aber Werbung für „Kampfhosen“ zeigt.  

Die „Kampfhosen“ für den „Hosenkampf“ verweisen auf den Algorithmus, der wenigstens hier gar nicht so geheim oder geheimnisvoll ist, wie Jörg Völlnagel in seinem Aufsatz vermutet. Gleich nach der hochangesehenen Institution der Staatlichen Museen Berlin und seiner Benennung – Der Hosenkampf – kommt die sprachliche Operation, das Kompositum „Hosenkampf“ umzustellen. Als Entweder-Oder-Operation bleibt es gleich, ob die Hosen vor oder nach dem Kampf stehen. Ein kulturelles Bildwissen wird vom Algorithmus ignoriert oder lässt sich möglicherweise schlecht programmieren. Die Werbung für „Kampfhosen“ dürfte unterdessen auf die eine oder andere Weise bezahlt sein. Legionen von Programmierer*innen sind nicht zuletzt damit beschäftigt, auf die eine oder andere Weise die „Kampfhose“ des (eigenen) Unternehmens möglichst weit im Google-Ranking nach vorne zu bringen. Während Völlnagel über die „undurchsichtigen Algorithmen der Google-Bildersuche, die der Konzern nicht von ungefähr aus denselben Motiven verbirgt wie Coca-Cola die Formel seiner braunen Brause“[12], mutmaßt, werden die Algorithmen auch ständig umgeschrieben.

Wir wissen nicht, wie Aby Warburg auf den Hosenkampf als Sujet des Komischen und Erotischen, Satirischen, wohl aber auch des Volkstümlichen gekommen ist. In gewisser Weise erscheint der Hosenkampf in der Konstellation 32 plötzlich. Er hat immerhin den Effekt, dass Warburg den Berliner Museen die tine vermacht, womöglich mit dem Wunsch, das Kästchen möge mit den Blättern aus dem Kupferstichkabinett zusammen verwahrt und bedacht werden. Die ordnende Museumspraxis hat allerdings bis zur aktuellen Ausstellung genau diesen Kontext auseinander gerissen. Erst über Warburg erschließt sich das Objekt aus der Sammlung Europäischer Kulturen als Hosenkampf der seit ausgerechnet der Renaissance mit der Heiratspraxis in Norwegen korrespondiert.

Das Thema der Melancholie wird von Aby Warburg auf ebenso vielfältige wie überraschende Weise aufgespürt. Neville Rowley nennt „Warburgs Beziehung zur Melancholie … besonders“.[13] Er zitiert eine Tagebuchnotiz, die einen Wink auf die kulturelle Verwobenheit des Bilderatlasses mit einem Wissen von sich selbst gibt. Die Motive und ihre Benennung haben immer auch mit dem Wissen der Menschen von sich selbst zu tun. Und Warburg ahnt, dass das nicht nur auf ihn selbst zutrifft, wenn er notiert:
„Manchmal kommt es mir vor, als ob ich als Psychohistoriker die Schizophrenie des Abendlandes aus dem Bildhaften in selbstbiographischem Reflex abzulesen versuche: die ekstatische Nymphe (manisch) einerseits und der trauernde Flußgott (depressiv) andererseits […].“[14]

Es ist nicht erst und nicht nur Albrecht Dürers Melancholia, in der ein Stimmungswissen in eine komplexe Bildkomposition als Rätsel gefasst und vorgeführt wird. Warburgs Mitarbeiter Erwin Panowsky entdeckte darin die Ambiguität. In Melancholia I wird nicht nur eine Stimmung, so leicht oder schwer sie ausfallen mag, vorgeführt, vielmehr wird auf eine Vielzahl von Wissensformen graphisch angespielt. Geometrie, Algebra, Astronomie, Chronologie, Alchemie, Christentum sind nur einige Wissensformen, die bildhaft arrangiert werden. Ein fragender Blick ins Leere des gleichwohl, indessen nicht mit Lorbeer, bekränzten, christologischen Engels geben in Melancholia I mehr Fragen an das Wissen des Menschen von sich selbst auf, als dass eine Wissensform gefeiert wird. Vor allem trägt der von Wissenselementen – Uhr, Glocke, Zirkel, Nägel, Haarkranz etc. – gerahmte Engel Flügel, die ihn immerhin fliegen lassen könnten, doch ihn nun auf einer Schwelle hockend niedergedrückt zeigen. Es ist nicht unmöglich, dass der Engel ironisch lächelt über all das Wissen, das ihm umgibt und doch ins Leere geht.

Die Melancholie korrespondiert nicht zuletzt mit der mythologischen Figur des Atlas, was sich im Bilderatlas Mnemosyne über mehrere Tafeln hinweg herstellen ließe, aber nicht von Aby Warburg auf einer Tafel arrangiert worden ist. Wenn man den Raum der Ausstellung in der Gemäldegalerie betritt, unterscheidet er sich schon durch die Lichtgebung von den angrenzenden, hellen der Gemäldegalerie. An zwei Pfeilern erscheinen Tafeln des Bilderatlasses. Die Objekte wie die dreigesichige Hekate aus Padua von ca. 1500 oder die byzantinische Glocke sind ausgeleuchtet, doch geheimnisvoll. Beschriftungen stellen Kontexte her. Doch was die Ausstellung im Raum von den anderen in der Gemäldegalerie unterscheidet, ist, dass sich der Berichterstatter eingeladen fühlt nicht nur den Bilderatlas zu sehen, vielmehr noch selbst Konstellationen herzustellen.

Torsten Flüh

ZWISCHEN KOSMOS UND PATHOS
Berliner Werke aus Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne
bis 1. November 2020
Gemäldegalerie, Kulturforum 

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Epochen: Antike, Renaissance
Berlin 2020, Paperback, 120 Seiten, 87 Farbabbildungen, 19,2 x 26,1 cm
29,- €

Aby Warburg: Bilderatlas Mnemosyne
Das Original
Neuer Termin: 04.09.–30.11.2020
Haus der Kulturen der Welt


[1] Michael Eissenhauer, Bernd Scherer, Bill Sherman: Grußwort. In: Neville Rowley, Jörg Völlnagel (Hrsg.): Zwischen Kosmos und Pathos – Berliner Werke aus Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne. Berlin: Deutscher Kunstverlag, 2020, S. 8.

[2] Jörg Völlnagel: Museum Total. Von der Utopie einer grenzenlosen Sammlung. In: Ebenda S. 16-40.

[3] Neville Rowley: Eine Berliner Reise durch Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne. Ebenda S. 61.

[4] Siehe Ebenda S. 59.

[5] Ebenda S. 47.

[6] Torsten Flüh: Big Data aus dem Zweistromland. Drei Vorträge über das Zukunftswissen im Rahmen der Mosse-Lectures. In: NIGHT OUT @ BERLIN Mai 23, 2016 20:16.

[7] Neville Rowley: Eine … [wie Anm. 3] S. 54.

[8] Zur Diskussion um das Museum vgl. auch: Torsten Flüh: Vom Museum und Wissenschaft der Moderne. Hans Beltings Vortrag »„Weltwissen“ ohne Kolonien« im Rahmen der Ausstellung WeltWissen. In: NIGHT OUT @ BERLIN Dezember 3, 2010 16:57.

[9] Georges Didi-Huberman: Atlas oder die unruhige Fröhliche Wissenschaft. Paderborn: Wilhelm Fink, 2016, S. 122.

[10] Jörg Völlnagel: Museum … [wie Anm. 2] S. 26.

[11] Ebenda S. 38.

[12] Ebenda S. 29.

[13] Neville Rowley: Eine … [wie Anm. 3] S. 90.

[14] Zitiert nach ebenda.

Sputnik 5 und Hegels Weltgeist

Geist – Archäologie – Geschichte

Sputnik 5 und Hegels Weltgeist

Georg Wilhelm Friedrich Hegel zum 250. Geburtstag und die Wiederkehr des Sputniks

Die Antikensammlung der Kunsthalle Kiel ist als Lehrsammlung der Christian-Albrechts-Universität durch Peter Wilhelm Forchhammer diskret mit Hegels Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie verknüpft. Er beförderte eine Materialisierung der philosophischen Literatur, indem er als Altphilologe die griechische Literatur las und an den archäologischen Fundstücken das Wissen von der Antike materialisiert fand. Nachdem 1833 Hegels Vorlesungen postum herausgegeben worden waren, bahnte sich ein neuartiges Wissen von der Geschichtlichkeit überhaupt und der der Philosophie seinen Weg in der Lehre. Forchhammer gehört zu den Ersten, die nach Athen reisten und 1837 in Hellenika – Griechenland – Im Neuen das Alte geo-graphisch wie geo-logisch erforschten: „Der Charakter der gesammten Formation Griechenlands, die größte Mannigfaltigkeit auf dem kleinsten Raum, schließt, wie einen Nachhall des Entstehens der festgewordenen Massen, den Charakter ursprünglicher Bewegung in sich.“[1]

Das Geschichtswissen kehrt als ein ebenso kausales wie komisches visuell und geschichtlich mit dem Namen Sputnik 5 in der aktuellen Covid-19-Pandemie wieder. Die fatale Geschichtslosigkeit von Sars-Cov-2, das plötzliche Auftauchen eines neuartigen, sich rasend schnell in der Welt verbreitenden, teilweise tödlichen Virus wird in eine post-sowjetische Erfolgsgeschichte verwandelt. Im Wettlauf um den ersten wirksamen Impfstoff beruft sich ein russisches Investment-Unternehmen auf das Narrativ der sowjetischen Raumfahrt von 1957. Die Heilsgeschichte greift weit zurück, liefert eine animierte Aktualisierung und verspricht als Nachhall einstiger, imperialer Größe die Lösung eines globalen Problems. Ob die Testreihen bereits erfolgreich waren, mag dahin gestellt bleiben. Der Glaube an die vielversprechende Wirkung eines Geschichtswissens wird medial mit allen Möglichkeiten gefördert. Sputnik 5 könnte sich als ebenso machtvoll wie ohnmächtig erweisen.   

In meiner Besprechung kombiniere ich zwei aktuelle Ereignisse, die ein geschichtliches Wissen auf besondere Weise entwickeln, verarbeiten und zur Darstellung bringen. Einerseits geht es um den 250. Geburtstag von Georg Wilhelm Friedrich Hegel, auf den das Genre der Autobiographie und das des Feuilletons mehr oder weniger glücklich reagieren. Dafür wird ein geschichtliches Wissen in Anschlag gebracht. Andererseits geht es um eine gespenstische Wiederkehr eines Geschichtswissens, das in seiner Verkopplung mit einem Vorwissen in Deutschland schnell als lächerlich wahrgenommen worden ist. Am 11. August 2020 wurde in den Hauptnachrichtensendungen von ARD und ZDF über die Zulassung des ersten Impfstoffes gegen Sars-Cov-2 weltweit durch die Russische Föderation mit Unterstützung Vladimir Putins höchst persönlich berichtet.[2] An der Grenze zur Verschwörungstheorie wurde die russische Erfolgsmeldung sofort mit dem allgemein verbreiteten „Corona-Wissen“ überprüft und verworfen.

Thomas Assheuer hat sich im Feuilleton der ZEIT mit dem Hegelschen Weltgeist beschäftigt: „Was macht der Weltgeist?“ Er erklärt den Weltgeist, als verstehe er sich fast von selbst: „Denken verändert das Handeln, und irgendwann, nach Jahrtausenden seiner Wanderschaft, erreicht der Geist als »Weltgeist« sein Ziel: die Verwirklichung von Vernunft und Freiheit.“[3] Der Philosoph Lutz von Werder hielt im Februar 2020 ein Philosophisches Café im Literaturhaus Berlin ab und sprach ebenfalls über Geist und Weltgeist. Er meinte gar, dass der Weltgeist sich heute im Internet befände. Doch ist der Geist, wenn Hegel davon schreibt, mit einem positiven Wissen gleichzusetzen? Wirkt der Weltgeist in seiner ganzen Widersprüchlichkeit im World Wide Web als schwankendes Wissen, das eben keinesfalls von „Vernunft und Freiheit“ bestimmt wird? Wissen und Geist dienen Hegel nicht zuletzt in seiner Einführung zur Geschichte der Philosophie als Abgrenzung gegen andere Geschichten:
„Denn bei Gedanken, besonders bei spekulativen, heißt Verstehen ganz etwas Anderes als nur den grammatischen Sinn der Worte fassen und sie in sich zwar hinein, aber nur bis in die Region des Vorstellens aufnehmen. Man kann daher eine Kenntnis von den Behauptungen, Sätzen oder, wenn man will, von den Meinungen der Philosophen besitzen, sich mit den Gründen und Ausführungen solcher Meinungen viel zu thun gemacht haben, — nämlich das Verstehen der Sätze. Es fehlt daher darum nicht an bändereichen, wenn man will, gelehrten, Geschichten der Philosophie, welchen die Erkenntnis des Stoffes selbst, mit welchem sie sich so viel zu thun gemacht haben, abgeht. Die Verfasser solcher Geschichten lassen sich mit Thieren vergleichen, welche alle Töne einer Musik mit durchgehört haben, an deren Sinn aber das Eine, die Harmonie dieser Töne, nicht gekommen ist.“[4] 

Hegel polemisiert entschieden gegen „Verfasser solcher Geschichten“, die „nur den grammatischen Sinn der Worte fassen“, während Grammatik im Form der Semantik im zum Semantic Web erweiterten World Wide Web für die Lesbarkeit von Suchmaschinen heute alles ist. Die Künstliche Intelligenz besteht sozusagen aus Semantik und nicht aus „Gedanken“. Doch bei Hegel sind die Gedanken das, was den Menschen vom Tier unterscheidet. Hegel will mehr Geschichte oder verspricht zumindest mehr davon, wenn wir einmal die postume Herausgabe der zum Großteil mündlichen Vorlesungen durch Karl Ludwig Michelet als „Geschichte der Philosophie“ gelten lassen wollen. Die Mündlichkeit der Vorlesungen und die „Zusätze“[5] am Rand, die Michelet bei der Herausgabe normalisiert, geben einen Wink auf die flüchtige Prozessualität der Vorlesungen, wenn Hegel „eine reiche Sammlung von Kollektaneen, Exzerpten aus englischen und französischen Werken über den Orient überhaupt, von der die betreffenden, mit kurzen Randnotizen versehen, auf das Katheder genommen, um frei aus ihnen vorzutragen, Theils unmittelbar mündlich sie übersetzend, Theils einstreuend seine Bemerkungen und Urtheile“.[6] Eine gewisse Flüchtigkeit wird bei allen individuellen Kollektaneen, Manuskripten, Heften und Sammlungen für Hegels Vorlesungen konstitutiv gewesen sein.

Die Flüchtigkeit verläuft gerade nicht nach dem „grammatischen Sinn“. Denn dieser stellt sich nicht nur nach den Regeln der Grammatik her, er lässt sich auch lesen und verstehen. Doch genau dadurch hat das grammatische Verstehen bei Hegel eine entwertende Funktion, insbesondere für das Wissensformat der Geschichte. Ob der Geist als „Weltgeist“ überhaupt jemals an ein Ende kommen wird, sich eben nicht durch Suchanfragen auf Suchmaschinen enthüllen lässt, kann als eher unwahrscheinlich gedacht werden. Denn Stillstand und Festlegung werden in der Geschichte der Philosophie einleitend eher ausgeschlossen oder als negatives Beispiel formuliert. Als Negativbeispiel führt Hegel ausgerechnet China als „Nation“ an, das noch im 17. und 18. Jahrhundert für die europäische Philosophie z.B. bei Leibniz als anregend gegolten hatte.
„Bei einer einzelnen Nation mag es wohl der Fall seyn, daß ihre Bildung, Kunst, Wissenschaft, – ihr geistiges Vermögen überhaupt statarisch wird; wie dieß etwa bei den Chinesen z. B. der Fall zu seyn scheint, die vor zweitausend Jahren in allem so weit mögen gewesen seyn, als jetzt. Der Geist der Welt aber versinkt nicht in diese gleichgültige Ruhe. Es beruht dieß auf seinem einfachen Begriff. Sein Leben ist That. Die That hat einen vorhandenen Stoff zu ihrer Voraussetzung, auf welchen sie gerichtet ist, und den sie nicht etwa bloß vermehrt, durch hinzugefügtes Material verbreitert, sondern wesentlich bearbeitet und umbildet.“[7]

„Der Geist der Welt“ ruht nicht, vielmehr lebt er als „That“ und Tun, womit die Aufmerksamkeit auf ihn als permanente Aktivität gelenkt wird. Diese Aktivität des Geistes beschreibt Hegel als ein Vermehren, Verbreitern, Bearbeiten und Umbilden. Hinsichtlich der Frage nach der Geschichte, der Hegel in seiner Einleitung außerordentlich viel Beachtung schenkt, zieht der Weltgeist selbst seine Bahn. Doch Peter Wilhelm Forchhammer in Kiel will die Flüchtigkeit des Weltgeistes durch seine Aktivität nicht gelten lassen. Deshalb knüpft er an ein anderes als das philosophische und geschichtliche Wissen an, das um 1800 für den Menschen wichtig wird. Es sind dies die Geowissenschaften als Geografie und mehr noch die Geo-logie, an der sich Zeitalter des Lebens auf der Erde ablesen lassen, wie es Alexander von Humboldt und Christian Gottfried Ehrenberg an der Geologie der Platovskischen Steppe während ihrer Russland Reise 1829 erforscht haben.[8] Forchhammers älterer Bruder Johann Georg machte sich in den 1830er Jahren einen Namen als Geologe an der Seeakademie in Kopenhagen. Peter Wilhelm Forchhammer befindet sich 1837 an einer Schnittstelle des Wissenstransfers, an der sich Altphilologie und Geologie auf neuartige Weise überschneiden, um die moderne Archäologie zu begründen. Dieser Überschneidung verdankt die Antikensammlung der Christian-Albrechts-Universität, die später in eine Kunsthalle transformiert worden ist, ihren Aufbau. In Apollons Ankunft in Delphi: Eine archäolog. Abhandlung formuliert Forchhammer 1840 sein neuartiges Verständnis der Archäologie von einer „Erklärung der Mythologie“ her.
„Ich werde das vorliegende Bildwerk benutzen, um von solcher Lösung ein Beispiel zu geben, indem ich den bisher unerklärten Mythos  v o n  d e r  B e s i t z n a h m e  d e s D e l p h i s c h e n  O r a k e l s  durch Apollon erkläre. Und sofern der Theil zugleich das Ganze ist, soll diese Erklärung des Delphischen Mythos zugleich eine Erklärung der Mythologie, sofern sie ein Ganzes ist, enthalten.“[9]      

Forchhammer formuliert seine neuartige Archäologie mit einem Nachhall der Hegelschen Rede vom Geist und Geist der nunmehr griechischen Welt, ohne Hegel namentlich zu zitieren. Stattdessen ist das schmale Heft die Niederschrift eines Vortrages an Winckelmanns Geburtstag, dem 9. Dezember 1840, in der „Akademischen Aula zu Kiel“. „Schriftwerke“, „Bildwerke“ und der „Mythos“ als „Vorstellung“ wirken aufeinander ein, um den „unerklärten Mythos“ zu verstehen.  
„Ich habe in … (Hellenika, T. F.) durch eine Menge Mythen und durch eine ins Einzelnste gehende Erklärung derselben nachgewiesen: dass die Götter der Griechischen Religion geistige Wesen sind, welche sich in der körperlichen Natur offenbaren, und namentlich in den Theilen der Natur, welche sich  b e w e g e n  und sich verändern, dass  j e  d e  H a n d l u n g  d i e s e r  G e i s t e r  e i n e r  B e w e g u n g  d e r  m a t e r i e l l e n  N a t u r  e n t s p r e c h e, d a s s  w i e  d i e  B e w e g u n g  i n  d e r  N a t u r  j e d e s  J a h r  ( u n d  z u m  T h e i l  j e d e n  T a g) erneuert, so die ganze Göttergeschichte sich in demselben Zeitraum wiederholt; dass daher bald der eine Gott, bald der andere an einem Ort gegenwärtig ist, bald der Gott des Regens, bald die Göttin der heiteren Luft, bald die Göttin der Wolken, bald der Gott der Sonne, bald der Gott der Erdbewässerung, bald der Gott der Entwässerung; dass jedem Gott im Jahrescyclus sein Fest, sein c y c l i s c h e s  Fest zu der Zeit gefeiert wurde, wann er durch sein Erscheinen in der materiellen Natur sich gegenwärtig zeigte, …“[10]

Der Zug der Materialisierung des Geistigen und der Geister in der Natur sticht in Forchhammers Archäologie ausgerechnet mit dem Bild auf der Rückseite eines etruskischen Spiegels hervor. Man könnte sagen, dass er der Archäologie und Phänomenologie den Spiegel vorhält. In das Jahr der Rede fallen seine ersten Bemühungen, in der ausgebrannten Kapelle des Kieler Schlosses eine Antikensammlung einzurichten. Was gleichsam als praktische Lösung in der Nähe der (alten) Kieler Universität erscheint und so weiterhin kolportiert wird, ist zugleich eine, sagen wir, geistige Umwidmung. Wo der christliche Gott gefeiert wurde, wird ab 1841 die Altphilologie als Wissenschaft materiell mit der Antikensammlung gefeiert. Forchhammer ist nicht einfach Materialist, vielmehr geht es ihm um die Materialisierung des Geistigen als Wissensoperation. Der „Geist belebt“ alles und macht sich alles „unterthan“.
„Die Religion der Griechen ist weder Naturlehre noch Moralphilosophie noch Psychologie, aber sie ist alles dies zugleich und ausserdem ist sie hauptsächlich  R e l i g i o n. Sie ist die Religion des Weltalls, der Natur als Offenbarung des Geistes. Ihr ist nirgends ein kleinstes Bruchstück von Natur, kein Tropfen und kein Sandkorn, der nicht von Geist belebt, und ihm unterthan ist.“[11]   

Für die Geschichte der Philosophie von Hegel war Perikles eine entscheidende Figur geworden. Da es Forchhammer weniger um eine Philosophie der Individualität im Staat geht, nimmt Perikles in seinen Schriften keine vergleichbare Funktion ein. Doch Hegel diskutiert und konstruiert um Perikles eine Geschichte des Staates und der Individualität. Perikles findet sich nicht zuletzt deshalb mehrfach in der Kieler Antikensammlung. Obwohl Perikles kein Philosoph war, wird ihm in Athen als idealen Staat eine herausragende Funktion für die Geschichte der Philosophie zuteil. Perikles geht nach Hegel in der Funktion des Staates auf, indem er „nie gelacht“ habe.
„In diesem edlen, freien, gebildeten Volke der Erste des Staats zu sein, – dies Glück wurde Perikles, und dieser Umstand erhebt ihn in der Schätzung der Individualität so hoch, wie wenige Menschen gesetzt werden können. Von allem, was groß unter den Menschen ist, ist die Herrschaft über den Willen der Menschen, die einen Willen haben, das Größte, denn diese herrschende Individualität muß wie die allgemeinste, so die lebendigste sein, – ein Los für Sterbliche, wie es wenige oder keins mehr gibt. Die Größe seiner Individualität war ebenso tief als durchgebildet, ebenso ernst (er hat nie gelacht) als energisch und ruhig; Athen hatte ihn den ganzen Tag.“[12]

Perikles wird bei Hegel zu einer Chiffre für das Problem der Individualität. Denn einerseits wird Perikles durch seine Individualität zum „Erste(n) des Staates“, andererseits zeichnet ihn die Position als „Erste(r) des Staates“ in seiner Individualität allererst aus. Die Individualität des Perikles erzählt Hegel als eine Ungeteiltheit, lat. individuum als Verneinung mit dem Präfix in zum lateinischen Verb dividere, ein Ganzes in Teile zerlegen, vom Staat. Perikles geht insofern ganz im Staat auf. Oder: „Athen hatte ihn den ganzen Tag“. Doch dann gibt es für Perikles in seiner Individualität nichts anderes mehr als Athen. Hegel zitiert keine Reden des Perikles, vielmehr wird er für ihn zu einem „Schwebepunkt“ nicht zuletzt in der Ununterscheidbarkeit von „herrschender Individualität“ und Gemeinwesen.  
„Von Perikles sind uns bei Thukydides einige Reden an das Volk erhalten, denen es wohl wenige Werke an die Seite zu setzen gibt. Unter Perikles findet sich die höchste Ausbildung des sittlichen Gemeinwesens, der Schwebepunkt, wo die Individualität noch unter und im Allgemeinen gehalten ist. Gleich darauf wird die Individualität übermächtig, indem ihre Lebendigkeit in die Extreme gefallen, da der Staat noch nicht als Staat selbständig in sich organisiert ist. Indem das Wesen des athenischen Staats der allgemeine Geist, der Religionsglaube an dies ihr Wesen war, so verschwindet mit dem Verschwinden dieses Glaubens das innere Wesen des Volks, da der Geist nicht als Begriff wie in unseren Staaten ist. Der rasche Übergang hierzu ist der νοῦς, die Subjektivität, als Wesen, Reflexion in sich, – nicht Abstraktion.“[13]

Obschon in vielen Bildwerken verkörpert, insistiert Hegel mit Perikles auf eine Undarstellbarkeit der Individualität. Denn diese gibt es nur in dem Maße, wie die Herrschaft des Perikles „höchste Ausbildung des sittlichen Gemeinwesens, …, wo die Individualität noch unter und im Allgemeinen gehalten“, ermöglicht und in einer, sagen wir ruhig, geistigen Schwebe gehalten wird. Einerseits ist der „Schwebepunkt“ als Hegelscher Neologismus, als freie Kombination aus Schwebe und Punkt, genau jener temporale Punkt in der Geschichte, bevor die Individualität „übermächtig“ wird. Andererseits wird dieser „Schwebepunkt“ damit beschrieben, dass „der allgemeine Geist“, der nicht einfach ein Konsens, sondern ein „Wesen des athenischen Staates“ ist, herrsche. Wir wissen nicht, ob und wo Hegel jemals eine Büste des Perikles gesehen hat. Zwar erlebte Hegel 1830 die Eröffnung der Antikensammlung im Alten Museum unweit seiner Berliner Wohnung und der Berliner Universität[14], aber der „Einsatzkopf“ des Perikles gelangte erst 1901 in die Sammlung.

Hegels Konstruktion des Perikles an einem „Schwebepunkt“ gibt einen Wink auf literarische Wissenskonstruktionen der Moderne, die nachleben. Die erstaunliche und gewissermaßen plötzliche Wiederkehr des Sputnik-Narrativ als Name für den ersten Impfstoff der Welt gegen Sars-Cov-2 inklusive Animation und piependem Sonden-Sound war zutiefst „ernst“ gemeint. Technisch aufwendig und unter dezidiert geschichtlicher Bezugnahme formulieren Vladimir Putin, die Russische Föderation, das nationale Zentrum für Epidemiologie und der Russian Direct Investment Fund auf  https://sputnikvaccine.com/ den Durchbruch in der Impfstoffforschung. In einer freien Kombination der Wissensgeschichte wird ausdrücklich Bezug genommen auf den sogenannten Sputnik-Schock bzw. „Sputnik-Moment“ vom 4. Oktober 1957, als die Sowjetunion den ersten Satelliten in den Orbit schoss. Die Titelseiten von Los Angeles Times und New York Times illustrieren den „Sputnik-Moment“ ebenso wie eine „Sputnik-Burger“-Werbung. Sputnik beschwört im Russischen nicht nur als Спутник für Weggefährte, Begleiter eine Gemeinschaft, vielmehr noch den ersten Schritt der Befreiung des Menschen von seiner Erdgebundenheit durch Vernunft und Wissenschaft. Der spezifisch Russische Kosmismus erhielt seine erste Materialisierung.

Sputnik 5 befreit nun den Erdball aus dem Griff des Corona-Virus. Die Kombination von animierter Virus-Darstellung, historischer Raumsonde und Impfstoff könnte man durchaus abenteuerlich nennen, wenn das Animations-Video nicht exakt jene Narrative transformiert und kombiniert, die zu den Grundfragen der Moderne gehörten und die im Russischen Kosmismus verhandelt werden.[15] Wo beginnt das Leben? Welches Verhältnis von terrestrischen und extraterrestrischen Leben bestimmt unsere Wahrnehmung? Woher kommt überhaupt das menschliche Leben? Wie lässt sich das Leben des Menschen unendlich verlängern? Wie lässt sich der Tod besiegen? Während einerseits im Zuge der Covid-19-Pandemie evangelikale Christen in den USA, Brasilien und sicher auch anderswo die Gefährlichkeit des Virus‘ ebenso wie die Evolution leugnen, setzt Moskau auf einen positiven Wissenschaftsglauben nach der Logik des Wettbewerbs, nicht ohne mit dem Investment an kapitalistische Wertschöpfungsketten anzudocken. In Sputnik 5 wird eine Wissensmontage gefeiert, die für sich den Weltgeist als Farce in Anspruch nicht.

Es sind Geister oder Wiedergänger, Gespenster, die medial weniger das Wissen von der Covid-19-Pandemie und dem Virus strukturieren, als in unzählige Meinungscluster aufspalten. Vor allem gegen die Meinungen argumentierte und polemisierte Hegel. Im Unterschied dazu positionierte er das Wirken des Geistes. Doch mit dem bekommt man nun gerade keine klaren Antworten oder Meinungen. Vielmehr führt er an entscheidender Stelle den „Schwebepunkt“ ein. Den muss die Menschheit als Wissen von sich selbst auch aushalten können. Denn während die post-sowjetische Kapsel Sputnik 5 zum Impfstoff transformiert wird und vice versa, müssen gerade gewissenhafte Epidemiologen und Virologen es aushalten, dass sie noch keinen Impfstoff haben. In dem meinungsbildenden, russischen Nachrichtenstudio wird die Impfgeste kombiniert mit einer ausgeklügelten Darstellung des Corona-Virus, als könne man ihn so unter einem Mikroskop sehen.

Nachrichtenstudios sind immer auch visuelle Inszenierungen der Nachrichten und Meinungen. Das russische Nachrichtenstudio zeichnet sich im Unterschied zu denen von heute journal und tagesthemen dadurch aus, dass eine Art Schaltzentrale mit mehreren Monitoren im Hintergrund, an denen Journalistinnen und Journalisten sitzen, inszeniert wird. Der Nachrichtensprecher bzw. Moderator oder anchorman wird scheinbar von einer ganzen Reihe ihm zuarbeitender Personen unterstützt, während doch gerade die russischen Staatsmedien als hierarchisch organisiert gelten dürfen. Berichtet wird, wovon berichtet werden soll. Insofern ist Sputnik 5 keine privatwirtschaftliche oder künstlerische Konstruktion. Vielmehr treffen in ihm ideologische Narrative zusammen. Mit dem Anspruch der Erste sein zu wollen, wird ein hegemonialer Machtanspruch formuliert und dargestellt, so komisch dessen Darstellung ausfallen mag.

Torsten Flüh


[1] Peter Wilhelm Forchhammer: Hellenika – Griechenland – Im Neuen das Alte. Berlin: Nikolaische Buchhandlung, 1837, S. 1.

[2] Siehe Tagesthemen Mediathek vom 11.08.2020.

[3] Thomas Assheuer: Was macht der Weltgeist? In: Die Zeit vom 6. August 2020, S. 41, Hamburg 2020.

[4] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Geschichte der Philosophie. Erster Band. Herausgegeben von Karl Ludwig Michelet. Berlin: Duncker und Humblot, 1833, S. 9.

[5] Ebenda S. VI.

[6] Ebenda S. IX.

[7] Ebenda S. 13.

[8] Siehe Torsten Flüh: Leben und Tod in der Platovskischen Steppe. Zu Alexander von Humboldt und Russland in der Botschaft der Russischen Föderation. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juni 25, 2015 21:04.

[9] Peter Wilhelm Forchhammer: Apollons Ankunft in Delphi: Eine archäolog. Abhandlung. Kiel: Schwers, 1840, S. 4. (Digitalisat).

[10] Ebenda S. 9.

[11] Ebenda S. 29-30.

[12]  Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Geschichte … [wie Anm. 4] S. 387.

[13] Ebenda S. 387.

[14] Siehe auch: Torsten Flüh: Der Geist der Maschine. Zu Georg Wilhelm Friedrich Hegels Kunstphilosophie und der Granitschale vor dem Alten Museum. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. Mai 2020.

[15] Zum Russischen Kosmismus siehe: Torsten Flüh: Über die literarische Vollendung des Materialismus im Russischen Kosmismus. Zur Ausstellung Art Without Death: Russischer Kosmismus im HKW. In: NIGHT OUT @ BERLIN October 6, 2017 14:37.

Wink aus einer Zeit davor – Jahrbuch Sexualitäten 2020

Comic – Homophobie – Rechtspopulismus

Wink aus einer Zeit davor

Zur Release Party des Jahrbuchs Sexualitäten 2020 unter Beachtung der „Corona-Regeln“

Das Editorial zum Jahrbuch Sexualitäten 2020 haben Jan Feddersen, Benno Gammerl, Rainer Nicolaysen und Benedikt Wolf als Herausgeber „im Februar 2020“ abgeschlossen. Am 17. Juli fand immerhin eine Release Party in der PS 120 Galerie an der Ecke Potsdamer Straße und Kurfürstenstraße über der Woolworth-Filiale statt. Es wurden Masken getragen und Abstand auf den Bänken gehalten. Es war folglich etwas weniger Party und mehr Release. Seyran Ateş und Ralf König himself waren als Stargäste erschienen. Am 8. August feierte Ralf König seinen 60. Geburtstag, doch nicht wegen des nahenden runden Geburtstages war er dabei. Vielmehr hat Ralf König 2015 ein großformatiges „LGBTQI-Fresko“ an einer Brüsseler Hauswand aufbringen lassen, das schnell berühmt wurde. Doch seit August 2018 haben queere Aktivist*innen mit roter Farbe „TRANSPHOBIE!“ und „RACIST!“ auf zwei Comicfiguren gesprüht.

Das Jahrbuch Sexualitäten genießt mittlerweile eine hohe Verbreitung in der Forschung zu queeren Sexualitäten und ist als deutschsprachiges Periodikum von einer beachtlichen Anzahl Universitäten in den USA abonniert worden. Forschung in Jahrbüchern unterliegt einer gewissen Verzögerung und Nachträglichkeit, insbesondere dann, wenn es um kulturelle Ereignisse geht. Denn wie sich gerade medial beobachten lässt, erleben wir in der Infektionsmedizin eine Art Turboforschung über Online-Fachjournale, mit der zeitgleich Politik gemacht wird. Die Entwicklung eines Impfstoffes gegen Sars-Cov-2 wird zum globalen Forschungs- und Medien-Event. Währenddessen enthält das Jahrbuch Sexualitäten 2020 den Aufsatz PrEP als demokratische Biopolitik von Karsten Schubert, der noch am 7. Februar 2020 im TAZ Neubau auf der Friedrichstraße die entsprechende Lecture zum prophylaktischen Umgang mit dem Lentivirus HIV gehalten hatte. Ein Durchbruch schien es. Dann kam Sars-Cov-2 aus China nach Europa und in die ganze Welt, das selbstverständlich ebenfalls durch Sexualpraktiken übertragen werden kann.

In meiner Besprechung des Jahrbuchs werde ich später auf den Aufsatz von Karsten Schubert zurückkommen. Auf der Release Party wurden einige Beiträge von Fürsprecher*innen vorgestellt. Das Jahrbuch Sexualitäten 2020 ist „coronafrei“, um es gleich einmal so zu formulieren. Anfang August 2020 ist das zumindest eine auffällige Unzeitgemäßheit, die dem akademischen Format Jahrbuch geschuldet ist. Trotzdem sind der Essay von Adrian Daub, Homophobie ohne Homophobe, die vier Queer Lectures, das Gespräch von Jan Feddersen mit Seyran Ateş, die sieben Miniaturen und sechs Rezensionen wie in den ersten vier Ausgaben hochkarätig und aktuell. Adrian Daubs Essay könnte nicht aktueller sein, weil nicht nur das Rassismus-Problem von Donald Trump offensichtlich aufgebrochen ist, vielmehr hat er weiterhin ein Homophobie-Problem, das abermals Richard Grenell, Ex-Botschafter der Vereinigten Staaten von Amerika in Berlin, im Wahlkampfteam richten soll. Schließlich hatte Grenell den Botschafterposten erhalten, weil er 2016 im Team schwule Wähler für Trump mobilisiert hatte. Jetzt fühlt er sich immer noch und wieder „humbling“ im Oval Office mit Donald Trump.[1]   

Wie lassen sich Homophobie und der Erfolg offen lesbischer und schwuler Politiker*innen wie die Co-Vorsitzende Alice Weidel von der AfD in rechtspopulistischen Parteien einordnen? Einerseits wird Politik gegen Rechte von Schwulen und Lesben sowie „Gender-Wahnsinn“ gemacht. Andererseits umwerben die Wahlkampfstrategen von AfD und Donald Trump „Homosexuelle“ als wichtige Wählerschaft. Adrian Daub ist Professor of German Studies and Comparative Literature an der Stanford University und forscht zu Sexualität und Kultur im langen 19. Jahrhundert. In seinem Essay hält er es für „bedenkenswert“, dass und warum „bestimmte schwul-lesbische Wähler für diese Parteien ansprechbar sind“[2] und nennt dafür drei Gründe. Erstens denke „die Wählerschaft der Rechten gerade in Deutschland und in den USA weiterhin homophob“, zweitens sei „die Präsenz schwuler und lesbischer Wähler*innen und Politiker*innen bei den Rechtsextremen deshalb interessant, weil das Fehlen offen homophober Politik, das demonstrative Achselzucken gegenüber Fragen von Sexualität (…), oft als eine Differenz zwischen den neuen und den alten Rechten angeführt wird“.[3] Und drittens sei „diese neu entdeckte Beißhemmung einigermaßen überraschend, weil Homophobie unter den Wählern der neuen Parteien sehr wohl präsent und wohl auch identitätsstiftend zu sein scheint“.[4] 

Adrian Daub beginnt seine Rekapitulation über das widersprüchliche Engagement von schwul-lesbischen Wähler*innen und Politiker*innen für neurechte Parteien mit dem Auftritt des deutschstämmigen Investors und Internet-Milliardärs Peter Thiel am 21. Juli 2016 bei den Republikanern. Es ist nicht auszuschließen, dass Richard Grenell im Wahlkampfteam sozusagen als Buddy und Insider genau für diesen Auftritt gesorgt oder ihn zumindest für die Wahlkampfveranstaltung organisiert hatte. Doch auf Grenell geht Daub nicht ein, obwohl schwules Networking durchaus zur internationalen Politik gehört. Er sieht Peter Thiels Auftritts als einen „Meilenstein“[5], weil dieser vor den konservativen „Granden“ der Republikaner seinen Stolz, „schwul zu sein“, für Donald Trump in den Wahlkampf geworfen hatte, obwohl er noch 2007 eine vernichtende Prozessflut gegen das Onlinemagazin „Gawker“ führte, das behauptet hatte, er sei „totally gay“. Daub geht es um eine „Halbpräsenz, um das Zwielicht des Homophoben ohne offene Homophobie“.[6] Dafür widmet er sich der „Kippfigur“[7] Lindsey Graham, dem republikanischen Senator und Vorsitzenden im Justizausschuss des Senats der Vereinigten Staaten von Amerika, von dem jeder annehme, dass er schwul sei.

Als Vorsitzender des Justizausschusses seit 3. Januar 2019 dürfte Lindsey Graham zwischenzeitlich, nicht zuletzt durch die Förderung von Donald Trump und als Republikaner, der höchstrangige Schwule in der Trump-Administration sein, von dem nach Daub alle wissen, dass er schwul ist, er es aber nicht sagt, sich nicht als queer labelt oder gar den „Gender-Wahnsinn“[8] unterstützt. Der republikanische, also grundkonservative Senator für South Carolina wird nicht zuletzt seine Funktion erhalten, haben, weil er rhetorisch geschickt am 27. September 2018 im Berufungsverfahren von Brett Kavanaugh zum Richter des Obersten Gerichtshofes des Vereinigten Staaten Christine Blasey Ford ins Kreuzverhör nahm. Lindsey Graham profilierte sich damit ganz offenbar für den nächsten Karrieresprung. Daub schreibt über Lindsey:
„Anstatt die alten Maßstäbe zumindest alibihaft zu erfüllen, griff er die Maßstäbe selber an. Wahrheit und Unwahrheit hatten ihre Geltung eingebüßt, was zählte waren Angriff und Verteidigung. Er mimte für die Kameras den Bösewicht, gestikulierte und verstieg sich zu rhetorischen Kapriolen. Susan Sontag hätte die Vorstellung als »camp« bezeichnet: eine melodramatische, schmierige Veranstaltung, die mit solcher Inbrunst dargeboten wurde, dass sie eigentlich nur noch ironisch wirken konnte. Mit zornbebender Stimme und wilder Gestik bezeichnete er die Vorwürfe gegen Kavanaugh als »unethischen Betrug«, erklärte Kavanaugh zum Märtyrer, der »durch die Hölle gegangen« sei, und warf seinen demokratischen Kollegen entgegen, sie »wollten nur Macht, und ich hoffe, sie bekommen sie nie wieder«.“[9]  

In seinem Essay untersucht Adrian Daub mit der Frage nach der Queerness und den Diskussionen der Queer Theory drei „Optionen“, weshalb sich Graham als Schwuler in der republikanischen Partei derart verhalten habe. Er verwirft die „psychoanalytische Deutung“, dass sich der „schwule Mann (…) zum Rammbock einer Männlichkeit“ gemacht habe, „die ihm die Gesellschaft öffentlich abstreitet, indem er sich mit dem Patriarchat überidentifiziert“.[10] Ebenso wird die zweite Option, dass Graham es zum eigenen strategischen Nutzen getan habe, weil der „Neokonservatismus US-amerikanischer Prägung (…) immer das Versprechen der Ausgrenzungstransfers“ enthalten habe, bezweifelt. Die dritte Option hält er für die „vielversprechendste Deutung“, denn es werde „weithin angenommen – auch unter seinen Wählern –, dass er schwul ist, aber öffentlich aussprechen darf man es natürlich nicht“.[11] Graham profitiert als konservativer Politiker insofern von einem opaken Wissen um die sexuelle Identität seiner Person. Queerness wurde in der Queer Theory in Amerika immer auch in einer Variante als sozusagen systemerhaltenden Strategie diskutiert, worauf Daub ausführlicher eingeht. „Money talks“, wird dafür gern eingeworfen, als verändere queeres Geld die Verhältnisse zumindest für die Schwulen.

Wahrscheinlich hat Donald Trump sehr wohl die queere Praxis und nicht nur die Redewendung „money talks“ verstanden. Es geht um eine Art „deal“: Lässt Du mich und meine Interessen in Ruhe, dann spende ich Geld für Deinen Wahlkampf und trete sogar als Zeuge für Dich auf, dass Du für Schwule wählbar bist. Dadurch werden allerdings auch schwierige Abhängigkeitsverhältnisse geschaffen. Das opake Wissen kann sich gegen politischen Geschäftspartner wenden. Denn Graham sei u.a. mit seinem Einsatz für das Migrationsgesetz mehrfach wegen der geleugneten Homosexualität mit „Zeichen seiner Erpressbarkeit und Vorhersagbarkeit“ konfrontiert gewesen.[12] Zweifelsohne erfüllt Lindsey Graham als „Kippfigur“ für Donald Trump und den Neokonservatismus, wenn nicht gar exemplarisch für den „Rechtspopulismus“ der AfD oder auch Marine LePens FN eine wichtige politische Funktion:
„Indem universelle Prinzipien zur partikularen Identität umfunktioniert werden, wird die Forderung nach Toleranz zum Rammbock der Intoleranz.“[13]

Es gibt eine Dialektik im Wunsch nach politischer Macht von, sagen wir vorsichtig, Homosexuellen und einer Lust an der Leugnung der Identität als universelles Prinzip. Man könnte dies eine nicht ungefährliche Eitelkeit in der politischen Praxis homosexueller, insbesondere neokonservativer Politiker*innen nennen, die politisch wirksamer wird, je weniger sie sie thematisieren. Guido Westerwelle ging mit seiner Homosexualität offen um. Jens Spahn hat sie nicht verheimlicht, aber auch nicht strategisch zum Thema gemacht. Wie inszeniert Richard Grenell seine queere Macht auf seinem Instagram-Konto? Er steht im Anzug lässig doch zugleich geschäftig mit seinem linken Daumen zwischen Gürtel und Hosenbund vor dem sitzenden Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, um zugleich sprachlich seine Hochachtung vor dem Oval Office als Zentrum der politischen Macht zu bekunden: „It’s still humbling to be in the Oval Office speaking to the President of the United States.“ Darauf ist mit anderen Worten der EX-Diplomat als Schwuler wahnsinnig stolz. Er überhöht die politische Macht, während es nun wirklich nicht gut mit dieser aussieht.

Die politische Macht ist nicht nur von einem Ort und einer Person abhängig, vielmehr erweist sie sich an den Erfolgen oder dem Versagen in Krisensituationen. Wird eine Krise, die wie die Covid-19-Pandemie einer Naturkatastrophe gleichkommt, durch die Politisch-Verantwortlichen offenkundig nicht bewältigt, erodiert die Macht. Selbst Machtpolitik unterliegt der nicht zuletzt ökonomischen Realität als Lackmustest. Denn es ist immerhin und ausgerechnet Lindsey Graham, der sich aktuell für die Strategie des amerikanischen Chef-Immunologen Anthony Fauci und gegen Donald Trumps Politik in der Covid-19-Pandemie ausgesprochen hat.[14] Tatsächlich nimmt Graham, mehr oder weniger kraft seines Amtes, auch zur Frage der Wiederwahl und der Briefwahl eine konträre Haltung ein.[15] Rhetorische Kapriolen und Oval Office Pics sind selbst für Lindsey Graham zur Zeit keine Option, um (seine) Macht zu erhalten.

Karsten Schubert macht sich in seiner Queer Lecture stark für PrEP. Der etwas ausufernde Untertitel seines Aufsatzes knüpft an eine queer-politische Diskussion an, die insbesondere aus dem Hintergrund eines strukturellen Systemversagens des rudimentären Gesundheitssystems und der Macht der Pharmakonzerne in den USA ihren Ursprung hatte: „Zur Kritik der biopolitischen Repressionshypothese – oder: die pharmazeutische Destigmatisierung des Schwulseins“. Um es ganz klar zu sagen: Wegen der schlechten Gesundheitsversorgung und mangelnder Krankenversicherung gab es Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre so viele Todesfälle durch die AIDS-Epidemie, dass es in schwulen Kreisen allgemein hieß: „In New York sterben sie wie die Fliegen.“ Nun geht es im Klartext darum, Safer Sex durch die Einnahme einer Pille für überholt zu erklären. Das ist mit der Verbreitung von Sars-Cov-2 hochbrisant geworden. Als Schubert am 7. Februar seine Lecture in Berlin hielt, dachte niemand der Anwesenden daran, dass der Virus aus Wuhan sehr ähnliche Verhaltensänderungen wie HIV erfordern könnte.
„PrEP (Präexpositionsprophylaxe) ist ein relativ neues Mittel zur Prävention von HIV-Infektionen. HIV-negative Menschen nehmen antivirale Medikamente ein, die verhindern, dass der Kontakt mit dem Virus zu einer Infektion führt. Im Gegensatz zum Kondomgebrauch basiert dieses Präventionsverfahren auf Medikamenten und nicht auf einer Verhaltensänderung. Aus der Perspektive der Biopolitik fügt es sich in einen größeren Trend in Richtung Medikalisierung, des Anstiegs der Macht der Pharmaindustrie und der Reglementierung des Risikos ein.“[16]

Grob gesagt: Die Destigmatisierung wird wegen Sars-Cov-2 verschoben. Wann wird es PrEP für Corona- und Lentiviren geben? Promiskuitives Sexualverhalten, gar schwule Sexparties oder Sexparties ins Clubs überhaupt sind derzeit ein epidemiologischer Horror. In den 80er und 90er Jahren erfanden Schwule Telefonsex oder rein sprachliche, wechselseitig getippte Sexchats, um sich durch sicheren Sex ohne Körperkontakt vor einer HIV-Infektion zu schützen. Der Gebrauch von Kondomen oder gar der „Kondomfetisch“, wie Schubert ihn untersucht, kamen erst später. Es gab noch keine Webcams und keine Bots. Sexualpraktiken haben immer auch etwas mit Diskursen und Technologien zu tun. Übrigens wurde von Schwulen, die zu jener Zeit 60 oder älter waren, an die Zeiten erinnert, in denen es noch kein Penicillin gegen Syphilis gab. Deshalb unterliegt Karsten Schubert in seiner Einführung der Utopie einer Zeit oder eines Ortes, an dem es keine Biopolitik gegeben hätte.
„Biopolitik bezeichnet in der Tradition Michel Foucaults die zunehmende Steuerung des Lebens durch die Politik mit Hilfe diverser Humanwissenschaften wie beispielsweise der Medizin, der Sexualwissenschaft, der Volkswirtschaftslehre und der Demographie.“[17]

Ob es Michel Foucault bei seinen Ansätzen zur Biopolitik um eine „Tradition“ bzw. Traditionsbildung ging, dürfte in der Foucault-Forschung zumindest umstritten sei. Die Rede von der Biopolitik als Instrument ermöglicht allererst eine Kritik an positiven Wissensformationen, die sich als Dispositiv über das Leben legen. Wird die Biopolitik allerdings selbst als ein positives Wissen von der „Politik“ installiert und tradiert, verliert sie ihr kritisches Potential. In seinen Studien zu „Sexualität und Wahrheit“ fragt sich Foucault bereits im „Vorwort zur deutschen Ausgabe“ des ersten Bandes, Der Wille zu Wissen, ob sich „die gesamte Analyse am Begriff der Repression orientieren müsse; oder ob man diese Dinge nicht besser begreifen könnte, wenn man die Untersagungen, die Verhinderungen, die Verwerfungen und die Verbergungen in eine komplexere und globalere Strategie einordnet, die nicht auf die Verdrängung als Haupt- und Grundziel gerichtet ist“.[18] Der Begriff der Biopolitik fällt noch nicht. Foucault geht es bei der Diskussion der „Repressionshypothese“ erst einmal darum, dass in den „drei letzten Jahrhunderte(n)“ „um den Sex herum (…) eine diskursive Explosion“ gezündet habe.[19] Seit dem 16. Jahrhundert muss über Sex gesprochen werden. Was in der Sündenökonomie des Beichtstuhls vertraulich blieb, muss seither öffentlich diskutiert werden. Selbst im vierten Band von „Sexualität und Wahrheit“, Die Geständnisse des Fleisches, kommt der Begriff nicht vor.[20] Vielmehr widmet sich Foucault hier dem „Regime der aphrodisia, das von der Ehe, der Zeugung, der Ächtung der Lust und einem Band respektvoller und großer Sympathie zwischen den Eheleuten bestimmt ist“. (S. 23)

Schubert möchte mit seiner Analyse als „Untersuchung zeigen, dass sich Gouvernementalitätsstudien und Italienische Theorie auf repressive Machtverhältnisse konzentrieren und daher die Komplexität der Debatte nicht berücksichtigen können“.[21] Zur „Italienische(n) Theorie“ nennt er u.a. Giorgio Agamben als Vertreter. Das ist insofern aktuell bedenkenswert als Agamben sich entschieden zum Lockdown in Italien zu Wort gemeldet hat und dafür u.a. von Marco D’Ermano im New Left Review heftig kritisiert wurde. – „Which brings us to the main point that Agamben misses: domination is not one-dimensional. It is not just control and surveillance; it is also exploitation and extraction.“[22] – Die Biopolitik wurde vor allem durch die weltweiten Lockdowns in unterschiedlicher Weise präsent. Sars-Cov-2 wird noch stärker als HIV und PrEP zu einer Frage von Biopolitik. In Höchste Armut – Ordensregeln und Lebensform hat Giorgio Agamben allerdings auch gezeigt, wie im „exemplarischen Fall des Mönchstums“ sehr früh „(a)n der Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung“[23] der „Versuch“ unternommen wird, „eine Lebens-Form zu schaffen, das heißt ein Leben, das mit seiner Form so innig verbunden ist, dass es von ihr nicht mehr unterschieden werden kann“.[24] Lässt sich insofern ein „nacktes Leben“ ohne Biopolitik denken? Funkt auf die eine oder andere Weise nicht seit Anbeginn der Menschheit immer die eine oder andere Biopolitik in die Lebenspraktiken hinein?

Das Leben ist nicht nur von einer singulären politischen Macht einer Biopolitik ausgesetzt. Vielmehr wird es von diversen Wissensformationen heimgesucht und geformt. Karsten Schubert kommt in seiner Untersuchung zum Schluss, dass „PrEP (…) keine repressive Strategie der Biopolitik (ist), die den »Homosexuellen«, nachdem sie vor 100 Jahren vom medizinischen Diskurs als Kategorie erfunden und seitdem pathologisiert wurden, jetzt auch noch Pillen aufzwingt“.[25] Die Formulierung von „repressive(n) Strategie(n) der Biopolitik“ kann anscheinend sehr schnell in alternative Wahrheiten oder gar Verschwörungstheorien kippen, worauf auch D’Ermano in seiner Replik auf Agamben hinweist. Nach Schubert kann PrEP „als demokratische Biopolitik (beschrieben werden), bei der verschiedene Akteure zusammenarbeiten und neue technisch-medizinische und sexualethische Standards verhandeln“.[26] Das war zumindest der Sachstand von Februar 2020, als Sars-Cov-2 noch als Epidemie auf Wuhan und Umgebung lokalisierbar erschien.

Ralf König ist nicht der Mann langer Texte. In seinen Graphic Novels oder einfach Comics mit so treffenden Titeln wie Stehaufmännchen (2019), Bullenklöten (1992) und Kondom des Grauens (1987) entwickelt er prägnante Überzeichnungen schwuler Charaktere. Für das Jahrbuch Sexualitäten 2020 hat König nun nicht nur den Schutzumschlag gestaltet, vielmehr noch seinen längsten, jemals veröffentlichten Text geschrieben, der im Titel bereits vieldeutig ausfällt: Brüsseler Spitzen. Einerseits klingen darin die berühmten Spitzen der Textilindustrie an, andererseits gibt es, wie schon angedeutet, relativ plötzlich spitze Bemerkungen, gar queerpolitische Kritik aus Brüssel. Der Untertitel macht klar, worum es geht: „Über ein Wandgemälde in Belgiens Hauptstadt und seine politisch überkorrekte Missdeutung“.[27] Es geht um die Frage der graphischen Kunstform Comic und dem spitzen Vorwurf von „TRANSPHOBIE!“ und „RACIST!“, was auch graphisch interessant ist. Denn der Berichterstatter ist sich sicher dies mit Ausrufezeichen auf dem abgedruckten Farbfoto(!) zu lesen. Oder sollte es doch anders funktionieren:
„Vier Jahre lang. Dann erreichte mich eine etwas betretene Mail von einem der damaligen RainbowHouse-Kollegen, in der mir mitgeteilt wurde, das Bild sei über Nacht von Aktivistinnen mit den Worten »RACISM« und »TRANSPHOBIA« besprüht worden.“[28]

In seinem Text überprüft, um es nun einmal klar zu sagen, der Weltstar des queeren Comics, Ralf König, ob an dem Vorwurf, dass eine seiner Comicfiguren rassistisch und die andere transphob sein könnte, etwas dran sein könnte. Er macht das in einer Art der guten, alten Tradition der linken Selbstkritik. Bei Stalin und bei Mao sowie all deren Adepten stand die Selbstkritik spätestens seit 68 hoch im Kurs. Die Selbstkritik gilt dem „alte(n) weiße(n) Männchen“[29]. Und natürlich kann König sehr wohl werkbiographisch belegen, dass die graphischen Charaktere weder das eine noch das andere sind. Die graphischen Elemente, man kann sogar von einer graphischen Semiologie sprechen, überschneiden sich nämlich auf vielfältige Weise.
„Wenn irgendwelche Figuren bei mir dicken, roten Lippenstift tragen, haben sie automatisch überdimensionale Lippen, egal ob Drag Queen, Frau oder Pauls schlampige Schwerster Edeltraut. Es sind Comics! Als ich sie zeichnete, war die Lesbe für mich stolz und selbstbewusst, aber ich sehe ein, dass diese meine Darstellung Schwarzer für viele ein No-Go ist. Ganz so unbedarft passiert mir das nicht wieder.“[30]

Es geht also um ein queeres Schisma, das am weltbekannten Brüsseler Wandgemälde verhandelt wird und aufbricht. Das ist keine kleine Sache. Ralf König hat wie kaum ein anderer mit seinen selbstironisch karikierenden Comics die queere Bilderwelt geprägt. Jährlich wird auf der Berlinale der Teddy Award als goldener pummeliger Bär auf einem Pflasterstein verliehen, der schwule Oskar. Die Trophäe mit dem Pflasterstein erinnert an die linke, anarchische Herkunft des Teddy Award. Der niedliche Teddy kann auch anders. Zu den ersten Preisträgern gehörte Almodovar, als er für den Mainstream noch unbekannt war. Es ist durchaus ein dickes Ding, eben diesem Ralf König, dessen Comicfiguren für die queere Community ikonisch geworden sind, Rassismus und Transphobie vorzuwerfen. Jedes neue Selfstyling in der Szene wurde von König in den letzten 40 Jahren aufgegriffen und ironisch als Karikatur überzeichnet. Soll also queere Karikatur nur noch unter einer Inquisition des totalen Queer stattfinden dürfen? Oder ist einigen einfach das kulturelle Wissen der Aufgabe der Karikatur im Eifer verloren gegangen?
„Es ist also verwirrend. Plötzlich bin ich als Zeichner transphob. Rassistisch gar, zusätzlich zu dicken- und frauenfeindlich. Letzterer Vorwurf begleitet mich schon seit dem frühen Anfängen, obwohl auch meine schwulen Männchen wenig würdevoll testosteronbesoffen durch die Geschichten irrlichtern und meine Heterokerle oft grunzende Idioten sind.“[31]

In seiner Diversität liest sich das Jahrbuch Sexualitäten 2020 wie ein großer Abenteuerroman vom queeren Leben. Ständig werden Diskurse und Verhaltensweisen aufgebrochen, um in Frage gestellt zu werden. Seyran Ateş spricht mit Jan Feddersen „Über die Schwierigkeiten, sich in einer traditionell-muslimischen Familie zu behaupten – und wie es einer jungen Frau gelingt, sich von ihr zu entfernen: ein Lehrstück in Sachen antipatriarchalen Eigensinns“. Und die in Berlin-Wedding aufgewachsene Ateş findet im Gespräch ein paradoxes Bild für ihr Verhältnis zur Lebensform Familie: den Omnibus. „»Eine Familie ist wie ein Omnibus. Und du musst aussteigen.«“ Zwischenzeitlich ist sie allerdings auch auf die eine oder andere Weise wieder eingestiegen. Zumindest in Berlin kann man als Muslimin aus- und einsteigen. Als Geschäftsführerin und Imamin des Ibn Rushd-Goethe Moschee-Vereins ist sie gar in die muslimische Religion wieder eingestiegen und hat mit Mitgliedern des Vereins am Gottesdienst in multireligiöser Gastfreundschaft anlässlich des Christopher-Street-Days am 24. Juli 2020 in der St. Marienkirche teilgenommen. Allerdings lebt sie unter permanentem Personenschutz des Landeskriminalamtes.

Torsten Flüh

Jahrbuch Sexualitäten 2020
Herausgegeben im Auftrag der Initiative Queer Nations von Jan Feddersen, Benno Gammerl, Rainer Nicolaysen und Benedikt Wolf
262 S., 7, z.T. farb. Abb., geb., Schutzumschlag, 15 x 22,3 cm
ISBN 978-3-8353-3786-2 (2020)
€ 34,90 (D) / € 35,90 (A)


[1] Siehe Instagram Richard Grenell https://www.instagram.com/p/CCpFoizgIDz/ 

[2] Adrian Daub: Homophobie ohne Homophobe. Gender und Sexualität im internationalen Rechtspopulismus. In: Jahrbuch Sexualitäten 2020. Herausgegeben im Auftrag der Initiative Queer Nations von Jan Feddersen, Benno Gammerl, Rainer Nicolaysen und Benedikt Wolf. Göttingen: Wallstein, 2020, S. 15.

[3] Ebenda.

[4] Ebenda S. 16.

[5] Ebenda S. 18.

[6] Ebenda.

[7] Ebenda S. 19.

[8] Ebenda S. 31.

[9] Ebenda S. 20.

[10] Ebenda S. 21.

[11] Ebenda S. 24.

[12] Ebenda S. 25.

[13] Ebenda S. 33.

[14] CNN: Graham breaks with Trump in Fauci feud. 07.14.2020.

[15] CBS News: One of Trump’s closest Senate allies, Lindsey Graham, breaks with him on several issues. 07.07.2020.

[16] Karsten Schubert: PrEP als demokratische Biopolitik. Zur Kritik der biopolitischen Repressionshypothese – oder: die pharmazeutische Destigmatisierung des Schwulseins. In: Jahrbuch Sexualitäten 2020 … [wie Anm. 1] S. 91.

[17] Ebenda.

[18] Michel Foucault: Der Wille zu Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Frankfurt am Main: suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 1983, S. 8.

[19] Ebenda S. 27.

[20] Michel Foucault: Die Geständnisse des Fleisches. Sexualität und Wahrheit 4. Berlin: Suhrkamp, 2019.

[21] Karsten Schubert: PrEP … [wie Anm. 16] S. 92.

[22] Siehe u.a. Marco D’Eramo: The Philosopher’s Epidemic. In: New Left Review 122 Mar/Apr 2020: A Planetary Pandemic. London 2020, S. 24. (Article in NLR 122)

[23] Giorgio Agamben: Höchste Armut. Ordensregeln und Lebensform. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2012, S. 15.

[24] Ebenda S. 9.

[25] Karsten Schubert: PrEP … [wie Anm. 16] S. 125.

[26] Ebenda.

[27] Ralf König: Brüsseler Spitzen. Über ein Wandgemälde in Belgiens Hauptstadt und seine politisch überkorrekte Missdeutung. In: Jahrbuch Sexualitäten 2020 … [wie Anm. 1] S. 126.

[28] Ebenda S. 128.

[29] Ebenda S. 130.

[30] Ebenda S. 131.

[31] Ebenda S. 136.

Politische Theorie aus dem Netz der Sprachen

Literatur – Theorie – Rhetorik

Politische Theorie aus dem Netz der Sprachen

Zur Ausstellung Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert im Deutschen Historischen Museum

Hat Hannah Arendt Ausstellungen besucht? Hatte sie eine Haltung zum Format der Ausstellung? Da ich zugeben muss, kein Experte für Hannah Arendt zu sein, kenne ich keine Formulierung von ihr zum Format Ausstellung. „Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen“ als Bonmot, Aufforderung zum Widerstand und rhetorische Figur könnte aktuell allerdings auch falsch verstanden werden. Die von Monika Boll kuratierte ebenso materialreiche wie herausragende und wichtige Ausstellung im Deutschen Historischen Museum wählt einen multimedialen Ansatz, um Hannah Arendt anhand 16 zeithistorischer Themenpunkte vorzustellen. Die Bereiche der Ausstellung – u.a. Jüdisches Selbstverständnis, Totale Herrschaft, Die Nachkriegszeit, Die Vereinigten Staaten, Juristische Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, Protestbewegung und Politisches Denken – werden als Parcours im Pei-Bau durchaus chronologisch-biographisch über zwei Etagen von unten nach oben angelegt. 

Historische Ausstellungen werden meistens als eine Art Parcours der Texte, Bilder, Fotos, Videos, Audios, Schriftstücke, Reproduktionen, Modelle und Artefakte eingerichtet. Zu sehen und zu lesen gibt es viel wie die Originale von Hannah Arendts Eichmann in Jerusalem: A Report on the banality of evil als A Reporter at Large in fünf Ausgaben des Magazins The New Yorker zwischen dem 16. Februar und 16. März 1963. Die Covers des New Yorker legen amerikanische Idyllen in Aquarellen zwischen Korallen mit Seepferdchen und einer Straßensilhouette mit Wolkenkratzerplan in Blautönen vor. Nichts deutet auf den schnell skandalisierten Bericht. Neben den Magazinen können die Besucher*innen den Artikel per Touchscreen nachlesen oder auch nur durchblättern.[1] Ein Ausschnitt aus dem Gespräch zwischen Hannah Arendt und Günter Gaus wird über dem raumgreifenden, weißen Modell des Krematoriums II Ausschwitz-Birkenau (1995) von Mieczyslaw Stobierski projiziert. Fast am Ausgang Hannah Arendts Aktentasche mit Monogramm – „H. A. B.“ (Hannah Arendt Blücher) – und ihr Zigarettenetui.

Im Katalog beginnen die Herausgeber*innen mit dem Hinweis auf Hannah Arendts Formulierung des „»Denkens ohne Geländer«“.[2] Die 19 Essays sind hochkarätig und unterstreichen, dass das Format Ausstellung mit seinen Praktiken der Visualisierung und Verräumlichung für die politische Denkerin, Schriftstellerin und Dichterin Hannah Arendt durch längere Texte eben doch sehr gewinnt. Hannah Arendts „Jüdisches Selbstverständnis“ eröffnet die Ausstellung wie den Katalog. Sie entdeckt Rahel Varnhagen für sich als gesellschaftlich durch ihren Berliner Salon stark vernetzte jüdische Frau. Nachdem sie mit ihrem ersten Ehemann Günther Stern, der als Journalist mit dem Namen Günther Anders für Berliner Zeitungen schreibt, nach Berlin gekommen ist, arbeitet sie um 1930 an ihrem Buch zu Rahel Varnhagen, die postum durch die von ihrem Ehemann Karl August Varnhagen von Ense herausgegebenen Briefe unter dem Titel Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde (1834) in drei Bänden noch berühmter geworden war. Wie Liliane Weissberg für den Katalog recherchiert hat, reicht der Verkehr mit dem Rahel-Buch lange zurück, weil Hannah Arendt es schon als 15jährige 1921 in Königsberg an ihre „drei Jahre ältere Freundin Anne Mendelsohn“ verschenkt hatte.[3]

Das Rahel-Buch kursiert und zirkuliert also bereits seit acht Jahren zwischen Hannah und Anne, als es die erstere nach ihrer Promotion bei Karl Jaspers 1929 zum Forschungsthema über „Rahels Judentum“ machen möchte.[4] „Arendts Briefwechsel mit Jaspers von 1929 bis 1933 konzentrierte sich allerdings nicht nur auf Rahels Judentum, sondern auch auf eine Bestimmung der »fatale[n] Sache« des »deutschen Wesen[s]« und auf Arendts Verständnis ihrer eigenen Identität.“[5] Hannah liest Rahel, wie sie von Karl August herausgegeben worden war. Und sie liest die Briefe aus dem Nachlass, wie sie zu der Zeit in der Staatsbibliothek zu Berlin aufbewahrt werden. Zu gleicher Zeit lässt sie sich erstmals mit einer Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger fotografieren. Der Berichterstatter stellt sich vor, wie Hannah Arendt durch das Portal der Staatsbibliothek Unter den Linden in den Ehrenhof geht, die schwere Tür öffnet, die Stufen hinaufsteigt und sich im damaligen Handschriftenlesesaal die Konvolute vorlegen lässt. Sie liest die Handschriften, macht sich wohl doch Notizen, obwohl sie 1964 im Gespräch mit Günter Gaus gesagt haben wird, sie mache sich niemals Notizen[6] und sie legt bis zum Sommer 1933 ein „Rahel-Manuskript“ an, das sich unterdessen mit anderen Recherchen überschneidet.
„In Berlin engagierte sich Arendt in der Zionistischen Vereinigung für Deutschland (ZVfD) unter der Leitung Kurt Blumenfelds, sie dokumentierte für diese antisemitische Propaganda. Durch diese Arbeit fiel sie der Gestapo auf und wurde im Sommer 1933 festgenommen. Nach acht Tagen Haft entschied sich Arendt sogleich, das Land zu verlassen.“[7]

In der Ausstellung können sich die Besucher*innen in eine Hörbox setzen – aber bitte nur einzeln wegen der Maßnahmen zur Eindämmung der CoVid-19-Pandemie -, um als Audiomontage z.B. Walter Benjamins Ermutigung zu hören, das „Rahel-Manuskript fertigzustellen“ im Pariser Exil.[8] Die Arbeit am Rahel-Buch wird insofern vielfach überschrieben und im Kontext einer Dokumentation „antisemitische(r) Propaganda“ sowie der Flucht nach Paris durchkreuzt. Während Varnhagen in seiner Herausgabe der Briefe den Begriff Antisemitismus nicht ein einziges Mal gebraucht, wird doch von Rahel in ihren Briefen gelegentlich, aber eher selten sprichwörtliches von „Juden“ zitierend verwendet. In dem längeren Brief von Rahel aus Paris an Rose in Amsterdam vom 14. März 1801 klingt einmal ihr Verständnis des Judentums in Berlin im Unterschied zu Amsterdam und Paris an.
„Und du würdest mir gewiß eben so unpartheiisch und unbefangen einen Ort beschreiben können, als ich euch Paris. Also mit den Juden steht’s hier so schlecht?! Es liegt doch an ihnen. Denn ich versichre dich, ich sage hier allen Leuten, daß ich eine bin; ch bien! le même empressement. Aber nur ein Berliner Jude kann die gehörige Verachtung und Lebensart im Leibe haben; ich sage nicht: hat sie. Ich versichre dich, ordentlich eine Art contenance giebt’s einem auch hier, aus Berlin zu sein und Jude, wenigstens mir; ich weiß darüber Anekdoten. Lebt wohl, die Dame kann nicht ewig lesen.“[9]

„(A)us Berlin zu sein und Jude“ wird für die Jüdin Rahel Levin während einer Reise in Paris wichtig, wo sie nicht gerade solidarisch ihre Glaubensgenoss*innen schilt, zu jammern und nicht selbst emanzipiert zu werden. Weissberg hat die auch prekäre Einwirkung Karl Jaspers‘ auf das von ihm als Forschungsarbeit dennoch unterstütze „Rahel-Buch“ genauer skizziert. Wie lässt sich nun für die engagierte Dr. phil. über Rahel schreiben? Philosophisch? Soziologisch? Literarisch? Karl Jaspers war für Hannah Arendt nicht nur ein Doktorvater, vielmehr noch eine Vaterfigur, wie sie es in Zur Person 1964 freimütig aussprechen wird. Während ihr jüdischer Vater früh verstorben war, fand sie zumindest retrospektiv in Karl Jaspers einen Vaterersatz, der nicht nur seit 1910 mit Gertrud Mayer, der Schwester seines Studienfreundes Ernst Mayer, der aus einer orthodoxen deutsch-jüdischen Kaufmannsfamilie stammte, verheiratet war, vielmehr leugnete er noch um 1930 das Jüdischsein. So bekommt Jaspers einen starken Einfluss auf das „Rahel-Buch“ seiner ehemaligen Doktorandin und deren Juden-Konzept wie Weissberg schreibt.
„Für Arendt waren Juden Parias, Außenseiter also, und es war der Fehler vieler deutscher Jüdinnen und Juden, in ihrer nach sozialer Anerkennung und Aufstieg ihr Judentum aufzugeben und »Parvenüs«, so Arendts abwertende Bezeichnung, zu werden. (…) Mit Rahel fand Arendt eine Jüdin, die zwar zum Christentum konvertiert war und in den Adel eingeheiratet hatte, die sich aber letztendlich, so Arendt, der Assimilation verweigerte, Rahel wurde zu einem »bewussten Paria« und zog aus dieser Position ihre Stärke.“[10]   

Im Raum Jüdisches Selbstverständnis werden nicht nur Texte, vielmehr noch Bilder und das Interieur eines Biedermeier-Salons mit Goethe-Büste arrangiert. Doch war ein Salon nur oder vor allem ein Ensemble aus Möbeln und großen Namen wie Bettina von Arnim, von der eine Zeichnung im Lehnstuhl vor einer Goethe-Büste zur Illustration aufgehängt wird? Der Biedermeier-Salon fällt in der Ausstellung mit der Büste und den Möbeln ein wenig fatal aus, obgleich mittlerweile eine reichhaltigere Forschung zum Berliner Salon existiert.[11] Während sich das „Buch des Andenkens“ als eine Briefsammlung entfaltet, war der Salon eine Gesprächspraxis des Flüchtigen. Die Gespräche ließen sich gerade nicht im Buch festhalten.[12] Sie ließen sich in Briefen kaum nacherzählen und lebten nicht nur von Worten und Sätzen, sondern ebenso von Gesten, Gerüchen, Raumtemperaturen, Beleuchtungen, Tonfällen und Idiomen. So unterlag der Salon denn all jenen Eigentümlichkeiten und Eigensinnigkeiten, die sich der Darstellung entziehen. Er fand nicht immer mit gleicher Intensität, geschweige denn Regelmäßigkeit statt. Doch genau in diesem Feld des Eigensinns reüssierte Rahel Levin als Gastgeberin oder Salonière, von der nicht zuletzt übermittelt wird, dass sie ihren Namen mehrfach wechselte.

Erst nach dem Krieg kann Hannah Arendt zur Arbeit am Rahel-Buch zurückkehren, das nun stärker zwischen Belletristik, gar Roman und Forschungsliteratur angesiedelt wird. Einerseits gelten die Autographen aus der Staatsbibliothek als Kriegsverlust, so dass die Forschungspraxis nicht wieder aufgenommen werden kann. Andererseits waren ihre Forschungsansätze zum Antisemitismus bereits 1955 in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft eingegangen, so dass Weissberg schreibt, dass „(d)ie Arbeit an Rahels Lebensgeschichte (…) zu einer Vorarbeit für jenes Buch“ wurde.[13] Nicht nur das Zeitgeschehen durchkreuzt das Rahel-Buch, mehr noch das sich überschneidende literarische wie wissenschaftliche Schreibverfahren, ihr „literarisches Experiment verwandelte sich in eine wissenschaftliche Qualifikationsarbeit“[14], um nach dem Krieg wieder in schöne Literatur transformiert zu werden. Als 1959 Hannah Arendts Rahel-Buch unter dem Titel Rahel Varnhagen. Die Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik im Münchner Piper Verlag erscheint, ist das der Autorin wichtige Wort „Jüdin“ ohne Rücksprache auf dem Schutzumschlag gelöscht.

Die Löschung der „Jüdin“ lässt sich heute als eine mutwillige lesen. Hans Rößner dürfte als Cheflektor des Piper Verlags über den Schutzumschlag zumindest mitentschieden haben. Arendt und die Menschen außerhalb seines SS-Netzwerkes, das nicht nur in München existierte, konnten nicht ahnen, dass die Löschung der „Jüdin“ kein Versehen war. Der Germanist Hans Rößner „war 1934 Mitglied der SS geworden, 1937 der Nationalsozialistischen Partei“ beigetreten und machte ab 1938 Karriere im Reichssicherheitsdienst (SD). Ab 1939 leitete er bis zum Zusammenbruch 1945 „im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) die Abteilung »Volkskultur und Kunst«“.[15] Rößner hatte demnach an höchster, administrativer Stelle, darüber zu entscheiden, was »Volkskultur und Kunst« nach der nationalsozialistischen Doktrin inklusive des institutionalisierten Antisemitismus war und was nicht. Die Jüdin Rahel Levin, die sich 1814 für die Heirat mit dem Schriftsteller und Diplomaten Karl August Varnhagen von Ense, der in den Adelsstand erhoben worden war, taufen ließ, durfte nicht zur sogenannten deutschen „Volkskultur“ gehören. Der Antisemitismus überlebte und maskierte sich sozusagen in allernächster Nähe zu Hannah Arendt.

Hannah Arendts politische Theorie zum Antisemitismus als „Band I“ von Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft entspringt dem „literarischen Experiment“ eines Buches und einer Relektüre des Buches Rahel. Die Überlappung von Literatur und Theorie ist keine zufällige, vielmehr eine strategische. Karl Jaspers schrieb 1958 das „Geleitwort“ zum „Buch“ und pries es als „Geschichtsschreibung großen Stils“.[16] In der „Geschichtsschreibung großen Stils“ geht es nicht immer nur um Fakten, vielmehr um eine Generierung von Sinn durch verfügbare Fakten. Als ein wichtiges Scharnier ihrer „Geschichtsschreibung“ kommt Arendt auf „jüdische Salons“ und Rahels „»Dachstübchen«“ zu sprechen.[17] Anders als die Saloninszenierung in der Ausstellung mit der bürgerlichen Geste sozusagen in und aus der Mitte der Gesellschaft legt Arndt wert darauf, dass „das Dachstübchen der Rahel am Rande, ja außerhalb der Gesellschaft und ihrer Konventionen“ angesiedelt war.
„Hatte Henriette (Herz, T.F.) durch Gelehrsamkeit geglänzt und war durch die »tugendhaften« Grafen Dohna gesellschaftsfähig geworden, so war Rahel stolz auf ihre »Ignoranz« und berühmt durch ihre originale Klugheit und gesellschaftliche Begabung; das Dachstübchen verdankte sein Renommee dem Prinzen Louis Ferdinand, dem man viel Gutes, aber nicht übertriebene Rücksichtnahme auf »Tugend« nachsagen kann. Der Salon der Rahel, der nach ihrem eigenen Zeugnis 1806 in der preußischen Niederlage unterging »wie ein Schiff, den höchsten Lebensgenuß enthaltend«, ist ein in der Geschichte von Assimilation und Ausnahmejuden absolut einzigartiges und einmaliges Gebilde gewesen. […] Hier galt wirklich jeder nur genau so viel, wie er darzustellen vermochte, hier ward jeder nach nichts anderem beurteilt als seiner Persönlichkeit. […] Er war naiv paritätisch und entsprach einer kurzen Blütezeit deutsch-jüdischer Geselligkeit, die mehr Mischehen aufzuweisen hatte als irgendeine spätere.“[18]

Rahels Salon im Dachstübchen wird bei Hannah Arendt zur deutsch-jüdischen Gesellschaftsutopie. Das „Dachstübchen“ ist nicht nur der bescheidene Ort eines kleinen Zimmers im Dach eines Hauses, vielmehr wird es auch metonymisch für den Ort des Denkens, das Gehirn gebraucht.[19] Diese Überlappung von bescheidenem, schmucklosen Ort im Dach als Lokalität des Salons bekommt auch einen konspirativen Beiklang, wenn sich ausgerechnet dort der Hohenzollernprinz Louis Ferdinand nicht ganz nach den Regeln der Tugend verhalten haben soll. Louis Ferdinand verhielt sich nicht nur höchst libertinär, vielmehr spielte er ebenso Klavier, komponierte und lud Ludwig van Beethoven bei seinem einzigen Aufenthalt in Berlin 1796 ein. Als Louis Ferdinand am 16. Oktober 1806 in der Schlacht bei Saalfeld von Napoleons Soldaten tödlich verwundet wird und er mit 33 Jahren stirbt, wird er vollends zum nationalen Mythos. Rahel wollte ihn ab Mai 1800 „(o)rdentliche Dachstuben-Wahrheit … hören“ lassen.[20] Anders gesagt: Arndts Transformation der „Dachstube“ zum Deminutiv „Dachstübchen“ in einer entscheidenden Passage über den „Antisemitismus“ als „profane Ideologie des 19. Jahrhunderts“[21] gibt einen Wink auf die Rhetorik ihrer Geschichtsschreibung zwischen Belletristik, „literarischem Experiment“ und Politischer Theorie.

In die von Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann als Denktagebuch[22] veröffentlichten Hefte schreibt Hannah Arendt zwischen 1950 und 1973 nicht nur „eigene“ Gedanken, vielmehr finden sich in ihnen ebenso Exzerpte, Gedichtzitate und für Hermann Broch im Juni 1951 gar ein Gedicht zu dessen Tod am 30. Mai 1951 in New Haven.[23] Das Gedicht hat den Titel Überleben.[24] Hefte in unterschiedlichen Größen gehören seit dem 19. Jahrhundert z.B. bei Karl Marx, Alexander von Humboldt oder Marcel Proust, aber auch die vertrackten Schwarzen Hefte Martin Heideggers zu den Medien bisweilen plötzlichen Denkens und Memorierens. Zum Denken in den Heften gehört demnach das Dichten, durch das sich Sinn und Sinnlichkeit auf vielfache Weise überlappen. Das Gedicht aus dem Umfeld der Todesnachricht von Hermann Broch geht durch seine formale Schreibweise über einen plötzlichen Einfall hinaus.
„Überleben.

Wie aber lebt man mit den Toten? Sag
wo ist der Laut, der ihren Umgang schwichtet,
wie die Gebärde, wenn durch sie gerichtet
wir wünschen, dass die Nähe selbst sich uns versag?

Wer weiss die Klage, die sie uns entfernt
und zieht den Schleier vor das leere Blicken?
Was hilft, dass wir uns in ihr Fortsein schicken,
und dreht das Fühlen um, das Überleben lernt.

Das umgedrehte Fühlen ist doch wie der Dolch, den man im Herzen umdreht.“[25]

Barbara Hahn hat in ihrem Essay für den Katalog darauf aufmerksam gemacht, dass Hannah Arendt in mehreren Sprachen – Altgriechisch, Französisch, Lateinisch, Englisch, Deutsch, Hebräisch – las, dachte und schrieb. In Englisch und Deutsch habe sie eine „Meisterschaft“ entwickelt. Und: „Hannah Arendt hat sehr genau darüber nachgedacht, warum Einsprachigkeit – »die künstlich gewaltsame Vereindeutigung des Vieldeutigen« – zeitgemäßem Denken nicht angemessen ist.“[26] Die Mehrsprachigkeit generiert nicht zuletzt idiomatische Überlappungen oder, wie Hahn schreibt, „Sprachen prägen und färben das Denken; Sprachen nehmen Erfahrungen und Erkenntnisse auf und tragen sie weiter“.[27] So verwendet Arendt für Überleben gar ein Reimschema, das in den vierzeiligen Strophen am Ende mit ab und ba – Sag/schwichtet | gerichtet/versag – eine Spiegelung erzeugt, dergleichen entfernt/Blicken | schicken/lernt. Zwar lässt sich das Gedicht auf Hermann Broch beziehen, aber durch die rhetorischen Mittel insbesondere der Interrogativpronomen wie, wo, wer, was, der Syntax und dem Wechsel von Frage zur antwortenden Aussage wird Überleben zu einer existentiellen Frage. So wird „das Überleben“ zum Subjekt, während die Syntax zugleich vorschlägt „das Überleben lernt“ als Relativsatz zu „Fühlen“ zu lesenhören: „das überleben lernt“. Im Nachsatz, von dem sich nicht eindeutig sagen lässt, ob er noch zum Gedicht gehört, wird das „Fühlen“ auf eine Weise paraphrasiert, die fast schon eine Antimetabole ist.

Die rhetorische Kunst der Dichtung, wie sie insbesondere aus dem Barock herüber winkt, gehörte zu Hannah Arendts Praxis des Denkens. So wird im letzten Raum der Ausstellung ein Schleier mit dem Portrait und rudimentären Angaben zu Wystan Hugh Auden gezeigt. Hannah Arendt habe Audens The Age of Anxiety, das 1948 den Pulitzer Prize for Poetry erhielt, gelesen und daraufhin einen begeisterten Brief an ihn geschrieben, so dass eine Freundschaft zustande kam. Auden hatte sein Zeitalter der Angst allerdings als „A Baroque Eclogue“ in angelsächsischen alliterierenden Versen geschrieben.[28] Die barocke Ekloge knüpft mit der Alliteration für die Erzählung von der Angst im, wie Hannah Arendt sagen würde, Zeitalter des Totalitarismus an die Rhetorik des Barock an, was einerseits als unzeitgemäße Darstellungsweise in der Moderne aufgefasst werden kann. Andererseits wird durch den Modus der Ekloge als Auswahl eben auch angezeigt, dass kein generalisierender Anspruch erhoben wird. Gleichzeitig werden in der Eröffnung von The Age of Anxiety die geschlechtliche Mehrdeutigkeit und die Ambivalenz auf die Spitze getrieben:
„So, fully conscious of the attraction of his uniform to both sexes, he looked round him, slightly contemptuous when he caught an admiring glance, and slightly piqued when he did not.
It was the night of All Souls.

Q U A N T was thinking:
My deuce, my double, my dear image,
Is it lively there, that land of glass
Where song is a grimace, sound logic
A suite of gestures? You seem amused.
How well and witty when you wake up,
How glad and good when you go to bed,
Do you feel, my friend? What flavor has
…“[29]

Nicht nur W. H. Auden setzte sich für The Age of Anxiety mit der Metrik als Form des Denkens auseinander[30], auch Hannah Arendt fühlte sich vertraut mit der Form wie der thematischen Ambivalenz. 1967 fotografierte sie ihn leicht „out of focus“.[31] In der Pluralität des Personals wird auf ebenso poetische wie erschütternde Weise vom Zeitalter der Angst erzählt, wenn etwa Rosetta sagt: „Violent winds / Tear us apart. Terror scatters us / To the four coigns. Faintly our sounds / Echo each other, unrelated / Groams of grief at a great distance.“[32] – Es ist hier nicht der Ort näher auf The Age of Anxiety einzugehen. Doch Audens Praxis der barocken Form generiert eine Art Queerness, die, selbst wenn sie das Wort nicht gekannt haben wird, Arndt nicht verborgen geblieben sein konnte. In der Ausstellung gibt es auch eines jener Hefte, die als Denktagebuch veröffentlicht sind. Aufgeschlagen ist eine Doppelseite mit handschriftlichen Notaten und dem Ausschnitt eines eingeklebten maschinenschriftlichen Textes, von dem sich erst einmal nicht sagen lässt, ob es ein Zitat aus einem Roman, einem Gedichtepos vielleicht oder von ihr selbst stammt. Er endet:
„O Leben, Leben: Draussensein.
Und ich in Lohe. Niemand der mich kennt …“

Torsten Flüh

Deutsches Historisches Museum
Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert
Pei-Bau
bis 18. Oktober 2020
Sonntag bis Mittwoch 10:00 bis 18:00 Uhr

Katalog
Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert
Herausgeber: D. Blume, M. Boll und R. Gross für das Deutsche Historische Museum
€ 22,-


[1] Siehe auch das Archiv von The New Yorker online.

[2] Die Arendt-Formulierung „Denken ohne Geländer“ wird aktuell auch als Werbespruch in Plakatgröße auf der Liegeplatzbrücke des Redaktionsschiffes media pioneer im Nordhafen von Michael Bröcker benutzt, ohne auf Hannah Arendt hinzuweisen. Dorlis Blume, Monika Boll, Raphael Gross (Hg.): Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert. Stiftung Deutsches Historisches Museum, Piper: 2020, S. 9.

[3] Liliane Weissberg: Hannah Arendt und ihre »wirklich beste Freundin, die nur leider schon hundert Jahre tot ist«. In: Ebenda. S. 28.

[4] Ebenda S. 30.

[5] Ebenda.

[6] Siehe: Torsten Flüh: Hannah Arendts Zigarettenrauchen als Haltung. Zur Ausstellung Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert und Hannah Arendt im Gespräch mit Günter Gaus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. Juli 2020.

[7] Liliane Weissberg: Hannah … [wie Anm. 3] S. 31.

[8] Ebenda.

[9] Rahel Varnhagen von Ense: Rahel. Bd. 1. Berlin: Duncker und Humblot, 1834, S. 237. (Digitalisat)

[10] Liliane Weissberg: Hannah … [wie Anm. 3] S. 30.

[11] Siehe u.a. Hannah Lotte Lund: Der Berliner ‚jüdische Salon’ um 1800. Emanzipation in der Debatte? Berlin/Boston: de Gruyter, 2012.

[12] Vgl. dazu: Torsten Flüh: Gespräche – Bettina von Arnim. In: ders.: Flugblatt – Zeitung – Blog. Materialität und Medialität als Literaturen. Wien: Passagen Philosophie, 2017, S. 80-101, insbesondere S. 80-83.

[13] Liliane Weissberg: Hannah … [wie Anm. 3] S. 31.

[14] Ebenda S. 36.

[15] Ebenda S. 33.

[16] Karl Jaspers: Geleitwort. In: Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Band I: Antisemitismus. Frankfurt/M – Berlin – Wien: Ullstein, 1975 (zuerst 1958 Piper), S. 6.

[17] Ebenda S. 108-109.

[18] Ebenda S. 109-110.

[19] Siehe: Dachstübchen (Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache).

[20] Barbara Hahn: Der Mythos vom Salon. Rahels „Dachstube“ als historische Fiktion. In Hartwig Schulz (Hrsg.): Salons der Romantik. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Theorie und Geschichte des Salons. S. 213 ff.

[21] Hannah Arendt: Elemente … [wie Anm. 16] S. 11.

[22] Hannah Arendt: Denktagebuch. Herausgegeben von Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann. München: Piper, 2016.

[23] Ebenda Anmerkungen. Zweiter Band. S. 941.

[24] Ebenda Erster Band, S. 92.

[25] Ebenda.

[26] Barbara Hahn: Die »eigene« und andere Sprachen. In: Dorlis Blume, Monika Boll, Raphael Gross (Hg.): Hannah … [wie Anm. 2] S. 153.

[27] Ebenda S. 147-148.

[28] Zu Wystan Hugh Audens Dichtung vgl. auch: Torsten Flüh: Queering the Classics. Zu Wystan Hugh Audens, Chester Kallmans und Hans Werner Henzes moderner Antiken-Oper The Bassarids in der Komischen Oper. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. November 2019.

[29] W. H. Auden: The Age of Anxiety. A Baroque Eclogue. Edited by Alan Jacobs. Princeton: Princeton University Press, 2011, S. 6.

[30] Ebenda S. 109-111.

[31] Siehe: Hannah Arendt fotografiert Verwandte und Freunde. In: Dorlis Blume, Monika Boll, Raphael Gross (Hg.): Hannah … [wie Anm. 2] S. 220.

[32] W. H. Auden: The … [wie Anm. 29] S. 78.

Zauberhaftes Naturtheater mit Shakespeares Sommernachtstraum

Droge – Natur – Theater

Zauberhaftes Naturtheater mit Shakespeares Sommernachtstraum

Zu Shakespeares Sommernachtstraum im Freilufttheater in der Jungfernheide

Es ist, als habe sich die Natur das Freilufttheater für einst 2.000 Zuschauer zurückgeholt. Plötzlich springt die Navigation von Google Maps um: „Sie haben ihr Ziel links erreicht.“ Das Ziel soll die Gustav-Böhs-Bühne im Volkspark Jungfernheide sein. Links wachsen Büsche und Bäume in den Himmel. Ein Freilufttheater ist nicht zu sehen. Deshalb gehe ich zurück zum Kulturbiergarten Jungfernheide, um dort zu schauen, ob ich einen Zugang finde. Immerhin erkenne ich nun hinter dem Biergarten eine Überdachung für einen Einlass. Die Abzäunungen sind mit schwarzer Folie verhängt, davor sind ein Rettungswegeplan, mehrere Esel mit Masken, „Achtung: Mücken! Bitte benutzen Sie bei Bedarf unser Mückenschutzmittel am Einlass“, das Plakat „SHAKESPEARE: SOMMERNACHTSTRAUM“ geklebt. Auf einem Aufsteller steht: „Beim Anstehen … 1,5m Bitte Abstand halten!“ Naturtheater. Mücken und Sars-Cov-2 sind Natur, die durch Kulturpraktiken ebenso verbreitet wie eingedämmt wird.

Shakespeare thematisiert im Sommernachtstraum wiederholt die Natur mit dem Theater. – „Transparent Helena! Nature shows art, / That through thy bosom makes me see thy heart.“ (Transparente Helena! Natur zeigt Kunst, / Sie lässt mich durch deinen Busen dein Herz sehen.) Es ist eine bedenkenswerte Natur, die Helenas Körper transparent macht. – Peter Atanassow und das Gefängnistheater aufBruch zeigen im Freilufttheater den Sommernachtstraum, indem sie den Traum durch Drogen, insbesondere Kokain, gefördert inszenieren. Die geschlechtlichen Zauberkunststücke in der Mittsommernacht werden durch des gewitzten Puck als Dealer (Para Kiala) im Auftrag von Oberon (Frank Zimmermann) herbeigeführt. Im Wechselbad der Begehrlichkeiten wird nicht nur der Waldgeisterkönig Oberon zum Drogenboss, vielmehr entsteht eine permanente Überlappung von Natur und Kultur. Denn Oberon als Naturgott hat nicht zuletzt kapitalistische Machtgelüste.

Das verwilderte Freilufttheater spielt im Sommernachtstraum die Hauptrolle. Es ist nicht einfach ein Bühnenbild (Holger Syrbe), vielmehr eine Parabel auf das Verhältnis von Theater und Natur. In ihm durchdringen Natur und Theater einander. Es wurde als idyllisches „Garten-Theater Jungfernheide 1923-25 vom Charlottenburger Stadtgartendirektor Erwin Barth geplant und 1926 eröffnet. „Bis zu 2000 Zuschauer fasste dieses Naturtheater im Volkspark Jungfernheide einst““, heißt es im Programmheft zum Stück.[1] Anders gesagt: ein „Garten-Theater“ ist schon eine besondere Art des Naturtheaters, denn die Natur ist dafür gärtnerisch zurechtgestutzt. Doch jetzt wuchert die Natur aus dem Bühnenboden und ringsum. Die einstige Rahmung durch Birkenpflanzungen ist durch eine Mischbewaldung quasi aufgehoben. Hainbuchen- und Taxushecken sind wild ausgeschossen. Das „Garten-Theater“ gehörte zum Gesamtkonzept der Ringsiedlung Siemensstadt, die zwischen 1929 und 1931 von Hans Scharoun geplant und bis 1934 von ihm Walter Gropius, Otto Bartning, Fred Forbat, Hugo Häring, Paul R. Henning erbaut wurde.[2]

Die Ringsiedlung Siemensstadt ist seit 2008 Weltkulturerbe. Christian Fessel von der UNESCO Infostation Siemensstadt setzt sich für eine „Wiederbelebung“ des „Garten-Theater“, wie es auf einer zeitgenössischen Bildpostkarte steht, ein. Wohl nicht zuletzt dank der Covid-19-Pandemie wurden im April 2020 Gelder für eine denkmalgerechte Sanierung bewilligt. Weltkulturerbe und wildwüchsige Natur treffen im „Garten-Theater“ aufeinander. Der Berichterstatter möchte fast sagen, dass das „Garten-Theater“ nie faszinierender, zauberhafter war als im Wildwuchs. Doch das hat natürlich auch Nachteile – wie die Mücken. Ein Norweger Pullover kann allerdings nicht nur in diesen Sommernächten wärmen, sondern auch Mücken abhalten. Sie verfangen sich in der aufgerauten Wolle. Das Dilemma von Natur (Mücken, Wildwuchs) und Kultur (denkmalgerechte Sanierung) zeigt sich auch am Brandschutz. Der nagelneue Feuerwehrwagen muss höchst aufwendig rangieren, um seine schützende Funktion zwischen den wildwuchernden Bäumen einnehmen zu können. Der Sommernachtstraum ist zu einer Art Voraufführung für eine Wiedereröffnung 2022/23 geworden.

Viele Drogen sind Naturprodukte so wie das Kokain aus dem südamerikanischen Cocastrauch oder Erythroxylum coca. Anders gesagt, das Naturprodukt Kokain zeigt gewiss Kunst, insofern es im stimulierenden Rausch den Körper der Helena durchsichtig und das Herz unter dem Busen sichtbar werden lassen könnte. Kokain wird häufig für riskante, sexuelle Praktiken verwendet. So erklärt die Deutsche Aidshilfe zu HIV und Drogen: „Euphorie, Gefühl der Stärke, Abbau von Hemmungen, Redseligkeit, Abnahme der Kritik- und Urteilsfähigkeit, erhöhte Risikobereitschaft, sexuell stimulierend, in höherer Dosis Erektionsstörungen, Unterdrückung des Hunger- und Durstgefühls sowie des Schlafbedürfnisses, Verminderung des Schmerzempfindens“.[3] Kokain spielt in der Inszenierung und Textcollage von Peter Atanassows Sommernachtstraum eine gewissermaßen rahmende und strukturierende Rolle. Im Vorspiel spricht das Ensemble chorisch eine Passage aus Bernard-Marie Koltès‘ In der Einsamkeit der Baumwollfelder von 1987.

Einen Text von Bernard-Marie Koltès als Vorspiel dem Sommernachtstraum voranzustellen, gibt auch einen Wink nicht nur auf Kokain als Droge und Traumspender oder der Begegnung von Dealer und Kunde, vielmehr noch auf Queerness und Geschlechtlichkeit. Während der französische Theaterautor und Regisseur Koltès heute in Deutschland kaum noch gespielt wird, galt er bis zu seinem Tod an der Immunschwächekrankheit AIDS am 15. April 1989 als junges Dichtergenie auf dem Niveau von Samuel Beckett, Jean Cocteau und Jean Genet. Mit Patrice Chereau arbeitete er am Theater zusammen und war mit ihm privat befreundet. Koltès starb mit 41 Jahren. David Bradby schrieb 1997 in New Theater Quarterly über Koltès schamhaften Umgang mit seiner sexuellen Orientierung und der als „Geschlechtskrankheit“ eingestuften HIV-Infektion:
„In fact he tended to avoid conflict whenever possible; though homosexual, he never ΄came out΄, or aligned himself with gay liberation movements, and the fact that he was suffering from AIDS was a closely guarded secret for most of the 1980s.“[4]

Der Dealer wird bei Koltès zu einer gewissermaßen queeren Figur nicht nur des Kapitalismus, in der ebenso der schwule Stricher durchschimmert, wie er heute überlagert wird vom Echo eines Präsidenten, der auf narzisstische Weise mit „Deals“ regiert. Nicole Sandt hat einmal formuliert, dass die Sprache in Koltès‘ Stück „etwas zutiefst Erlittenes und zugleich Genießerisches in sich“ berge. Sie trage „den stillen und bitteren Humor eines Sprachlosen, eines Ausgegrenzten (der dazu verführt, Grenzen in jedem Sinne zu überschreiten) ebenso in sich wie die Sprachfülle von zutiefst Einsamen, die sich nun endlich aussprechen“.[5] Der Deal spielt sich nicht zuletzt an der Grenze von Mensch (homme) und Tier (animal) ab, wie es der Dealer eröffnend und bei Atanassow als Prolog mehrfach anspricht:
„Wenn Sie zu dieser Stunde und an diesem Ort draußen unterwegs sind, dann darum, weil Sie etwas wünschen (désirez), was Sie nicht haben, und dieses Etwas kann ich ihnen beschaffen; denn wenn ich seit längerer Zeit und für längere Zeit als Sie an diesem Ort bin, und wenn selbst diese Stunde, die Stunde des wilden Umgangs der Menschen und Tiere untereinander, mich nicht von ihm vertreibt, dann darum, weil ich dasjenige habe, womit sich der Wunsch (satisfaire le désir), der an mir vorübergeht, befriedigen lässt, und es ist wie eine Last, die ich loswerden muss an jedes Wesen, Mensch oder Tier, das an mir vorübergeht.“[6]

Wunsch und Begehren bleiben im Französischen mit désirer und le désir deutlich in der Schwebe. In Koltès‘ Französisch ist le désir weit stärker sexuell aufgeladen als der Wunsch im Deutschen. Denn le désir kann spätestens seit dem 18. Jahrhundert und Voltaire im Französischen mit der Bedeutungsvielfalt von Begehren, Verlangen, Begierde gebraucht werden. Daher lässt sich le désir sowohl auf Menschen wie Tiere anwenden. Die poetische Ambiguität und Überlappung der Worte und des Sprechens bei Bernard-Marie Koltès erlaubt gerade keine Festlegung auf einen Sinn. Es wird nicht nur von Drogendeals gesprochen. Was im Deal als ebenso pragmatisches wie kapitalistisches Geschäft gedacht wird, läuft zugleich als eine Verführungskunst an der Grenze von Mensch und Tier. Der vermeintliche Drogendealer spielt an der Grenze von Mensch und Tier auch mit der hitzigen Begierde eines Kunden beim Cruising im Park auf der Suche nach Sex in der Dunkelheit. Als Kapitalismuskritiker taugt Koltès wenig. Dafür ist nicht zuletzt die Syntax der ineinander verwobenen Sätze viel zu gleitend. Es geht hier nicht um Überhöhung, gar Pathos, vielmehr über das Gleiten von Sinn. Sie lässt sich nicht auf einen Sinn festlegen, was eine gewisse Herausforderung an die Übersetzung stellt:
„C’est pourquoi je m’approche de vous, malgré l’heure qui est celle où ordinaire l’homme et l’animal se jettent sauvagement l’un sur l’autre, je m’approche, moi, de vous, les main ouvertes et les paumes tournées vers vous, avec l’humilité de celui qui achète, avec l’humilité de celui qui propose face à celui qui achète, avec l’humilité de qui désir; …
Darum trete ich an Sie heran, trotz dieser Stunde, der Stunde, zu der für gewöhnlich Mensch und Tier sich wild aufeinander stürzen, trete ich mit offener Faust und Ihnen zugewandten Handflächen, mit der Demut des Besitzenden gegenüber dem Begehrenden; …“[7]  

Foto: Thomas Aurin

Peter Atanassow hat Titania mit Massimiliano Baß besetzt und das passt wunderbar queer. Auch Thisbe wird schon bei Shakespeare vom Handwerker Francis Flute verkörpert, der von Mohamad Koulighassi gespielt wird und der zudem wiederholt als arabisch singende Bauchtänzerin über die wildwüchsige Bühne tanzt. Welch ein Affront für Fundamentalisten! Da das gemischte Ensemble aus Freigängern, Ex-Inhaftierten, Schauspieler*innen und Berliner Bürger*innen besteht, wäre es diesmal nicht notwendig gewesen, die Frauenrolle Titania wie im Männerknast, von einem Kerl spielen zu lassen. Doch schon Shakespeare legt es auf eine „Geschlechterverwirrung“ und Queerness auf dem Theater und in der Sprache an. Er „nutzt die Aufführung der »mechanicals«, um die Geschlechterverwirrung so weit wie möglich zu treiben“, schreibt Katrin Pahl.[8] Die Rollen der Titania und der Thisbe werden ausdrücklich geschlechtlich übertragen, während es doch im ganzen Sommernachtstraum um geschlechtliche Übertragungen wie nicht zuletzt der Verwandlung der Menschen in Tiere bzw. Esel und zurück geht. Nick Bottom erhält einen Eselskopf durch Pucks Zauberei und Titania verliebt sich umso mehr in ihn. Denn Puck macht es „Laune …, die sogenannte natürliche Ordnung durcheinanderzuwürfeln, sodass hinten vorn und vorne hinten kommt: »And those things do best please me / That befall prepost’rously.«“[9]

Foto: Thomas Aurin

Was im Deutschen verloren geht, sind Shakespeares deftige Wortspiele mit den Namen Nick Bottom, Francis Flute, Tom Snout, Snug und Robin Starveling – Nick Hintern, Francis Flöte, Tom Schnauze, Eng und Robin Ausgehungert. Die Namen beziehen sich mehrdeutig auf Sex. So ist Bottom als Name und Benennung nicht nur der, welcher beim schwulen Sex unten (bottom) liegt oder einen schönen Hintern (bottom) hat, sondern er bekommt auch noch ein „ass’s head“[10], was sowohl ein Eselskopf gehört und gelesen werden kann wie als Arsch (ass). Ass kann im Englischen mehrdeutig Esel, Arsch oder Rindvieh heißen. Titania sieht also nicht nur den Esel nicht, vielmehr wird sie/er gleichfalls von einem Arsch als Objekt des Begehrens angesprochen. „Afterwitze gibt es zuhauf, wenn Titania sich in den Esel Bottom verliebt“, schreibt Pahl.[11] Und man darf davon ausgehen, dass das „rülpsende(), räudige() Publikum“[12] im Globe Theater in London dichtgedrängt jede sexuelle Doppeldeutigkeit eindeutig verstand und sich daran auf die eine oder andere Art erfreute. Die diesjährigen Juli-Temperaturen im Freilufttheater kühlen indessen jede Hitzewallung entschieden herunter, während man nun ohnehin auf mindestens 1,5m-Abstand bleiben soll.

Foto: Thomas Aurin

Die Theatermaschine, mit der die »mechanicals« spielen, indem sie als Wand oder Mond auftreten, wird ebenso als eine Wunsch- oder Begehrensmaschine inszeniert. Ständig werden Grenzen überschritten oder durchlässig gemacht. Denn wenn Snout die Wand und Robin Starveling den Mond spielen, dann überschreiten sie auch immer ihre Funktionen. Thisbe und Pyramus verkehren durch ein Loch in der Wand miteinander: „Wenn Flute als Thisbe ausruft »I kiss the wall’s hole, not your lips at all« (5, I, 200), wird das obszöne Vergnügen dadurch gesteigert, dass sich Flute hier sicherlich gerade an Snouts Hintern zu schaffen macht und Bottom demnach an Snouts Glied.“[13] Indem die Theatermaschine in der Sprache wie von selbst läuft, weil ständig von etwas gesprochen wird, was nicht dargestellt, sehr wohl aber gehört und verstanden werden kann, führen jene, die sie am Laufen halten, die »mechanicals« auf dem Theater »The Most Lamentable Comedy and Most Cruel Death of Pyramus und Thisbe« auf, das schon in seinem Titel die paradoxe Figur einer bejammernswerten Komödie und eines grausamen Orgasmus als kleinen Tod ankündigt. Eingelöst wird dann die Darstellung eines Orgasmus mit dem im Deutschen kaum übersetzbaren „Now die, die, die, die, die.“ (5, I, 301) des Priamus. Der Selbstmord des Priamus kommt insofern als sprachlicher Klimax und Tod zugleich durch eine beherzte Masturbation zur Darstellung.

Foto: Thomas Aurin

Shakespeares A Midsummer Night’s Dream ist durch die Übersetzungen ins Deutsche  als idyllischer Sommernachtstraum immer auch normalisiert und romantisiert worden. Man griff lieber zum Mückenspray, als die fiesen Mückenstiche in die Oberfläche der Zivilisation auszuhalten und trotzdem zu genießen. Oder wie Katrin Pahl in ihrer Lektüre schreibt: „Sexuelle und sexualisierte Gewalt färbt das Hochzeitsfest von Theseus und Hippolyta.“[14] Die vermeintlich klassische Athener Elite hat ihre Kehrseiten. Hermia (Maja Borm) will nicht nur nicht Demetrius (Christian Krug), sondern Lysander (Hans-Jürgen Simon) heiraten, sie wird gegen ihren Willen von ihrem Vater Theseus (Patrick Berg) an den Haaren in das Freilufttheater gezerrt. Theseus ist eine Art Prototyp des Patriarchen. Er verlangt nicht weniger, als dass Hermia mit seinem Urteil und Blick sieht:
„THESEUS
Rather your eyes must with his judgment look.
HERMIA
I do entreat your grace to pardon me.
I know not by what power I am made bold,
Nor how it may concern my modesty,
In such a presence here to plead my thoughts;
But I beseech your grace that I may know
The worst that may befall me in this case,
If I refuse to wed Demetrius.“

Foto: Thomas Aurin

Der Sommernachtstraum im Freilufttheater ist nicht zuletzt ein Stück über Gewalt und Rohheit, die sowohl in der Athener Elite des Theseus wie unter den Handwerkern als auch in der nächtlichen Zauberwelt des Elfenkönigs Oberon ausgeübt wird. Die Natur ist weniger romantisch als vielmehr gewalttätig, wenn Priamus sie anruft, als er den blutbefleckten Mantel seiner Thisbe findet. „O wherefore, Nature, didst thou lions frame? / Since lion vile hath here deflower’d my dear: / Which is–no, no–which was the fairest dame / That lived, that loved, that liked, that look’d / with cheer.“ Die Natur bringt den Löwen dazu, dass er die Geliebte nicht einfach getötet oder gegessen, vielmehr defloriert, also entjungfert hat. Oberon beschließt gar den Sommernachtstraum mit einer Anrufung und vieldeutigen Zähmung der Natur. Die Hand der Natur soll keine Gewalt mehr über die drei, geschlechtsverwirrten Paare ausüben. Was Menschen zum Beispiel mit einer Hasenscharte (hare lip) im Aussehen an die Grenze zum Tier bringen könnte, soll mit einem mehrdeutigen Zauberspruch von ihnen genommen werden. Doch wird mit der Zügelung der Natur durch den Naturgott Oberon, einer Art Faun, wirklich alles wieder gut?
„So shall all the couples three
Ever true in loving be;
And the blots of Nature’s hand
Shall not in their issue stand;
Never mole, hare lip, nor scar,
Nor mark prodigious, such as are
Despised in nativity,
Shall upon their children be.“

Foto: Thomas Aurin

Das Ensemble singt Money, Money von Fred Ebb und John Kander aus der Musicalverfilmung Cabaret von 1972, In der Nacht ist der Mensch nicht gern alleine von Willy Dehmel und Franz Grothe aus dem Musikfilm Die Frau meiner Träume mit Marika Rökk von 1944 sowie Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da von Otto Ernst Hasse und Theo Mackeben aus dem Spielfilm Tanz auf dem Vulkan von 1938. Doch genau in dieser Liederauswahl bricht in Zeiten der Covid-19-Pandemie ein Dilemma auf. Revuetheater mit Animation, verzweifelte, sexuelle Abenteuer in der Nacht, während der 2. Weltkrieg verloren geht, oder gar eine schwere Sause in der Nacht, wie sie Gustav Gründgens 1938 herbeisang, liegen jenseits dessen, was die Staatsgewalt für epidemiologisch vertretbar hält. Ob in Ballermann auf Mallorca oder auf der Hasenheide in Kreuzberg sind illegale Corona-Partys verboten und werden von der Polizei freundlich, aber mit Nachdruck aufgelöst. Die vielfältigen sexuellen Betätigungen mit Partnerwechseln unter Zauber- und/oder Drogeneinfluss des Sommernachtstraums liegen gerade gar nicht im Trend. Aber die durch umfangreichen Infektionsschutz wie Mund-Nasen-Bedeckung abgesicherte Freilufttheateraufführung muss frau/man gesehen haben.

Torsten Flüh

Gefängnistheater aufBruch
Shakespeare: Sommernachtstraum
Freilufttheater in der Jungfernheide
26., 29., 30. und 31. Juli sowie 1., 2., 5., 6., 7., 8. und 9. August 2020 jeweils um 19 Uhr


[1] Programmheft: Shakespeare: Sommernachtstraum. Berlin: aufBruch, 2020, S. (ohne Seitenzahl – 10).

[2] Siehe: Welterbesiedlungen Berlin: Grosssiedlung Siemensstadt – Ringsiedlung (Website)

[3] Deutsche Aidshilfe: HIV & Drogen: Kokain. (Website)

[4] David Bradby: Bernard-Marie Koltès: Chronology, Contexts, Connections. In: New Theatre Quaterly 49: Volume 13, Part 1. Cambridge: Cambridge University Press, 1997, S. 69.

[5] Nicole Sandt: Dealer und Kunden im Theater. Bei Koltès und Brecht. Berlin: Edition Lavallée, 2008, S. 11.

[6] In der Einsamkeit der Baumwollfelder zitiert nach ebenda S. 15-16, französisch S. 17.

[7] Ebenda S. 16 und S. 17. Eigene Übersetzung von „qui désir“ als Begehrenden statt „Wünschenden“.

[8] Katrin Pahl: Trommelschläger. Kleists camp und Shakespeares puns. In: Andrea Allerkamp, Günter Blamberger, Ingo Breuer, Barbara Gribnitz, Hannah Lotte Lunde, Martin Roussel (Hrsg.): Kleist-Jahrbuch 2017. Stuttgart: Metzler, 2017, S. 147.

[9] Ebenda.

[10] Siehe: Jeremy Hylton: The Complete Works of William Shakespeare: A Midsummer Night’s Dream. MIT 1993. (Website)

[11] Katrin Pahl: Trommelschläger … [wie Anm. 8] S. 148.

[12] Hans-Dieter Schütt in: Programmheft: Shakespeare … [wie Anm. 1] S. 3. 
Zu erinnern ist auch an die Enge in Shakespeares Theater, wie es anlässlich der Aufführungen von „Theater geht“ als „Audiowalk“ von Niels Foerster in der Brotfabrik angesprochen wurde. Siehe: Torsten Flüh: Wissenserschütterung. Zur Theaterpremiere „Theater geht“ in der Brotfabrik: In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. Juni 2020.

[13] Katrin Pahl: Trommelschläger … [wie Anm. 8] S. 148.

[14] Ebenda S. 147.

Hannah Arendts Zigarettenrauchen als Haltung

Philosophie – Zigarettenrauch – Theorie

Hannah Arendts Zigarettenrauchen als Haltung

Zur Ausstellung Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert und Hannah Arendt im Gespräch mit Günter Gaus

Auf dem Plakat zur Ausstellung Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert im Deutschen Historischen Museum raucht sie eine Zigarette. Der Zigarettenrauch kräuselt sich in Kringeln von der Zigarette. Hannah Arendt schaut nach oben. Zwischen ihren Lippen entweicht ein feiner Rauchstrahl. Das Zigarettenrauchen, das aktuell wegen des Sars-Cov-19-Virus als besonders schädlich für die Lunge gilt – eine Wissensformation –, gehörte zur Haltung der Politischen Theorie. Im Gespräch mit Günter Gaus aus der ZDF-Reihe Zur Person vom 28. Oktober 1964 rauchen beide mehrere Zigaretten auf durchaus unterschiedliche Weise. Als Titelmusik für die Reihe diente beziehungsreich Ludwig van Beethovens Musik zu einem Ritterballett. Im Nachhinein sprach Günter Gaus davon, dass es „das beste Gespräch“ gewesen sei, dass er je geführt habe.

Hannah Arendts Politische Theorie wird im Gespräch von ihr in Abgrenzung zur (männlichen) Philosophie formuliert. Günter Gaus führte zwischen dem 10. April 1963 und dem 8. März 2004 dreiundfünfzig Gespräche mit Politiker*innen, Künstler*innen und Schriftsteller*innen. Hannah Arendt war der 17. Gast und die erste Frau. 1929 geboren war für den jungen, doch nicht unerfahrenen Journalisten Gaus Hannah Arendt eine intellektuelle Herausforderung. 1963 geht es für Gaus zunächst um eine Einordnung seiner Gesprächspartnerin als Philosophin und Frau. Die geschlechtliche Einordnung misslingt Gaus nicht zuletzt mit seiner Eröffnungsfrage bei einer Art Raucher*induell. Das Zigarettenrauchen während des Interviews lässt sich in der Retrospektive als eine Art Signatur des 20. Jahrhunderts lesen. Was verrät das Rauchen über Hannah Arendt und die Politische Theorie?

Für die Ausstellung Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert ist zunächst einmal festzustellen, dass sie im Verhältnis zur John Heartfield-Ausstellung in der Akademie der Künste am Pariser Platz und zur Beethoven-Ausstellung der Staatsbibliothek im Standort Unter den Linden online rudimentär ausfällt. Hannah Arendt hätten die Möglichkeiten der Darstellung im Internet gewiss interessiert, obwohl oder auch weil sie im Zeitalter der mechanischen Schreibmaschine und des Zigarettenrauchs publizierte. Ihre Offenheit gegenüber den technischen Publikationsmöglichkeit ihrer Zeit lässt sich durchaus im legendären Gespräch mit Günter Gaus aufspüren. Auf YouTube gibt es immerhin einen ArendtKanal, dessen Ausgangsmaterial wiederum Zur Person ist. Das Gespräch ist transkribiert worden und auf rbb-online verfügbar. Doch der Zigarettenrauch lässt sich nicht transkribieren.

Rauchen und Denken gehörten nach Monika Boll als Kuratorin zusammen, weshalb das Zigarettenetui in der Ausstellung gezeigt wird. „Bei ihren unterschiedlichen Tätigkeiten durften Zigaretten nicht fehlen. In der Ausstellung ist ihr silbernes Zigarettenetui zu sehen, das sie immer in ihrer Handtasche dabei oder auf dem Schreibtisch liegen hatte. »Das war für sie wie die Aktentasche auch ein Arbeitsutensil. Das Rauchen, das Inhalieren und Ausrauchen gehört zum Fassen der Gedanken dazu«, erklärt Kuratorin Dr. Monika Boll.“[1] Wie lässt sich das Rauchen im Interview mit Günter Gaus genauer beschreiben? Auch in dem Film Hannah Arendt (2012) von Margarethe von Trotta raucht Barbara Sukowa in der Titelrolle häufig. Doch in keinem Dokument raucht sie so engagiert und politisch wie in Zur Person.

Wird der Intellekt durch das Rauchen und den Zigarettenrauch dargestellt? War rauchen eine intellektuelle Tätigkeit des 20. Jahrhundert? Nach einer Studie der University of Tel Aviv und des israelischen Krankenhauses Chaim Sheba Medical Center von 2010 haben junge Raucher „offenbar einen niedrigeren Intelligenzquotienten (IQ) als nichtrauchende Geschlechts- und Altersgenossen“ vermeldete die Ärzte Zeitung.[2] Das dürfte in einer historischen Perspektive für das 20. Jahrhundert als überraschend gelten. Denn nicht nur Günter Gaus und Hannah Arendt, deren Intelligenz unbestreitbar war, rauchten um die Mitte des 20. Jahrhunderts gesellig um die Wette. Noch zwischen 2007 und 2018 trafen sich Giovanni di Lorenzo und Helmut Schmidt „auf eine Zigarette“, um geistvolle, oft ironisch gefärbte Gespräche über das Weltgeschehen zu führen.[3] Erst recht trug sich in der Revolution der 68er unter starkem Einfluss von Zigaretten- und anderem Rauch manche systemverändernde Diskussion zu. Noch im Februar 2019 bedauerte Nils Markwardt im Philosophie Magazin der ZEIT, dass „mit dem Rauchen (…) eine philosophische Alltagsübung verloren“ gehe.[4] Markwardt führt nicht zuletzt den Philosophen des Existenzialismus, Jean-Pau Sartre, als Kronzeugen an. Die Wahrnehmung als „Weltaneignung“ eines „unerwartete(n) Ereignis(ses)“ sollte unter Rauch geschehen:
„Wie Jean-Paul Sartre bemerkte, ist sie (die Weltaneignung, T.F.) nämlich auch ein Mittel der Weltaneignung. „Jedes unerwartete Ereignis“, schrieb der französische Denker in seinem Hauptwerk Das Sein und das Nichts, „das meine Augen träfe, war, so schien mir, grundlegend verarmt, sobald ich ihm nicht mehr rauchend entgegentreten konnte. Rauchend-von-mir-aufgenommen-werden-können: diese konkrete Qualität hatte sich universell auf den Dingen ausgebreitet.“ Und jeder, der selbst einmal geraucht hat, weiß tatsächlich allzu gut, dass Bilder, Musik oder Gefühle sich während des kontemplativen Rauchens, vielleicht die konzentrierteste Form der inneren Einkehr, stärker ins Gedächtnis einbrennen können als unter bloßer Frischluftzufuhr.“[5]

Das Rauchen als Praxis der „Weltaneignung“ durch Anreicherung oder Intensivierung des unerwarteten Ereignisses wird zur Selbstvergewisserung der Existenz. Eine bessere Werbung für das Rauchen für intellektuelle Köpfe hätte es kaum geben können. „Mir raucht der Kopf“, beschreibt umgangssprachlich eine hohe Intensität und gewisse Eigendynamik des Denkens im Deutschen. Als Schriftstellerin mit dem Männerpseudonym Georges Sand karikierte sich Amantine Aurore Lucile Dupin de Francueil in einer Tintenzeichnung selbst, obwohl sie auf keinem Portrait mit einer Zigarette gemalt wurde. Rauchen war wenigstens bis in das 19. Jahrhundert eine den Männern vorbehaltene Tätigkeit. In der Novelle Carmen von Prosper Mérimée raucht Titelheldin als Arbeiterin einer andalusischen Tabakfabrik seit 1847. Doch das waren Ausnahmen. Erst im 20. Jahrhundert wird das Rauchen für die Frau zu einer verbreiten Selbstpraxis. Das Deutsche Historische Museum gibt im Bereich Die neue Frau nicht nur einen Hinweis auf „Bubikopf, Zigaretten aufgesteckt im Spitz und knielange Röcke“ als eine „neuartige() Massenkultur“, stellvertretend wird auch die Zigarettenwerbung „Leichte Regatta“ aus der Zeit um 1930 abgebildet.[6] Das 20. Jahrhundert war eines voller Zigarettenrauch. Die letzte Zigarette, die Zigarette danach, auf eine Zigarettenlänge, die Zigarettenpause etc. waren nur einige, sagen wir ruhig, biopolitische Formulierungen. Unter der Biopolitik der Gesundheitsratgeber und Gesundheitskassen droht eine ganze Zigarettenwelt zu verschwinden. Denken und miteinander sprechen wird ohne Zigarette ein anderes werden.

Wir wissen nicht, wann Hannah Arendt begann, Zigaretten zu rauchen. Wir wissen auch nicht, ob Hannah Arendt von George Sand gelesen oder gehört hatte. Vielleicht hatte sie einfach irgendwann die Selbstpraxis des Zigarettenrauchens übernommen. Rein historisch zieht das Bild der „neuen Frau“ der Zwanziger bis frühen Dreißiger Jahre als Zigarettenrauchfahne durch den Raum. Rauchte sie eine bestimmte Zigarettenmarke? Hat sie eine Sprache des Rauchens entwickelt? In Zur Person raucht sie auf sehr verschiedene Arten. Sie nimmt Haltungen ein, die man wahlweise als nonchalant oder lässig bezeichnen könnte. Phasenweise raucht sie kaum und hält die Zigarette nur zwischen Zeige- und Mittelfinger. Dann gibt es ein oder zwei hastige Züge, als müsste eine Verärgerung abgeleitet werden. Zweimal stößt sie den Zigarettenrauch durch beide Nasenlöcher aus, als setze sie zu einer Art Gegenangriff auf eine Frage von Gaus an. Sie denkt, was sie als nächstes sagen wird. Wieweit waren Gaus‘ Fragen vorher abgestimmt? Kamen seine wohlformulierten Fragen vom Zettel? Wie zündet sich Hannah Arendt eine Zigarette an, während Günter Gaus seine Frage stellt?   

Hannah Arendt hat wiederholt Gedanken zum Verhältnis von Intellektualität und Denken formuliert. Im Gespräch mit Günter Gaus spricht sie von einem Erfahrungswissen mit der Intellektualität, das sich in kürzester Zeit gleichschalten lasse. Dieser, wie sie es nennt, „Beruf“ der Intellektualität wird als eine Wissenspraxis von ihr beschrieben und verworfen. Intellektualität nutzt und benutzt Wissensformationen, um, sagen wir ruhig, ohne Nachdenken gleiches Wissen anzunehmen. Das was eine Mehrheit meint zu wissen, wird als eigenes, oft Karriere förderndes Wissen angenommen. Sie distanziert sich im höchsten Maße von Intellektualität als einem Wissen des Richtigen und Erfolgversprechenden. Denn es ging ab 1933 nicht zuletzt um intellektuelle Karrieren im Staatsapparat, Akademien und Universitäten.
„… Was damals in der Welle von Gleichschaltung, die ja ziemlich freiwillig war, jedenfalls noch nicht unter dem Druck des Terrors, vorging: Das war, als ob sich ein leerer Raum um einen bildete. Ich lebte in einem intellektuellen Milieu, ich kannte aber auch andere Menschen. Und ich konnte feststellen, daß unter den Intellektuellen die Gleichschaltung sozusagen die Regel war. Aber unter den anderen nicht. Und das hab ich nie vergessen. Ich ging aus Deutschland, beherrscht von der Vorstellung – natürlich immer etwas übertreibend –: Nie wieder! Ich rühre nie wieder irgendeine intellektuelle Geschichte an. Ich will mit dieser Gesellschaft nichts zu tun haben. Ich war natürlich nicht der Meinung, daß deutsche Juden und deutschjüdische Intellektuelle, wenn sie in einer anderen Situation gewesen wären, als in der sie waren, sich wesentlich anders verhalten hätten. Der Meinung war ich nicht. Ich war der Meinung, das hängt mit diesem Beruf, mit der Intellektualität zusammen. Ich spreche in der Vergangenheit. Ich weiß heute mehr darüber …“[7]

Schon zuvor hatte Gaus sie nach dem Bewusstwerden ihrer „intellektuellen Begabung“ statt der Intelligenz gefragt. Die „intellektuelle Begabung“ wird von Arendt mit ihrer Herkunft beantwortet, in der es eine Bibliothek gab. Arendt verwirft auch das Intellektuelle wie die Begabung. Sie habe das „nie mit der Begabung gekoppelt“. Wurde es denn zu ihrer Zeit verkoppelt? Und wenn, dann wie? Gerade in den Wissensbereichen von Intelligenz und Begabung, wie sie seit der Zeit um 1900 in der Psychologie und Pädagogik z.B. von William Stern mit „Höheren Intelligenztests zur Prüfung Jugendlicher“ in dem Buch Das psychologisch-pädagogische Verfahren der Begabtenauslese 1918 entwickelt worden waren[8], hält Hannah Arendt dagegen, weil sie auf eine Nachträglichkeit des Wissens bestehe. Erst im Nachhinein sei ihr bewusst geworden, dass eine Bibliothek wie die ihrer Familie bzw. des Großvaters keine Normalität war. Begabung und Intelligenz wurden dagegen in der Psychologie, Pädagogik und der Arbeitsorganisation bereits frühzeitig gekoppelt worden. Gaus formuliert seine Frage mit großer Höflichkeit im kursierenden Wissen um die Begabung. Doch genau diese Form des Wissens lässt Arendt nicht zu. Wie Sterns bereits schwieriger Begriff der „Begabtenauslese“ anzeigt, führt die Begabung ein Wissen um Selektionsprozesse mit sich.

Hannah Arendt präferiert für sich die Begriffe Denken und Nachdenken. „Alles Denken ist Nachdenken. Der Sache nachdenken.“[9] Das macht einen Unterschied, weil das von ihr z.B. in den Heften oder „Denktagebücher(n)“ schon im Juli 1950 bedachte Verhältnis von Handeln und Denken anders funktioniert als die (messbare) Intelligenz oder die Intellektualität. Sie knüpft dafür an Heidegger an. In den Heften notiert sie nicht ihre Gedanken, vielmehr schreibt sie ihr Nachdenken. Sie exzerpiert kein Wissen, um es festzuhalten. Vielmehr wird das Wissen auch mit einem poetischen Zitat konterkariert.
„Handeln und Denken: Heidegger kann nur meinen, dass es auf der Selbigkeit von Seyn und Denken beruht, und zwar dann, wenn Denken als das Sein des Menschen verstanden wird im Sinne des Seyns von Sein. Denken wäre dann das im Menschen zum Handeln befreite Seyn. Denken ist hier weder Spekulation noch Kontemplation noch »cogitare«. Es ist eher die vollendete Konzentration oder das, wodurch und worin sich alle anderen »Fähigkeiten« konzentrieren, die absolute Wachheit.
»Why did I wake since waking I shall never sleep again?«“[10]

Dass das Denken, das sei, „wodurch und worin sich alle anderen »Fähigkeiten« konzentrieren“, gibt einen Wink auf das Andenken. Angedacht wird von Hannah Arendt ein ebenso performatives wie praxeologisches Denken. Beim Schreibendenken stellt sich „die absolute Wachheit“ ein, die sogleich das englischsprachige Zitat vom Erwachen folgen lässt – „»Why did I wake since waking I shall never sleep again?«“ -. „Wachheit“ wird zum im Englischen mehrdeutigen „wake“, das daran erinnert, dass man niemals wieder wird schlafen können, wenn man einmal erwacht ist. „Denken als das Sein des Menschen“ spricht die Existenz an. Und es ist im Gespräch mit Günter Gaus als werde diese Art des Denken (mit Zigarette) vorgeführt. Günter Gaus bläst in zwei Einstellungen und Passagen den Zigarettenrauch gleich einem Strahl an Hannah Arendt vorbei. Sollte man das ein zielgerichtetes, telologisches Denken nennen? Doch der Rauchstrahl erfolgt nicht im Voraus, sondern quasi nachträglich. Sie macht das nie. In einigen Momenten könnte man daran denken, dass nicht sie die Zigarette hält, sondern sie sich an dieser festhält.

Die geschlechtliche Ordnung – Mann/Frau, Philosophie/Theorie – wird durch das Rauchen und die Gesten, durch die Performance von Hannah Arendt angegriffen. Sie benutzt wiederholt den Zeigefinger, um eine Pointe zu setzen, oder schaut auf ihre Fingernägel der rechten Hand, um widersprüchliche Erinnerungen anzudeuten. Der Blick auf die Fingernägel unterstreicht ein individuelles Erfahrungswissen, das mit einem Regelverstoß pointiert wird. Denn sie erzählt von der Emigration von Jugendlichen aus Deutschland über Frankreich nach Palästina Anfang der dreißiger Jahre. Doch um das geschlechtliche Wissen von der Nationalität zu unterlaufen, „schmuggelte“ Arendt polnische Kinder unter die deutschen. Was als kecke Anekdote formuliert und mit einer eigentümlichen Geste vorgeführt wird, gibt einen Wink auf eine theoretisch durchdachte Haltung zu Ordnungs- und Geschlechtermodellen. Es ist auch eine pointierte Herausforderung an das Denken und Nachdenken der Zuhörer*innen wie Zuschauer*innen, von denen Arendt sich nicht nur durch die mehr oder weniger verfehlenden Fragen des Journalisten Gaus ein Bild gemacht hat.
„Aus einer sehr frühen Zeit; ich habe damals einen sehr großen Respekt davor gehabt. Die Kinder empfingen eine Berufsausbildung, Umschulausbildung. Hier und da habe ich auch polnische Kinder untergeschmuggelt. Es war eine reguläre Sozialarbeit, Erziehungsarbeit.“[11]  

Das Gespräch ist nicht nur, weil die Kameras sich auf Arendt konzentrieren, eine große Performance. Aufgeführt wird kein Lebenslauf oder eine Geselligkeit, sondern ein Denken, das in Deutschland und im Deutschen Fernsehen bzw. dem Zweiten Deutschen Fernsehen aus Mainz wenigstens einzigartig, wenn nicht konträr war. Ludwig Erhard war am 16. Oktober nach der Ära Adenauer Bundeskanzler geworden. Erst am 10. April war in Lugano der ehemalige SS-Obersturmbannführer und KZ-Mitarbeiter von Adolf Eichmann Erich Rajakowitsch verhaftet worden. Das Wiener Landgericht verurteilte ihn 1965 zu einer skandalös geringen Haftstrafe von zweieinhalb Jahren. Der Bericht vom Eichmann Prozess in Jerusalem 1961, den Arndt geschrieben hatte, hatte zu heftigen Angriffen auf sie geführt, die sie noch immer sehr erregen. Die Frage nach den Reaktionen auf den Bericht vom Eichmann Prozess ruft bei Arndt heftige Reaktionen hervor, die sie zur Zigarette greifen und das Feuerzeug mit beiden Händen halten lässt, während sie die Zigarette mit einem tiefen Zug anzündet.

Sind Gefühle Denken? Wir wissen nicht, was Hannah Arendt fühlt und denkt, als sie im Kontext der Eichmann-Fragen zu einer weiteren Zigarette greift. In dem, was sie im Fernsehstudio mit Scheinwerfern von der Decke und Fernsehkameras sagt, bleibt sie kontrolliert, schlagfertig und politisch eigensinnig. Die beiden zeitgenössischen Wohnzimmersessel mit Synthetikbezug und schmalen, geschwungenen Armlehnen inszenieren eine funktionale Intimität und Behaglichkeit, die es nicht gibt. Später wird Arndt darauf Bezug nehmen, dass ihr Lehrer und Doktorvater Karl Jaspers vor dem Fernsehn sitzen könnte. Sie hat durchaus ein Gespür für die Medialität, in die sie sich mit dem Gespräch begeben hat. Denn bereits im März 1964 hatte sie mit Rolf Hochhuth für das Columbia Broadcasting System und das Creative Arts Television über dessen Stück Der Stellvertreter/The Deputy zum ersten Mal ein Gespräch im Fernsehen geführt. Sie war die Interviewerin und rauchte nicht. Dass Karl Jaspers sie im Fernsehn sehen und hören könnte, ist ihr auch ein wenig peinlich, obwohl erwünscht. – „Wo Jaspers hinkommt und spricht – ich hoffe er hört diese Sendung“[12] – Eine Peinlichkeit, die am Schluss nicht zuletzt an die Medialität und die Performativität des Sprechens erinnern soll und gleichzeitig daran erinnert, dass Arendt und Gaus eben nicht in einem Wohnzimmer zu zweit sitzen. Vielmehr möchte Gaus im Fernsehn den Skandal um das Buch Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht der Banalität des Bösen, das im Piper-Verlag unter seinem Verlagsleiter, dem ehemaligen, zweifellos unerkannten SS-Obersturmbannführer aus der Abteilung Kultur und Kunst im verbrecherischen Reichssicherheitshauptamt Hans Rößner, erschienen und ab dem 17. September 1964 gewiss auf der 16. Internationalen Frankfurter Buchmesse präsentiert worden war, durch einige Informationen über dessen Autorin im Gespräch rahmen. Im Studio befinden sich mehrere Menschen, die z.B. das Glas mit Wasser nachschenken. Hannah Arendt erfuhr nie, mit wem sie es als Verlagsleiter zu tun hatte. Sie winkt im Gespräch der unsichtbaren Person freundlich zu. Denken und Rauchen werden durch ein Glas ergänzt. Da Günter Gaus freundlich und ruhig seine Fragen mit einem Hannoverischen Akzent auf St stellt, entsteht häufig eine Schere zwischen der journalistischen Schärfe seiner Fragen und der gelassenen Wohnzimmeratmosphäre. Doch Hannah Arendt macht das journalistische Ereignis zu einem kleinen Colloquium mit Gaus und den Deutschen, wenigstens den Zuschauern des ZDF.

Die Aufzeichnung von Zur Person wird heute oft in Einzelteile thematisch zerschnitten. Doch Hannah Arendts Antworten formulieren auf unterschiedlichen Ebenen kein abgeschlossenes Wissen, mit dem man sozusagen nach Hause gehen könnte. Sie ist nicht zuletzt rhetorisch geübt, so dass sie ein gewisses Repertoire rhetorischer Figuren abrufen kann. Sie verweist nicht umsonst auf „einen ziemlich großen Teil deutscher Gedichte“, der sich „immer irgendwie im Hinterkopf“ bewege. Was beiläufig als Illustration ihres Verhältnisses zur deutschen Sprache formuliert wird, gibt zugleich einen Wink auf das Denken und wie es von Arndt gesagt wird. Ihre Formulierungen haben immer auch ein poetologisches Reservoir. Und wo wäre die Sprache vieldeutiger als in der Poesie? Das vereitelt indessen eine begriffliche Festlegung. Da Arndt ausgerechnet bei dieser Antwort auf eine englische Redewendung – „in the back of my mind“ – verfällt, gelten die Gedichte auch für ihr Schreiben in Englisch.
„Im Deutschen kenne ich einen ziemlich großen Teil deutscher Gedichte auswendig. Die bewegen sich da immer irgendwie im Hinterkopf – in the back of my mind –; das ist natürlich nie wieder zu erreichen. Im Deutschen erlaube ich mir Dinge, die ich mir im Englischen nicht erlauben würde. Das heißt, manchmal erlaube ich sie mir jetzt auch schon im Englischen, weil ich halt frech geworden bin, aber im allgemeinen habe ich diese Distanz behalten. Die deutsche Sprache jedenfalls ist das Wesentliche, was geblieben ist, und was ich auch bewußt immer gehalten habe.“[13]

Hannah Arendt verlässt sich auf keinen akademischen Konsens, vielmehr ist sie „frech geworden“ und bringt ihm wie der Intellektualität allergrößte Kritik durch rhetorische Figuren entgegen. Das Frechsein hat Folgen für den Konsens als vorherrschenden Diskurs. Sie gebraucht Begriffe wie schmuggeln, Pappenstiel, Propagandagewäsch oder frech, die in keinen akademischen Rahmen oder Akademismus passen. Sie hält die Zigaretten auf verschiedene Arten, so dass sie sie sogar einmal zwischen den Spitzen von Daumen und Zeigefinger an die Lippen führt. Sie pafft. Sie inhaliert. Sie schnaubt. Sie saugt. Sie schmaucht und zieht. Das sind nicht unbedingt gebildete, prätentiöse Arten des Rauchens. Sie geben ihr schon fast einen proletarischen, allemal aber subversiven Hauch. Während sich die deutschen Akademikerfrauen auf die Lockenwickler und Dauerwelle sozusagen eingeschossen haben, ist ihre Frisur schwer zu beschreiben. Sie trägt für den großen Auftritt im Fernsehen gerade keine ondulierte Frisur wie Barbara Sukowa als Hannah Arendt. Die fast schon helmartige Haartracht kleidet eine eigensinnige Kämpferin mit Haltung in einem Kostüm mit Bluse.

Torsten Flüh   

Deutsches Historisches Museum
Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert
Pei-Bau
bis 18. Oktober 2020
Sonntag bis Mittwoch 10:00 bis 18:00 Uhr


[1] Siehe: Heike Mund: Rauchen und Denken gehörten für Hannah Arendt zusammen: Ihr Zigarettenetui. In: Deutsche Welle 11.05.2020.

[2] Suchtkrankheiten: Zusammenhang zwischen Rauchen und IQ. In: ÄrzteZeitung 07.04.2010, 15:17 Uhr.

[3] Siehe: Serie Auf eine Zigarette. In: Die Zeit.

[4] Nils Markwardt: Die letzte Zigarette. In: Die Zeit 11. Februar 2019, 20:44 Uhr.

[5] Ebenda.

[6] Siehe: Die neue Frau. In: Lemo (Lebendiges Museum Online).

[7] Zitiert nach: Zur Person. Günter Gaus im Gespräch: Arendt, Hannah: In: rbb online.

[8] William Stern: Höhere Intelligenztests zur Prüfung Jugendlicher. In: ders.: Das psychologisch-pädagogische Verfahren der Begabtenauslese. Leipzig: Quelle & Meyer, 1918.

[9] Zur Person: … [wie Anm. 7].

[10] Hannah Arendt: Denktagebuch. Herausgegeben von Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann. München/Berlin/Zürich: Piper, 2016, S. 12.

[11] Zur Person: … [wie Anm. 7].

[12] Hannah Arendt betont das „spricht“ mit scharfem spr nach norddeutscher, um nicht zu sagen, Oldenburger Aussprache. In der Transkription ist der Einschub nicht enthalten. Siehe Video.

[13] Zur Peson: … [wie Anm. 7]

Beethovens göttlichste Komposition

Brief – Biographie – Beethoven

Beethovens göttlichste Komposition

Zur Ausstellung der Beethoven-Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin

»Diesen Kuß | der ganzen | Welt!« steht nach Art mittelalterlicher Spruchbänder unterteilt auf den drei Fahnen im Wind über dem Portal der Staatsbibliothek, Unter den Linden 8. Die Ausstellung der Beethoven-Sammlung des Hauses ist ein grandioses Fest im seit 2005 in mehreren Bauabschnitten nunmehr abschließend restaurierten Stammhaus der Staatsbibliothek zu Berlin. Im Humboldt-Saal wird frontal auf ganzer Breite der Schlusschor der 9. Sinfonie von Ludwig van Beethoven gefeiert. Besucher*innen sitzen unter Kopfhörern auf mit wie Notenpapier eingeschlagenen Hockern und leise klingt in die Stille des gedämpft beleuchteten Ausstellungsraums: „Diesen Kuss der ganzen Welt!“ Das gedimmte Licht, die ganze Lichtregie, schützt die ausgestellten, hoch lichtempfindlichen Autographen von des Komponisten Hand. – Die 9. Sinfonie von Ludwig van Beethoven mit großem Orchester und großem Chor darf weltweit derzeit nicht aufgeführt werden.

Die Ausstellung anlässlich des 250. Geburtstags Ludwig van Beethovens im Dezember 2020 wird stärker von dem sanften Ton der Klimaanlage zur konservatorischen Sicherung der einzigartigen, überwiegend mit Bleistift geschriebenen Handschriften untermalt. Bisweilen ein Flüstern, ein Schlurfen, in der Audioecke leise ein Fetzen Musik. Wann Ludwig van Beethoven geboren wurde, ist nicht genau bekannt. Getauft wurde er am 17. Dezember 1770 in Bonn am Rhein. Seit 1800 ertaubte zunehmend einer der größten Komponisten der Musikgeschichte, so dass er in sogenannten „Konversationsheften“ mit seinem Umfeld kommunizierte. Die Menschen aus seinem Umfeld schrieben ihre Anliegen nieder, woraufhin er meistens mündlich antwortete. Die in der Beethoven-Sammlung erhaltenen „Konversationshefte“ wurden wie alle anderen Handschriften nun „vollständig neu katalogisiert und komplett digitalisiert“.[1] Sie stellen vielleicht die größte Nähe zu Beethoven wie seinen Kompositionspraktiken her und sind materiell ausnahmsweise in der Ausstellung zu sehen.    

Gleich vorweg: Die einzigartige, von Friederike Heinze, Martina Rebmann und Nancy Tanneberg kuratierte Ausstellung hätte vom 11. März bis 30. April 2020 gezeigt werden sollen. Wir wissen, dass das unmöglich wurde. Seit 25. Juni ist die Ausstellung nun bis 24. Juli 2020 bei üblichen Hygieneregeln zur Covid-19-Pandemie mit einem Zeitfenster von 60 Minuten zu sehen. Das ist fatal. Die 60 Minuten reichten dem Berichterstatter ganz und gar nicht. Die Ausstellung ist zu umfangreich und die Exponate sind zu außergewöhnlich, um sich in die Sammlung und Ludwig van Beethovens Produktion, seinem Schaffensprozess, in 60 Minuten selbst bei digitaler Vorbereitung mit dem Blog der Staatsbibliothek zu Berlin hineinzudenken. Der Begleitband aus dem Michael Imhof Verlag ist aufwendig und kenntnisreich mit wunderbaren Beiträgen ediert, aber kein Ersatz für einen Ausstellungsbesuch. Katalog und digitaler Auftritt ebenso wie die einzelnen digitalisierten, jetzt Open Access zugängliche Sammlung z.B. mit dem sogenannten Brief an die „Unsterbliche Geliebte“ können nur eine Ergänzung zur Ausstellung sein. Es wäre sehr zu wünschen, dass die Ausstellung verlängert wird.

Beethoven-Biographien gibt es viele. Doch die Lebendmaske, die Brille mit erheblichen Dioptrien, der Spazierstock und all die Handschriften sind dann noch einmal etwas ganz Anderes. Walter Benjamin hätte es womöglich Aura genannt. Die Ausstellung birst fast vor Aura. Für sein Antrittskonzert als Chefdirigent bei den Berliner Philharmonikern am 23. August 2019 in der Philharmonie hatte sich Kirill Petrenko das Autograph der 9. Sinfonie in der Musikabteilung der Staatsbibliothek vorlegen lassen, um sich einzustimmen. Wenn die Biographienschreiber überhaupt bis auf die Ebene der Autographen in der Staatsbibliothek zu Berlin nachforschten, dann befinden wir uns mit den Skizzen, Notblättern, ganzen Opernfassungen des Fidelio, der Sinfonien und Konzerte sowie den „Konversationsheften“ am Nullpunkt der Biographie- und Musik-Literatur. Der englische Dirigent, Musikwissenschaftler, Herausgeber und Beethoven-Experte Jonathan Del Mar berichtet in einer „persönliche(n) Sichtweise“ wie er z. B. im „Autograph des Kaiserkonzerts … mehrere … Stellen“ entdeckte, „an denen Beethoven offenbar beiläufig etwas niederschrieb und die einen Einblick in Beethovens damalige Sorgen geben (Östreich löhne Napoleon auf Blatt 74r) oder seine Gedanken hinsichtlich des Musikcharakters zeigen (dämmernd auf Blatt 75r und nachdrückich auf Blatt 87r)“.[2]  

In den Autographen schauen wir Beethoven beim Denken über die Schulter, lässt sich nicht nur und nicht erst mit Jonathan Del Mars „Sichtweise“ sagen. Dann ist es noch immer eine Frage, wie die „Stellen“ zu lesen und zu kontextualisieren sind. Doch vielleicht gibt die Eigenart „offenbar beiläufig etwas nieder(zuschreiben)“ einen Wink auf ein bisweilen wildes Denken, das zu Papier gebracht werden wollte. Del Mar entdeckte mit Clemens Brenneis auch in einer Skizze „ein paar Takte, die eigentlich für die Partitur vorgesehen waren“. Könnte eine solche Beobachtung für eine Art Montageverfahren im Beethovenschen Denken und Komponieren sprechen?
„Bei genauerer Untersuchung konnte nun festgestellt werden, dass es sich um den Konzertschluss, also die letzten fünf Takte der Ouvertüre zu Die Geschöpfe des Prometheus handelte, obwohl diese Seite als eine „Skizze für ein Orchesterwerk, vielleicht der erste Satz der Sinfonie Nr. 1?“ katalogisiert worden war! Eine tolle Entdeckung, obwohl wir später herausfanden, dass Richard Kramer dies bereits zuvor herausgefunden hatte.“[3]

Der französische Schriftsteller und Musikkritiker Romain Rolland gehört nach Beethovens Sekretär und ersten Biographen Anton Schindler zu den einflussreichsten. Bereits Schindler thematisiert 1840 in der Einleitung seiner Biographie von Ludwig van Beethoven das Genre auf seine Zuverlässigkeit, wenn er von einem Gespräch mit Beethoven schreibt, dass jener gesagt habe, „dass es ganz gewiss zu vermuthen sey, dass viele geschäftige Federn sich auch nach seinem Dahinscheiden beeilen würden, die Welt mit einer Unzahl von Anekdoten und Histörchen über ihn zu unterhalten, die aller Wahrheit ermangeln“.[4] Dabei gilt nun gerade dieser als Quelle der erhaltenen „Konversationshefte“ und als postumer Finder des „Briefes an die Unsterbliche Geliebte“ in einem Geheimfach von Beethovens Schreibtisch. So ist es denn auch Schindler, der in seiner Biographie zuerst einen Kontext von Komposition, „musikalische(r) Idee“, Gefühlen, Krankheit und Brief herstellt, um einen „Centralpunkt“ des künstlerischen Schaffens festzulegen.
„Nachdem diese unheilvollen Stürme ausgetobt hatten und das Gemüth unsers Beethoven wieder etwas beruhigt war, schrieb er die vierte Sinphonie in B-dur, der Form nach unstreitig die abgerundetste von allen andern, und so folgte auf  Sturm und Gewitter plötzlich der heiterste Sonnenschein. So schnell wir solche Uebergänge in der Natur beobachten, eben so schnell war der Uebergang seiner Gemüthsbewegungen, woraus nicht wenige Kontraste erfolgten. Eine musikalische Idee z.B., die sich seiner Phantasie bemächtigte, konnte plötzlich alle Wolken von seiner Stirn verscheuchen, und Alles um ihn herum vergessen machen, nur jenen Centralpunkt nicht, in dem alle seine Gefühle zusammenliefen. Das war die Liebe zu seiner J u l i a, die damals den höchsten Grad erreicht, und sich aller seiner Ideen bemächtigt zu haben schien. Im Sommer von 1806 machte er, wegen des immer mehr zunehmenden Ohrenübels, eine Reise nach einem ungarischen Bade. Von dort schreibt er an seine Geliebte folgende drei interessante Briefe, die ich in seiner Handschrift besitze.“[5]  

Romain Rolland, der 1915 den Literaturnobelpreis erhielt, nachdem er 1903 Vie de Beethoven in den Cahiers de la quinzaine veröffentlicht hatte, fand in der Verlobung Threse von Brunswicks mit Ludwig van Beethoven im Mai 1806 eine gänzlich andere Kontextualisierung der „drei interessante(n) Briefe“, die niemals abgeschickt worden waren. Für den Pazifisten Rolland wird der Frieden in Beethovens Leben und Liebesleben zum Ursprung von Kompositionen und Referenz der „Appassionata“, Klaviersonate Nr. 23. Doch der Titel „Die Leidenschaftliche“ wurde erst postum 1838 durch den Hamburger Verleger Cranz als gewiss verkaufsfördernd der Klaviersonate hinzugefügt.
„Dieser Frieden konnte kein dauernder sein, wenn auch der wohltuende Einfluß der Liebe bis ins Jahr 1810 anhielt. Beethoven verdankt ihm ohne Zweifel die Herrschaft über sich selbst, durch die er seinem Genius die herrlichsten Früchte abrang: die klassische Tragödie der C-Moll-Symphonie und den göttlichen Traum eines Sommertages „Die Pastorale“ (1808), 1807 erscheint die „Appassionata“, zu der ihn Shakespeares „Sturm“1) (Gespräch mit Schindler) inspirierte und in der er seine bedeutendste Sonate sah. Sie ist Theresens Bruder gewidmet, ihr selbst, 1809, die träumerisch-phantastische Sonate op. 78.
In einem undatierten²) (Scheint aber in Korompa, bei den Brunswick geschrieben worden zu sein.), an die „unsterbliche Geliebte“ gerichteten Brief, tritt nicht weniger als in der Appassionata die Stärke seiner Leidenschaft zu Tage.“[6]

Was als „Ohrenübel“ oder „Leiden“ fortwährend umschrieben wird, erschwerte mit Sicherheit die Kommunikation mit der Umwelt entschieden, worauf die „Konversationshefte“ hinweisen und zugleich hinwegtäuschen mögen. Die zunehmende Taubheit war, wie Ludwig van Beethoven an seinen Kurländischen Freund Carl Amenda am 1. Juni 18000 schreibt, nicht nur ein Verlust für das Hören von Musik, vielmehr war sie von so großer Peinlichkeit, dass er ihn bat, sie „als ein großes Geheimiß aufzubewahren und Niemand, wer es auch sei, anzuvertrauen“.[7] Der Brief an Carl Amenda wird in der Ausstellung neben dem an die „Unsterbliche Geliebte“ gezeigt. Das ist frappierend. Denn lexikalisch ist der Brief an Amenda kaum weniger leidenschaftlich als der an die unauffindbare Adressatin des anderen Briefes. Während die sogenannten drei Briefe an die derart inspirierende Geliebte von Beethovens Hand stammen, handelt es sich bei dem Amenda-Brief um eine „Abschrift“ durch Anton Schindler. Wer schreibt wem? Und wie werden die Leidenschaften verteilt?
„Mein lieber, mein guter Amenda, mein herzlicher Freund, mit inniger Rührung, mit gemischtem Schmerz und Vergnügen habe ich Deinen letzten Brief erhalten und gelesen. – Womit soll ich Deine Treue, Deine Anhänglichkeit an mich vergleichen, o das ist recht schön, daß Du mir immer so gut geblieben, ja ich weiß Dich auch mir vor allen bewährt und herauszuheben, Du bist kein Wiener Freund, nein Du bist einer von denen, wie sie mein vaterländerischer Boden hervorzubringen pflegt, wie oft wünsche ich Dich bei mir, denn Dein Beethoven lebt sehr unglücklich: wisse, daß mir der edelste Theil, mein Gehör, sehr abgenommen hat, und ich verschwieg’s, nun ist es immer ärger geworden, ob es wird wieder können geheilt werden, das steht noch zu erwarten, es soll von den Umständen meines Unterleibs herrühren; was nun den betrifft, so bin ich auch fast ganz hergestellt, ob nun auch das Gehör besser werden wird, das hoffe ich zwar, aber schwerlich, solche Krankheiten sind die unheilbarsten.“[8]

Ludwig van Beethoven ist nicht als herausragender Briefeschreiber in die Literatur-, sondern die Musik-Literaturgeschichte eingegangen. Doch der Brief an die „Unsterbliche Geliebte“ und nicht der an Amenda mit dem Hinweis auf den „Unterleib()“ oder Genitalien und einer möglichen Infektionskrankheit ist in die Biographie-Literatur, als ein „Liebesbrief als Welträtsel“ in eine „Geschichte des Liebesbriefs“[9] und die historische Forschung eingegangen. Wer die wie ein Name großgeschriebene „Unsterbliche Geliebte“ war, wird seit der Auffindung des eher dreiteiligen Briefes diskutiert und erforscht. Schnell hatte sich Anton Schindler mit „J u l i a“ bzw. Julie („Giulietta“) Guicciardi als nicht sehr gut informiert erwiesen. Eine gewisse Shakespeare-Begeisterung könnte bei Julia mit Beethoven als Romeo ausgerechnet für Schindlers „wahre“ Biographie Pate gestanden haben. Auch Romain Rollands Therese von Brunsvik hielt den Nachforschungen nicht Stand. Dieter Hildebrandt kommt auf „mehr als ein Dutzend Damen der besseren Gesellschaft“[10], um zum Schluss zu kommen, dass „Beethoven (die Ängste) … nur auskomponieren konnte“, für die „Franz Kafka 100 Jahre später und mehr als zehn Jahre lang eine neue Sprache“ gefunden habe.[11]

Die Suche nach der Adressatin ist nicht zuletzt eine Ursprungsfrage für die Literatur und Musik. Klaus Martin Kopitz nimmt im Begleitband den Brief zum Anlass für eine Abgleichung von „Fakten und Fiktionen“. Er konzentriert sich auf die vermeintlichen Fakten im Brief, die eine Datierung auf den 6. Juli 1812 ermöglichen, obwohl das Datum nur auf den „6ten Juli Morgends . _“ lautet.[12] Das Jahr in der Handschrift mit einem „. _“ anzugeben und auszulassen, könnte auch gelesen werden. Aber wie? Hatte Beethoven das Jahr vergessen? Warum die Platzhalter Punkt und Unterstrich für das Jahr? Für einen Komponisten sind Punkt und Unterstrich mehr oder weniger geläufige Kompositionszeichen. Sie gehen in die Richtung einer Abschließung und einer Zäsur oder Pause. Es lässt an eine Rhythmisierung denken. Jedenfalls hätte man sich fragen können, was die merkwürdige Interpunktion anzeigen soll, bevor man in der Forschung das Jahr 1812 als eines von vieren zu Beethovens Lebzeiten ermittelte, an dem ein 6. Juli auf einen Montag fiel. Gleichviel, der 6. Juli 1812 passt zu einem Bericht aus der deutschsprachigen Prager Oberpostamts-Zeitung, den Kopitz in der Forschung zum Brief erstmals präsentiert.
„Das hier am 4. ausgebrochene heftige Gewitter scheint sich weit verbreitet zu haben. Von mehreren Orten gehen Nachrichten von sehr starken Regengüssen ein; und hier haben wir seitdem immer trübe regnerische, kühle Witterung.“[13]

Klimawandel hin oder her: das Prager Wetter von 1812 erinnert an Berlin 2020. Die Schilderung des „Unwetter(s)“ bietet für Kopitz Gelegenheit, die Fahrt einer „Postkutsche, die zum Kurort Teplitz, einem Treffpunkt der eleganten Welt, unterwegs ist“, zu dramatisieren.[14] Er bestätigt kenntnisreich, dass die „Unsterbliche Geliebte“ als „Antonie Brentano geb. Edle von Birckenstock (1780-1869) …, ab 1798 Gattin des Frankfurter Kaufmanns Franz Brentano (1765-1844)“ zu identifizieren sei.[15] Doch noch bevor er sich auf die verheiratete Antonie Brentano festlegt, kommt es 1812(!) zu „Gesprächen“, die schon deshalb aufhören lassen, weil das Gehör Beethovens seit 1800 gewiss nicht besser geworden sein wird. Wie werden also die Gespräche am 31. Juli und folgende Tage in schwierigen Liebessachen abgelaufen sein?
„Am 31. Juli wird er dort polizeilich registriert und bezieht ein Zimmer im Gasthaus „Zum Auge Gottes“, auf der Wiese 311, das später zum „Grandhotel Pupp“ umgebaut und erweitert wurde, bekannt aus mehreren Filmen, etwa dem James-Bond-Streifen Casino Royale (2006). Es ist anzunehmen, dass es dort zu Gesprächen kommt. Bekannt ist nur das Ergebnis: Beethoven bleibt den Rest seines Lebens allein.“[16]

Gut geschrieben und gut recherchiert, scheint sich das schwierige Enigma der „Unsterblichen Geliebten“ gelüfte zu sein. Psychologie und Handschrift lassen sich bekanntlich seit Johann Caspar Lavaters Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe (1775-1778) aufeinander beziehen. Und der Genie-Kopf Ludwig van Beethoven wie er gezeichnet, gemalt und als Büste transformiert worden ist, dürfte gewiss den Lavaterschen Schemata entsprechen. Die Büste, wie sie vor der Ausstellung aufgestellt ist, dürfte postum nach Jacob Daniel Burgschiets Beethoven Denkmal von 1849 in Bonn sozusagen im Modus klassizistischer Denkmäler transformiert sein. Gegenüber der Lithografie von A. Hatzfeld von nach 1815 machte das Genie postum bei C. Fischer 1843 eine gewisse Verschönerungskur durch, wie sich in der Ausstellung und im Blog anhand der Porträts recherchieren lässt. Unglückerweise sind die Folgen und Auswirkungen der Gehörlosigkeit, wenn wir das Jahr 1812 gelten lassen wollen, nicht recht in Betracht gezogen worden. Starke Schwerhörigkeit und chronische Erkrankungen wirken sich durchaus auf Liebesdinge aus. Gar komplizierte „Gespräche“ über Sehnsüchte und Verzicht mit dem gewiss nicht entzückten Ehemann Franz von Brentano zu führen, dürfte selbst bei einer gewissen Freizügigkeit kaum möglich gewesen sein. Musik schreiben wird für Beethoven auch zu einem Rückzugsort, während das Musikmachen mit anderen wie Carl Amenda bereits stark eingeschränkt, wenn nicht unmöglich geworden ist. Wie sich also dem „Welträtsel“ des Briefes nähern?

Lesen wird oft als Übertragung praktiziert. Beethoven hat viel geschrieben und viele Notenblätter mit Widmungen versehen. Die Widmungen ihrerseits wurden in biographische Beziehungen umgeschrieben, als müsse zuerst eine innige Beziehung bestanden haben, damit daraufhin das Stück komponiert werden konnte. Die Widmung kann allerdings auch allererst eine Beziehung herstellen, wo vorher keine war. Gern und in der Ausstellung wird der Bonmot zitiert, Beethoven habe lieber 1.000 Noten komponiert als Worte geschrieben. Womöglich misslangen ihm auch so manche Wortbeiträge, wenn er sich nicht gerade in einem Brief wie dem von Anton Schindler abgeschriebenen bemühte. Wer nicht richtig hört in einem Gespräch, wird erwiesenermaßen umgehend für bekloppt gehalten. Fragen Sie nie einer vernuschelten Frage nach. Jeder Sprecher wird sich in seiner tiefsten Ehre gekränkt fühlen und zum Beispiel sprichwörtlich fragen: „Kannst Du schlecht hören?“ Ein Katastrophe, erst recht für einen Jahrhundertkomponisten! Bei aller Leidenschaft winkt schon in der Anrede mit „mein Ich“ eine rhetorische Figur des Misslingens herüber, wenn sich die Adressantin wünscht, angesprochen zu werden. Statt angesprochen zu werden, wird sie buchstäblich vom Ich er- oder besetzt.
„Mein Engel, mein alles, mein Ich. – nur einige Worte heute, und zwar mit Bleistift (mit deinem) – erst bis morgen ist meine Wohnung sicher bestimmt, welcher Nichtswürdiger Zeitverderb in d. g. – warum dieser tiefe Gram, wo die Nothwendigkeit spricht – Kann unsre Liebe anders bestehn als durch Aufopferungen, durch nicht alles verlangen. Kannst du es ändern, daß du nicht ganz mein, ich nicht ganz dein bin – Ach Gott blick in die schöne Natur und beruhige dein Gemüth über das müßende – die Liebe fordert alles und ganz mit Recht, so ist es mir mit dir, dir mit mir – nur vergißt du so leicht, daß ich für mich und für dich leben muß, wären wir ganz vereinigt, du würdest dieses schmerzliche eben so wenig als ich empfinden – meine Reise war schrecklich ich kam erst Morgens 4 Uhr gestern hier an, […] – nun geschwind zum innern vom äußern, wir werden unß wohl bald sehn“[17]

Die Gedankenstriche, Zäsuren, Abbrüche und Einschübe zerreißen und verbinden den Text zugleich. Statt abschließenden Punkten lassen Kommata den Redefluss nicht abbrechen. „(mit deinem)“ ist zwischen den Zeilen eher hinter als vor dem Bleistiftstrich eingefügt. Bezieht sich die nachträgliche Ergänzung dann gar nicht auf den „Bleistift“? In der Handschrift ist das Vor- oder Hinter-dem-Gedankenstrich durch einen geschwungenen Strich bis unter die reguläre Zeile schlecht dem „Bleistift“ zuzuschlagen. Wer schreibt, gerät mit der Adressat*in in ein gewisse Konfusion? Und überhaupt erfolgt die geschlechtliche Zuordnung erst nachträglich im dritten Teil des Briefes. In den ersten beiden Teilen bleibt geschlechtlich völlig offen, an wen der Brief, der trotz Lösung der wiederholt drängenden Postfrage, nicht abgeschickt, nicht aufgegeben wird. Die geschlechtliche Offenheit wird nicht nur mit dem „mein Ich“ angeschrieben – seltsames Ich aus zweien -, vielmehr ist der „Engel“ grammatisch männlich und nicht weiblich. Bisweilen kann er beide Geschlechtsmerkmale tragen. Doch in der wilden Vertauschung und Spiegelung von ich und du spielt das Geschlecht keine Rolle für die Vereinigung – „wir ganz vereinigt“ – keine Rolle. Erst als das Ich „im Bette“ sozusagen in seiner geschlechtlichen Rolle am nächsten Morgen zu sich kommt, taucht das Geschlecht der Geliebten auf:
„Guten Morgen am 7ten Juli –
schon im Bette drängen sich die Ideen zu dir meine Unsterbliche Geliebte; hier und da freudig, dann wieder traurig, vom Schicksale abwartend, ob es unß gehört – leben kann ich entweder nur ganz mit dir oder gar nicht, ja ich habe beschlossen in der Ferne so lange herum zu irren, bis ich in deine Arme fliegen kann, und mich ganz hejmathlich bej dir nennen kann, meine Seele von dir umgeben in’s Reich der Geister schicken kann –“[18]  

Wenn „Unsterbliche Geliebte“ ein geschlechtlicher Name ist, dann muss der Brief an (k)eine Frau adressiert sein. Es ist rein handschriftlich keine „unsterbliche Geliebte“, die schon in ihrer grammatischen Konstruktion bei Dieter Hildebrandt Aufmerksamkeit erregt hat, weil das „Unsterbliche“ „wohl weniger die Unsterblichkeit der Geliebten als die seiner Liebe bezeichnen soll“.[19] Grammatisch und syntaktisch könnte „Unsterbliche Geliebte“ indessen auf Dante Aligheris literarische Figur der Geliebten als Beatrice aus der Divina Commedia verweisen.[20] Beatrice als literarische Figur ist unsterblich. Beethoven traf den Dante-Verehrer, wenn nicht gar -Experten Johann Wolfgang Goethe beispielsweise 1812 in Karlsbad. Nicht zu vergessen sind die zahlreichen Kompositionen Beethovens zu Texten, Dramen und Gedichten von Goethe. Die „Unsterbliche Geliebte“ nimmt die für den Komponisten notwendige Funktion einer Muse ein. An die Geliebte wird alles adressiert, weil sie sich der Vereinigung entzieht, um zugleich die musikalische oder dichterische Produktion anzustoßen. Dennoch wäre für Ludwig von Beethoven, der den letzten Teil des Briefes mit „L. | ewig dein | ewig mein | ewig unß“ unterschreibt, die Vereinigung unauflösbar. Kriminologische Nachforschungen nach der „Unsterblichen Geliebten“ sind auch deshalb oft fehl gelaufen, weil der Name für eine Metapher gehalten wurde. Doch die Metapher ist leer. Beethoven hat kaum metaphorisch komponiert. Eher schon könnte ihm eines morgens nach fiebrigen Träumen die infernalische Divina CommediaGöttliche Komödie – in einer ganz eigenen Art zu schreiben, in den Sinn gekommen sein. Richard Zoosmann vermerkt in seiner Übersetzung der Divina Commedia 1928, dass Dante nach einem Dokument am 6. Juli 1295 als Mitglied des Consilium Centrum Virorum erscheint, um einen Streit zu schlichten und sich ein Geschlecht in die „Arte“ – Zünfte oder Künste – einschreiben dürfe.[21] Wir wissen nicht, seit wann dieses Wissen von der Einschreibung in die Künste zirkulierte.

In einer Nische vor dem Ausstellungsraum küsst ein nackter, bärtiger, alter Mann einen nackten, athletischen, jungen Mann. – „Diesen Kuß der ganzen Welt!“ – Überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen. – Die Bronzeplastik ist von dem nicht herausragenden Bildhauer Gustav Eberlein und trägt gewissermaßen zufällig den Titel Gottvater beseelt Adam. Sie wurde 1898 angefertigt und dürfte wohl kaum über das schmale Treppenhaus oder durch ein Fenster der Staatsbibliothek Unter den Linden, die zwischen 1903 und 1914 erbaut wurde, einfach in die antikisierende Nische hineingestellt worden sein. Die Beseelung findet nicht ganz unerotisch statt. Wer die beiden Männer waren, die für Eberlein Modell gestanden haben, wissen wir nicht. Die Haltung des jüngeren Mannes, aber auch die des alten im 2. Obergeschoss der Staatsbibliothek, wo das Geistige in verschiedenen Medien wie in der Musikabteilung aufbewahrt wird, erinnert an Reinhold Begas‘ Prometheus in der Akademie der Künste oder Emil Hundriesers Prometheus an der Universität der Künste aus der gleichen Zeit. Um 1900 ringen somit wenigstens 3 Bildhauer darum, einen geistigen, künstlerischen Produktionsprozess darzustellen. Mal weniger, mal mehr wird der Übertragungsvorgang des Geistes oder auch der Inspiration als Kuss, oder von einem Unsichtbaren geküsst werden, materialisiert, der sich dennoch schwer fassen lässt.

Torsten Flüh

„Diesen Kuß der ganzen Welt!“
Die Beethoven-Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin
bis 24. Juli 2020
Zeitfenster buchen.    

Begleitband
Friederike Heinze, Martina Rethmann, Nancy Tanneberger (Hrsg):
»Diesen Kuß der ganzen Welt!«
Die Beethoven-Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin
24 x 30,5 cm, 208 Seiten, 197 Farb-Abbildungen, Hardcover
ISBN: 978-3-7319-0914-9
25 Euro, zzgl. Porto und Verpackung


[1] Barbara Schneider-Kempf: Grußwort der Generaldirektorin der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. In: Friederike Heinze, Martina Rethmann, Nancy Tanneberger (Hrsg): »Diesen Kuß der ganzen Welt!« Die Beethoven-Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin. Berlin: Michael Imhof Verlag, 2020, S. 6.

[2] Jonathan Del Mar: Die Beethoven-Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin: Eine persönliche Sichtweise. In: Ebenda S. 36.

[3] Ebenda S. 37.

[4] Anton Schindler: Biographie von Ludwig van Beethoven. Münster: Aschendorff’sche Buchhandlung, 1840, S. 1.

[5] Ebenda S. 63.

[6] Romain Rolland: Ludwig van Beethoven. (Deutsch von L. Langnese-Hug) Zürich: Max Rascher, 1918, S. 40-41.

[7] Siehe Beethoven, Ludwig van: Zwei Briefe Beethovens an Carl Amenda in Abschrift von Anton Schindler , 01.06.1800 (Digitalisat)

[8] Zitiert nach Aushang in der Ausstellung.

[9] Dieter Hildebrandt: Die Kunst, Küsse zu schreiben. Eine Geschichte des Liebesbriefs. München: Carl Hanser, 2014, S. 243.

[10] Ebenda S. 252.

[11] Ebenda S. 256.

[12] Vgl. auch den Abdruck des Briefes in: Klaus Martin Kopitz: Der Brief an die „Unsterbliche Geliebte“. Fakten und Fiktionen. In: Friederike Heinze, Martina Rethmann, Nancy Tanneberger: »Diesen … [wie Anm. 1] S. 165.

[13] Ebenda S. 164.

[14] Ebenda.

[15] Ebenda S. 168.

[16] Ebenda S. 166.

[17] Zitiert nach Dieter Hildebrandt: Die … [wie Anm. 9] S. 246-247.

[18] Ebenda S. 248.

[19] Ebenda.

[20] Vgl. zur Darstellung der Beatrice als den Dichter umarmende Muse in der Divina Commedia von Sandro Boticelli: Torsten Flüh: „Sandro Botireli“, Codex Hamilton und La Comedia. Zur Ausstellung Der Botticelli-Coup im Kupferstichkabinett. In: NIGHT OUT @ BERLIN Oktober 15, 2015 21:50

[21] Dante: Die göttliche Komödie. Neuübersetzt in deutschen Terzinen von Richard Zoozmann. Leipzig: Hesse & Becker, 1928, S. 47.

Wissen um den Tod

Verschwörung – Wissenschaft – Existenz

Wissen um den Tod

Zum Suizid und Verschwörungstheorien während der Covid-19-Pandemie

In mehreren Konstellationen nehmen Suizide in der Berichterstattung und in Erzählungen zur Covid-19-Pandemie entscheidende Funktionen ein. An der Schnittstelle von Boulevard-Presse und Wissenschaft erschien am 12. Mai 2020 von Birgit Brükner in der BZ ein kurzer Artikel mit dem Titel Berlins bekanntester Gerichtsmediziner: Corona-Suizide durch Panikmache.[1] Der Direktor des Instituts für Rechtsmedizin der Charité, Prof. Michael Tsokos, hatte in den vorausgegangenen Wochen Kenntnis von mehreren Suiziden erlangt, die er selbst „Corona-Suizid“ nennt. Aus Angst, an Covid-19 erkrankt zu sein, hätten mehrere männliche Personen ihrem Leben durch Suizid ein Ende bereitet. Weiterhin wird eine prognostische Zunahme von Suiziden in Verschwörungstheorien gegen epidemiologische Maßnahmen als Argument in Stellung gebracht.

Den Schreibweisen der Boulevard-Presse entsprechend wird die Beobachtung des Rechtsmediziners als „Gerichtsmediziner“ mit dem Superlativ „bekanntester“ als Sensation angeschrieben. Doch welche sprachlichen Transformationen finden in der Erzählung von sich selbst und einer tödlichen Bedrohung statt? Lassen sich Suizide aus Angst in Krisensituationen auf die von Brükner kolportierte einfache Formel – „Die Betroffenen hatten so viel Angst vor dem Tod, dass für sie nur noch der Tod der Ausweg war“[2] – bringen? Worin unterscheidet sich eine wissenschaftliche Redeweise? Warum liebt die Boulevard-Presse den Superlativ? Trägt der Superlativ zu einer Vereinfachung bei, wenn es um komplexe Vorgänge in schwierigen Zeiten geht? Da Michael Tsokos‘ Studie bislang fast ausschließlich von der BZ, eine „Marke der BILD Gruppe“, aufgegriffen wurde[3], kommt der Frage nach den narrativen Formaten der Boulevard-Presse in der Konstellation von Suizid und Covid-19-Pandemie erhöhte Aufmerksamkeit zu.

Liest man den am 27. Mai 2020 bei der Fachzeitschrift Legal Medicine eingegangenen Brief von Claas Buschmann[4] aus dem Institut für Rechtsmedizin, Institute of Legal Medicine and Forensic Sciences of the Charité, dreht sich die Suizid-Erzählung nahezu um. Denn der Mitarbeiter des Rechtsmediziners Michael Tsokos machte in dem internationalen Fachmagazin für Rechtsmedizin auf Corona-associated suicide – Observations made in the autopsy room aufmerksam. In seinem Artikel berichtet Buschmann von elf Toden durch Suizid als „effects of Corona pandemic lockdown“, die er in der Rechtsmedizin der Charité obduziert habe. Die Suizide werden in ein Verhältnis zu vorhandenen oder nicht vorhandenen psychischen Vorerkrankungen gebracht, um so auf präventive Maßnahmen aufmerksam machen zu können. Denn, so Buschmann und Tsokos, vor allem die mediale Darstellung des „lockdown“ und der Pandemie hätten zu den „Corona-Suiziden“ geführt.
„The effects of the lockdown as well as the media omnipresence of the topic with partly apocalyptic overscription and statements made by medical experts out of context were regarded as triggering the decision to commit suicide.“[5] (Die Auswirkungen des Lockdowns sowie die mediale Allgegenwart des Themas mit teilweise apokalyptischer Überschrift und Aussagen von medizinischen Experten aus dem Zusammenhang wurden als Auslöser für die Entscheidung zum Selbstmord angesehen.)

Einschub: Bloggen geschieht gewissermaßen in Echtzeit. Deshalb werden hier Fotos vom Nettelbeckplatz eingefügt. Als der Blogger bei geöffnetem Fenster zum Nettelbeckplatz an seiner Besprechung schrieb, hörte er mit einem Mal Gesänge. Er hörte wenigstens zwei ausgebildete Frauenstimmen, die offenbar live sozusagen unter seinem Fenster sangen. Durch das Platanenblätterdach über dem Platz konnte er die Sängerinnen, Opernsängerinnen gar, nicht sehen. Seit März finden weltweit keine Opernaufführungen und Konzerte statt. Die Aufnahme des Opernbetriebes ist weiterhin völlig offen. Li Mingwei hat in seine Installation 禮/Lǐ Geschenke und Rituale im Gropius-Bau das Projekt Sonic Blossom eingebaut und zu Invitation for Dawn ins Virtuelle transformiert. Die Opernstimmen auf dem Nettelbeckplatz lassen den Berichterstatter sogleich an Paggliacci von Ruggero Leoncavallo denken. Der Berichterstatter muss den Opernstimmen nachgehen und trifft unter einer Platane die Sopranistin Chantale Nurse und die Koloratursopranistin Suzanne Rigden, die sich schon in einem Gespräch mit einem Passanten, Christian Wagner, finden, der wiederum als Bariton mit dem Vocalconsort Berlin ab dem 12. September den Jesus in Arvo Pärts Passio in der St. Matthäus-Kirche am Kulturforum singen wird. Chantale Nurse und Suzanne Rigden gehören zum Ensemble Vocal Arts-Quebec und geben zur Zeit auf Plätzen in Berlin Pop up-Konzerte. Im Gespräch sind sich die Sängerinnen schnell einig, dass sie für mich noch einmal singen. Der Zwischenfall bringt das Bildkonzept für meinen Blog, in dem es über Suizid, Tod und Verschwörungstheorien geht, völlig durcheinander. Doch ignorieren kann der Blogger das Geschenk zweier Lieder für ihn auf dem Nettelbeckplatz nicht. Denn auch das passiert während der Covid-19-Pandemie.

Buschmann und Tsoros kontextualisieren ihre elf Autopsien der „Corona-Suizide“ mit einem Beitrag vom 22. Mai von Amy Hollyfield auf ABC7News aus San Franzisko, wo Mitarbeiter des John Muir Medical Center in Walnut Creek mehr Tote durch Suizid als durch CoVid-19 verzeichneten.[6] Die Ärzte in San Franzisko plädierten deshalb dafür, den Lockdown zu beenden. Buschmann und Tsoros grenzen sich nicht dezidiert von Amy Hollyfield und den Ärzten ab. Der in San Franzisko sicher noch einmal anders gelagerten Kritik am Lockdown wird von den Rechtsmedizinern der Charité nicht widersprochen. Statt mit der Benennung „Corona-Suizid“ Klarheit über Narrative und insbesondere Zuspitzung von Narrativen durch Entkontextualisierung in den Boulevard-Medien zu schaffen, verkennen die Rechtsmediziner die kulturhistorische Dimension des Suizids, wie sie von Thomas Macho in seinem Buch Das Leben nehmen[7] erforscht worden ist, und das Potential des Namens zur Verschwörungstheorie. Die Argumentation der Verschwörungstheoretiker lautet nun, dass der „Lockdown“ mehr Menschenleben gekostet habe und kosten werde als die Erkrankung durch Sars-Cov-2.[8]

Die Suizide durch Selbststrangulierung (5), Sturz aus großer Höhe (5) und „train suicid“ (1)[9] aus Angst vor Sars-Cov-2 folgen dem Narrativ der christlichen Apokalypse. Entgegen dem verschwörungstheoretischen Verfahren der Verrechnung von Menschenleben folgt die apokalyptische Schreibweise in Überschriften, wie sie von Buschmann beobachtet wurde, einem sehr alten Erzählmodell, das zumindest für die westlichen oder abendländischen Kulturen weiterhin wirkt. Macho hat das Kulturmodell der „Todesantinomie“ von Franz Borkenau in seinem Kapitel über den „Suizid vor der Moderne“ genauer diskutiert.[10] Die „Todesantinomie“ benennt „die Effekte des unauflösbaren Widerspruchs zwischen Leitbildern der Todesüberwindung und der Todeshinnahme“.[11] Dabei ist die „Todesüberwindung“ nach Borkenau „der Kern der christlichen Botschaft“.[12] Doch diese „Todesüberwindung“ wird narratologisch unauflösbar mit der Offenbarung als Apokalypse verknüpft.
„Kurzum, das Ende sei nah, die Vernichtung der Welt und die glorreiche Errichtung des neuen Jerusalem, der Gottesstadt, die keinen Tod mehr kennen werde: »Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal« (Offb 21, 4).“[13]  

Nach Buschmann lassen sich für die Corona-Suizide drei Textelemente identifizieren, die in Berlin während eines nicht genauer benannten Zeitraums ab März bis Mai 2020 elf gewaltsame Tode von eigener Hand generierten: Der „Lockdown“ als befehlsförmige Anordnung von „Kontakt-Beschränkungen“, die „apokalyptischen Überschriften“ und die „statements made by medical experts out of context“. Kurzerhand werden die deutschen „Kontakt-Beschränkungen“ zum Oberbegriff „Lockdown“ der weltweit differierenden Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie und Abflachung der Epidemie-Kurve als Fakt zusammengefasst. Dabei hatte sich bereits im April abgezeichnet, dass „Kontakt-Beschränkungen“ schnell zur „Kontaktsperre“ und zur „Ausgangssperre“ transformiert waren.[14] Einen „Lockdown“ als „Ausgangssperre“ hat es allerdings so nie in Berlin gegeben, vielmehr konnte sich jede und jeder zur sportlichen Betätigung in unbegrenztem Kilometerumfang in Berlin und sogar um Berlin herum zu Fuß oder mit dem Rad bewegen. In Frankreich z.B. war das nicht möglich.

Der Lockdown als eine traumatisierende Erfahrung war und ist insofern sehr wohl von seiner Formulierung abhängig. Er ist kein Phänomen an sich, das eingeordnet werden müsste. Vielmehr wurde er i.d.R. sehr differenziert formuliert. Zu den Folgen der „Kontakt-Beschränkungen“ konnte und kann allerdings bei Verstößen gegen das Infektionsschutzgesetz (IfSG), das am 27. März 2020 durch das Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite[15] geändert und modifiziert wurde, Quarantäne und damit zur räumlichen Isolation verordnet werden. Anders gesagt: der „Lockdown“ wurde im März erst möglich durch eine umfangreiche Produktion von Gesetzestexten, die sich selbstverständlich an das Grundgesetz zu halten hatten. Generelle Kollisionen des Gesetzes mit Grundrechten nach dem Grundgesetz wurden durch Abwägung durchaus vermieden. Allein die Quarantänebestimmungen schränken diese sehr differenziert in § 28 Absatz 1 ein:
„6. § 28 Absatz 1 wird wir folgt gefasst:
„(1) Werden Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt oder ergibt sich, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, so trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist; sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten. (…) Die Grundrechte der Freiheit der Person (Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes), der Versammlungsfreiheit (Artikel 8 des Grundgesetzes), der Freizügigkeit (Artikel 11 Absatz 1 des Grundgesetzes) und der Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13 Absatz 1 des Grundgesetzes) werden insoweit eingeschränkt.“[16]   

Was beispielsweise in der Boulevard-Presse selten Berücksichtigung findet ist die Funktion der Modalverben. In Gesetzestexten entscheiden sie alles. § 28 Absatz 1 ist als eine Kann-Vorschrift formuliert: „sie (die zuständige Behörde) kann insbesondere Personen verpflichten“. Eine Kann-Formulierung im Gesetzestext ist eine relativ schwache im Unterschied zu Soll- oder Muss-Vorschriften. Das Gesundheitsamt oder eine ähnliche „Behörde“ erhält also lediglich unter Abwägung kollidierender Rechte die Möglichkeit „Kranke“ etc. unter Quarantäne zu stellen. Es geht auch lediglich um eine Verpflichtung der Person, die erst in einer weiteren Abwägung der Verhältnismäßigkeit in einen Zwang transformiert werden kann. Nun ist die Kenntnis der Funktion von Modalverben in Gesetzestexten in der Bevölkerung, geschweige die Kenntnis von § 28 Absatz 1 des Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nicht vorauszusetzen. Auch der Berichterstatter hat sie erst recherchieren müssen. Allerdings kann man sich gerade in Krisensituationen in einer Demokratie wie der der Bundesrepublik Deutschland darauf verlassen, dass die Regierung als Legislative keine neuen Gesetze erfinden, sondern „ändern“ bzw. modifizieren wird.   

Nicht nur das Modalverb kann ist entscheidend, vielmehr noch berücksichtigt der Gesetzesgeber die Grundrechte und benennt ausdrücklich jene, die „eingeschränkt“ werden „können“, aber nicht müssen. Der geänderte § 28 Absatz 1 des Infektionsschutzgesetzes gibt auch einen Wink auf die Persönlichkeitsrechte, die ausdrücklich nicht eingeschränkt werden dürfen. In Satz 3 des § 28 Absatz 1 heißt es ausdrücklich: „Eine Heilbehandlung darf nicht angeordnet werden.“[17] Mit der Darf-nicht-Vorschrift ist es dem Staat und seinen Behörden ausdrücklich verboten, eine „Heilbehandlung“ anzuordnen. Das heißt letztlich auch, dass „Kranke“ etc. unter Zwang nicht geimpft werden dürfen. Ein Großteil der Ängste, die durch Verschwörungstheorien verschaltet und kombiniert werden, wird durch das Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite von 27. März 2020 dezidiert ausgeschlossen. Seither werden die Bestimmungen des Gesetzes für Infektionsschutzrecht, Sozialrecht, Wirtschaftsrecht, Baurecht ständig modifiziert und entschärft.  

Der Exkurs zum für den sogenannten Lockdown relevanten Gesetzestext, der am 27. März 2020 sogleich im Bundesanzeiger digital und weltweit zugänglich war, wurde hier eingeflochten, um die hohe imaginäre Besetzung und durchaus Verfälschung der „Kontakt-Beschränkungen“ lesbar werden zu lassen. Abschiedsbriefe und polizeiliche Befragungen haben nach Buschmann die Beweggründe für die „Corona-Suizide“ geliefert. Denn in der Prosektur selbst ließ sich ja nur die Todesursache feststellen und ob sie mit einer faktischen Infektion mit Sars-Cov-2 bestätigt werden konnte. Doch die, um einmal einen umgangssprachlichen Begriff einzufügen, Selbstmörder waren nicht mit dem Virus, sehr wohl aber mit dem Wissen um ihn infiziert. Die Suizid-Begründung als „Konfliktbewältigung“ weist dabei eine deutliche Ähnlichkeit zu Verschwörungstheorien auf, wie sie in den Mosse-Lectures im Sommersemester 2020 hätten diskutiert werden sollen.[18] Die von Brükner nach den Abschiedsbriefen und polizeilichen Befragungen kolportierten Fälle werden dramatisiert, wenn es beispielsweise heißt:
„Der 39-jährige Mitarbeiter einer europäischen Botschaft nahm sich am 20. März das Leben. Kriminalpolizeiliche Ermittlungen ergaben, dass der Mann befürchtet hatte, sich mit SARS-CoV-2 infiziert zu haben. In den Tagen vor dem Tod hatte ein leichter grippaler Infekt bestanden. Ein Abstrich war durch zwei Hausärzte unabhängig voneinander als nicht notwendig angesehen und daher abgelehnt worden. Nach Angabe von Bekannten sei der Mann dennoch „regelrecht paranoid“ gewesen, sich angesteckt zu haben.“[19]  

Wir erfahren aus der Fallgeschichte nicht, welche Lebensumstände den „39-jährigen Mitarbeiter einer europäischen Botschaft“ zu seiner Befürchtung einer Infektion veranlasst haben. Als eine Verkettung unglücklicher Umstände könnte die Verweigerung der „Abstrich(e) … durch zwei Hausärzte“, was die geläufige Praxis war, angesehen werden. Denn sie hätte die Infektion widerlegen können. Ob die Fallgeschichte wirklich gleich eine Diagnose „Corona-Suizid“ erlaubt, bleibt fraglich. Vielmehr gibt die Fallgeschichte einen Wink u.a. auf den Roman Der Eros des Nordens von Petri Tamminen, der 2007 erschien und den Umgang mit einer projizierten HIV-Infektion verarbeitet. Die Infektionsparanoia wäre insofern unabhängig vom Virus, während sie gleichzeitig auf narrative Prozesse und Strategien verweist.
„Kaum hat er das negative Testergebnis bekommen und die Aids-Beratungsstelle verlassen, da tastet Harri schon wieder nach seinen Lymphknoten: Womöglich, überlegt er, hat er sich überhaupt erst infiziert, als ihm einige Tage zuvor mit einer Spritze die Blutprobe für den Test entnommen wurde. … Kein negativer HIV-Test kann ihn beruhigen.“[20]   

Die Bandbreite der Reaktionen auf AIDS als Wissensformation war in den 80er und 90er Jahren beträchtlich. Der Suizid gehörte gewiss auch dazu, obwohl das nicht in der von Buschmann und Tsoros angelegten Autopsie beschrieben worden ist. Mit einer großen Diversität wurden Praktiken im Umgang gegen eine Infektion und mit einer Infektion entwickelt. Sehr schnell war bei SARS-Cov-2 klar, dass sich das Virus wie bei HIV auch durch Geschlechtsverkehr übertragen lässt. Trotzdem wird Covid-19 nicht als Geschlechtskrankheit wahrgenommen. Erst langsam dringt in den öffentlichen Diskurs, dass SARS-Cov-2 auch Sexualpraktiken betrifft. Die AIDS-Hilfe hatte schon im März auf die Übertragbarkeit durch Sexualkontakte hingewiesen, da sich das Virus im Blut und im Sperma befindet. Durch die respiratorische Übertragungsweise von SARS-Cov-2, die zu einer rasanten epidemiologischen Verbreitung führte und führt, wurden allerdings die sexuellen Übertragungsmöglichkeiten strukturell ausblendet, obwohl sie genauso virulent sind. Entgegen der schwierigen Benennung einer neuen Suizidart – „Corona-Suizid“ – sieht Thomas Macho die „Frage nach dem Suizid“ als „ein Leitmotiv der Moderne“.[21]
„Für sich genommen bezeugen die Debatten um Nachahmungssuizide im 19. Jahrhundert, um Kinder- und Schülersuizide zur Jahrhundertwende, erst recht die faschistische Verschränkung von Mord und Selbstmord im »Viva la muerte!« allerdings noch keine Umwertung des Suizids, wie sie Friedrich Nietzsches Zarathustra forderte, sondern eine ambivalente Faszination, die zwischen Abwehr und Identifikation, moralischer Verurteilung und heroischer Idealisierung, Krankheitsdiagnose und ästhetischem Bekenntnis hin und her schwankte.“[22]

Der Suizid wie er mit „Corona-Suizid“ benannt und verfehlt wird, korrespondiert nicht zuletzt mit einer „Umwertung des Suizids“ durch das Szenario der Pandemie als Wissenserschütterung. Durch den permanent anschwellenden und sich auf vielfältige Weise widersprechenden Corona-Diskurs entsteht die Fiktion, dass wir schon vielmehr wüssten als zu Beginn der Pandemie. Risikofaktoren lassen sich anscheinend plötzlich mit Blutgruppen abgleichen, Apps verschaffen ein paradoxes Sicherheitswissen vor der Nähe des Todes. Thomas Macho hat am 18. April 2020 das Sterben in Zeiten der Pandemie im philosophie magazin bedacht. Da gab es zwar Suizid im Kontext der Covid-19-Pandemie, aber noch keinen „Corona-Suizid“. Die relativ schmalen Zahlen – 11 Corona-Suizide im Verhältnis zu 214 an Covid-19 Verstorbenen – und Texte zum „Corona-Suizid“ wären für Macho womöglich ein befragenswerter Bereich des Suizids in der Moderne. Denn der „Corona-Suizid“ lässt sich als ebenso elastisch wie verfehlend beschreiben. Das Wort Corona lässt sich bereits als eine ebenso weit verbreitete wie sehr elastische Benennung der Infektion von SARS-Cov-2 darstellen. Corona animierte zu humorvollen Witzen mit Flaschen einer Biermarke ebenso wie mit der spanischen Krone. Gegenüber dem Fachbegriff für die Pandemie und dem für das Virus wird Corona auf äußerst vielfältige fiktionale Weise gebraucht und verknüpft. Corona lässt sich zwischenzeitlich als ein hoch anschlussfähiges Trivialwissen für alles gebrauchen, das fachlich nicht festgelegt ist. Dieses sehr elastische und leicht ins Paranoide überspringende Wissen benennt einen neuartigen Suizid unter Vorbehalt. Statt Benennung beobachtet Macho etwas anderes:
„Manchmal zwingt sich geradezu der Eindruck auf, die übermächtige Präsenz des Todes in Bildern, Nachrichten und Statistiken verstärke nur die Abwehr, eine kollektive Angst, die sich jedem Gespräch und Trost energisch widersetzt. Leben wird als Überleben demaskiert; die Frage nach dem guten und richtigen Leben verstummt.“[21]  

Das neuartige Wissen um den Tod erhält mit der Pandemie, in der wir uns alle auf dem Globus befinden, eine andere Dringlichkeit. Wir können uns unseren eigenen Tod nicht vorstellen. Der Tod macht in Massengräbern, wie es sie in Deutschland bislang nicht gegeben hat, auf erschreckende Weise alle gleich in einer Zeit, in der Friedhöfe aufgelöst werden, weil in Berlin nicht mehr „richtig“ gestorben und begraben wird. Eine Grabstein-Kultur wie sie insbesondere um 1900 auf den Berliner Friedhöfen grandiose Bauten und Verkehrungen hervorgebracht hat, ist zwischenzeitlich verfallen. Die Namen und Professionen wie die des „innigstgeliebte(n) Mann(es), unser stets treusorgende(n) Vater(s), Schwiegervater(s) und herzensgute(n) Opa(s) de(s) Innereien-Großhändlers Albert Hauschild“ auf dem Georgen-Parochial-Friedhof II werden nahezu widerstandslos dem Verfall zu Staub hingegeben.

Torsten Flüh

Ensemble Vocal Arts-Quebec

Vocalconsort Berlin
Arvo Pärt
Passio (Johannespassion)
Samstag, 12. September 2020 von 20:00 bis 21:30 UTC+02
St.-Matthäus-Kirche.


[1] Birgit Brükner: Berlins bekanntester Gerichtsmediziner: Corona-Suizide durch Panikmache. In: BZ 12. Mai 2020 16:21 Aktualisiert 13.05.2020 06:43.

[2] Ebenda.

[3] Siehe auch Christian Gehrke: Rechtsmediziner Michael Tsokos: Berliner nehmen sich aus Angst vor Corona das Leben. In: Berliner Kurier 1.06.20, 13:35 Uhr
Fanny Jimenez: „Corona-Suizid“: Charité-Rechtsmediziner Michael Tsokos über ein neues Motiv in der Pandemie. In: BusinessInsider 18. Mai 2020.

[4] Claas Buschmann: Corona-associated suicide – Observations made in the autopsy room. In: Legal Medicine Received 27 May 2020; Accepted 31 May 2020 Legal Medicine 46 (2020) 101723 Available online 03 June 2020.

[5] Ebenda.

[6] Amy Hollyfield: Suicides on the rise amid stay-at-home order, Bay Area medical professionals say. In: abc 7 News May 22 2020.

[7] Thomas Macho: Das Leben nehmen. Suizid in der Moderne. Berlin: Suhrkamp, 2017.

[8] Diese Argumentation als eine zentrale der Verschwörungstheorien zu Covid-19 begegnete dem Berichterstatter zum ersten Mal beim Besuch eines langjährigen Freundes und Betriebswirtschaftlers.

[9] Claas Buschmann: Corona … [wie Anm. 4].

[10] Thomas Macho: Das … [wie Anm. 7] S. 64-65.

[11] Ebenda S. 65.

[12] Ebenda S. 66.

[xiii] Ebenda S. 67.

[14] Vgl. zu „Kontakt-Beschränkungen“ auch Torsten Flüh: Vom Wissenswunsch und zu Informationspraktiken. Ein nachträglicher Osterspaziergang über das Charité-Gelände und Heinrich von Kleists Charité-Vorfall. In: NIGHT OUT @ BERLIN 15. April 2020.

[15] Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite. Bonn 27. März 2020. (Bundesanzeiger)

[16] Ebenda.

[17] Ebenda.

[18] Siehe Torsten Flüh: Fledermäuse, Pangoline, Labore und die Gattung Homo sapiens sapiens. Wie Verschwörungstheorien Sinn stiften und Narrative vom Patient Zero bis zur Artengrenze übertragen werden. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. April 2020.

[19] Birgit Brükner: Berlins … [wie Anm. 1]

[20] Christina Hucklenbroich: Die bizarren Ängste eingebildeter Aidskranker. In: Welt 27.07.2007.

[21] Thomas Macho: Das … [wie Anm. 7] S. 200.

[22] Ebenda.

[23] Thomas Macho: Sterben in Zeiten der Pandemie. In: philosophie magazin 18.04.2020.