Von dem Gesang der Bratsche

Trauer – Lied – Leiden

Von dem Gesang der Bratsche

Zum Abschlusskonzert des Musikfestes Berlin mit Kompositionen von Wolfgang Rihm und der Uraufführung seiner (zweiten) Stabat Mater

Das Musikfest Berlin war in diesem Jahr mehr als ein Experiment auf die Musik. Es wurde ein Widerstand gegen das Regime der Covid-19-Pandemie. Komponist*innen, Musiker*innen, Organisator*innen und das Publikum setzten ihm ein Trotzdem entgegen. Ein wohl überlegtes und ausgeklügeltes System der Vorkehrungen gegen eine Infektion mit Sars-Cov2 hat sich in allen Konzerten bewährt. Anders als bei der Saisoneröffnung im Teatro Real in Madrid mit Giuseppe Verdis Ein Maskenball am letzten Sonntag kam es in der Philharmonie zu keinen Protesten des Publikums, weil zwar im Parkett auf den teuren Plätzen ein Abstand, aber auf den Rängen keiner vorgesehen war. In der Philharmonie gab und gibt es für die Vorkehrungen keine sozialen Unterschiede. Der Künstlerische Leiter des Musikfestes, Winrich Hopp, indessen bedankte sich beim Publikum, dass es überhaupt so zahlreich zu den Konzerten erschienen war.

Das Abschlusskonzert mit Werken von Wolfgang Rihm um 17:00 Uhr war nahezu ausverkauft. Für 21:00 Uhr wurde gar eine Wiederholung angesetzt. Nach 7 Monaten traten 9 Musiker*innen der Berliner Philharmoniker zum ersten Mal wieder gemeinsam mit Solist*innen unter der Leitung von Stanley Dodds auf, während der internationale Konzert- und Opernbetrieb weiterhin weitgehend zum Erliegen gekommen ist. Die Uraufführung der Stabat Mater für die mit Rihm seit geraumer Zeit befreundeten Bratschistin Tabea Zimmermann und den von ihm ebenfalls geschätzten Bariton Christian Gerhaer wurde zweifelsohne zum Höhepunkt des Konzertes. Wolfgang Rihm konnte zur Uraufführung, wie es Hopp formulierte, leider „nicht da sein“. Rihm leidet seit 2017 an einer Krebserkrankung, die ihn offenbar auch bei der Wahl der Kompositionsthemen beeinflusst, so dass beim Musikfest 2019 sein „Gryphius Stück“ Vermischter Traum mit dem Gedicht Thränen in schwerer Krankheit für den Bariton Georg Nigl von diesem uraufgeführt wurde.[1]

Foto: Monika Karczmarczyk

Die Uraufführungen der Lieder Stabat Mater in diesem und Vermischter Traum im letzten Jahr lassen sich aufeinander beziehen. Wolfgang Rihm wendet sich auf sehr unterschiedliche Weise dem Lied zu. Während die recht abgelegenen Gedichte des Barockdichters Andreas Gryphius zu Krankheit und Zeitlichkeit zum Lied Vermischter Traum erstmals montiert werden, wurde das mittelalterliche Gedicht Stabat Mater recht häufig von Komponist*innen auf unterschiedlichste Weise bis in die Gegenwart zum Lied oder gar für Oratorien „vertont“. Es gibt mehr als 150 Kompositionen der Stabat Mater[2] seit 1480 von Orlando di Lasso über Rossini, Verdi und Liszt bis Poulenc und Penderecki sowie eine von Wolfgang Rihm aus dem Jahr 2000 „für Mezzosopran, Alt, Streicher und Harfe“. Zwischen der Motette von Josquin Desprez, Chorversionen von Palestrina und Sopran, Alt, Tenor und Streicher-Trio von Arvo Pärt entfaltet sich eine breite Liedkultur der Stabat Mater.

Foto: Monika Karczmarczyk

Die Kompositionsform Lied kehrt sich nun nahezu in der Kombination von Viola und Bariton um. Denn Tabea Zimmermann begleitet mit dem Soloinstrument nicht nur den Gesang, vielmehr bringt sie ihre Viola selbst zum Singen. Zwischen den Strophen gibt es Soli für die Viola, die hoch anspruchsvolle Passagen bis zur Virtuosität vorsehen. Während die Viola im Symphonieorchester meistens nur den – gerade schwierig zu erzeugenden – Streicherklang bis zum Klangteppich herstellen, hat Tabea Zimmermann in den letzten Jahren die Viola als Soloinstrument verstärkt ins Interesse gerückt. 2019 führte sie mit François Xavier Roth und Les siècles Harold en Italie von Hector Berlioz als eine Art Wiederentdeckung beim Musikfest Berlin auf.[3] Tabea Zimmermann hat insofern überhaupt zu einer Neuentdeckung der Bratsche als Soloinstrument beigetragen, was seit einigen Jahren insbesondere in Berlin verfolgt werden konnte. In Berlioz‘ Symphonie Harold en Italie nach dem Gedichtepos Childe Harold’s pilgramage von Lord Byron übernimmt die Bratsche quasi die Solostimme des lyrischen Ich.   

Christian Gerhaer singt die Stabat Mater in Latein, was insofern erwähnenswert ist, als im 19. Jahrhundert der durchaus stark formalisierte, gereimte Gedichttext ins Deutsche übersetzt wurde wie z.B. von Theodor Fröhlich 1820. Die mehrfache und wiederholte Übersetzung aus dem Lateinischen als katholische Kirchensprache im 19. Jahrhundert gibt einen Wink auf die Frage der Verständlichkeit von Liedtexten um 1800. Der liturgisierte Gedichttext mit seinem auch ambigen, fast magischen Potential will und soll in der Zielsprache verstanden werden. Das veränderte viel hinsichtlich der Liedpraxis. Da im 21. Jahrhundert nicht nur immer weniger Latein gelehrt und gebraucht wird, womit sich nicht zuletzt ein seit dem 19. Jahrhundert verbindliches, bürgerliches Bildungswissen verflüchtigt oder zumindest fachsprachlich transformiert, zeigt Wolfgang Rihm mit seiner nicht zuletzt musikalischen Entscheidung seine Haltung zum Lied.
Stabat mater dolorosa
Iuxta crucem lacrimosa,
Dum pendebat filius;
Cuius animam gementem.
Contristantem et dolentem
Pertransivit gladius.

Die 10 Strophen des Stabat Mater und seine schon mittelalterliche Übertragung ins Deutsche, Englische und Niederländische hat Andreas Kraß 1998 in seiner Schrift Stabat mater dolorosa: lateinische Überlieferung und volkssprachliche Übertragungen im deutschen Mittelalter untersucht, um eingangs auf die reiche musikalische Überlieferung hinzuweisen. Im Unterschied zu Lord Byrons epischem Gedicht der Reise nach Italien aus der Perspektive des Harold hat Kraß mit dem lateinischen Text des Stabat mater und seiner ebenso zahlreichen wie vielfältigen „volkssprachlichen Übertragungen“ gezeigt, dass es sich um ein wichtiges, wenn nicht konstitutives „Terrain der deutschen Literatur“ handelt.[4] Im 19. Jahrhundert findet einerseits eine wissenschaftliche Reflexion und Übertragung statt, andererseits wird das Gedicht in seiner lateinischen wie in seiner deutschen Version kompositorisch be- und verarbeitet, während es seinen liturgischen Gebrauch einbüßt. In der Marienverehrung als Praxis des Mitleidens, des Leidens und der Trauer nimmt die Stabat-mater-Literatur weiterhin eine verbreitete Funktion ein.

Wolfgang Rihm greift mit seinem Stabat Mater eine in den westlichen, christlichen Literaturen weit verbreitete Leidenspraxis auf. Der lateinische Text übt programmatisch eine hohe Identifikation des Betenden mit dem Leiden aus. Gesten und Visualisierung wie Medialisierung werden durch das Aussprechen des Textes in der ersten Person Singularis eingeübt und zur Wiederholung vorbereitet. Das Gedicht als literarische Form wird insofern zur kulturellen Praxis, die bis in die Geste des Kniebeugens auf Demonstrationen von Black Lifes Mattters fortlebt. Zugleich wird das Mitleiden seit dem 17. Jahrhundert zu einer Praxis des Genießens.
Fac me plagis vulnerari,          Laß, wenn meine Wunden fließen,
Cruce hac inebriari                   liebestrunken mich genießen
Ob amorem filii.                        Dieses tröstenden Gesichts!
Inflammatus et accensus,        Flammend noch vom heilgen Feuer,
Per te virgo, sim defessus        deck, o Jungfrau, mich dein Schleyer
In die indici.                                Einst am Tage des Gerichts![5]

Wie in der Übertragung ins Deutsche durch Christoph Martin Wieland von 1779 erweist sich der lateinische Originaltext auf vielfältige Weise als anschlussfähig. Im Spätbarock wird das Genießen zur Selbstpraxis des Subjekts.[6] Das lyrische Ich des lateinischen Originals bleibt derart unbestimmt, dass es sich auf vielfältige Weise in der Übertragung grammatisch aktivieren lässt. Heinrich Bone übersetzte die gleiche Strophe 1847 auf entschieden andere Weise. Die Übertragungen ins Deutsche und andere Sprachen wie dem Polnischen generieren insofern seit dem Mittelalter höchst eigensinnige Anknüpfungen an den lateinischen Quelltext mit weitreichenden Folgen für Selbstpraktiken. Anders als bei Wieland findet sich das katholische Ich bei Bone nicht im Genießen wieder, vielmehr tritt nicht nur zufällig eine Ökonomie der Identifikation mit dem gekreuzigten Christus an Stelle seiner Mutter statt. Die mitleidende Identifikation wird nun als „mein Gewinn“ im Katholischen Gesangbuch für die „Fastenzeit“ vor Beginn der Karwoche formuliert.  
Alle Wunden, ihm geschlagen,
Schmach und Kreuz mit ihm zu tragen,
das sei fortan mein Gewinn!
Dass mein Herz, von Lieb entzündet,
Gnade im Gerichte findet,
sei du meine Schützerin![7]

Foto: Monika Karczmarczyk

Bei Heinrich Bone nimmt das Stabat Mater für die „Fastenzeit“ eine bedenkenswerte Position im Ablauf des Kirchenjahres als zeitlich vorausgeschickte Trauer ein. Es lässt sich für ihn offenbar nicht so recht in die Karwoche oder gar in die Osterliturgie integrieren. Das Stabat mater dolorosa wäre dem Karfreitag zuzuordnen, um in die Auferstehung ins Paradies zu Ostern zu münden. Das geistliche Gedicht schwenkt mit der Figur der weinenden Mutter indessen auf einen Nebenschauplatz der Leidensgeschichte und des Todes Christi aus. In der Literatur des Neuen Testaments ist kein eigener Zeitpunkt für die hingebungsvolle Trauer der Mutter und der im allgemeinen vorgesehen. Insofern bricht das folgenreiche, anschlussfähige Gedicht in ein orthodoxes Kirchenjahr ein. Das Stabat Mater lässt sich schwer integrieren oder gar kanonisieren, um zugleich zu einem besonders begehrten Text für Übertragungen und Kompositionen zu werden. Artikuliert wird mit dem Stabat Mater eine Trauerpraxis, die für die Katholische Kirche letztlich inkommensurabel bleibt.    

Foto: Monika Karczmarczyk

In diesem Kontext wird die Uraufführung der (zweiten) Stabat Mater von Wolfgang Rihm zu einem Novum in der Musikliteratur. Rihm lässt die Position des Ich mit dem lateinischen Text offen. Die Stimme der Bratsche setzt in einer magischen Tiefe der Vieldeutigkeit an. In Zwischenspielen gräbt sie sich in den Text ein, der von Christian Gerhaer an der Grenze zur Verständlichkeit des fast formelhaften Gedichts gesungen wird. Eine geschlossene Form wird durch die Eigensinnigkeit der Bratsche im Verhältnis zum Gedicht auch aufgelöst. Nach der letzten Strophe bleibt der Bratsche Zeit für eine Art gesanglichen Kommentar. Doch das „Paradisi gloriae“ wird nicht durch einen triumphierenden Jubel kommentiert, vielmehr verklingt die hochemotionale Violastimme von Tabea Zimmermann plötzlich in einem Abbruch. Geht es noch um eine menschliche Stimme im Gebet? Gibt es ein fernes humanistisches Echo?

Foto: Monika Karczmarczyk

Wolfgang Rihm hat sich in den beiden Instrumentalstücken Sphäre nach Studie (1993/2002) und Male über Male 2 (2000/2008) anderen Fragen nach der Musik gewidmet. Male über Male für Jörg Widmann und von ihm gespielt, erforscht nicht zuletzt alle klanglichen Möglichkeiten des Instrumentes. Musik wird bei Wolfgang Rihm gerade in den Instrumentalstücken immer auch zur Klangforschung. Mit Jörg Widmann erforscht er die Klarinette nicht nur in den Bereichen ausgeweiteter Spielpraktiken, vielmehr werden Klangschnitte insbesondere mit dem Schlagwerk (Jan Schlichte, Franz Schindbeck) und dem Klavier (Tamara Stefanovich) ausprobiert. Obwohl die Werke auskomponiert sind, bleibt ihnen doch eine Offenheit erhalten. Für Male über Male 2, das auch einen gewissen Modus der Wiederholung anzeigen kann, lässt sich eine satzartige Architektur in 5 Teilen hören. Dabei stellen sich nach tänzerischen Passagen u. a. Anklänge an den Jazz ein. Das Stück endet in einem tonlosen Verhallen.

Torsten Flüh


[1] Siehe die Besprechung der Uraufführung: Torsten Flüh:  Singularitäten und das Einmalige. Zum BBC Symphony Orchestra unter Sakari Oramo und Georg Nigl mit Olga Paschenko beim Musikfest Berlin 2019. In: NIGHT OUT @ BERLIN 20. September 2019.

[2] Siehe: Andreas Kraß: Stabat mater dolorosa: lateinische Überlieferung und volkssprachliche Übertragungen im deutschen Mittelalter. München: Fink, 1998, S. 11. (Digitalisat)

[3] Siehe: Torsten Flüh: Belletristik, Poesie und Begehren als Musikkomposition. François-Xavier Roth mit Les Siècles und Zubin Mehta mit dem Israel Philharmonic Orchestra beim Musikfest Berlin 2019. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. Oktober 2019.

[4] Andreas Kraß: Stabat … [wie Anm. 2] S. 355.

[5] Zitiert nach lateinischem Originaltext und der Übertragung durch Christoph Martin Wieland 1779 auf dem Programmzettel.

[6] Zur Funktion des Genießens bzw. der Jouissance vgl. Torsten Flüh: Für eine Kulturforschung der Sexualitäten. Zu Tim Blannings neuer „Biographie“ FRIEDRICH DER GROSSE. König von Preußen. In: NIGHT OUT @ BERLIN Februar 25, 2019 18:52.

[7] Heinrich Bone (Hg.): Katholisches Gesangbuch nebst einem vollständigen Gebets- und Andachtsbuche. Paderborn: F. Schöningh, 1851, S. 67-68.

Igor Levits umjubelter Beethoven-Feier nachdenken

Virtuose – Klaviersonate – Freiheit

Igor Levits umjubelter Beethoven-Feier nachdenken

Über die 32 Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven gespielt von Igor Levit beim Musikfest Berlin

Sieben von acht Konzerten mit jeweils zwischen 3 und 5 Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven hat Igor Levit bereits in der Philharmonie gespielt. Jetzt kann der Berichterstatter nicht länger warten, noch einmal vom musikalischen Großereignis im Kleinen zu berichten. Igor Levit spielt Beethoven, wie er ihn als Virtuose denkt und fühlt. Er spielt seinen Beethoven aus einer achtzehnjährigen Beschäftigung mit den Klaviersonaten. Es ist in jedem Konzert seit dem ersten am 25. August 2020 das gleiche Ritual. Igor Levit betritt das Podium, wird vom Publikum mit Applaus begrüßt, verbeugt sich und setzt sich an den Konzertflügel. Er hält meistens einen Moment inne, bevor er zu spielen beginnt. Die Partitur ist nicht nur im Kopf, vielmehr in den Fingern, den Händen, dem ganzen Körper. Keine Pause. Applaus. Verbeugungen. Kommentarlos setzt sich der Pianist für die nächste Klaviersonate an die Tastatur. Nach dreien, vieren oder fünfen Schlussapplaus und Bravos und nach zwei Applausauftritten spielt Igor Levit eine Zugabe.

Die Einzigartigkeit jeder Klaviersonate und ihre Beziehungen untereinander werden von Igor Levit herausgearbeitet. Keine klingt wie eine andere. Die Vielfalt wird zum Ereignis. Die Konzertreihe wird für mich eine Entdeckungsreise des Hörens in die immer wieder neuen Kombinationen und Kompositionen. Verästelungen, Verzweigungen, Abbrüche und Angriffen. Levit spielt mit äußerster Konzentration, Farbigkeit und atemberaubend schnellen Tempi, die z.B. auf Twitter kommentiert werden. Er zitiert scherzhaft in einem Post den Kommentar: „Wenn Igor Levit so schnell spielen kann, warum spielt er dann keine E-Gitarre?“ Er hat Humor und spielt das Adagio cantabile der Sonate Nr. 8 c-Moll op. 13 so berückend intensiv, dass mir beim letzten Ton des Themas die Tränen in die Augen schießen. Nicht nur einmal. Warum? Das passiert im vierten der 8 Konzerte bei der letzten Sonate und sonst bislang nicht wieder. Lässt sich das erklären? Liegt es an einem unerhörten Timing und dem Nachdruck des Anschlags?

Igor Levit ist seit der Veröffentlichung der Einspielung der 32 Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven im September 2019 ein Medienstar. Nicht, dass er vorher nicht gespielt und Alben herausgebracht hätte, aber die ca. 12 Stunden Musik der Klaviersonaten wurden sein Durchbruch. Im Oktober 2015 veröffentlichte er bereits bei Sony Classical die Goldberg Variationen von Bach, die Diabelli Variationen von Beethoven und von Frederic Rzewski The People United Will Never Be Defeated. Vielleicht hat er damit sogar das Rzewski-Revival angestoßen, das am 22. März 2019 mit dem Auftritt des 80jährigen Pianisten und Komponisten beim Eröffnungskonzert von MAERZMUSIK seinen Höhepunkt fand.[1] Doch Levit blieb unter dem Medienradar. Zwischenzeitlich und insbesondere durch die 52 Hauskonzerte auf Twitter, die am 11. September teilweise auf der neuen CD Encounter erschienen sind, ist Levit so bekannt, dass er am gleichen Abend in die NDR Talkshow 3nach9 zum Interview mit Barbara Schöneberger eingeladen wurde. Er ist eloquent, witzig und engagiert. Doch wenn er auf dem Konzertpodium am Flügel sitzt, betreibt er seine „Arbeit“, wie er es nennt, mit höchster Konzentration allein.

Was passiert mit mir, wenn ich Igor Levit die Sonaten für Klavier spielen höre? Da ich sie nicht selbst spielen kann und auch nicht die Partitur auf dem Schoß während des Vortrags lese, muss ich mich im Hören sozusagen seinem Spiel und seiner Interpretation anvertrauen. Vielleicht ist dieses Vertrauen viel wichtiger als jede Kennerschaft von Partitur, Beethoven-Biographien, musikwissenschaftlichen Einordnungen und Vergleichen mit anderen Interpreten. Es geht um ca. 12 Stunden Vertrauen. Es wäre schon eine größere Aufgabe mehrere Interpreten im Vergleich zu hören, um sie zu bewerten. Viel geübte Praxis im Musikjournalismus, wie es Eleonore Büning im Gespräch mit Igor Levit selbst anspricht, um ihm dann doch einen mitzugeben, indem sie sagt, sie habe seine Version nicht im Radio gespielt. Zu einer gewissen Zeit habe ich das mit einem Geliebten zu Wagner Einspielungen verschiedener Opern mit unterschiedlichen Dirigenten und Sänger*innen gemacht. Die unterschiedlichen Aufnahmen wurden aus dem Schallplattenregal geholt. Es lief damals darauf hinaus, zu entscheiden, welcher Interpret der Intention Richard Wagners am gerechtesten geworden sei. Als Maßstab wurde nach der Werktreue gesucht.

Was heißt Werktreue bei Beethoven, der seine Kompositionen als Virtuose selbst vortrug? Gibt es eine Werktreue bei den Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven? Werktreue hieße, zu behaupten, dass der Interpret wüsste, was Beethoven beim Spielen und Komponieren dachte. Das wäre eine Fiktion, die einer totalitären Geste gleichkommt. Sie ist weiterhin im Umlauf. Ende der 80er Jahre organisierte der Politikwissenschaftler Udo Bermbach an der Universität Hamburg eine Ringvorlesung zum Ring des Nibelungen von Richard Wagner. Der Dirigent Gerd Albrecht brachte Pierre Boulez gegen Wilhelm Furtwängler mit Klangbeispielen in Stellung. Zumindest gehörte der damals noch von Wagnerianern hoch verehrte Furtwängler nicht zu Gerd Albrechts Favoriten. Igor Levit maßt sich nicht an zu wissen, was Beethoven gedacht haben könnte. Auch das Abmessen der Tempi mit dem Metronom wird nicht zu seiner Arbeits- und Spielpraxis gehören.[2] Levit geht es um Glaubwürdigkeit bei seinem Spiel, wie er es in einem Interview formuliert hat, um den von ihm abgelehnten Begriff „Seelenfaschist“ zu erläutern:
„Ich habe eine Information in den Noten, und ich versuche, sie zu verstehen. Ich versuche, die notierte Information zu erfüllen – nach bestem Wissen und Gewissen, wie man in Berlin sagt. Aber ich bin es, der versucht, sie zu erfüllen. Ich weiß nicht, wie Beethoven klang. Glaubwürdig kann ich nur von mir erzählen und meinen Zustand da hineintun. Und der war gestern ein anderer als heute und wird morgen wieder ein anderer sein.“[3]

Das Musikwissen spielt eine prekäre Rolle beim Hören. Im Unterschied zu den Kämpfen der 80er Jahre in Interpretationsfragen nehmen diese heute nur noch bei Philistern eine wichtige Funktion ein. Das lange 19. Jahrhundert insbesondere in der Musik und dem Musikverständnis, das bisweilen an normativen Interpretationen der Sonaten sich anschickt wiederzukehren, spielt für Igor Levit offenbar keine entscheidende Rolle. Levit spielte nicht zuletzt die Sonate Nr. 8 mit einem gänzlich anderen Gestus, als es 1923 Richard Hohenemser in der Zeitschrift Die Musik mit der „»Sonate pathétique« … als ein Gipfel gerade hinsichtlich des Pathos, d. h. in diesem Falle der leidenschaftlichen Erregtheit, die namentlich aus ihrem ersten Satz spricht,“ hören wollte.[4] Er hörte das Pathos vor allem im ersten Satz und stellte ihm das aus Luigi Cherubinis Oper Medea mit einem Notenauszug gegenüber. Beweisen konnte er nicht, dass Beethoven die Noten von Cherubini gekannt hatte. Und für den Zweiten Satz urteilte er gar, dass er „mit »Medea« nichts tun“ habe.[5] Gibt es also kein Pathos im Zweiten Satz? Was macht es dann, dass ich gerade im Zweiten Satz ergriffen werde. Das Ergriffenwerden hat sich anscheinend nach dem griechischen πάθος páthos „Erlebnis, Leiden(schaft)“ verändert.    

Igor Levit spricht letztlich von einer Einmaligkeit des Klavierspielens im Konzert. Diese lässt sich schlecht mit Worten festlegen. Entgegen der Regel spielte Levit im zweiten Konzert 5 Sonaten mit Widmungen an Gräfin Therese von Brunswik, Gräfin Babette von Keglevics, Baronin Josephine von Braun und Erzherzog Rudolph von Österreich. Die Sonaten Nr. 24 und Nr. 26 rahmen quasi die früheren Nr. 4 , Nr. 9 und Nr. 10. Insofern die Sonate Nr. 24 von 1809 und die Nr. 26 von 1809/1810 stammen liegt zwischen den früheren und den späteren Sonaten das einschneidende Ereignis des Heiligenstädter Testaments von 1802, in dem Ludwig van Beethoven seinem Bruder von seiner zunehmenden Ertaubung berichtet.[6] 1809 kann Beethoven insofern weitaus weniger den Klang seiner Sonaten hören. Die Komposition der Musik erfolgt als schriftliche und imaginäre. – Als Zugabe spielte Igor Levit am 30. August das sehr poetische August Rosenbrunnen, das Malakoff Kowalski ihm gewidmet und zugeschickt hatte. Doch Levit sagte auch zur Einleitung, dass man den Titel gleich wieder vergessen könne. Levit will sich nicht auf narrative Titel, die gerade wie bei der sogenannten „Les Adieux“-Sonate (Nr. 26) erzählen, was für ihn beim Spielen nicht entscheidend ist.

Am Nachmittag des 19. September ab ca. 15:35 Uhr hatte sich Igor Levit soweit emporgearbeitet, dass er die Virtuosität und Verstörung der Sonate Nr. 29 B-Dur op. 106 von 1817/1818 spielte. Die sogenannte „Hammerklaviersonate“ gehört zu den Gipfeln und Bruchstellen der Musikliteratur. Da diese Sonate als einzige metronomisiert ist, darf sie auch als ein Experiment mit neuen Techniken, die um 1815 in Wien und Paris entwickelt werden, gelten. 1816 eröffnete der deutsche Erfinder und Mechaniker Johann Nepomuk Mälzel in Paris eine Manufaktur für sein Metronom, das er sich 1815 hatte patentieren lassen. Für den ersten Satz Allegro gibt Beethoven in der Partitur eine Taktfrequenz von 138 nach Mälzels Metronom an, was für die Komposition als kaum spielbar gilt. Natürlich habe ich mit keinem Metronom in der Philharmonie gesessen, was ja auch gestört hätte. Doch Igor Levit spielte den Ersten Satz berauschend schnell. Kaum hat er begonnen, ist er auch schon zuende. Eine Art akustischer Blitz zerreißt die Stille im Konzertsaal. Der Vierte Satz – LargoAllegro risoluto – geht zeitlich und proportionell weit über die ersten drei Sätze hinaus. Levit spielt entschiedene Fermaten, die den vierten Satz auch verstörend machen. Es sind Abbrüche, Einbrüche, lassen den musikalischen Gedanken immer wieder neu ansetzen. Die rechte Hand zittert, wenn er das Spiel pausieren lassen muss. Zu einem neuen Ansatz wird angelegt.

Der fast vollständig ertaubte Beethoven spielt in der Partitur alle Möglichkeiten der Kombinationen aus. Virtuosität. Musikpraxis an der Schwelle zur Musiktheorie. Hat er sie selbst gespielt, obwohl er sie selbst mit seinen Ohren nicht, aber vielleicht mit seinem Körper hören konnte? Die Sonate Nr. 29 wird zu einer nicht nur kompositorischen Herausforderung, vielmehr eine psychische. Igor Levit baut hier eine ungeheure Spannung auf. Eine Bruchstelle in der Musikliteratur, die sich nicht wieder heilen lassen wird, weil Beethoven immer wieder auf die Fuge bei Bach anspielt. Levit liebt die Herausforderung und nennt die 29 seine Lieblingssonate, als er seine Zugabe ankündigt. Mit Eleonore Büning hat sich Levit über die Klaviersonaten von Beethoven im Rahmen des Musikfestes vorab unterhalten. Die vier Videos sind bis 23. September noch auf der On-Demand-Seite des Musikfestes verfügbar. Beethoven spiele in der Nr. 29 mit seinen „Muskeln“. – Wir wissen nicht, wie welche „Muskeln“ bei Beethoven ausgebildet waren. Da er selbst als Klavier-Virtuose auftrat, wird seine Hand- und Armmuskulatur sicher entsprechend ausgebildet gewesen sein. Igor Levits Vortrag der „Hammerklaviersonate“ wurde jedenfalls mit Bravos und Standing Ovations gefeiert.

Männlichkeit bzw. Muskeln und Melancholie verraten im Gespräch von Eleonore Büning mit Igor Levit mehr über die kursierenden Diskurse als über die Musik des Komponisten. Das ist eine wichtige Beobachtung, die sich aus dem Interview der Musikjournalistin mit dem Pianisten resümieren lässt. War der Begriff der Melancholie für den Genie-Diskurs im 19. Jahrhundert bis ins 20. Jahrhundert unverzichtbar, um über Beethovens Musik zu sprechen und zu urteilen(!), so fällt dieser heute im musikjournalistischen Gespräch zugunsten der „Muskeln“ weg. Einfach ist nichts in keiner der Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven. Die Sonate Nr. 17, die sogenannte „Sturmsonate“ von 1802, die Levit am 8. September in der Philharmonie spielte, gehört wie die „Pathetique“ oder die „Mondschein“ zu jenen, die nicht nur eine Hitlistenbekanntheit der Musikradios erlangt, sondern auch häufig als Filmmusik verwendet werden. Levit beginnt mit einem sehr leisen Anschlag, aus dem, sozusagen, die musikalische Erlebniswelt von Gewitter und Gefühl entsteht. Mir kommt beim Hören in den Sinn, dass die Nr. 17 Wagners Nibelungen-Welt vorwegnimmt bzw. jener an Beethoven anknüpft. Die Sprache von Natur und Gefühl ist in der Musik indessen nicht Nachahmung, sondern Invention durch Kombination mit der Beethoven einen neuen Weg bahnt.

Von Anfang an gibt es in den Klaviersonaten bei Beethoven wie Levit einen Widerstand gegen die Melodie. Selbst die vermeintliche Mondscheinsonate spielt Igor Levit eher gegen als zur Melodie. Der anfängliche Widerstand, der Melodien zwar als Themen einführt, um sie sogleich durch heftige Zäsuren zu unterbrechen, zieht sich durch alle Klaviersonaten. Vielleicht ist das eine der wichtigsten Beobachtungen durch Igor Levit als Interpreten. Komponieren wird bei Beethoven zu einer Herausforderung an die Sonatenform. Mit der Nr. 29 wird sie am deutlichsten, ja, radikal in Richtung Variation überschritten. Das Wesen der Virtuosität liegt in der Überschreitung. Das kann als Melancholie oder als Muskeln gehört und aufgefasst werden. Dass erst 1836 Franz Liszt als ein neuer Typus der Virtuosität die Nr. 29 öffentlich spielte, sie sozusagen uraufführte, gibt auch einen Wink darauf, dass sich ihr Verständnis verändert hatte.[7] Die Überschreitung wird indessen durch die historische Figur Napoleon zu einer neuartigen Figur der Aneignung und des Bürgerlichen. Denn Napoleon ist ein neuartiger Bürgerkaiser, was ihn von den europäischen Herrscherdynastien wie den Habsburgern in Wien unterscheidet.

Der Widerstand gegen das Ordnungsprinzip der Melodie wird zu einem Versprechen der Freiheit. Ludwig van Beethoven nimmt sich anders als Haydn und Mozart von Anfang an die Freiheit, das Schema der Sonatenform durch einen zusätzlichen Satz nicht nur zu erweitern, sondern zu überschreiten. Das Musikwissen entwickelt sich nicht geschichtlich, vielmehr wird seit Beethoven mit einer Geschichtlichkeit gebrochen z. B. indem die Fuge zwar zitiert, aber ebenso wie die Sonatenform überschritten wird. Die Überschreitungen werden in den Kompositionen Ludwig van Beethovens zu einer Praxis des Komponierens. Sie ermöglichen vor allem, einen Fortschritt zur Freiheit in der Musik zu formulieren. Die vielfältigen Bezugnahmen auf Ludwig van Beethoven im 19. Jahrhundert lassen erahnen, dass er trotz der hartnäckigen Rede von der Melancholie mit den Überschreitungen als Praxis der Freiheit einen Nerv der Zeit getroffen hatte. In der Metronomisierung als neuartige Technik und Praxis kündigt sich, in der Sonate Nr. 29 B-Dur op. 106 „Hammerklaviersonate“ nicht zuletzt die Industrialisierung als Freiheitsversprechen an.

Torsten Flüh        

Igor Levit spielt Beethoven
Musikfest Berlin digital 


[1] Vgl. Torsten Flüh: „Hören Sie das Geräusch?!“ Zum Programm und Eröffnungskonzert von MAERZMUSIK festival für zeitfragen. In: NIGHT OUT @ BERLIN März 27, 2019 22:23.

[2] Zur Metronomisierung der Musik im 19. Jahrhundert siehe: Torsten Flüh: Texturen in der Musik. Das Sonderkonzert der Deutschen Oper und das Emerson String Quartet mit Barbara Hannigan beim Musikfest 2015. In: NIGHT OUT @ BERLIN September 16, 2015 20:52.

[3] Christina Bylow und Christian Seidl: Igor Levit: „Ich werde Ihnen nicht sagen, was Sie zu fühlen haben“. In: Berliner Zeitung vom 6.9.2020 – 11:25.

[4] Richard Hohenemser: Zu Beethovens „Sonate pathétique. In: Die Musik, Jg. 15.2 (Juni 1923), Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, S. 655.

[5] Ebenda 657.

[6] Zur Taubheit bei Beethoven: Torsten Flüh: Beethovens göttlichste Komposition. Zur Ausstellung der Beethoven-Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 8. Juli 2020.

[7] Zu Franz Liszt in Paris siehe auch: Torsten Flüh: Ein europäischer Klangroman. Zu Volker Hagedorns furiosem Roman Der Klang von Paris. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. Mai 2019.

Geisterkunst aus tiefem Grau zu intensiver Farbigkeit

Kino – Algorithmus – Geister  

Geisterkunst aus tiefem Grau zu intensiver Farbigkeit

Zur gefeierten Weltpremiere von Gerhard Richters und Corinna Belz‘ Moving Picture 946-3 mit Live-Musik von Rebecca Saunders

Die Weltpremiere von Gerhard Richters und Corinna Belz‘ Moving Picture 946-3 mit Live-Musik von Rebecca Saunders in der Reithalle der Karlskaserne am 12. Juni 2020 bei den Schloss Festspielen Ludwigsburg musste wegen der Covid-19-Pandemie abgesagt werden. Nun fand sie am 14. September im Zoo Palast im Rahmen des Musikfestes Berlin statt. Vom 31. August bis 8. September 2019 war die erste Version der zusammen erarbeiteten audiovisuellen Collage im Kiyomizu-dera – 清水寺 – Tempel in Kyoto gezeigt worden. Aus unzähligen Farbstreifen wurde nach sechsjähriger Forschungs- und Entwicklungsarbeit, einem von Gerhard Richter erprobten mathematischen Prinzip folgend[1], ein Bewegungsbild mit Mustern gezeigt, das Rebecca Saunders mit und für den Trompeter Marco Blaauw als Material dient.

Bevor die visuellen wie akustischen Farbexplosionen einsetzen, wurde ganz in Grau Ghost Trio (1975/1976) von Samuel Beckett in der Produktion des Süddeutschen Rundfunks gezeigt. Samuel Beckett führte selbst Regie und experimentierte nicht zuletzt mit dem Grau des Schwarz/Weiß-Fernsehens. Aus dem einheitlichen Grau werden nach und nach in einem Raum geisterhaft eine Liege, eine Tür, ein Fenster, ein Hocker mit einer Gestalt per Kamerafahrten herangezoomt. Fetzen des zum Teil beim Heran- und Herauszoomen bearbeiteten Klaviertrios D-Dur von Ludwig van Beethoven, genannt nach Carl Czerny „Geistertrio“, werden hörbar. Obwohl das restaurierte Kino Zoo Palast von 1956/1957 erbaut wurde, gab eines der Hauptkinos der Berlinale mit seinem roten Samtvorhang den perfekten Rahmen für Samuel Beckett, Gerhard Richter, Corinna Belz, Rebecca Saunders und den in Rot gekleideten Trompeter Marco Blaauw. Stürmischer Schlussapplaus!

Die Geister und das Geistige werden von Samuel Beckett anders in Szene gesetzt, als es Carl Czerny 1842 in Anknüpfung an die Erscheinung des Geistes in William Shakespeares Hamlet imaginierte und in der Musik mit Über den richtigen Vortrag der sämtlichen Beethovenschen Klavierwerke normierend hören wollte: „Der Charakter dieses sehr langsam vorzutragenden Largo ist geisterhaft schauerlich, gleich einer Erscheinung aus der Unterwelt“.[2] In der deutschen Version des Stückes von Samuel Beckett kommen alle Erscheinungen aus einem gleichmachenden Grau hervor. Die Stimme im Off spricht zunächst vom Grau und der Liege, der Tür rechts und dem Fenster am Ende des Raumes, bevor diese überhaupt sichtbar werden. Das unterscheidet die im Netz kursierende Version von Ghost Trio des BBC von 1977, bei der Donald McWinnie unter der Anleitung von Beckett Regie geführt hatte.[3] Insofern wurde mit Ghost Trio in der SDR-Fassung eine echte Rarität, die das Internet noch nicht kennt, gezeigt.

Die Geistertrio-Version vom Mai 1977 wird insofern bedenkenswert, als sie das Medium Fernsehen technisch sehr viel ausgefeilter nutzt und abstrakter wirkt. Der Mann, der wartet und eine Zeitung liest, wie es in einer ersten Skizze heißt, wird nunmehr eine Gestalt mit überlangem, pelzigem Haar, die auf einem Hocker vornübergebeugt sitzt und ihren Kopf auf einen Gegenstand gelegt hat, der ein Buch oder ein Kasten sein könnte. Die Kamera muss sich mehrfach auf die Gestalt zubewegen, bei der erst im Bereich einer Naheinstellung Takte aus dem 2. Satz des Klaviertrios hörbar, doch nie ganz präsent werden. Erst als die Gestalt am Kopfende einer grauen Liege oder Pritsche an die Wand schaut, erscheint im Gegenschnitt das fleischige Gesicht eine Mannes. Der Schauspieler Klaus Herm war bei den Aufnahmen ca. 52 Jahre alt, wurde aber auf ein unschätzbares Alter geschminkt. Er bewegt sich auf sehr langsame Weise, so dass er ebenfalls ein Geist sein könnte.
„A man is waiting, reading a newspaper, looking out of the window, etc., seen first at distance, then again in close-up, and the close-up forces a very intense kind of intimacy. His face, gestures, little sounds. Tired of waiting he ends up getting into bed. The close-up enters into the bed. No words or very few. Perhaps just a few murmurs.“[4]

Der graue Raum wird nicht nur zu einem der Geistererscheinungen, vielmehr nannte Samuel Beckett erst kurz vor Produktionsbeginn von Tryst um in Ghost Trio.[5] Tryst wird im Englischen auch für Rendezvous oder als ein Ort des Wartens auf einen Spuk gebraucht.[6] Dementsprechend wird fraglich, ob Beckett während des Schreibens bereits an das Klaviertrio D-Dur von Beethoven dachte oder diese Bezugnahme erst während der Produktion im Studio entstand. Die SDR-Produktion nutzt die technischen Möglichkeiten des Fernsehens, der Unschärfe, Kamerafahrten und Klangregie auf virtuose Weise. Denn erst durch diese werden die Fetzen aus dem Klaviertrio geisterhaft und überschneiden sich zugleich mit einem Musikwissen, das einen gespenstischen Zug bekommt. Die besondere und durchaus filmische Intimität mit dem Wesen stellt sich umso mehr ein, als von ihm die Musik ausgeht. Klingt sie in ihm? Hört sie die Musik? Oder kommt sie aus ihm? –  Beckett lässt diese Fragen auf gespenstische Weise offen.     

Foto: Monika Karczmarczyk

Gespenstisch hatte der Abend bereits mit Not I von Samuel Beckett begonnen. In extremer Naheinstellung spricht die Schauspielerin Billie Whitelaw in der Regie von Anthony Page hektisch den Beckett-Text. Not I von 1973 ist auf YouTube mit einer Einführung der Schauspielerin vorhanden. Der Mund und das Sprechen wirken von einer Person, einem Subjekt abgetrennt. Der Mund spricht von selbst und wird zum Gespenst. Die Fernsehproduktion von BBC London und RM Productions London erlaubt allererst die Inszenierung von Not I, der auf dem Theater nicht mit vergleichbarer Irritation gesprochen werden könnte. Indem der gespenstische Mund auf ein Mädchen einredet, könnte die Imagination einer inneren Stimme entstehen. Inszeniert wird darüberhinaus die Sprache ohne Subjekt, die ein Mädchen atemlos zwingt, in die Welt zu gehen.
„MOUTH: . . . . out . . . into this world . . . this world . . . tiny little thing . . . before its time . . . in a godfor– . . . what? . . girl? . . yes . . . tiny little girl . . . into this . . . out into this . . . before her time . . . godforsaken hole called . . . called . . . no matter . . . parents unknown . . . unheard of . . . he having vanished . . . thin air . . . no sooner buttoned up his breeches . . . she similarly . . . eight months later . . . almost to the tick . . . so no love . . . spared that . . . no love such as normally vented on the . . . speechless infant . . . in the home . . . no . . . nor indeed for that matter any of any kind . . . no love of any kind . . . at any subsequent stage . . . so typical affair . . . nothing of any note till coming up to sixty when– . . . what? . . seventy?. . good God! . .“

Foto: Monika Karczmarczyk

Rebecca Saunders Musik für Moving Picture 946-3 ist nicht zuletzt 2019 im Kiyomizu-dera-Tempel in Kyoto entstanden. Der weltberühmte, buddhistische Tempel des Reinen Wassers ist dem Geist bzw. der buddhistischen Gottheit Kannon in den Bergen über Kyoto gewidmet.[7] In den Darstellungen des Tempels bleibt die Gottheit indessen unsichtbar, während ein Eremit und der Tempelgründer auf Bildrollen dargestellt wurden. Wahrscheinlich bekommt Kannon eine eher animistische Gegenwart in der den Tempel umgebenden Natur, womit eine japanische Transformation des buddhistischen Gottes in einen animistischen Kami 神 vorliegen dürfte.[8] Doch so detailliert erklärt es nicht einmal der Tempelorden auf seiner Website. Die Kyoto-Version Moving Picture 946-3 nimmt insofern Bezug auf ein japanisch-buddhistisches Geist- und Geisternarrativ. Der Film nimmt mit seinen Farben, die zu Beginn an gemischte, übereinander geordnete Spektralfarben erinnern können, Bezug auf die buddhistische Lehre von den Erscheinungen und der Leere.

Foto: Monika Karczmarczyk

Marco Blaauw gibt links vor der riesigen Leinwand des großen Kinos im Zoo Palast das Zeichen, dass der Film gestartet wird. Die Farbstreifen erscheinen waagerecht auf der Leinwand, zeitlich genau abgestimmt bläst Blaauw seinen ersten Ton auf seiner gestopften Doppel-Trichter-Trompete. Durch den zweiten Trichter bekommt der Ton zugleich eine weitere Färbung. Sebastian Schottke regelt am Regiepult den Klang, der sich zugleich einer Einordnung entzieht. Die Farbstreifen haben sich in die Senkrechte zu sich permanent bewegenden Farbmustern transformiert. Rebecca Saunders Musik ist an den 30.000 Einzelbildern des 37-minütigen Films orientiert. Ein Bild pro Sekunde wären 2.220, bei 30.000 kommt man auf 13,5 Bilder pro Sekunde. Die Farbmuster können für den Blick als Tier- oder Menschengestalten für Bruchteile von Sekunden zwischen indisch-hinduistischer Malerei und europäischem Symbolismus sichtbar werden. – Es sind übrigens jene Muster, wie sie Gerhard Richter für die drei Chorfenster des Kloster Troley im Saarland ausgewählt hat. – Doch dann sind sie schon wieder im Farbmuster verschwunden. Aus den Farben steigen Geister und Geistiges, Gottheiten indisch auf. Überschneidungen, Wiederholungen, Überblendungen. In der Musik entstehen Echos und Überlagerungen.

Foto: Monika Karczmarczyk

Die Kinematographie als Kombination des Films mit der Live-Musik vermag zu berauschen und zu begeistern. Die Musik trägt zweifellos dazu bei, was sichtbar wird. Sie basiert auf einem von Gerhard Richter erprobten mathematischen Prinzip. Ce Christina Jian hat beispielsweise formuliert, dass „gerade die für ihre agnostische Leere bekannten Abstrakten Bilder (von Gerhard Richter, T.F.), die auf vielen Ebenen ein Resonanzverhältnis zu wissenschaftlichen Visualisierungstechniken aufweisen, ohne direkten Bezug auf sie zu nehmen“. „Maßgeblich“ sei „für diese Analogie (…) Richters Konzept der Bildschöpfung und die daraus erwachsenden Qualitäten der Bildstruktur, die wiederum besondere Anforderungen an Wahrnehmung und Deutung dieser Werke stellen.“[9] Anders gesagt: Richter verwendet ein mathematisches Prinzip, das einem Algorithmus gleichkommt, um (k)ein Wissen anzusprechen und Leere herzustellen. Rebecca Saunders knüpft auditiv mit Marco Blaauw daran an.

Torsten Flüh

Rebecca Saunders beim
Musikfest Berlin 2020
Karajan-Akademie der Berliner Philharmoniker
Enno Poppe, Leitung
Saunders | Djordjević | Poppe
22.09.2020 20:00 Uhr


[1] Siehe: Schlossfestspiele: Moving Picture 946-3. 12. Juni 2020.

[2] Carl Czerny: Über den richtigen Vortrag der sämtlichen Beethovenschen Klavierwerke. Wien, 1842. (Reprint hrsg. von Paul Badura-Skoda, 1963) S. 99.

[3] Siehe YouTube: Samuel Beckett „Ghost Trio“. (YouTube)

[4] Französisch von Josette Hayden (7 January 1968) übersetzt von James Knowlson und zitiert in James Knowlson: Damned to Fame: The Life of Samuel Beckett. London: Bloomsbury, 1996, S. 555.

[5] Michael Maier: Geistertrio: Beethoven’s Music in Samuel Beckett’s Ghost Trio. In: Samuel Beckett Today/Aujourd’hui, Samuel Beckett in the Year 2000. S. 268-269.

[6] Wiktionary: tryst.

[7] Kiyomizu-dera: Kannon Reijo: Why the temple is sacred. https://www.kiyomizudera.or.jp/en/learn/

[8] Zum Diskurs des Kamis siehe auch: Torsten Flüh: Berberi. Robert Kochs Reise um die Welt. Kindle, 2012.

[9] Ce Christina Jian: Erkenntnis als Zweifel. Zum Konzept des technischen Bildes bei Gerhard Richter. In: all-over. Magazin für Kunst und Ästhetik. October 2012.

Von der endlosen Klangmagie und den Schnitten

Klang – Instrument – Schnitt

Von der endlosen Klangmagie und den Schnitten

Konzerte mit Musik von Rebecca Saunders beim Musikfest Berlin 2020

Vergessen Sie Ihr Musikwissen und entdecken Sie die Musik neu mit den Kompositionen von Rebecca Saunders. Wenn Sie jedes Instrument in einem Orchester oder Ensemble heraushören können, dann werden Sie mit der Musik von Rebecca Saunders neu hören lernen. Das Ensemble Klangforum Wien unter der Leitung von Emilio Pomàrico, Christian Dierstein und Dirk Rothbrust, das Ensemble Musikfabrik unter der Leitung von Peter Rundel sowie die Trompeter Marco Blaauw und Nathan Plante spielten zum Teil Uraufführungen von Rebecca Saunders beim Musikfest Berlin in der Philharmonie. Krassimir Sterev spielte in beiden Ensembles das Akkordeon, das die Komponistin in ihren Klanggebilden gern verwendet. Rebecca Saunders, die in Berlin lebt, und, soweit das derzeit möglich ist, international mit Ensembles und Solisten arbeitet, erhielt 2019 den Ernst von Siemens Musikpreis sowie 2013, 2016 und 2018 den British Composer Award. Am Montagabend wird der Film Moving Picture von Gerhard Richter und Corinna Belz mit Live-Musik durch Marco Blaauw der Komponistin im Zoo Palast seine Welturaufführung erleben.

Saunders erforscht die Klangpotentiale der Instrumente, findet neue und kombiniert sie auf überraschende Weise immer wieder anders. Schließen die Zuhörer*innen die Augen, um der Musik nach zu lauschen, können sie den Klang oft keinem Instrument zuordnen. Als Klangforscherin wird sie in ihren Kompositionen zu einer Magierin, die ungeheuer fasziniert. Da ist beispielsweise Flesh für Solo-Akkordeon mit Rezitation. Nun könnte das Publikum erwarten, dass Krassimir Sterev, mit dem Rebecca Saunders das Chromatische Knopfakkordeon für ihre Kompositionen erforscht, das populäre Musikinstrument auch zu einem Stück volkstümlicher Musik nutzt. Doch als Klangforscherin und Leser*in geht das Interesse der Komponistin in eine ganz andere Richtung. Das Akkordeon beginnt, ganz leise Luft zu holen, vor jedem Ton. Vor jedem Ton beginnt der Klang mit dem Atmen. Irgendwann entsteht ein Flüstern und Wispern zwischen Akkordeon und Spieler.

Foto: Monika Karczmarczyk

Flesh wurde am 4. September im Konzert mit dem Ensemble Klangforum Wien als erstes Stück gespielt. Im Februar 2019 erlebte Sole, Trio in F-sharp für mobiles Akkordeon, Schlagwerk und Klavier, mit dem Klangforum Wien beim ECLAT Festival in Stuttgart seine Uraufführung. Rebecca Saunders bricht damit eine Konvention im Konzert mit dem Akkordeon auf. Denn Krassimir Sterev bewegt sich mit seinem Musikinstrument tatsächlich auf dem Podium. Während alle anderen Musiker*innen auf ihren Stühlen sitzen bleiben, spielt Sterev erst rechts auf dem Orchesterpodium, dann in der Mitte und dann links. Allein das Akkordeon atmet an und von verschiedenen Orten auf dem Podium. Saunders erforscht mit ihm, das Alleinsein, die Stille, Leere und den Hauch. Das Verhältnis von Ensemble nach insimul aus dem Lateinischen also dem Deutschen zusammen und das Einzelne werden auditiv getestet. Saunders notiert dafür multilingual und poetisch für das Programmheft:  

„Inside, withheld, unbreathed,
Nether, undisclosed.
Souffle, vapour, ghost,
hauch and dust.
Absent, silent, void
Naught beside.
Either, neither, sole,
Unified.“[1]

Foto: Monika Karczmarczyk

Die Verhältnisse des Einzelnen zum Zusammen eines Ensembles wird für Saunders zu musikalischen Fragestellungen. Rebecca Saunders schreibt nicht nur Auftragswerke für Ensemble, sie arbeitet seit Jahren auch eng mit einzelnen Musiker*innen wie Marco Blaauw oder Krassimir Sterev und ihren Instrumenten zusammen, um die Klangpotentiale meistens jenseits der üblichen Spielweisen und Tonleiter im Obertonbereich zu erkunden. Wie in ihrem multilingualen Poem zum vieldeutigen englischen Sole eröffnen z.B. „Souffle, vapour, ghost / hauch and dust.“ ganz unterschiedliche Assoziationen über das Französische, Englische und Deutsche hinweg. Bedeutungen werden nicht festgelegt, bleiben vielmehr in der Schwebe. Verschiedentlich hat die Komponistin mit Texten von James Joyce oder Samuel Beckett komponiert. Und dann kam to an utterance – study mit dem finnischen Pianisten Joonas Ahonen zur Uraufführung, ein Auftragswerk des Klangforums Wien. Für den September 2021 ist eine Orchesterfassung mit Piano des Stückes beim Luzern Festival mit dem Luzern Festival Orchester vorgesehen. Ahonen ist seit 2011 Mitglied des Klangforums Wien.

Foto: Monika Karczmarczyk

Das Klavier bzw. der Konzertflügel wird von Rebecca Saunders ebenfalls entgegen der gewohnten Praktiken genutzt. Der fast schon narrative Titel to an utterance, deutsch zu einer Äußerung, gibt einen programmatischen Wink – möglicherweise gar auf die 32 Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven, die zwischenzeitlich Igor Levit in vierer Gruppen in der Philharmonie vor ausverkauften, doch locker besetzten Reihen in der Philharmonie mit großem Erfolg spielt. Geht es seit Beginn des 19. Jahrhunderts in der Musikwissenschaft und der Kritik immer wieder um die Frage, was Beethoven mit einer Klaviersonate geäußert haben möge.[2] Ob er nicht in diese oder jene Dame der Gesellschaft verliebt gewesen sei, als er ihr die Sonate gewidmet habe, wird frei literarisch bei Romain Rolland oder wissenschaftlich-detektivisch bis auf den heutigen Tag spekuliert.[3] Vorgestern Abend spielte er etwa die Sonate Nr. 6 F-Dur, Opus 10,2, die er der Gräfin Anna Margarete von Browne-Camus gewidmet hat. Rebecca Saunders‘ Studie am Klavier hat eine Dauer von 8 Minuten. Es ist also ein kurzes Stück. Joonas Ahonen setzt sich an den Flügel und streicht mit Strickhandschuhen ohne Finger über die Tastatur. – Meinem Sitzplatz gegenüber in Block K steht ein Ehepaar auf und verlässt aus Protest nach den ersten Minuten den Saal.

Foto: Monika Karczmarczyk

Laut zu protestieren, wagt sich das Paar, sagen wir, der Klavierliebhaber nicht. Das war Ende der 70er Jahren des letzten Jahrhunderts noch ganz anders. Bei Györgi Ligettis Le Grande Macabre in der Staatsoper erinnere ich mich an kräftige und erboste Zwischenrufe.[4] Angefüllt mit dem Wissen des Klavierspielens, dem richtigen Anschlag und in Erwartung diabolischer Tempi war das Klavierkennerpaar nicht nur enttäuscht, sondern verärgert. Das geschieht heute in zumindest deutschen Konzerthäusern selten. Das Paar ist zwar kein Maßstab, aber es zeigte doch, was Rebecca Saunders Kompositionen auszulösen vermögen. Wer nur allzu gut weiß, wie Musik gespielt werden muss und das unmissverständlich erwartet, dem wird ihre Musik entgehen. Die Zuhörer*innen in den Konzerten mit Kompositionen von Rebecca Saunders sollten sich auf den Klang einlassen können. Sie hinterfragt das Musikwissen bisweilen radikal. Wenn Joonas Ahonen mit den fingerlosen Strickhandschuhen über die Klaviatur streicht, dann hört sich das nicht einmal schlecht an. Allerdings streicht er, wohl um virtuose Spielweisen wissend – er spielt auch Beethoven -, das kennerische Musikwissen durch.

Foto: Monika Karczmarczyk

Mit 15 Solist*innen und einem Dirigenten, Emilio Pomàrico, ist Scar, ein Ensemble Work, besetzt. Die Ensemble Works bilden bei Rebecca Saunders wie bei einigen zeitgenössischen Komponist*innen ein eigenes Genre. Natürlich sind 15 Solist*innen etwas Anderes als ein Symphonieorchester. Jedes Instrument bis auf die zwei Schlagwerke ist nur einzeln besetzt: Klavier, E-Gitarre, Akkordeon, Kontrabass, Violine etc. sind einzeln besetzt. Scar, deutsch Narbe, ist durchaus ein programmatischer Titel, bei dem sich Rebecca Saunders ausdrücklich auf die sprachliche Bedeutungsvielfalt von scar ebenso wie eine Textpassage aus US DEAD TOLD LOVE aus der Textsammlung A primer for cadavers des britischen Künstlers Ed Atkins bezieht:
„This corporal revenge. A genuine, concerted and systematic undoing of grace. Every promise discovered too late to be a fucking lie told badly. The promise of intimacy and the promise of beauty ripped away to reveal a gawping, hyperreal brute. Perfection only withheld by that small matter of the encroaching white of dawn under the door and the imminent waking. When all of this might be nonchalantly buried studded into the underwear draw of language and a sprint of animist velocity …
(Diese Rache des Körpers. Ein wahrhaftiger, vorsätzlicher, systematischer Ruin der Grazie. Jedes Versprechen, von dem man zu spät entdeckte, dass es eine Scheißlüge war, und zudem schlecht erzählt. Das Versprechen von Intimität und das Versprechen von Schönheit werden weggerissen und enthüllt. Was hervorkommt ist der glotzende hyperreale Unmensch. Die Perfektion wird nur von dieser kleinen hereinkommenden Schleife weißer Dämmerung unter der Tür zurückbehalten und dem kommenden Spaziergang wach werden. Wo all das doch mit Nonchalance begraben werden könnte, in die Unterwäscheschublade der Sprache gesteckt, unter einem Sprint von animalischer Schnelligkeit …)”[5]

Nicht zuletzt als Schülerin von Wolfgang Rihm legt Saunders das Gewicht ihrer Kompositionen auf eine Poetologie des Klangs in Anknüpfung an literarische Texte. Ad Atkins nennt seine Texte in A primer for cadavers „poetic-prose“ und Hans Ulrich Obrist, der Papst der Kuratoren, schreibt, dass es ein „brillantes Buch“ sei, in dem die Aufmerksamkeit darauf gelenkt werde, wie „wir wahrnehmen, kommunizieren und Information filtern, indem wir geschichtete Bilder kombinieren mit Fragmenten der Sprache, Untertitel, Zeichnung und Handschrift“.[6] Saunders „vertont“ den Text von Atkins nicht, vielmehr lässt sie sich von ihm und der „underwear draw of language“ inspirieren. Musik ist eben nicht nur Harmonie, Wohlklang, obwohl die Komponistin paradoxerweise mit Void II und Dust II für „percussion duo“ sehr harmonische Klänge aus dem Schlagwerk herausholen lässt. Bei Scar geht es unterdessen mehr um die Narbe und einem anderen Denken von Musik und Stille, wie es Rebecca Saunders selbst formuliert hat:
„Silence is the canvas on which the weight of sound leaves it´s mark.
In Scar sound rips open the surface of silence, or peels back the skin, zooms in, and fall into the netherworld.
Seeking the obscured, that which lies within.“[7]

Foto: Monika Karczmarczyk

Christian Dierstein und Dirk Rothbrust führten am 7. September neue Fassungen von Void und Dust auf. 2018 hatten sie mit dem Rundfunk Sinfonieorchester Berlin unter der Leitung von Enno Poppe im Pierre Boulez Saal die Uraufführung der ersten Konzertfassung von Void auf dem Festival ultraschall berlin gespielt.[8] Nun kamen also die neuen Duo-Fassungen zur Uraufführung. Schon im Januar 2018 vermochte Void mit Orchester zu faszinieren. Doch die Duo-Version ist vielleicht noch intensiver. Obwohl keine Elektronik eingesetzt wird, intensivieren Dierstein und Rothbrust den Hall im Schlagwerk auf geradezu verwirrende Weise. Sie streichen, reiben, schaben, wischen, schrammen, schmeicheln, hämmern, schlagen, kreisen mit verschiedenen Stöcken und Besen über Oberflächen und bringen sie zum Schwingen. Schwingungen werden Klang, der anschwellt und abnimmt. Akzente durch Schläge wie Schnitte. Es geht um Nichts und Alles der Leere und was sie werden kann. Die Schlagzeuger erzeugen gänzlich neue Klänge, wie sie noch nicht gehört wurden. Es ist gleichzeitig eine neuartige Form der Virtuosität. Seit 2014 wird Void entwickelt und komponiert, so dass man den Eindruck gewinnen kann, dass die Percussionisten zusammen mit der Komponistin den Klang immer weiter hinausgeschoben haben.

Foto: Monika Karczmarczyk

Klang wird nichts als Schwingungen, die alles sind. Indem Maße wie sich Christian Dierstein und Dirk Rothbrust mit dem Potential ihrer Spiralen, Trommeln, Pauken, Gongs, Klangschalen, Glocken, Blechen und Schnüren auseinander gesetzt haben, ist Void zu einer Art Meisterwerk für Virtuosen geworden. Immer feinere Nuancen werden erzeugt, während sich eine weitere Klangschicht darüber schiebt. Ausgangsmaterial waren für Rebecca Saunders nicht zuletzt Samuel Becketts Texts for nothing von 1959 gewesen. Allerdings ist es fast, als habe sich diese Anknüpfung beim Musikmachen verselbständigt und losgelöst.
„Beneath the surface of silence lies a cacophony of sound and noise, an endless potential to  reveal and make audible. The act of composing unveals, makes visible: pulling gently on the fragile thread of sound, drawing out fragments of colour from the depths, seizing the moment and allowing sound to erupt from the stasis of imagined silence.“[9]

Für Dust II knüpft Rebecca Saunders weiterhin an Samuel Beckett an. Es geht der Klangforscherin mit Dust darum, was vor dem Klang liegt und unter der Oberfläche der Stille geschieht. Die Leere und der Staub sind bei Beckett vor dem Klang. Sie bewegt sich mit Beckett an den Grenzen von Klang und Stille. In den Formulierungen Becketts nimmt der Staub eine übertragene Funktion ein. Dust ist nicht nichts, aber weit davon entfernt etwas zu sein. Vielleicht wird das besonders eindrücklich, wenn Rothbrust und Dierstein große, weiße Schalen zum Schwingen bringen und schließlich Trommeln auf Filzstücken lautlos an die Schalen rücken. Dann wird der Klang der Schalen auf die Trommeln übertragen, so dass sich die Klangschichten zu Staub vermischen oder überlagern, bis es eine Art Rauschen wir. Ein Rauschen in der Zeit.
„…not a sound only the old breath and the leaves turning and then suddenly this dust whole place suddenly full of dust when you opened your eyes from floor to ceiling nothing only dust and not a sound only what was it it said….come and gone in no time gone in no time.“[10]

Foto: Monika Karczmarczyk

Marco Blaauw und Nathan Plante brachten mit zwei double bell Trompeten Either or am 9. September zur Uraufführung. Blaauw hat seine „double bell“ oder Doppeltrichter-Trompete 1998 zusammen mit einem Trompetenbauer entwickelt und 2000 zum ersten Mal eingesetzt.[11] 2015 hatte er das Musiktheaterstück Michaels Reise um die Erde aus dem Opernzyklus LICHT von Karlheinz Stockhausen beim Musikfest Berlin aufgeführt.[12] Stockhausen hatte das Stück für den und mit dem Trompeter entwickelt. Marco Blaauw gehört zu den innovativsten Trompetern weltweit. Either or/Entweder oder erforscht die Trompete als Instrument mit der konzeptuellen Eigenanfertigung und erweitert mit dem Kompositionsauftrag der Berliner Festspiele/Musikfest Berlin das Klangpotential des Blasinstruments. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurden immer wieder Doppelinstrumente entwickelt. Das Klangpotential kann so um eine weitere Klangfarbe oder auch mit und ohne Trompetendämpfer gespielt werden. Marco Blaauw und Nathan Plante setzen mit einem sehr hohen Ton ein, der sich in ein Atmen und sphärische Klänge verwandelt, bis sich eine Art Zwiesprache zwischen den Trompetern entfaltet und das Stück in einem langsamen Verstummen endet. Dafür gab es großen Beifall.

Blaauw ist Mitglied des Kölner Ensembles Musikfabrik, das unter der Leitung von Peter Rundel mit Fury II und dichroic seventeen das Konzert ergänzte. Rebecca Saunders arbeitet bereits seit 1998 mit dem Ensemble Musikfabrik zusammen, so dass mit dichroic seventeen eines ihrer frühen Werke zur Aufführung kam. Das Stück ist mit E-Gitarre, Akkordeon, Klavier, 2 Schlagwerken, Violoncello und 2 Kontrabässen besetzt. Keines der Instrumente wird in sozusagen traditioneller Spielpraxis genutzt. Vielmehr werden die Kontrabässe mit Schlägen der Bögen auf die Saiten wie Schlagzeuge gebraucht. Der Komponistin geht es darum, die Zweifarbigkeit, den Dichroismus, mit einem eröffnenden anschwellenden Streicherklang und den Schlägen zu erkunden. Bereits in dieser frühen Phase ihres Komponierens knüpft sie hinsichtlich einer Schnitttechnik an einen Text von Gertrude Stein an, der in seiner Ambiguität gelesen und übertragen wird.
„… ein Mensch, der die Aufmerksamkeit fesselt allein durch sein Dasein, es sind nicht Entwicklungen, die entfaltet werden, sondern „Seinzustände“, die in harten Schnitten aneinandergefügt sind … Figuren, die nichts taten, sondern waren.“[13]

Die Schnitte als Schläge sind in Rebecca Saunders Kompositionen wichtig. Sie brechen eine Klangkontinuität ab. Und nach 20 Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven, gespielt von den hoch engagierten und brillanten Igor Levit, stellt sich der Berichterstatter die Frage, ob es sich nicht auch in diesen um eine Schnitttechnik handelt, wenn Beethoven geradezu konzeptionellen melodiöse Themen in einem Forte oder Fortefortissimo abbrechen lässt, um neu anzusetzen. Zumindest die Interpretation der Klaviersonaten durch Igor Levit legt das nahe. Saunders dehnt einen Klanggebilde immer wieder in einer Weise aus, bei der der Zuhörer wünscht, es möge nicht enden. Doch dann erfolgt ein harter Schnitt, nicht nur eine Dissonanz. Wir wissen nicht, wie intensiv sich Rebecca Saunders mit den Klaviersonaten von Beethoven auseinandergesetzt hat, ob sie überhaupt eine Rolle in ihrem Musikdenken spielen. Doch Ambiguität und Schnitte nehmen in ihren Kompositionen wichtige Funktionen ein.

Torsten Flüh

Musikfest Berlin
Film & Live-Musik
Zoo Palast
14. September 2020 20:00 Uhr


[1] Rebecca Saunders: Sole. https://www.rebeccasaunders.net/sole.

[2] Siehe zu Igor Levit spielt Beethoven: Torsten Flüh: Allegro con brio, doch auch ein wenig traurig. Igor Levit spielt Ludwig van Beethovens 32 Klaviersonaten beim Musikfest Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 31. August 2020.

[3] Siehe zur Frage der Widmungen und der Liebe bei Beethoven: Torsten Flüh: Beethovens göttlichste Komposition. Zur Ausstellung der Beethoven-Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 8. Juli 2020.

[4] Zu Le Grande Macabre siehe: Torsten Flüh: Die Rückkehr der Oper nach der Anti-Oper. Edward II. als schwule Oper an der Deutschen Oper Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN März 6, 2017 21:38.

[5] Rebecca Saunders: https://www.rebeccasaunders.net/scar.

[6] Zitiert nach: Ad Atkins: A primer for cadavers. Amazon: Fitzgeraldo, 2016. (Amazon).

[7] Rebecca Saunders: scar … [wie Anm. 5].

[8] Siehe: Torsten Flüh: Neuer Rock und Klangzauber. ultraschall 2018: Ensemble Nikel rockt und das Rundfunk Sinfonieorchester Berlin dreht an der Klangspirale. In: NIGHT OUT @ BERLIN Februar 6, 2018 22:04.

[9] Rebecca Saunders: https://www.rebeccasaunders.net/void

[10] Samuel Beckett: That Time.

[11] Marco Blaauw: On Building & Playing the Double Bell Trumpet. Ensemble Musikfabrik. Youtube 17.01.2011.

[12] Siehe Torsten Flüh: Reisen und Transit. Zu Michaels Reise um die Erde und Orfeo beim Musikfest. In: NIGHT OUT @ BERLIN September 30, 2015 21:42.

[13] Rebecca Saunders: https://www.rebeccasaunders.net/dichroic-seventeen

Heitere Harmonie und Zersplitterung – Zum Eröffnungskonzert des Musikfestes Berlin

Sonate – Ordnung – Symphonie

Heitere Harmonie und Zersplitterung

Zum Eröffnungskonzert des Musikfestes Berlin mit der Staatskapelle Berlin unter Daniel Barenboim

Das Musikfest Berlin 2020 wurde am 29. August offiziell mit dem Orchesterkonzert der Staatskapelle Berlin unter Leitung von Daniel Barenboim. Es war das zweite Konzert eines Orchesters in der Philharmonie und Berlin überhaupt seit Mitte März. Dem Einen oder Anderen mögen deshalb bei den ersten Tönen der Symphonie Nr. 39 Tränen in die Augen geschossen sein. Daniel Barenboim hatte für dieses Ereignis die letzten drei Symphonien von Wolfgang Amadeus Mozart ausgewählt. Sie bilden nicht nur eine Art kompositorisches Vorspiel zu den Werken Ludwig van Beethovens, vielmehr wurden die Kompositionen von 1788 im 19. Jahrhundert nachträglich nach dem Schema des Sonatensatzes analysiert und bewertet. Zweifelhaft ist in der musikhistorischen Forschung, ob sie zu Mozarts Lebzeiten – er starb am 5. Dezember 1791 – jemals aufgeführt worden sind. Daniel Barenboim dirigiert und lässt die Symphonien mit einer großen Zuversicht spielen.

Der künstlerische Leiter des Musikfestes Berlin, Winrich Hopp, begrüßte in seiner Eröffnungsrede den Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble, der als Musikliebhaber bekannt ist. Als Bundestagspräsident ist Schäuble Dienstherr der Bundestagspolizei. Wie sich in den Mozart-Symphonien aus einem Thema zu Beginn eine komplexe Symphonie entwickelt, gilt als Inbegriff der Harmonie. Alles greift fast schon mechanisch ineinander. Es-Dur, g-Moll und C-Dur als Tonarten wechseln zwischen hellen und dunklen Tonarten, so dass die Symphonie Nr. 41 mit C-Dur als letzte mit einer hellen, sehr heiteren Stimmung im Molto Allegro endet. Daniel Barenboim arbeitet vor allem die Harmonie der Kompositionen heraus. Die Welt scheint im wahrsten Sinne des Wortes in Ordnung. Ordnung generiert Harmonie. Doch am 29. August 2020 zeigte sich zumindest die öffentliche Ordnung in Berlin am Reichstagsgebäude, dem Sitz des Deutschen Bundestages, kurzzeitig in verstörender Unordnung.

Die Ordnung feiert gerade mit den Regeln zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie für die Künstler*innen wie Zuschauer*innen beim Musikfest im großen Saal der Philharmonie eine Hochzeit. Alle Wege, alle Sitzplätze, alle Besucherdaten werden bis ins Detail geordnet und von einer Vielzahl von Ordner*innen begleitet, moderiert und im Ernstfall rigoros überwacht. Es geht um die Sicherheit für die Gesundheit der Künstler*innen und Besucher*innen. Winrich Hopp spricht in seiner Rede von den vielen Tests, die in den letzten Wochen mit Wissenschaftlern und dem technischen Dienst der Philharmonie durchgeführt worden seien. Er bedankt sich ausdrücklich beim technischen Leiter der Philharmonie, dem applaudiert wird. Orchesterarbeit sei Ensemblearbeit und verweise darauf, dass der Begriff Ensemble vom lateinischen insimul komme, das zusammen, miteinander und nicht auseinander heiße. Die Staatskapelle als Ensemble muss zwar wie das Publikum auf Distanz auseinander sitzen, spielt aber zusammen aufeinander abgestimmt. Auch in dieser Hinsicht verstehe sich das Musikfest nicht nur als Beitrag zur Kunst, vielmehr noch als Arbeit für die Gesellschaft und, so möchte ich hinzufügen, für die Gesellschaftsordnung.

Woher schöpfte Wolfgang Amadeus Mozart die Harmonie? Das Kompositionsschema der Symphonie, das Mozart weiterentwickelte und in seinen Symphonien, Nr. 39, 40 und 41 zu einer gewissen Perfektion führte, deckt sich keinesfalls mit den Lebensumständen, die nicht nur schwierige finanzielle Verhältnisse betreffen. Am 9. November 1791 gewann Fürst Karl Lichnowsky einen Prozess gegen Mozart, weil er geliehenes Geld nicht zurückgezahlt hatte und vermutlich nicht zurückzahlen konnte. Mozart stirbt wenige Wochen später im Alter von 35 Jahren an einer Krankheit, die vom Totenbeschauer nur ungenau beschrieben werden kann, so dass in der musikhistorischen Forschung vielerlei Diagnosen nachträglich gestellt wurden. Denn Wien wurde im 18. Jahrhundert z.B. in den Jahren „1777, 1784, 1786, 1787, 1790, 1794, 1796 und 1800“ von mehreren Epidemien z.B. Pocken mit zahlreichen Todesfällen heimgesucht.[1] Die verheerende Pest-Epidemie von 1679 führte 1693 zur Errichtung der Wiener Pestsäule oder Dreifaltigkeitssäule als Gnadensäule für die überstandene Seuche.[2] Sie erinnerte nicht nur an die Pest, vielmehr wurde sie selbst im März 2020 zum Ort der Fürbitten um einen glimpflichen Ausgang der Covid-19-Pandemie und zum „Ort der Hoffnung“.[3] Anders gesagt: Seit 1693 wird die Wiener Pestsäule immer wieder zum Ort der Bitten um ein schnelles Ende einer z.B. Pocken-Epidemie. Zu Mozarts Lebzeiten fünfmal.

Wolfgang Amadeus Mozart lebte in einer Zeit plötzlich auftretender Epidemien. Auch sein Wirkungsort Salzburg wurde von Epidemien heimgesucht. 1547 erschien die erste „Pestordnung“ für das Fürstbistum Salzburg. „Fürsterzbischof Maximilian Gandolf Graf von Kuenburg erließ 1679 eine Infektionsordnung.“[4] Das Wissen um den möglichen Ausbruch einer Epidemie aus heiterem Himmel, sozusagen, gehörte für Mozart zum sozialen Wissen. An der Wiener Pestsäule sowie vergleichbaren Kunstwerken in Kirchen wie Darstellungen des von „Pestpfeilen“ durchbohrten Heiligen Sebastian[5] dienen im 17. und 18. Jahrhundert sowohl als Mahnung und Erinnerung an Krankheit und Tod durch plötzlich auftretende Epidemien wie als Adressaten der Fürbitten, davor verschont zu bleiben. Für die Zuversicht in eine geordnete Welt sprechen die wiederkehrenden Epidemien und Mozarts früher Tod nicht. Doch als Freimaurer wünschte sich Mozart ein von Regeln über alle gesellschaftlichen Schichten hinweg beherrschbares Leben. Von der Katholischen Kirche gab es heftige Gegenwehr gegen die Freimaurer, die Mozart nicht verborgen geblieben sein wird.

Foto: Monika Karczmarczyk

In der Zauberflöte wird Mozart ca. 3 Jahre nach den Symphonien ganz im Sinne der Spätaufklärung der Freimaurerei die Welt- und vor allem Geschlechterordnung musikalisch mitgestalten, wie bereits 2018 mit einer Repertoireaufführung der Oper besprochen wurde. „Die Zauberflöte führt die neuen Werte der europäischen Aufklärung vor und übt ihre Geschlechterrollen fast mit jeder Strophe ein.“[6] Die ausdifferenzierte Regelhaftigkeit der Symphonien von 1788 wird zu einem Versprechen auf eine (bessere) Weltordnung nach den Epidemien von 1784, 1786 und 1787. Wolfgang Amadeus Mozart befindet sich an einer Schnittstelle zweier Systeme, als er sich von den katholischen und feudalen Strukturen des Salzburger Hofes in der Anstellung als Hofkapellmeister löst und nach Wien übersiedelt, wo Fürst Karl Lichnowsky Mitglied der gleichen Loge wie Mozart ist.[7] Obwohl Maynard Solomon seine Biographie als Melancholie-Erzählung angelegt hat[8], wie sie seit der Romantik für den Künstler als Narrativ und Wissen entwickelt wird, lässt sich das Dilemma einer systemischen Schnittstelle erahnen.

Foto: Monika Karczmarczyk

Daniel Barenboim entfaltet vom ersten Takt der Symphonie Nr. 39 Es-Dur Kv 543 mit der Staatskapelle Berlin in kleinerer Besetzung eine ungemeine Klangkultur. Das hochkarätige, sehr junge Ensemble der Staatskapelle ist perfekt aufeinander eingespielt. Der Maestro kennt die Werke sehr genau und dirigiert ohne Notenpult. Das Musikgedächtnis Daniel Barenboims ist legendär. Er hat die Partitur im Kopf und in seinem Körper. Er kennt jede Note und jeden Takt. Die Symphonie Nr. 40 g-Moll KV 550 klingt gar nicht gedämpft oder melancholisch, vielmehr setzt sie mit dem ersten Satz in Molto Allegro auch sehr fröhlich ein. Die Symphonie gehört zu den beliebtesten und meistgespielten überhaupt. Ein Klassik-Radio-Hit. Doch im 19. Jahrhundert wurde sie sogar als tragisch empfunden. Der Schlusssatz mit Allegro assai klingt bei Barenboim wirklich sehr fröhlich. Die schnellen Tempi werden mit dem jungen Ensemble auch als heitere Stimmung ausgeführt. Es gibt keine Brüche. Soviel Heiterkeit bekommt schon fast einen manischen Zug.

Foto: Monika Karczmarczyk

Die Symphonie Nr. 41 in C-Dur wird von Daniel Barenboim ebenfalls mit größter Zuversicht dirigiert. Es gibt keinen bekannten Adressaten der Symphonie und keinen Namen einer Widmung oder Titel, der durch Mozart mitgeteilt wäre. Im Programm wird dennoch „Jupiter“ als Titel abgedruckt, als könne damit ein Inhalt identifiziert werden. Die Kunst der Symphonie bei Mozart gehorcht indessen keiner Erzählung als Programmatik des Komponierens. Im Ringen um eine Interpretation tauchen immer wieder Namen auf. Keine Symphonie ähnelt einer anderen, wohl aber das Satzschema. 1739 veröffentliche Johann Mattheson in Hamburg sein Lehrwerk Der vollkommene Capellmeister, in dem eine „Gründliche Anzeige aller derjenigen Sachen, die einer wissen, können, und vollkommen inne haben muß, der einer Kapelle mit Ehren und Nutzen vorstehen will“.[9] Der barock formulierte Titel gibt einen Wink auf das, was Mattheson „Klangrede“ nennt:
„Die Mittel und Wege der Ausführung und Anwendung sind in der Rhetorik lange so verschiedentlich und abwechselnd nicht anzutreffen, als in der Musik, wo man sie viel öffterer verändern kann, obgleich das Thema gewisser massen dasselbe zu bleiben scheinet. Eine Klangrede hat vor einer andern viele Freiheit voraus, und günstigere Umstände : daher bey einer Melodie der Eingang, die Erzehlung und der Vortrag gar gerne etwas ähnliches haben mögen, wenn sie nur durch die Tonarten, Erhöhung und Erniedrigung und andre dergleichen merckliche Abzeichen, (davon die gewöhnliche Redekunst nichts weiß,) von einander unterschieden sind.“[10]

Foto: Monika Karczmarczyk

Wir wissen nicht, ob Mozart den Lob der Rhetorik bei Mattheson, der 1764 in Hamburg starb, gelesen hat oder vom Hörensagen kannte. Die Rhetorik in der Musik nennt Mattheson „Klangrede“. Die Rhetorik als „Klangrede“ ist bedenkenswert. Denn nach Mattheson ist sie in der Musik „viele Freiheit voraus“, weil sie sich unter anderem nicht an die Erzählung halten muss. Mattheson spielt mit der Rhetorik nicht nur auf Vortragskunst des Redens und der Verfertigung von Reden an, vielmehr geht es ihm um eine Praxis der Rede in ihren formalen Stilmitteln. Die Stilmittel der Paraphrasierung, der Umstellungen und Steigerungen, der „Erhöhung und Erniedrigung“, der Wiederholung und Unterbrechung, der „Tonarten“, Tempi und Dehnungen oder auch der Metalespsis[11] etc. sind wichtiger als das, was Mattheson „Schluß“ nennt.
„Man möchte vielleicht mit besserm Rechte sagen: der Schluß sey mit dem Eingange einerley. Denn das ist wirklich wahr. Da findet sich ein und dieselbe Sache, ein und der selbe Satz in einer und der derselben Stimme. Aber, wie denn? Macht es nicht David im achten und 103ten Psalm eben so? und gibt es nicht Leute, welche des Königlichen Dichters Wohlredenheit der Demosthenischen und Ciceronischen weit vorziehen, wenn sie absonderlich auf des Propheten musikalische Gaben ihrer Augen richten?“[12]   

Foto: Monika Karczmarczyk

Mattheson liest Psalm 8 und 103 in rhetorischer Hinsicht und erkennt darin die „musikalische(n) Gaben“ des Propheten. Es mag sein, dass die Lehre vom Sonatensatz als eine nachträgliche Formalisierung in der Musikwissenschaft und Kompositionslehre als nicht mehr aktuell angesehen wird. Doch knüpft sie mittelbar an die „Klangrede“ als Rhetorik in der Musik an. Bei Ludwig van Beethoven wird sich in den Klaviersonaten die Harmonie aus der Klangrede umkehren. Das wird noch zu thematisieren sein. Doch das, was Beethoven kennen und wissen konnte durch sein Musikmachen in Bonn, bekommt in Wien eine andere Wendung. Beethoven bricht mit Haydn und Mozart. Indessen machte Johann Adolph Scheibe auf die Lehren des „vollkommenen Kapellmeister(s)“ ein Lobgedicht, das auf nicht zuletzt rhetorische Weise die Lehren wiederholt:
„Music, die nicht ans Herz, nicht an die Seele dringt,
Aus Tönen zwar besteht, doch nur die Ohren zwingt,
Der nicht Natur und Kunst Klang, Anmuth, Krafft gegeben,
Ist nur ein todtes Werck, es fehlt ihr Geist und Leben.
Das hat Aristoren und Aristid erkannt,
Itzt thut es Matthesons durchdringender Verstand.
Doch er thut mehr, als sie. Wer hat so viel verrichtet?
Er singt, Er spielt, Er setzt, Er lehrt, Er schreibt, Er dichtet.“[13]

Der vollkommene Kapellmeister adressiert sich mehrdeutig an „Tonrichter()“, wie überhaupt Matthesons Wissenschaft von der Musik durch eine reichhaltige und witzige Rhetorik geprägt ist. Denn die „Tonrichter()“ sollen über die Töne und die Musik ebenso urteilen, sie ausführen wie komponieren können. Dabei geht es vor allem um Choräle und geistliche Chormusik. Den Begriff der Symphonie oder Sinfonia gebraucht Mattheson nicht. Er kursiert für komplexere Kompositionen einer Kapelle noch nicht. Allerdings gibt Matthesons Behandlung der Musik als eine „Wissenschaft“ bereits einen Wink, dass neben der „Klangrede“ auch die Mathematik in ihren unterschiedlichen Bereichen für ein Kompositionswissen wichtig wird. Mozarts wesentliche Errungenschaft wird es vom Anfang des 18. Jahrhunderts gewesen sein, gegen dessen Ende eine Kompositionsform entwickelt zu haben, die in ihrer regelhaften Durchdachtheit mit seinen drei letzten Symphonien einen gewissen Höhepunkt erreicht hat. Ein gewisses Verständnis für die Vielfalt und Kombinatorik der Rhetorik mag ihm eigen gewesen sein, ohne dass er sie hätte benennen können.

Die Symphonie Nr. 41 klingt bei Daniel Barenboim und der Staatskapelle machtvoll oder gar wie eine Feier der Macht. Das Schema der vier Sätze wird in allen drei Symphonien beibehalten und modifiziert 1. Satz Adagio – Allegro bzw. Molto allegro und Allegro vivace, 2. Satz Andante con moto bzw. Andante und Andante cantabile, 3. Satz immer Menuetto: Allegretto und im 4. Satz wieder Allegro-Variationen zwischen Allegro, Allegro assai und Molto Allegro. Die unterschiedlichen Elemente der Musik werden schematisch mit der Grundtonart und den, sagen wir an dieser Stelle ruhig, Melodien kombiniert und modelliert. Und selbstverständlich sprechen sie auch Herz und Verstand an. Denn Mozart wird als Musiker und Freimaurer eine Vorstellung von Verstand gehabt haben. Um so verstörender war es am 29. August nun, dass dem Berichterstatter schon auf der Hinfahrt auf dem Bahnhof Potsdamer Platz eine größere Anzahl von Männern und Frauen mit Kindern an Händen und in Kinderwagen beim Aussteigen entgegendrängten. Sie waren mit Spruchbändern, Fahnen und bunten Hüten versehen. Doch waren alle ohne Mund-Nase-Bedeckung.

Nach dem Konzert zersplitterte die Fiktion der Mozart-Symphonien abrupt. Auf der Rückfahrt über Potsdamer Platz und Friedrichstraße geriet der Berichterstatter gar in eine Ansammlung zweier Gruppen die T-Shirts mit querdenken.de und querdenken-bregenz.at trugen. Die Querdenker-Gruppen verbrüderten sich auf dem Bahnsteig, im U-Bahnwagen und tauschten geradezu euphorisch ihr verqueres Wissen über Gesellschaft, Politiker, Mächtige und „Corona“ aus. Mund-Nase-Bedeckungen wurden im Wagen unter das Kinn geschoben, so dass sie sich für etwaige Kontrollen gewappnet wähnten, sonst aber gern ihre Tröpfchen lachend und johlend unter den Fahrgästen mit Masken versprühten. Es entwickelte sich zu einer derart widerwärtigen Szene, dass ich mehrere Stationen vor meinem Ziel ausstieg und lieber zu Fuß nach Hause ging. Die Querdenker benutzten die Berliner Öffentlichkeit in der U-Bahn insbesondere gegenüber Menschen mit arabischem und afrikanischem Migrationshintergrund, die sich an die Regeln hielten, um als Gruppe ihre Macht vorzuführen. – Von der versuchten Erstürmung des Bundestages im Reichstagsgebäude war noch nichts bekannt.

Torsten Flüh

Musikfest Berlin
bis 23. September 2020
Für einige Konzerte gibt es weiterhin Karten.


[1] Vgl. Das Zeitalter der Seuchen. In: Stadt Wien: Wien Geschichte Wiki. Epidemien.

[2] Wikipedia: Wiener Pestsäule.

[3]Joanna Łukaszuk-Ritter: Der Glaube siegt: Die Wiener Pestsäule als Ort der Hoffnung. CNA (Catholic News Agency) 11 April, 2020 / 11:30 AM.

[4] Salzburgwiki: Pest.

[5] Agathe Lukassek: Heiliger Sebastian: Durbohrtes Vorbild der Athleten. In: katholisch.de 20.01.2020.

[6] Torsten Flüh: Indiens und Europas Mythen der Geschlechter. Kalki Subramaniam spricht mit Claudia Reiche über Hijra Fantastik und sieht Die Zauberflöte in der Deutschen Oper. In: NIGHT OUT @ BERLIN Dezember 4, 2018 19:21.

[7] Maynard Solomon: Mozart: A Life, New York: Harper Collins, 1995.

[8] Vgl. dazu auch Aby Warburgs Melancholie-Forschungen im Mnemosyne Atlas in Torsten Flüh: Von Melancholie und Hosenkampf zum Algorithmus. Zur Ausstellung Zwischen Kosmos und Pathos – Berliner Werke aus Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne in der Gemäldegalerie. In NIGHT OUT @ BERLIN 26. August 2020.

[9] Johann Mattheson: Der vollkommene Capellmeister. Hamburg: Christian Herold, 1739. (Digitalisat)

[10] Ebenda S. 26.

[11] Zur Metalepsis siehe: Torsten Flüh: Das „Weib“* als Schwan und die Geschlechterfrage. Zu Katrin Pahls queerer Kleist-Lektüre mit Sex Changes with Kleist. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. März 2020.

[12] Johann Mattheson: Der … [wie Anm. 9] S. 26.

[13] Ebenda ohne Seitenzahl (S. 31).

Allegro con brio, doch auch ein wenig traurig

Klavierkonzert – Trauer – Sonatenform

Allegro con brio, doch auch ein wenig traurig

Igor Levit spielt Ludwig van Beethovens 32 Klaviersonaten beim Musikfest Berlin

Die Klaviersonate Nr. 21 in C-Dur, genannt „Waldstein“, eröffnet im ersten Satz mit dem Tempo und der Stimmungsangabe Allegro con brio. Igor Levit hat die Sonate für sein erstes Konzert in der Berliner Philharmonie als vierte ausgewählt. Er spielt in seinen 8 Klavierkonzerten also nicht Sonate Nr. 1 bis Sonate Nr. 32 chronologisch nacheinander weg, vielmehr beginnt er zwar mit der heiteren und noch ganz klassischen Sonate Nr. 1 in f-Moll, Beethovens Opus 2 überhaupt, das erste von 8 Konzerten. Doch dann kombiniert er die Sonaten auf eigene Weise: Nr. 12, Nr. 25, Nr. 21. Das ist ein künstlerisches Statement, eine Komposition. Allegro con brio, also schnell/fröhlich mit Schwung in C-Dur ist musikalisch schon sehr fröhlich. Nach dem finalen Prestissimo, äußerst schnell, und einer kurzen Stille durchdringen Bravo-Rufe den Konzertsaal. – Doch nichts ist wie gewohnt.

Ja, es gibt Bravo-Rufe, stürmischen Beifall für Igor Levits erstes Klavierkonzert, doch unter Einhaltung der Regeln zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie. Die Stiftung Berliner Philharmoniker und die Berliner Festspiele haben als Veranstalter mit Experten aus der Charité ein Sicherheitskonzept ausgearbeitet, das es überhaupt erlaubt, Konzerte in der Philharmonie stattfinden zu lassen. Die eingeladenen, internationalen Orchester aus Amsterdam und USA können nicht anreisen. Das Programm des Musikfestes Berlin 2020 ist nach den nationalen und internationalen Regeln zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie modifiziert worden. Das ist schmerzlich. Trotzdem sind die Musiker*innen, Orchester, Kurator*innen und Organisator*innen glücklich, überhaupt spielen zu dürfen. Wer eine Karte für die ausverkauften Konzerte ergattert hat, freut sich wie der Berichterstatter über alle Maßen und ist dankbar. Endlich wieder Musik live nach mehr als 6 Monaten. Die Philharmonie ist ausverkauft, doch fast leer.

Der Rahmen gehört zur Musik. Eine Mitarbeiterin der Philharmonie tritt mit Mikrofon ruhig auf die Bühne: „Guten Abend verehrtes Publikum. Sie dürfen jetzt auf Ihren Sitzplätzen die Maske abnehmen. Nach dem Konzert setzen Sie bitte die Mund-Nasen-Bedeckung wieder auf und verlassen das Gebäude auf dem Weg, den Sie gekommen sind …“ So oder so ähnlich lautet jetzt die Begrüßung in der Philharmonie und in anderen kulturellen Einrichtungen wie Theatern und Konzertsälen wird es nicht anders sein. In der Philharmonie sind alle Mitarbeiter*innen indessen noch ein wenig freundlicher und stilvoller. Die meisten Mitarbeiter*innen tragen stilvolle, dunkelviolette Mund-Nasen-Bedeckungen, MNB, mit dem Philharmonie-Logo. Ein Farbenleitsystem sorgt für den Zugang zum Sitzplatz. Keine Garderobe. Keine Abendprogramme. Keine Pausen mit Getränken und Häppchen. Der Konzertbesuch in Corona-Zeiten verlangt ein hohes Maß an Disziplin und Verzicht.

Die MNB ist (in Deutschland) zum Mode- und Kultobjekt geworden. Als meine Mutter im April die ersten Masken für mich, Familie und Freunde nähte, sagte ein Freund noch: „Niemals. Ich bin doch kein Chinese.“ Die Maske hat sich als schick durchgesetzt. Weltkunst verkaufte Masken für die Kunstwelt in limitierter Auflage. Ich bestellte Norbert Biskys Painkiller für mich und eine andere Kunstmaske für einen Freund zum Geburtstag. Der Painkiller ging auf unerklärliche Weise auf der Rückbank eines Autos bei einem Ausflug zur Vernissage einer Wilhelm Imkamp-Ausstellung im Fagus Werk von Walter Gropius in Ahlfeld verloren. Jetzt trage ich eine hell türkise Maske aus japanischem Tenugui-Stoff mit weißen Koi. Es spricht für einen gewissen Mangel an praktischer Intelligenz, wenn sich Menschen der Mund-Nasen-Bedeckung im ÖNV oder in der Philharmonie verweigern. Sie kommen einfach nicht in die Philharmonie hinein. So ist das! Nach der freundlichen Mitarbeiterin der Philharmonie betritt die Staatsministerin für Kultur und Medien, Prof. Monika Grüter, mit MNB die Bühne, nimmt am mittig aufgestellten Mikrofon die Maske ab und beginnt ihre Rede. – Ein neues Ritual.

Die Staatsministerin bei der Bundeskanzlerin spricht in ihrem Grußwort davon, dass die Kultur und die Musik, die „Kunst überlebensnotwendig für unsere Demokratie“ und die Gesellschaft seien.  „Das Musikfest Berlin zeige, dass gemeinsamer Kulturgenuss auch unter den geltenden Beschränkungen möglich sei, freute sich Kulturstaatsministerin Monika Grütters. In ihrer Eröffnungsrede unterstrich Grütters nicht nur die Bedeutung des gemeinsamen Erlebens von Kunst und Kultur. Sie wies auch darauf hin, wie wichtig gerade in Zeiten der Krise die kreativen Impulse und Innovationen seien, die von Künstlern, von Komponisten, von der neuen Musik und auch von Beethovens Werken ausgingen.“[1] Sie erinnerte daran, dass Igor Levit ab dem 12. März 2020 eine Reihe von 52 „Hauskonzerten“ aus seiner Berliner Altbauwohnung auf Twitter übertrug. Tausende Followers verfolgten die „Hauskonzerte“ am Flügel. Levit war offenbar allein in der Wohnung. Er stellte absolut unprätentiös seine Webcam auf und an, begann in Socken eine kurze Einführung zum Stück und spielte ein äußerst abwechslungsreiches Programm.

Die „Hauskonzerte“ und der Twitter-Account verraten viel über den Pianisten Igor Levit und sein gesellschaftliches Engagement. 2019 veröffentlichte er bei Sony Classical die Einspielung der kompletten Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven, mit denen er sich zuvor 15 Jahre lang beschäftigt hatte. Ungefähr ab August 2019 folgten überschwängliche Kritiken, Interviews und Porträts auf allen Kanälen. Vier Tage nach Yom Kippur 2019 und nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle nahm Igor Levit an der Demonstration gegen Antisemitismus in Berlin teil und spielte vor der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße auf einem Flügel. Im November 2019 erhielt er Morddrohungen per E-Mail. Am 2. April 2020 spielte Igor Levit im Schloss Bellevue beim Bundespräsidenten die sogenannte Waldstein von Ludwig van Beethoven, nachdem Frank Walter Steinmeier seine Videobotschaft zur Corona-Epidemie hatte aufzeichnen lassen. Wie sich auch beim eröffnenden Klavierkonzert in der Philharmonie zeigen sollte, engagiert sich Levit auf im Konzertformat unkonventionelle Weise, indem er z.B. als Zugabe eine ihm erst kurz zuvor zugeschickte, neue Komposition des New Yorker Jazzpianisten Fred Hersch mit dem Titel Trees spielte. – Auf Fred Herschs Komposition Trees werde ich zurückkommen.

Die Hauskonzerte auf Twitter sind nicht zuletzt für die Blog-Forschung interessant. Denn Levit nutzte damit als einer der Ersten das Medium Kurz-Blog für Konzerte aus seiner Wohnung, als das öffentliche Leben zum Erliegen gekommen war. Eine einfache Webcam oder gar nur das Smartphone erwiesen sich als so leistungsfähig, dass eine akzeptable Ton- und Bildqualität zum Zuhören einlud. Statt Hasskommentare und Lügenbotschaften verwandelte Levit aus der Not heraus das Medium in einen Raum der Empathie und des Zuhörens. Er half geradezu bei der Strukturierung des Tagesablaufes, weil sich die Follower auf ein Konzert am Abend freuen konnten. Das Repertoire reichte von Schubert bis Orgelchoralvorspiele für Klavier von Johann Sebastian Bach durch Ferruccio Busoni transkribiert am 24. Mai 2020. Richard Wagner war ebenso dabei. Kurioses wechselte mit ganz Großem.

Foto: Monika Karczmarczyk

Das Musikfest Berlin stellt seine Konzerte digital als Aufzeichnungen für eine begrenzte Zeit zur Verfügung. So wird das erste Klavierkonzert von Igor Levit noch bis 3. September 2020 15:59 bereitgehalten. Sie sollten sich also das Konzert anhören. Es war für mich in seiner Kombinatorik der Sonaten – Nr. 1, Nr. 12, Nr. 25, Nr. 21 – überraschend und lehrreich. Wo kommt Beethoven mit seinen Sonaten her? Wo entwickelt er sich hin? Was ist überhaupt eine Klaviersonate? Und wie spielt und spricht Igor Levit über Musik? Igor Levit spielt die Klaviersonaten vor allem aus dem Kopf. Für die Zugabe hat er ein Tablet mit den Noten zur Hand. Das ist nur ein winziger Unterschied, weil es an der Musik nichts ändert. Die Klaviersonaten von Beethoven, so unterschiedlich und komplex sie sein mögen, beherrscht Igor Levit aus seinem Kopf und Körper. Wiederholt gräbt er sich in die Tastatur hinein. Da Beethoven sich in Wien mit der Sonate Nr. 1 f-Moll op. 2 selbst als Klaviervirtuose und Komponist in Wien vorstellt und einführt, entsteht in Anknüpfung an seinen Lehrer Joseph Haydn eine individuelle Auseinandersetzung über das Musikmachen.

Foto: Monika Karczmarczyk

Die Sonatenform ist nicht voraussetzungslos, doch wurde sie als Modell zum Komponieren wesentlich nachträglich Ende des 19. Jahrhunderts erforscht und als Musikwissen kanonisiert. Die Josef Hayden gewidmete Sonate ist in 4 Sätzen mit den Tempi Allegro, Adagio, Menuett. Allegretto – Trio und Prestissimo komponiert. Es gibt auch zwei- und dreisätzige Klaviersonaten von Beethoven. Joseph Haydns sechs Klaviersonaten sind allesamt in 3 Sätzen komponiert. Auch die achtzehn Klaviersonaten von Wolfgang Amadeus Mozart haben regelmäßig 3 Sätze. Insofern darf man sicher formulieren, dass Beethoven von Anfang an das Schema oder die Regel durchbricht. Es hört sich, wie das Thema gesetzt und auskomponiert wird, noch recht geordnet und regelhaft an. Haydn und Mozart lassen grüßen. Doch bereits in der ersten Klaviersonate wird durch Variation ein Eigensinn hörbar. Besonders der dritte Satz, Menuett. Allegro – Trio, fällt aus dem Schema. Die Sonate bleibt aber nach der Lehrmeinung im ersten Satz der Sonatenhauptsatzform von Exposition, Durchführung, Reprise und Coda verschrieben.[2]   

Foto: Monika Karczmarczyk

Die Widmungen der Klaviersonaten haben zu vielfachen Spekulationen in der Musikgeschichte und der Interpretation geführt. Josef Haydn die Sonate Nr. 1 zu widmen, leuchtet ein und ist unverfänglich, zumal dann wenn an die Sonatenform des Lehrers angeknüpft wird. Doch die erste Sonate unterscheidet und setzt sich auch deutlich ab von der Lehre des Meisters. Die Widmung bekommt als Ehrerbietung und Abgrenzung, wenn nicht Überbietung einen ambivalenten Zug. Zumal schon Graf Ferdinand von Waldstein-Wartenberg Beethoven ins „Stammbuch“ geschrieben hatte: „Sie reisen itzt nach Wien zur Erfüllung ihrer so lange bestrittenen Wünsche. Mozart’s Genius trauert noch und beweinet den Tod seines Zöglinges. Bey dem unerschöpflichem Hayden fand er Zuflucht, aber keine Beschäftigung; durch ihn wünscht er noch einmal mit jemanden vereinigt zu werden.“ Er hielt Haydn für geniefrei. Die Widmung der Sonate Nr. 12 an Fürst Karl von Lichnowsky lässt sich als Dank für mäzenatische Förderung lesen, weil der Fürst zuvor schon Mozart als Mäzen finanziert hatte. Es geht insofern um eine gegenseitige Wertschätzung. Doch es ist auch bekannt, dass sich der Fürst von Lichnowsky mit Mozart wie mit Beethoven über finanzielle Angelegenheiten überwarf. In der Wertschätzung schimmert eine gewisse feudale Abhängigkeit und Macht durch. Die Widmung der Sonate Nr. 21 an Graf Ferdinand von Waldstein, dem ersten Förderer Beethovens noch in Bonn, gibt in gewisser Weise Rätsel auf, weil Beethoven um 1804 in Wien offenbar keinen Kontakt mehr zu ihm hatte. Mit dem Namen der Grafen durch die Widmung versehen wird ein Verhältnis generiert, von dem sich wiederum kaum wissen lässt, ob es für die Komposition eine Rolle spielte. Die Praxis der Widmung als Benennung wird allerdings gern als Wissensgeste aufgegriffen.

Foto: Monika Karczmarczyk

Die Widmung kann auch die Form einer Adressierung annehmen: Komponiert als ein Gedanke an… Wir wissen nicht, ob Fred Hersch Trees ausdrücklich Igor Levit gewidmet hat. Soviel Levit erzählt, hat Hersch ihm die Komposition wohl wie heute üblich per E-Mail zugeschickt. Sie sei etwas Gutes, das während der Pandemie und des Lockdowns entstanden sei, wie Levit sagt. Und die Komposition ist „zart, ja, zart“. Das ist viel gesagt vor einer Zugabe im klassischen Konzertbetrieb. Fred Hersch, der die zarte Musik an der Grenze von Klassik und Jazz während der Covid-19-Pandemie komponiert hat, ist gewissermaßen ein Experte für Epidemien. Er ist ein Überlebender der AIDS-Epidemie in den 90er Jahren, was er öffentlich wiederholt gesagt hat. „In the early ’90s, we all thought we were going to die. (…) My friends were dropping like flies.“[3] Fred Hersch möchte in erster Linie als Jazzpianist und Komponist wahrgenommen. Doch seine Kompositionen würden ohne die Erfahrung der Epidemie und der eigenen AIDS-Erkrankung möglicherweise anders ausfallen. „I’d like for people to think I’m a reasonably nice person, a good musician, and that I just happen to be gay and I’m dealing with a disease. It’s not the first thing in the file folder.“[4] Der Lockdown war nicht zuletzt eine Wiederkehr der Epidemie-Erfahrung für Hersch, der darauf mit Zartheit in Trees reagierte. – Igor Levit brachte Trees als Zugabe in der Philharmonie beim Musikfest Berlin mit größter Konzentration und Zartheit zur Uraufführung. Ein Widmung.

Torsten Flüh

Musikfest Berlin
Igor Levit spielt Beethoven
Musikfest Berlin digital


[1] Monika Grütter: Kultur erleben – mit Abstand oder digital. Die Bundesregierung 26.08.2020. Musikfest Berlin.

[2] Vgl. dazu Markus Gorski: 1. Satz aus der Klaviersonate op.2, Nr.1, f-moll. In: Lehrklaenge.de.

[3] Howard Reich: Fred Hersch: Despite struggles, a great pianist flourishes. In: Chicago Tribune September 19, 2012.

[4] Ebenda.

Von Melancholie und Hosenkampf zum Algorithmus

Ausstellung – Bilderatlas – Algorithmus

Von Melancholie und Hosenkampf zum Algorithmus

Zur Ausstellung Zwischen Kosmos und Pathos – Berliner Werke aus Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne in der Gemäldegalerie

Die Eröffnung der Ausstellung Aby Warburg: Bilderatlas Mnemosyne ist jetzt für den 4. September im Haus der Kulturen der Welt vorgesehen. Währenddessen hat bereits seit dem 8. August die Ausstellung zum Bilderatlas in der Gemäldegalerie mit einigen Monaten Verspätungen geöffnet. Denn beide Ausstellungen sollten im Frühjahr 2020 beginnen. Doch dann war der „knapp zwanzigminütige Spaziergang durch den Tiergarten“[1], wie er noch im Begleitband vorgeschlagen wird, unmöglich geworden. Neville Rowley und Jörg Völlnagel hatten sich spontan im Frühjahr 2019 dazu entschlossen, mit ihrer Ausstellung an die des Bilderatlas durch Axel Heil und Robert Orth im HKW anzuknüpfen. Der von Aby Warburg in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre in der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek in Hamburg projektierte Bilderatlas erhält nun in Berlin nachträgliche Präsenz.

Jörg Völlnagel diskutiert das Format Bilderatlas im Kontext der Digitalisierung ganzer Sammlungen für das Internet und der „Ausstellungspraxis im Museum“[2]. Konzipierte Aby Warburg seinen Bilderatlas Mnemosyne als „Museum Total“? In welchem Verhältnis steht Warburgs Bilderatlas zum Versprechen des Semantic Web, in dem sich Dinge wie Bilder oder auch Bilder als Dinge finden lassen (sollen), wie es 2016 am Hasso-Plattner-Institut der Universität Potsdam auf der dwerft-Konferenz diskutiert wurde? Wird sich Mnemosyne, die griechische Göttin der Erinnerung, in einen Algorithmus verwandeln lassen? Wie wird die Ausstellungspraxis im Museum vom globalen Digital-Museum berührt werden, wenn aktuell Museumsbesuche nur nach den Regeln zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie möglich sind? Hat die Pandemie, die die Kuratoren mit ihren Folgen für das Museum nicht ahnen konnten, die Institution Museum noch einmal getroffen? Die kleine, aber feine Ausstellung von 50 kommentierten Sammlungsstücken aus 10 Museen der Staatlichen Museen Berlin reißt hinter den Bildern Fragen auf.

Der Bilderatlas Mnemosyne knüpft mit seiner konstellativen Ikonographie an die Antike an, so dass die Berliner Antikensammlung nicht nur mit einem Objekt, dem Deckel einer Pyxis[3] mit der Darstellung von Helios, Selene und Eros in der Ausstellung vertreten ist. Vielmehr konstelliert der Bilderatlas mit einer als „2“[4] nummerierten Anordnung den Deckel mit dem Atlas Farnese und weiteren antiken Motiven von Vasen etc. die visuellen Narrative. Melancholie, Laokoon und die Nymphe kommen vor. Als Aby Warburg mit seinem Bilderreservoire von Ausschnitten aus Zeitungen, Zeitschriften, Fotosammlungen u. ä. begann zu arbeiten, gehörte die Laokoon-Gruppe zum Inventar einer Vielzahl von Antikensammlungen wie der Kieler. Doch Warburg setzte nicht erst bei der Antike mit seinem Bilderatlas ein, sondern nahm bereits eine kleine Babylonische Ritualglocke und Tonlebermodelle aus Assyrien auf, die heute im Vorderasiatischen Museum verwahrt werden. Die Antike wird zwar zu einem Kristallisationspunkt der Bilder und ihrer wandelbaren Lesbarkeit, aber die Antikensammlung dominiert nicht.

Die Bildquellen sind bei Warburg vielfältig. Aus der Berliner Sammlung des Kunstgewerbemuseums hatte Warburg einen Teller mit Laokoon und seinen Söhnen vermutlich aus Faenza um 1550 eingefügt. So wird Laokoon von den Kuratoren vor allem als „Leiden“ seines Arrangeurs selbst und als eines am Kriegsverlust gelesen. Neville Rowley macht die Bruchstücke des Tellers, der 1945 beim Bombardement des Friedrichshain Bunkers in den Flammen zerstört wurde, zu „einem Sinnbild der aktuellen Ausstellung“.
„Denn zum einen zeugen sie von einem der bevorzugten Forschungsthemen Warburgs, der im Leiden des Laokoon und seiner Söhne, die von den Schlangen angegriffen wurden, seinen eigenen Kampf gegen die Dämonen wiederzuerkennen glaubte. Zum anderen zeigen sie, welch große Rolle die Sammlungen der Staatlichen Museen zu Berlin – und dabei nicht unbedingt deren bekannteste Objekte – bei der Entwicklung von Warburgs Denken und der Entstehung des Bilderatlas gespielt haben.“[5]

Die Vielfalt der Bildquellen für den Bilderatlas in der Ausstellung aus unterschiedlichen Museumssammlungen gibt einen Wink, dass Aby Warburg einst mit seinem Verfahren das kategorisierende Wissen der einzelnen Museums-Sammlungen sprengte und weiterhin sprengt. Bilder sind keinesfalls (nur) ein Gegenstand des Wissens von Kunsthistorikern, die wie Jacob Burckhard mit der Renaissance im 19. Jahrhundert Rangordnungen von Epochen aufstellen. Vielmehr werden Bilder wie die Tonlebermodelle aus Assyrien selbst zum Gegenstand des Wissens, weil sie als gleichsam lexikalisches Wissen für die Befragung der realen Lebern von Opfertieren, Schafen, verwendet wurden, wie es 2016 der Assyriologe Stefan Maul in seiner Mosse-Lecture entfaltet hat. Durch die Tonlebermodelle wird ein gleichsam binäres Zukunftswissen vom Lesen der Opfertierlebern vermittelt. Es handelt sich „mit der Einteilung in +- und –-Werte um ein binäres System (…). Die Orakellebern erzeugen, anders gesagt, Algorithmen, die hoch ausdifferenziert sind. Um die Funktion der Orakellebern in kleiner Größe ein wenig zugespitzt zu formulieren, lässt sich von einem Taschenrechner oder Taschencomputer sprechen. Die Rechenvorgänge durch Benennung, Bewertung und Bestimmung unterscheiden sich in der Funktionsweise kaum“.[6]  

Die „Schafsleberstücke()“[7], wie Neville Rowley schreibt, im Bilderatlas aus den Vorderasiatischen Museum können insofern an der Schnittstelle von Bild, Schrift und Wissen die Funktion einer Wissensfrage vom Leben und der Welt einnehmen. Mit den Tonlebermodellen wird die Leber des Opferschafes als Substitut für die Welt intelligibel. Wie Stefan Maul angemerkt hat, wurden für ein Orakel oft sehr große Mengen an Lebern verbraucht, gelesen und wieder gelesen. In der Konstellation mit der babylonischen Bronzeglocke mit einer Verzierung aus Menschenkörpern mit teilweise erhobenen Armen ließe sich eine Befragungs- oder Orakelzeremonie erkennen. Anders gesagt: Die Befragung der mikrokosmischen Orakellebern und die der makrokosmischen Gestirne, sagen wir ruhig, Sternenbilder, die allererst zu Bildern zusammenspringen müssen, damit sie lesbar werden können, bilden nicht einfach ein kosmologisches Weltbild ab, vielmehr führen sie Wissenspraktiken vor. So auch der Hosenkampf, auf den zurückzukommen sein wird.

Aby Warburgs Bilderatlas ist kein Museum.[8] Das Museum des 19. bis 20. Jahrhunderts und seine Wissenspraktiken werden zwischenzeitlich vielfach diskutiert. Insofern lässt sich der Bilderatlas Mnemosyne als eine Befragung eben dieser Wissenspraktiken nicht allein im Kontext der Bilder und der Kunst sehen. Georges Didi-Huberman hat den Bilderatlas von der mythologischen Figur des Atlas und seines Leidens an der Welt, denn der Atlas Farnese trägt die Welt als Strafe auf seinen Schultern, im Kontext der Fröhlichen Wissenschaft nach Friedrich Nietzsche gelesen. Doch die Fröhliche Wissenschaft sei nicht einfach eine Befreiung vom lastenden Wissen, das mit Mühe erarbeitet, erlernt werden muss. Vielmehr bestehe „die große Kraft (von Nietzsches) Entwicklung“ darin,
die Unruhe lebendig zu erhalten, das heißt die Offenheit für das Unheimliche, die Fremdheit, die Exterritorialität. Wenn Erkennen darin besteht, alles und jedes als problematisch zu betrachten, also darin, die Wahrheit jeweils im unbekannten, fremden, deplatzierten Teil des Betrachteten zu suchen – weshalb Nietzsche sagte, dass die Wahrheit  selbst »auf dem Boden der Moral« gesucht werden müsse –, dann bedeutet das, dass Atlas , selbst wenn er von seiner Last befreit würde, in seinem Leiden gleichwohl keine Linderung erführe.“[9]   

Jörg Völlnagel geht in seinem Aufsatz zur „Utopie einer grenzenlosen Sammlung“ einen anderen Weg, um die Wissenspraktiken des Museums mit Aby Warburg zu befragen. Er geht eher von einem „Nachleben der Antike“[10] in den Bildern aus. Dieses „Nachleben“ lässt sich in unendlichen Transformationen und Kombinationen bis in die Reklame für die Fischwirtschaft – „Eßt Fisch, dann bleibt Ihr gesund und frisch.“ – aufspüren. Im Mädchen mit einem Fisch im Einkaufsnetz am Arm der Mutter entdeckte Warburg eine Wiederkehr des Motivs der antike Nymphe. In einer weiteren Seefisch-Werbung hält ein nackter Knabe einen Dorsch, der größer als er selbst ist. Der Knabe passt nicht in das Schema der Nymphe. Er könnte mit griechischen Eroten, einem Amor oder Cupido des Barock auch über die Begierde, lateinisch cupido, nach Fisch korrespondieren.

Völlnagel widerspricht der These, dass der Bilderatlas den Anspruch eines Musée Imaginaire von André Malraux habe. Bei ihm gibt es durch die „Bildpaare“ die Wissensgeste, sich als Beherrscher der Bilder darzustellen. Völlnagel macht das gleichsam warburgisch an einer Fotografie von Malraux als Kulturminister für die Illustrierte Paris Match vom Juni 1954 deutlich.(S. 39) Das totale Museum der Bilddaten, wie es heute der Google-Algorithmus herstellt und verfehlt, bleibt zwar auch in Bewegung. Doch herrscht im Internet immer der Terror der Benennung und nicht das vieldeutige Bild vor. Völlnagel sieht deshalb die Ausstellung in der Gemäldegalerie vielmehr als „eine Versuchsanodrnung“.  
„Mit seinen dokumentierten konstellativen Versuchsanordnungen im Atlasprojekt rührt Aby Warburg (…) an die Grundprinzipien einer Ausstellung. Nicht Systematik und Deutungshoheit sollten die Maßgabe sein, sondern eine ständige Revision des Dar- und Ausgestellten, ein permanentes öffentliches Hinterfragen auch der eigenen Forschungsarbeit, der Episteme. Demgemäß wäre jede Ausstellung eine Versuchsanordnung im Wortsinne – sie wäre vorläufig, experimentell und erkenntnis- respektive erfahrungsorientiert; sie kann Maßstäbe setzen, sollte jedoch nicht kanonisch aufzufassen sein.“[11]

Für den Hosenkampf ist ein eigener kleiner Raum eingerichtet. In der Mitte steht nach landläufiger Praxis ein Urlaubssouvenir, ein Mitbringsel von einer Nordlandreise Aby Warburgs. Das Objekt, eine hölzerne Schachtel, ist als Kunstobjekt ebenso zweifelhaft wie sein Sujet, sagen wir ruhig, schlüpfrig. Auf einer Brautschachtel aus Norwegen wird neben Blumenmotiven das Zerren von sieben Frauen in blauen Röcken um ein weißes Stück Stoff gezeigt. Durch eine Legende „Efter Spaadom stal syv Quinder xattes om en mans buxe“ und die Jahreszahl „1702“ wird das Stoffstück als eine Männer(unter)hose sichtbar. Warburg „vermachte“ den Gegenstein, das Kästchen, norwegisch: tine, den Berliner Museen, wo es sich heute im ethnologischen Museum Europäischer Kulturen befindet. Im Bilderatlas platzierte Warburg das Kästchen in dem Ensemble 32 neben Komödianten, einem Schachbrett, zwei Bechern und weiteren Darstellungen des Hosenkampfes aus dem Kupferstichkabinett.

Die volkstümlich anmutende Darstellung korrespondiert mit weit expliziteren und einem illustrierten Traktat des Hosenkampfes, bei dem es nicht nur um die Verehelichung einer jungen Frau in Konkurrenz zu anderen geht. Vielmehr werden auch sexuelle Praktiken dargestellt. Im Traktat bzw. „Satyrische(m) Gesicht“ verwandelt sich 1703 die erotische Bildkomposition in eine Lehre zur Eheanbahnung und Warnung der „Venus Knaben“ vor „Sieben Weiber(n)“ im Hosenkampf. Die bräutlichen Frauen, haben sich nun in „Sieben böße() Weiber“ verwandelt, die sich „umb ein Paar stinckende Manns-Büxen“ schlagen. Der Hosenkampf, den Aby Warburg durch seine Lektüren im Berliner Kupferstichkabinett gekannt haben könnte, findet im 18. Jahrhundert insofern auf verschiedene Weisen seine Legitimation und Auflösung. Auf der tine wird er mit der Formulierung „Laut Weissagung sollen sieben Frauen um die Hose eines Mannes streiten“ ungewöhnlich stark als soziales Wissen normalisiert. Möglicherweise hätte Aby Warburg ein Vergnügen daran gefunden, dass der Google-Algorithmus heute für „Hosenkampf“ zwar als erstes „Der Hosenkampf“ von circa 1555 aus der Lippenheideschen Kostümbibliothek der Berliner Kunstbibliothek (https://smb.museum-digital.de/index.php?t=objekt&oges=79846) listet, so dann aber Werbung für „Kampfhosen“ zeigt.  

Die „Kampfhosen“ für den „Hosenkampf“ verweisen auf den Algorithmus, der wenigstens hier gar nicht so geheim oder geheimnisvoll ist, wie Jörg Völlnagel in seinem Aufsatz vermutet. Gleich nach der hochangesehenen Institution der Staatlichen Museen Berlin und seiner Benennung – Der Hosenkampf – kommt die sprachliche Operation, das Kompositum „Hosenkampf“ umzustellen. Als Entweder-Oder-Operation bleibt es gleich, ob die Hosen vor oder nach dem Kampf stehen. Ein kulturelles Bildwissen wird vom Algorithmus ignoriert oder lässt sich möglicherweise schlecht programmieren. Die Werbung für „Kampfhosen“ dürfte unterdessen auf die eine oder andere Weise bezahlt sein. Legionen von Programmierer*innen sind nicht zuletzt damit beschäftigt, auf die eine oder andere Weise die „Kampfhose“ des (eigenen) Unternehmens möglichst weit im Google-Ranking nach vorne zu bringen. Während Völlnagel über die „undurchsichtigen Algorithmen der Google-Bildersuche, die der Konzern nicht von ungefähr aus denselben Motiven verbirgt wie Coca-Cola die Formel seiner braunen Brause“[12], mutmaßt, werden die Algorithmen auch ständig umgeschrieben.

Wir wissen nicht, wie Aby Warburg auf den Hosenkampf als Sujet des Komischen und Erotischen, Satirischen, wohl aber auch des Volkstümlichen gekommen ist. In gewisser Weise erscheint der Hosenkampf in der Konstellation 32 plötzlich. Er hat immerhin den Effekt, dass Warburg den Berliner Museen die tine vermacht, womöglich mit dem Wunsch, das Kästchen möge mit den Blättern aus dem Kupferstichkabinett zusammen verwahrt und bedacht werden. Die ordnende Museumspraxis hat allerdings bis zur aktuellen Ausstellung genau diesen Kontext auseinander gerissen. Erst über Warburg erschließt sich das Objekt aus der Sammlung Europäischer Kulturen als Hosenkampf der seit ausgerechnet der Renaissance mit der Heiratspraxis in Norwegen korrespondiert.

Das Thema der Melancholie wird von Aby Warburg auf ebenso vielfältige wie überraschende Weise aufgespürt. Neville Rowley nennt „Warburgs Beziehung zur Melancholie … besonders“.[13] Er zitiert eine Tagebuchnotiz, die einen Wink auf die kulturelle Verwobenheit des Bilderatlasses mit einem Wissen von sich selbst gibt. Die Motive und ihre Benennung haben immer auch mit dem Wissen der Menschen von sich selbst zu tun. Und Warburg ahnt, dass das nicht nur auf ihn selbst zutrifft, wenn er notiert:
„Manchmal kommt es mir vor, als ob ich als Psychohistoriker die Schizophrenie des Abendlandes aus dem Bildhaften in selbstbiographischem Reflex abzulesen versuche: die ekstatische Nymphe (manisch) einerseits und der trauernde Flußgott (depressiv) andererseits […].“[14]

Es ist nicht erst und nicht nur Albrecht Dürers Melancholia, in der ein Stimmungswissen in eine komplexe Bildkomposition als Rätsel gefasst und vorgeführt wird. Warburgs Mitarbeiter Erwin Panowsky entdeckte darin die Ambiguität. In Melancholia I wird nicht nur eine Stimmung, so leicht oder schwer sie ausfallen mag, vorgeführt, vielmehr wird auf eine Vielzahl von Wissensformen graphisch angespielt. Geometrie, Algebra, Astronomie, Chronologie, Alchemie, Christentum sind nur einige Wissensformen, die bildhaft arrangiert werden. Ein fragender Blick ins Leere des gleichwohl, indessen nicht mit Lorbeer, bekränzten, christologischen Engels geben in Melancholia I mehr Fragen an das Wissen des Menschen von sich selbst auf, als dass eine Wissensform gefeiert wird. Vor allem trägt der von Wissenselementen – Uhr, Glocke, Zirkel, Nägel, Haarkranz etc. – gerahmte Engel Flügel, die ihn immerhin fliegen lassen könnten, doch ihn nun auf einer Schwelle hockend niedergedrückt zeigen. Es ist nicht unmöglich, dass der Engel ironisch lächelt über all das Wissen, das ihm umgibt und doch ins Leere geht.

Die Melancholie korrespondiert nicht zuletzt mit der mythologischen Figur des Atlas, was sich im Bilderatlas Mnemosyne über mehrere Tafeln hinweg herstellen ließe, aber nicht von Aby Warburg auf einer Tafel arrangiert worden ist. Wenn man den Raum der Ausstellung in der Gemäldegalerie betritt, unterscheidet er sich schon durch die Lichtgebung von den angrenzenden, hellen der Gemäldegalerie. An zwei Pfeilern erscheinen Tafeln des Bilderatlasses. Die Objekte wie die dreigesichige Hekate aus Padua von ca. 1500 oder die byzantinische Glocke sind ausgeleuchtet, doch geheimnisvoll. Beschriftungen stellen Kontexte her. Doch was die Ausstellung im Raum von den anderen in der Gemäldegalerie unterscheidet, ist, dass sich der Berichterstatter eingeladen fühlt nicht nur den Bilderatlas zu sehen, vielmehr noch selbst Konstellationen herzustellen.

Torsten Flüh

ZWISCHEN KOSMOS UND PATHOS
Berliner Werke aus Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne
bis 1. November 2020
Gemäldegalerie, Kulturforum 

ZWISCHEN KOSMOS UND PATHOS
Berliner Werke aus Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne
Gemäldegalerie, Kulturforum
Epochen: Antike, Renaissance
Berlin 2020, Paperback, 120 Seiten, 87 Farbabbildungen, 19,2 x 26,1 cm
29,- €

Aby Warburg: Bilderatlas Mnemosyne
Das Original
Neuer Termin: 04.09.–30.11.2020
Haus der Kulturen der Welt


[1] Michael Eissenhauer, Bernd Scherer, Bill Sherman: Grußwort. In: Neville Rowley, Jörg Völlnagel (Hrsg.): Zwischen Kosmos und Pathos – Berliner Werke aus Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne. Berlin: Deutscher Kunstverlag, 2020, S. 8.

[2] Jörg Völlnagel: Museum Total. Von der Utopie einer grenzenlosen Sammlung. In: Ebenda S. 16-40.

[3] Neville Rowley: Eine Berliner Reise durch Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne. Ebenda S. 61.

[4] Siehe Ebenda S. 59.

[5] Ebenda S. 47.

[6] Torsten Flüh: Big Data aus dem Zweistromland. Drei Vorträge über das Zukunftswissen im Rahmen der Mosse-Lectures. In: NIGHT OUT @ BERLIN Mai 23, 2016 20:16.

[7] Neville Rowley: Eine … [wie Anm. 3] S. 54.

[8] Zur Diskussion um das Museum vgl. auch: Torsten Flüh: Vom Museum und Wissenschaft der Moderne. Hans Beltings Vortrag »„Weltwissen“ ohne Kolonien« im Rahmen der Ausstellung WeltWissen. In: NIGHT OUT @ BERLIN Dezember 3, 2010 16:57.

[9] Georges Didi-Huberman: Atlas oder die unruhige Fröhliche Wissenschaft. Paderborn: Wilhelm Fink, 2016, S. 122.

[10] Jörg Völlnagel: Museum … [wie Anm. 2] S. 26.

[11] Ebenda S. 38.

[12] Ebenda S. 29.

[13] Neville Rowley: Eine … [wie Anm. 3] S. 90.

[14] Zitiert nach ebenda.

Sputnik 5 und Hegels Weltgeist

Geist – Archäologie – Geschichte

Sputnik 5 und Hegels Weltgeist

Georg Wilhelm Friedrich Hegel zum 250. Geburtstag und die Wiederkehr des Sputniks

Die Antikensammlung der Kunsthalle Kiel ist als Lehrsammlung der Christian-Albrechts-Universität durch Peter Wilhelm Forchhammer diskret mit Hegels Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie verknüpft. Er beförderte eine Materialisierung der philosophischen Literatur, indem er als Altphilologe die griechische Literatur las und an den archäologischen Fundstücken das Wissen von der Antike materialisiert fand. Nachdem 1833 Hegels Vorlesungen postum herausgegeben worden waren, bahnte sich ein neuartiges Wissen von der Geschichtlichkeit überhaupt und der der Philosophie seinen Weg in der Lehre. Forchhammer gehört zu den Ersten, die nach Athen reisten und 1837 in Hellenika – Griechenland – Im Neuen das Alte geo-graphisch wie geo-logisch erforschten: „Der Charakter der gesammten Formation Griechenlands, die größte Mannigfaltigkeit auf dem kleinsten Raum, schließt, wie einen Nachhall des Entstehens der festgewordenen Massen, den Charakter ursprünglicher Bewegung in sich.“[1]

Das Geschichtswissen kehrt als ein ebenso kausales wie komisches visuell und geschichtlich mit dem Namen Sputnik 5 in der aktuellen Covid-19-Pandemie wieder. Die fatale Geschichtslosigkeit von Sars-Cov-2, das plötzliche Auftauchen eines neuartigen, sich rasend schnell in der Welt verbreitenden, teilweise tödlichen Virus wird in eine post-sowjetische Erfolgsgeschichte verwandelt. Im Wettlauf um den ersten wirksamen Impfstoff beruft sich ein russisches Investment-Unternehmen auf das Narrativ der sowjetischen Raumfahrt von 1957. Die Heilsgeschichte greift weit zurück, liefert eine animierte Aktualisierung und verspricht als Nachhall einstiger, imperialer Größe die Lösung eines globalen Problems. Ob die Testreihen bereits erfolgreich waren, mag dahin gestellt bleiben. Der Glaube an die vielversprechende Wirkung eines Geschichtswissens wird medial mit allen Möglichkeiten gefördert. Sputnik 5 könnte sich als ebenso machtvoll wie ohnmächtig erweisen.   

In meiner Besprechung kombiniere ich zwei aktuelle Ereignisse, die ein geschichtliches Wissen auf besondere Weise entwickeln, verarbeiten und zur Darstellung bringen. Einerseits geht es um den 250. Geburtstag von Georg Wilhelm Friedrich Hegel, auf den das Genre der Autobiographie und das des Feuilletons mehr oder weniger glücklich reagieren. Dafür wird ein geschichtliches Wissen in Anschlag gebracht. Andererseits geht es um eine gespenstische Wiederkehr eines Geschichtswissens, das in seiner Verkopplung mit einem Vorwissen in Deutschland schnell als lächerlich wahrgenommen worden ist. Am 11. August 2020 wurde in den Hauptnachrichtensendungen von ARD und ZDF über die Zulassung des ersten Impfstoffes gegen Sars-Cov-2 weltweit durch die Russische Föderation mit Unterstützung Vladimir Putins höchst persönlich berichtet.[2] An der Grenze zur Verschwörungstheorie wurde die russische Erfolgsmeldung sofort mit dem allgemein verbreiteten „Corona-Wissen“ überprüft und verworfen.

Thomas Assheuer hat sich im Feuilleton der ZEIT mit dem Hegelschen Weltgeist beschäftigt: „Was macht der Weltgeist?“ Er erklärt den Weltgeist, als verstehe er sich fast von selbst: „Denken verändert das Handeln, und irgendwann, nach Jahrtausenden seiner Wanderschaft, erreicht der Geist als »Weltgeist« sein Ziel: die Verwirklichung von Vernunft und Freiheit.“[3] Der Philosoph Lutz von Werder hielt im Februar 2020 ein Philosophisches Café im Literaturhaus Berlin ab und sprach ebenfalls über Geist und Weltgeist. Er meinte gar, dass der Weltgeist sich heute im Internet befände. Doch ist der Geist, wenn Hegel davon schreibt, mit einem positiven Wissen gleichzusetzen? Wirkt der Weltgeist in seiner ganzen Widersprüchlichkeit im World Wide Web als schwankendes Wissen, das eben keinesfalls von „Vernunft und Freiheit“ bestimmt wird? Wissen und Geist dienen Hegel nicht zuletzt in seiner Einführung zur Geschichte der Philosophie als Abgrenzung gegen andere Geschichten:
„Denn bei Gedanken, besonders bei spekulativen, heißt Verstehen ganz etwas Anderes als nur den grammatischen Sinn der Worte fassen und sie in sich zwar hinein, aber nur bis in die Region des Vorstellens aufnehmen. Man kann daher eine Kenntnis von den Behauptungen, Sätzen oder, wenn man will, von den Meinungen der Philosophen besitzen, sich mit den Gründen und Ausführungen solcher Meinungen viel zu thun gemacht haben, — nämlich das Verstehen der Sätze. Es fehlt daher darum nicht an bändereichen, wenn man will, gelehrten, Geschichten der Philosophie, welchen die Erkenntnis des Stoffes selbst, mit welchem sie sich so viel zu thun gemacht haben, abgeht. Die Verfasser solcher Geschichten lassen sich mit Thieren vergleichen, welche alle Töne einer Musik mit durchgehört haben, an deren Sinn aber das Eine, die Harmonie dieser Töne, nicht gekommen ist.“[4] 

Hegel polemisiert entschieden gegen „Verfasser solcher Geschichten“, die „nur den grammatischen Sinn der Worte fassen“, während Grammatik im Form der Semantik im zum Semantic Web erweiterten World Wide Web für die Lesbarkeit von Suchmaschinen heute alles ist. Die Künstliche Intelligenz besteht sozusagen aus Semantik und nicht aus „Gedanken“. Doch bei Hegel sind die Gedanken das, was den Menschen vom Tier unterscheidet. Hegel will mehr Geschichte oder verspricht zumindest mehr davon, wenn wir einmal die postume Herausgabe der zum Großteil mündlichen Vorlesungen durch Karl Ludwig Michelet als „Geschichte der Philosophie“ gelten lassen wollen. Die Mündlichkeit der Vorlesungen und die „Zusätze“[5] am Rand, die Michelet bei der Herausgabe normalisiert, geben einen Wink auf die flüchtige Prozessualität der Vorlesungen, wenn Hegel „eine reiche Sammlung von Kollektaneen, Exzerpten aus englischen und französischen Werken über den Orient überhaupt, von der die betreffenden, mit kurzen Randnotizen versehen, auf das Katheder genommen, um frei aus ihnen vorzutragen, Theils unmittelbar mündlich sie übersetzend, Theils einstreuend seine Bemerkungen und Urtheile“.[6] Eine gewisse Flüchtigkeit wird bei allen individuellen Kollektaneen, Manuskripten, Heften und Sammlungen für Hegels Vorlesungen konstitutiv gewesen sein.

Die Flüchtigkeit verläuft gerade nicht nach dem „grammatischen Sinn“. Denn dieser stellt sich nicht nur nach den Regeln der Grammatik her, er lässt sich auch lesen und verstehen. Doch genau dadurch hat das grammatische Verstehen bei Hegel eine entwertende Funktion, insbesondere für das Wissensformat der Geschichte. Ob der Geist als „Weltgeist“ überhaupt jemals an ein Ende kommen wird, sich eben nicht durch Suchanfragen auf Suchmaschinen enthüllen lässt, kann als eher unwahrscheinlich gedacht werden. Denn Stillstand und Festlegung werden in der Geschichte der Philosophie einleitend eher ausgeschlossen oder als negatives Beispiel formuliert. Als Negativbeispiel führt Hegel ausgerechnet China als „Nation“ an, das noch im 17. und 18. Jahrhundert für die europäische Philosophie z.B. bei Leibniz als anregend gegolten hatte.
„Bei einer einzelnen Nation mag es wohl der Fall seyn, daß ihre Bildung, Kunst, Wissenschaft, – ihr geistiges Vermögen überhaupt statarisch wird; wie dieß etwa bei den Chinesen z. B. der Fall zu seyn scheint, die vor zweitausend Jahren in allem so weit mögen gewesen seyn, als jetzt. Der Geist der Welt aber versinkt nicht in diese gleichgültige Ruhe. Es beruht dieß auf seinem einfachen Begriff. Sein Leben ist That. Die That hat einen vorhandenen Stoff zu ihrer Voraussetzung, auf welchen sie gerichtet ist, und den sie nicht etwa bloß vermehrt, durch hinzugefügtes Material verbreitert, sondern wesentlich bearbeitet und umbildet.“[7]

„Der Geist der Welt“ ruht nicht, vielmehr lebt er als „That“ und Tun, womit die Aufmerksamkeit auf ihn als permanente Aktivität gelenkt wird. Diese Aktivität des Geistes beschreibt Hegel als ein Vermehren, Verbreitern, Bearbeiten und Umbilden. Hinsichtlich der Frage nach der Geschichte, der Hegel in seiner Einleitung außerordentlich viel Beachtung schenkt, zieht der Weltgeist selbst seine Bahn. Doch Peter Wilhelm Forchhammer in Kiel will die Flüchtigkeit des Weltgeistes durch seine Aktivität nicht gelten lassen. Deshalb knüpft er an ein anderes als das philosophische und geschichtliche Wissen an, das um 1800 für den Menschen wichtig wird. Es sind dies die Geowissenschaften als Geografie und mehr noch die Geo-logie, an der sich Zeitalter des Lebens auf der Erde ablesen lassen, wie es Alexander von Humboldt und Christian Gottfried Ehrenberg an der Geologie der Platovskischen Steppe während ihrer Russland Reise 1829 erforscht haben.[8] Forchhammers älterer Bruder Johann Georg machte sich in den 1830er Jahren einen Namen als Geologe an der Seeakademie in Kopenhagen. Peter Wilhelm Forchhammer befindet sich 1837 an einer Schnittstelle des Wissenstransfers, an der sich Altphilologie und Geologie auf neuartige Weise überschneiden, um die moderne Archäologie zu begründen. Dieser Überschneidung verdankt die Antikensammlung der Christian-Albrechts-Universität, die später in eine Kunsthalle transformiert worden ist, ihren Aufbau. In Apollons Ankunft in Delphi: Eine archäolog. Abhandlung formuliert Forchhammer 1840 sein neuartiges Verständnis der Archäologie von einer „Erklärung der Mythologie“ her.
„Ich werde das vorliegende Bildwerk benutzen, um von solcher Lösung ein Beispiel zu geben, indem ich den bisher unerklärten Mythos  v o n  d e r  B e s i t z n a h m e  d e s D e l p h i s c h e n  O r a k e l s  durch Apollon erkläre. Und sofern der Theil zugleich das Ganze ist, soll diese Erklärung des Delphischen Mythos zugleich eine Erklärung der Mythologie, sofern sie ein Ganzes ist, enthalten.“[9]      

Forchhammer formuliert seine neuartige Archäologie mit einem Nachhall der Hegelschen Rede vom Geist und Geist der nunmehr griechischen Welt, ohne Hegel namentlich zu zitieren. Stattdessen ist das schmale Heft die Niederschrift eines Vortrages an Winckelmanns Geburtstag, dem 9. Dezember 1840, in der „Akademischen Aula zu Kiel“. „Schriftwerke“, „Bildwerke“ und der „Mythos“ als „Vorstellung“ wirken aufeinander ein, um den „unerklärten Mythos“ zu verstehen.  
„Ich habe in … (Hellenika, T. F.) durch eine Menge Mythen und durch eine ins Einzelnste gehende Erklärung derselben nachgewiesen: dass die Götter der Griechischen Religion geistige Wesen sind, welche sich in der körperlichen Natur offenbaren, und namentlich in den Theilen der Natur, welche sich  b e w e g e n  und sich verändern, dass  j e  d e  H a n d l u n g  d i e s e r  G e i s t e r  e i n e r  B e w e g u n g  d e r  m a t e r i e l l e n  N a t u r  e n t s p r e c h e, d a s s  w i e  d i e  B e w e g u n g  i n  d e r  N a t u r  j e d e s  J a h r  ( u n d  z u m  T h e i l  j e d e n  T a g) erneuert, so die ganze Göttergeschichte sich in demselben Zeitraum wiederholt; dass daher bald der eine Gott, bald der andere an einem Ort gegenwärtig ist, bald der Gott des Regens, bald die Göttin der heiteren Luft, bald die Göttin der Wolken, bald der Gott der Sonne, bald der Gott der Erdbewässerung, bald der Gott der Entwässerung; dass jedem Gott im Jahrescyclus sein Fest, sein c y c l i s c h e s  Fest zu der Zeit gefeiert wurde, wann er durch sein Erscheinen in der materiellen Natur sich gegenwärtig zeigte, …“[10]

Der Zug der Materialisierung des Geistigen und der Geister in der Natur sticht in Forchhammers Archäologie ausgerechnet mit dem Bild auf der Rückseite eines etruskischen Spiegels hervor. Man könnte sagen, dass er der Archäologie und Phänomenologie den Spiegel vorhält. In das Jahr der Rede fallen seine ersten Bemühungen, in der ausgebrannten Kapelle des Kieler Schlosses eine Antikensammlung einzurichten. Was gleichsam als praktische Lösung in der Nähe der (alten) Kieler Universität erscheint und so weiterhin kolportiert wird, ist zugleich eine, sagen wir, geistige Umwidmung. Wo der christliche Gott gefeiert wurde, wird ab 1841 die Altphilologie als Wissenschaft materiell mit der Antikensammlung gefeiert. Forchhammer ist nicht einfach Materialist, vielmehr geht es ihm um die Materialisierung des Geistigen als Wissensoperation. Der „Geist belebt“ alles und macht sich alles „unterthan“.
„Die Religion der Griechen ist weder Naturlehre noch Moralphilosophie noch Psychologie, aber sie ist alles dies zugleich und ausserdem ist sie hauptsächlich  R e l i g i o n. Sie ist die Religion des Weltalls, der Natur als Offenbarung des Geistes. Ihr ist nirgends ein kleinstes Bruchstück von Natur, kein Tropfen und kein Sandkorn, der nicht von Geist belebt, und ihm unterthan ist.“[11]   

Für die Geschichte der Philosophie von Hegel war Perikles eine entscheidende Figur geworden. Da es Forchhammer weniger um eine Philosophie der Individualität im Staat geht, nimmt Perikles in seinen Schriften keine vergleichbare Funktion ein. Doch Hegel diskutiert und konstruiert um Perikles eine Geschichte des Staates und der Individualität. Perikles findet sich nicht zuletzt deshalb mehrfach in der Kieler Antikensammlung. Obwohl Perikles kein Philosoph war, wird ihm in Athen als idealen Staat eine herausragende Funktion für die Geschichte der Philosophie zuteil. Perikles geht nach Hegel in der Funktion des Staates auf, indem er „nie gelacht“ habe.
„In diesem edlen, freien, gebildeten Volke der Erste des Staats zu sein, – dies Glück wurde Perikles, und dieser Umstand erhebt ihn in der Schätzung der Individualität so hoch, wie wenige Menschen gesetzt werden können. Von allem, was groß unter den Menschen ist, ist die Herrschaft über den Willen der Menschen, die einen Willen haben, das Größte, denn diese herrschende Individualität muß wie die allgemeinste, so die lebendigste sein, – ein Los für Sterbliche, wie es wenige oder keins mehr gibt. Die Größe seiner Individualität war ebenso tief als durchgebildet, ebenso ernst (er hat nie gelacht) als energisch und ruhig; Athen hatte ihn den ganzen Tag.“[12]

Perikles wird bei Hegel zu einer Chiffre für das Problem der Individualität. Denn einerseits wird Perikles durch seine Individualität zum „Erste(n) des Staates“, andererseits zeichnet ihn die Position als „Erste(r) des Staates“ in seiner Individualität allererst aus. Die Individualität des Perikles erzählt Hegel als eine Ungeteiltheit, lat. individuum als Verneinung mit dem Präfix in zum lateinischen Verb dividere, ein Ganzes in Teile zerlegen, vom Staat. Perikles geht insofern ganz im Staat auf. Oder: „Athen hatte ihn den ganzen Tag“. Doch dann gibt es für Perikles in seiner Individualität nichts anderes mehr als Athen. Hegel zitiert keine Reden des Perikles, vielmehr wird er für ihn zu einem „Schwebepunkt“ nicht zuletzt in der Ununterscheidbarkeit von „herrschender Individualität“ und Gemeinwesen.  
„Von Perikles sind uns bei Thukydides einige Reden an das Volk erhalten, denen es wohl wenige Werke an die Seite zu setzen gibt. Unter Perikles findet sich die höchste Ausbildung des sittlichen Gemeinwesens, der Schwebepunkt, wo die Individualität noch unter und im Allgemeinen gehalten ist. Gleich darauf wird die Individualität übermächtig, indem ihre Lebendigkeit in die Extreme gefallen, da der Staat noch nicht als Staat selbständig in sich organisiert ist. Indem das Wesen des athenischen Staats der allgemeine Geist, der Religionsglaube an dies ihr Wesen war, so verschwindet mit dem Verschwinden dieses Glaubens das innere Wesen des Volks, da der Geist nicht als Begriff wie in unseren Staaten ist. Der rasche Übergang hierzu ist der νοῦς, die Subjektivität, als Wesen, Reflexion in sich, – nicht Abstraktion.“[13]

Obschon in vielen Bildwerken verkörpert, insistiert Hegel mit Perikles auf eine Undarstellbarkeit der Individualität. Denn diese gibt es nur in dem Maße, wie die Herrschaft des Perikles „höchste Ausbildung des sittlichen Gemeinwesens, …, wo die Individualität noch unter und im Allgemeinen gehalten“, ermöglicht und in einer, sagen wir ruhig, geistigen Schwebe gehalten wird. Einerseits ist der „Schwebepunkt“ als Hegelscher Neologismus, als freie Kombination aus Schwebe und Punkt, genau jener temporale Punkt in der Geschichte, bevor die Individualität „übermächtig“ wird. Andererseits wird dieser „Schwebepunkt“ damit beschrieben, dass „der allgemeine Geist“, der nicht einfach ein Konsens, sondern ein „Wesen des athenischen Staates“ ist, herrsche. Wir wissen nicht, ob und wo Hegel jemals eine Büste des Perikles gesehen hat. Zwar erlebte Hegel 1830 die Eröffnung der Antikensammlung im Alten Museum unweit seiner Berliner Wohnung und der Berliner Universität[14], aber der „Einsatzkopf“ des Perikles gelangte erst 1901 in die Sammlung.

Hegels Konstruktion des Perikles an einem „Schwebepunkt“ gibt einen Wink auf literarische Wissenskonstruktionen der Moderne, die nachleben. Die erstaunliche und gewissermaßen plötzliche Wiederkehr des Sputnik-Narrativ als Name für den ersten Impfstoff der Welt gegen Sars-Cov-2 inklusive Animation und piependem Sonden-Sound war zutiefst „ernst“ gemeint. Technisch aufwendig und unter dezidiert geschichtlicher Bezugnahme formulieren Vladimir Putin, die Russische Föderation, das nationale Zentrum für Epidemiologie und der Russian Direct Investment Fund auf  https://sputnikvaccine.com/ den Durchbruch in der Impfstoffforschung. In einer freien Kombination der Wissensgeschichte wird ausdrücklich Bezug genommen auf den sogenannten Sputnik-Schock bzw. „Sputnik-Moment“ vom 4. Oktober 1957, als die Sowjetunion den ersten Satelliten in den Orbit schoss. Die Titelseiten von Los Angeles Times und New York Times illustrieren den „Sputnik-Moment“ ebenso wie eine „Sputnik-Burger“-Werbung. Sputnik beschwört im Russischen nicht nur als Спутник für Weggefährte, Begleiter eine Gemeinschaft, vielmehr noch den ersten Schritt der Befreiung des Menschen von seiner Erdgebundenheit durch Vernunft und Wissenschaft. Der spezifisch Russische Kosmismus erhielt seine erste Materialisierung.

Sputnik 5 befreit nun den Erdball aus dem Griff des Corona-Virus. Die Kombination von animierter Virus-Darstellung, historischer Raumsonde und Impfstoff könnte man durchaus abenteuerlich nennen, wenn das Animations-Video nicht exakt jene Narrative transformiert und kombiniert, die zu den Grundfragen der Moderne gehörten und die im Russischen Kosmismus verhandelt werden.[15] Wo beginnt das Leben? Welches Verhältnis von terrestrischen und extraterrestrischen Leben bestimmt unsere Wahrnehmung? Woher kommt überhaupt das menschliche Leben? Wie lässt sich das Leben des Menschen unendlich verlängern? Wie lässt sich der Tod besiegen? Während einerseits im Zuge der Covid-19-Pandemie evangelikale Christen in den USA, Brasilien und sicher auch anderswo die Gefährlichkeit des Virus‘ ebenso wie die Evolution leugnen, setzt Moskau auf einen positiven Wissenschaftsglauben nach der Logik des Wettbewerbs, nicht ohne mit dem Investment an kapitalistische Wertschöpfungsketten anzudocken. In Sputnik 5 wird eine Wissensmontage gefeiert, die für sich den Weltgeist als Farce in Anspruch nicht.

Es sind Geister oder Wiedergänger, Gespenster, die medial weniger das Wissen von der Covid-19-Pandemie und dem Virus strukturieren, als in unzählige Meinungscluster aufspalten. Vor allem gegen die Meinungen argumentierte und polemisierte Hegel. Im Unterschied dazu positionierte er das Wirken des Geistes. Doch mit dem bekommt man nun gerade keine klaren Antworten oder Meinungen. Vielmehr führt er an entscheidender Stelle den „Schwebepunkt“ ein. Den muss die Menschheit als Wissen von sich selbst auch aushalten können. Denn während die post-sowjetische Kapsel Sputnik 5 zum Impfstoff transformiert wird und vice versa, müssen gerade gewissenhafte Epidemiologen und Virologen es aushalten, dass sie noch keinen Impfstoff haben. In dem meinungsbildenden, russischen Nachrichtenstudio wird die Impfgeste kombiniert mit einer ausgeklügelten Darstellung des Corona-Virus, als könne man ihn so unter einem Mikroskop sehen.

Nachrichtenstudios sind immer auch visuelle Inszenierungen der Nachrichten und Meinungen. Das russische Nachrichtenstudio zeichnet sich im Unterschied zu denen von heute journal und tagesthemen dadurch aus, dass eine Art Schaltzentrale mit mehreren Monitoren im Hintergrund, an denen Journalistinnen und Journalisten sitzen, inszeniert wird. Der Nachrichtensprecher bzw. Moderator oder anchorman wird scheinbar von einer ganzen Reihe ihm zuarbeitender Personen unterstützt, während doch gerade die russischen Staatsmedien als hierarchisch organisiert gelten dürfen. Berichtet wird, wovon berichtet werden soll. Insofern ist Sputnik 5 keine privatwirtschaftliche oder künstlerische Konstruktion. Vielmehr treffen in ihm ideologische Narrative zusammen. Mit dem Anspruch der Erste sein zu wollen, wird ein hegemonialer Machtanspruch formuliert und dargestellt, so komisch dessen Darstellung ausfallen mag.

Torsten Flüh


[1] Peter Wilhelm Forchhammer: Hellenika – Griechenland – Im Neuen das Alte. Berlin: Nikolaische Buchhandlung, 1837, S. 1.

[2] Siehe Tagesthemen Mediathek vom 11.08.2020.

[3] Thomas Assheuer: Was macht der Weltgeist? In: Die Zeit vom 6. August 2020, S. 41, Hamburg 2020.

[4] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Geschichte der Philosophie. Erster Band. Herausgegeben von Karl Ludwig Michelet. Berlin: Duncker und Humblot, 1833, S. 9.

[5] Ebenda S. VI.

[6] Ebenda S. IX.

[7] Ebenda S. 13.

[8] Siehe Torsten Flüh: Leben und Tod in der Platovskischen Steppe. Zu Alexander von Humboldt und Russland in der Botschaft der Russischen Föderation. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juni 25, 2015 21:04.

[9] Peter Wilhelm Forchhammer: Apollons Ankunft in Delphi: Eine archäolog. Abhandlung. Kiel: Schwers, 1840, S. 4. (Digitalisat).

[10] Ebenda S. 9.

[11] Ebenda S. 29-30.

[12]  Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Geschichte … [wie Anm. 4] S. 387.

[13] Ebenda S. 387.

[14] Siehe auch: Torsten Flüh: Der Geist der Maschine. Zu Georg Wilhelm Friedrich Hegels Kunstphilosophie und der Granitschale vor dem Alten Museum. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. Mai 2020.

[15] Zum Russischen Kosmismus siehe: Torsten Flüh: Über die literarische Vollendung des Materialismus im Russischen Kosmismus. Zur Ausstellung Art Without Death: Russischer Kosmismus im HKW. In: NIGHT OUT @ BERLIN October 6, 2017 14:37.

Wink aus einer Zeit davor – Jahrbuch Sexualitäten 2020

Comic – Homophobie – Rechtspopulismus

Wink aus einer Zeit davor

Zur Release Party des Jahrbuchs Sexualitäten 2020 unter Beachtung der „Corona-Regeln“

Das Editorial zum Jahrbuch Sexualitäten 2020 haben Jan Feddersen, Benno Gammerl, Rainer Nicolaysen und Benedikt Wolf als Herausgeber „im Februar 2020“ abgeschlossen. Am 17. Juli fand immerhin eine Release Party in der PS 120 Galerie an der Ecke Potsdamer Straße und Kurfürstenstraße über der Woolworth-Filiale statt. Es wurden Masken getragen und Abstand auf den Bänken gehalten. Es war folglich etwas weniger Party und mehr Release. Seyran Ateş und Ralf König himself waren als Stargäste erschienen. Am 8. August feierte Ralf König seinen 60. Geburtstag, doch nicht wegen des nahenden runden Geburtstages war er dabei. Vielmehr hat Ralf König 2015 ein großformatiges „LGBTQI-Fresko“ an einer Brüsseler Hauswand aufbringen lassen, das schnell berühmt wurde. Doch seit August 2018 haben queere Aktivist*innen mit roter Farbe „TRANSPHOBIE!“ und „RACIST!“ auf zwei Comicfiguren gesprüht.

Das Jahrbuch Sexualitäten genießt mittlerweile eine hohe Verbreitung in der Forschung zu queeren Sexualitäten und ist als deutschsprachiges Periodikum von einer beachtlichen Anzahl Universitäten in den USA abonniert worden. Forschung in Jahrbüchern unterliegt einer gewissen Verzögerung und Nachträglichkeit, insbesondere dann, wenn es um kulturelle Ereignisse geht. Denn wie sich gerade medial beobachten lässt, erleben wir in der Infektionsmedizin eine Art Turboforschung über Online-Fachjournale, mit der zeitgleich Politik gemacht wird. Die Entwicklung eines Impfstoffes gegen Sars-Cov-2 wird zum globalen Forschungs- und Medien-Event. Währenddessen enthält das Jahrbuch Sexualitäten 2020 den Aufsatz PrEP als demokratische Biopolitik von Karsten Schubert, der noch am 7. Februar 2020 im TAZ Neubau auf der Friedrichstraße die entsprechende Lecture zum prophylaktischen Umgang mit dem Lentivirus HIV gehalten hatte. Ein Durchbruch schien es. Dann kam Sars-Cov-2 aus China nach Europa und in die ganze Welt, das selbstverständlich ebenfalls durch Sexualpraktiken übertragen werden kann.

In meiner Besprechung des Jahrbuchs werde ich später auf den Aufsatz von Karsten Schubert zurückkommen. Auf der Release Party wurden einige Beiträge von Fürsprecher*innen vorgestellt. Das Jahrbuch Sexualitäten 2020 ist „coronafrei“, um es gleich einmal so zu formulieren. Anfang August 2020 ist das zumindest eine auffällige Unzeitgemäßheit, die dem akademischen Format Jahrbuch geschuldet ist. Trotzdem sind der Essay von Adrian Daub, Homophobie ohne Homophobe, die vier Queer Lectures, das Gespräch von Jan Feddersen mit Seyran Ateş, die sieben Miniaturen und sechs Rezensionen wie in den ersten vier Ausgaben hochkarätig und aktuell. Adrian Daubs Essay könnte nicht aktueller sein, weil nicht nur das Rassismus-Problem von Donald Trump offensichtlich aufgebrochen ist, vielmehr hat er weiterhin ein Homophobie-Problem, das abermals Richard Grenell, Ex-Botschafter der Vereinigten Staaten von Amerika in Berlin, im Wahlkampfteam richten soll. Schließlich hatte Grenell den Botschafterposten erhalten, weil er 2016 im Team schwule Wähler für Trump mobilisiert hatte. Jetzt fühlt er sich immer noch und wieder „humbling“ im Oval Office mit Donald Trump.[1]   

Wie lassen sich Homophobie und der Erfolg offen lesbischer und schwuler Politiker*innen wie die Co-Vorsitzende Alice Weidel von der AfD in rechtspopulistischen Parteien einordnen? Einerseits wird Politik gegen Rechte von Schwulen und Lesben sowie „Gender-Wahnsinn“ gemacht. Andererseits umwerben die Wahlkampfstrategen von AfD und Donald Trump „Homosexuelle“ als wichtige Wählerschaft. Adrian Daub ist Professor of German Studies and Comparative Literature an der Stanford University und forscht zu Sexualität und Kultur im langen 19. Jahrhundert. In seinem Essay hält er es für „bedenkenswert“, dass und warum „bestimmte schwul-lesbische Wähler für diese Parteien ansprechbar sind“[2] und nennt dafür drei Gründe. Erstens denke „die Wählerschaft der Rechten gerade in Deutschland und in den USA weiterhin homophob“, zweitens sei „die Präsenz schwuler und lesbischer Wähler*innen und Politiker*innen bei den Rechtsextremen deshalb interessant, weil das Fehlen offen homophober Politik, das demonstrative Achselzucken gegenüber Fragen von Sexualität (…), oft als eine Differenz zwischen den neuen und den alten Rechten angeführt wird“.[3] Und drittens sei „diese neu entdeckte Beißhemmung einigermaßen überraschend, weil Homophobie unter den Wählern der neuen Parteien sehr wohl präsent und wohl auch identitätsstiftend zu sein scheint“.[4] 

Adrian Daub beginnt seine Rekapitulation über das widersprüchliche Engagement von schwul-lesbischen Wähler*innen und Politiker*innen für neurechte Parteien mit dem Auftritt des deutschstämmigen Investors und Internet-Milliardärs Peter Thiel am 21. Juli 2016 bei den Republikanern. Es ist nicht auszuschließen, dass Richard Grenell im Wahlkampfteam sozusagen als Buddy und Insider genau für diesen Auftritt gesorgt oder ihn zumindest für die Wahlkampfveranstaltung organisiert hatte. Doch auf Grenell geht Daub nicht ein, obwohl schwules Networking durchaus zur internationalen Politik gehört. Er sieht Peter Thiels Auftritts als einen „Meilenstein“[5], weil dieser vor den konservativen „Granden“ der Republikaner seinen Stolz, „schwul zu sein“, für Donald Trump in den Wahlkampf geworfen hatte, obwohl er noch 2007 eine vernichtende Prozessflut gegen das Onlinemagazin „Gawker“ führte, das behauptet hatte, er sei „totally gay“. Daub geht es um eine „Halbpräsenz, um das Zwielicht des Homophoben ohne offene Homophobie“.[6] Dafür widmet er sich der „Kippfigur“[7] Lindsey Graham, dem republikanischen Senator und Vorsitzenden im Justizausschuss des Senats der Vereinigten Staaten von Amerika, von dem jeder annehme, dass er schwul sei.

Als Vorsitzender des Justizausschusses seit 3. Januar 2019 dürfte Lindsey Graham zwischenzeitlich, nicht zuletzt durch die Förderung von Donald Trump und als Republikaner, der höchstrangige Schwule in der Trump-Administration sein, von dem nach Daub alle wissen, dass er schwul ist, er es aber nicht sagt, sich nicht als queer labelt oder gar den „Gender-Wahnsinn“[8] unterstützt. Der republikanische, also grundkonservative Senator für South Carolina wird nicht zuletzt seine Funktion erhalten, haben, weil er rhetorisch geschickt am 27. September 2018 im Berufungsverfahren von Brett Kavanaugh zum Richter des Obersten Gerichtshofes des Vereinigten Staaten Christine Blasey Ford ins Kreuzverhör nahm. Lindsey Graham profilierte sich damit ganz offenbar für den nächsten Karrieresprung. Daub schreibt über Lindsey:
„Anstatt die alten Maßstäbe zumindest alibihaft zu erfüllen, griff er die Maßstäbe selber an. Wahrheit und Unwahrheit hatten ihre Geltung eingebüßt, was zählte waren Angriff und Verteidigung. Er mimte für die Kameras den Bösewicht, gestikulierte und verstieg sich zu rhetorischen Kapriolen. Susan Sontag hätte die Vorstellung als »camp« bezeichnet: eine melodramatische, schmierige Veranstaltung, die mit solcher Inbrunst dargeboten wurde, dass sie eigentlich nur noch ironisch wirken konnte. Mit zornbebender Stimme und wilder Gestik bezeichnete er die Vorwürfe gegen Kavanaugh als »unethischen Betrug«, erklärte Kavanaugh zum Märtyrer, der »durch die Hölle gegangen« sei, und warf seinen demokratischen Kollegen entgegen, sie »wollten nur Macht, und ich hoffe, sie bekommen sie nie wieder«.“[9]  

In seinem Essay untersucht Adrian Daub mit der Frage nach der Queerness und den Diskussionen der Queer Theory drei „Optionen“, weshalb sich Graham als Schwuler in der republikanischen Partei derart verhalten habe. Er verwirft die „psychoanalytische Deutung“, dass sich der „schwule Mann (…) zum Rammbock einer Männlichkeit“ gemacht habe, „die ihm die Gesellschaft öffentlich abstreitet, indem er sich mit dem Patriarchat überidentifiziert“.[10] Ebenso wird die zweite Option, dass Graham es zum eigenen strategischen Nutzen getan habe, weil der „Neokonservatismus US-amerikanischer Prägung (…) immer das Versprechen der Ausgrenzungstransfers“ enthalten habe, bezweifelt. Die dritte Option hält er für die „vielversprechendste Deutung“, denn es werde „weithin angenommen – auch unter seinen Wählern –, dass er schwul ist, aber öffentlich aussprechen darf man es natürlich nicht“.[11] Graham profitiert als konservativer Politiker insofern von einem opaken Wissen um die sexuelle Identität seiner Person. Queerness wurde in der Queer Theory in Amerika immer auch in einer Variante als sozusagen systemerhaltenden Strategie diskutiert, worauf Daub ausführlicher eingeht. „Money talks“, wird dafür gern eingeworfen, als verändere queeres Geld die Verhältnisse zumindest für die Schwulen.

Wahrscheinlich hat Donald Trump sehr wohl die queere Praxis und nicht nur die Redewendung „money talks“ verstanden. Es geht um eine Art „deal“: Lässt Du mich und meine Interessen in Ruhe, dann spende ich Geld für Deinen Wahlkampf und trete sogar als Zeuge für Dich auf, dass Du für Schwule wählbar bist. Dadurch werden allerdings auch schwierige Abhängigkeitsverhältnisse geschaffen. Das opake Wissen kann sich gegen politischen Geschäftspartner wenden. Denn Graham sei u.a. mit seinem Einsatz für das Migrationsgesetz mehrfach wegen der geleugneten Homosexualität mit „Zeichen seiner Erpressbarkeit und Vorhersagbarkeit“ konfrontiert gewesen.[12] Zweifelsohne erfüllt Lindsey Graham als „Kippfigur“ für Donald Trump und den Neokonservatismus, wenn nicht gar exemplarisch für den „Rechtspopulismus“ der AfD oder auch Marine LePens FN eine wichtige politische Funktion:
„Indem universelle Prinzipien zur partikularen Identität umfunktioniert werden, wird die Forderung nach Toleranz zum Rammbock der Intoleranz.“[13]

Es gibt eine Dialektik im Wunsch nach politischer Macht von, sagen wir vorsichtig, Homosexuellen und einer Lust an der Leugnung der Identität als universelles Prinzip. Man könnte dies eine nicht ungefährliche Eitelkeit in der politischen Praxis homosexueller, insbesondere neokonservativer Politiker*innen nennen, die politisch wirksamer wird, je weniger sie sie thematisieren. Guido Westerwelle ging mit seiner Homosexualität offen um. Jens Spahn hat sie nicht verheimlicht, aber auch nicht strategisch zum Thema gemacht. Wie inszeniert Richard Grenell seine queere Macht auf seinem Instagram-Konto? Er steht im Anzug lässig doch zugleich geschäftig mit seinem linken Daumen zwischen Gürtel und Hosenbund vor dem sitzenden Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, um zugleich sprachlich seine Hochachtung vor dem Oval Office als Zentrum der politischen Macht zu bekunden: „It’s still humbling to be in the Oval Office speaking to the President of the United States.“ Darauf ist mit anderen Worten der EX-Diplomat als Schwuler wahnsinnig stolz. Er überhöht die politische Macht, während es nun wirklich nicht gut mit dieser aussieht.

Die politische Macht ist nicht nur von einem Ort und einer Person abhängig, vielmehr erweist sie sich an den Erfolgen oder dem Versagen in Krisensituationen. Wird eine Krise, die wie die Covid-19-Pandemie einer Naturkatastrophe gleichkommt, durch die Politisch-Verantwortlichen offenkundig nicht bewältigt, erodiert die Macht. Selbst Machtpolitik unterliegt der nicht zuletzt ökonomischen Realität als Lackmustest. Denn es ist immerhin und ausgerechnet Lindsey Graham, der sich aktuell für die Strategie des amerikanischen Chef-Immunologen Anthony Fauci und gegen Donald Trumps Politik in der Covid-19-Pandemie ausgesprochen hat.[14] Tatsächlich nimmt Graham, mehr oder weniger kraft seines Amtes, auch zur Frage der Wiederwahl und der Briefwahl eine konträre Haltung ein.[15] Rhetorische Kapriolen und Oval Office Pics sind selbst für Lindsey Graham zur Zeit keine Option, um (seine) Macht zu erhalten.

Karsten Schubert macht sich in seiner Queer Lecture stark für PrEP. Der etwas ausufernde Untertitel seines Aufsatzes knüpft an eine queer-politische Diskussion an, die insbesondere aus dem Hintergrund eines strukturellen Systemversagens des rudimentären Gesundheitssystems und der Macht der Pharmakonzerne in den USA ihren Ursprung hatte: „Zur Kritik der biopolitischen Repressionshypothese – oder: die pharmazeutische Destigmatisierung des Schwulseins“. Um es ganz klar zu sagen: Wegen der schlechten Gesundheitsversorgung und mangelnder Krankenversicherung gab es Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre so viele Todesfälle durch die AIDS-Epidemie, dass es in schwulen Kreisen allgemein hieß: „In New York sterben sie wie die Fliegen.“ Nun geht es im Klartext darum, Safer Sex durch die Einnahme einer Pille für überholt zu erklären. Das ist mit der Verbreitung von Sars-Cov-2 hochbrisant geworden. Als Schubert am 7. Februar seine Lecture in Berlin hielt, dachte niemand der Anwesenden daran, dass der Virus aus Wuhan sehr ähnliche Verhaltensänderungen wie HIV erfordern könnte.
„PrEP (Präexpositionsprophylaxe) ist ein relativ neues Mittel zur Prävention von HIV-Infektionen. HIV-negative Menschen nehmen antivirale Medikamente ein, die verhindern, dass der Kontakt mit dem Virus zu einer Infektion führt. Im Gegensatz zum Kondomgebrauch basiert dieses Präventionsverfahren auf Medikamenten und nicht auf einer Verhaltensänderung. Aus der Perspektive der Biopolitik fügt es sich in einen größeren Trend in Richtung Medikalisierung, des Anstiegs der Macht der Pharmaindustrie und der Reglementierung des Risikos ein.“[16]

Grob gesagt: Die Destigmatisierung wird wegen Sars-Cov-2 verschoben. Wann wird es PrEP für Corona- und Lentiviren geben? Promiskuitives Sexualverhalten, gar schwule Sexparties oder Sexparties ins Clubs überhaupt sind derzeit ein epidemiologischer Horror. In den 80er und 90er Jahren erfanden Schwule Telefonsex oder rein sprachliche, wechselseitig getippte Sexchats, um sich durch sicheren Sex ohne Körperkontakt vor einer HIV-Infektion zu schützen. Der Gebrauch von Kondomen oder gar der „Kondomfetisch“, wie Schubert ihn untersucht, kamen erst später. Es gab noch keine Webcams und keine Bots. Sexualpraktiken haben immer auch etwas mit Diskursen und Technologien zu tun. Übrigens wurde von Schwulen, die zu jener Zeit 60 oder älter waren, an die Zeiten erinnert, in denen es noch kein Penicillin gegen Syphilis gab. Deshalb unterliegt Karsten Schubert in seiner Einführung der Utopie einer Zeit oder eines Ortes, an dem es keine Biopolitik gegeben hätte.
„Biopolitik bezeichnet in der Tradition Michel Foucaults die zunehmende Steuerung des Lebens durch die Politik mit Hilfe diverser Humanwissenschaften wie beispielsweise der Medizin, der Sexualwissenschaft, der Volkswirtschaftslehre und der Demographie.“[17]

Ob es Michel Foucault bei seinen Ansätzen zur Biopolitik um eine „Tradition“ bzw. Traditionsbildung ging, dürfte in der Foucault-Forschung zumindest umstritten sei. Die Rede von der Biopolitik als Instrument ermöglicht allererst eine Kritik an positiven Wissensformationen, die sich als Dispositiv über das Leben legen. Wird die Biopolitik allerdings selbst als ein positives Wissen von der „Politik“ installiert und tradiert, verliert sie ihr kritisches Potential. In seinen Studien zu „Sexualität und Wahrheit“ fragt sich Foucault bereits im „Vorwort zur deutschen Ausgabe“ des ersten Bandes, Der Wille zu Wissen, ob sich „die gesamte Analyse am Begriff der Repression orientieren müsse; oder ob man diese Dinge nicht besser begreifen könnte, wenn man die Untersagungen, die Verhinderungen, die Verwerfungen und die Verbergungen in eine komplexere und globalere Strategie einordnet, die nicht auf die Verdrängung als Haupt- und Grundziel gerichtet ist“.[18] Der Begriff der Biopolitik fällt noch nicht. Foucault geht es bei der Diskussion der „Repressionshypothese“ erst einmal darum, dass in den „drei letzten Jahrhunderte(n)“ „um den Sex herum (…) eine diskursive Explosion“ gezündet habe.[19] Seit dem 16. Jahrhundert muss über Sex gesprochen werden. Was in der Sündenökonomie des Beichtstuhls vertraulich blieb, muss seither öffentlich diskutiert werden. Selbst im vierten Band von „Sexualität und Wahrheit“, Die Geständnisse des Fleisches, kommt der Begriff nicht vor.[20] Vielmehr widmet sich Foucault hier dem „Regime der aphrodisia, das von der Ehe, der Zeugung, der Ächtung der Lust und einem Band respektvoller und großer Sympathie zwischen den Eheleuten bestimmt ist“. (S. 23)

Schubert möchte mit seiner Analyse als „Untersuchung zeigen, dass sich Gouvernementalitätsstudien und Italienische Theorie auf repressive Machtverhältnisse konzentrieren und daher die Komplexität der Debatte nicht berücksichtigen können“.[21] Zur „Italienische(n) Theorie“ nennt er u.a. Giorgio Agamben als Vertreter. Das ist insofern aktuell bedenkenswert als Agamben sich entschieden zum Lockdown in Italien zu Wort gemeldet hat und dafür u.a. von Marco D’Ermano im New Left Review heftig kritisiert wurde. – „Which brings us to the main point that Agamben misses: domination is not one-dimensional. It is not just control and surveillance; it is also exploitation and extraction.“[22] – Die Biopolitik wurde vor allem durch die weltweiten Lockdowns in unterschiedlicher Weise präsent. Sars-Cov-2 wird noch stärker als HIV und PrEP zu einer Frage von Biopolitik. In Höchste Armut – Ordensregeln und Lebensform hat Giorgio Agamben allerdings auch gezeigt, wie im „exemplarischen Fall des Mönchstums“ sehr früh „(a)n der Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung“[23] der „Versuch“ unternommen wird, „eine Lebens-Form zu schaffen, das heißt ein Leben, das mit seiner Form so innig verbunden ist, dass es von ihr nicht mehr unterschieden werden kann“.[24] Lässt sich insofern ein „nacktes Leben“ ohne Biopolitik denken? Funkt auf die eine oder andere Weise nicht seit Anbeginn der Menschheit immer die eine oder andere Biopolitik in die Lebenspraktiken hinein?

Das Leben ist nicht nur von einer singulären politischen Macht einer Biopolitik ausgesetzt. Vielmehr wird es von diversen Wissensformationen heimgesucht und geformt. Karsten Schubert kommt in seiner Untersuchung zum Schluss, dass „PrEP (…) keine repressive Strategie der Biopolitik (ist), die den »Homosexuellen«, nachdem sie vor 100 Jahren vom medizinischen Diskurs als Kategorie erfunden und seitdem pathologisiert wurden, jetzt auch noch Pillen aufzwingt“.[25] Die Formulierung von „repressive(n) Strategie(n) der Biopolitik“ kann anscheinend sehr schnell in alternative Wahrheiten oder gar Verschwörungstheorien kippen, worauf auch D’Ermano in seiner Replik auf Agamben hinweist. Nach Schubert kann PrEP „als demokratische Biopolitik (beschrieben werden), bei der verschiedene Akteure zusammenarbeiten und neue technisch-medizinische und sexualethische Standards verhandeln“.[26] Das war zumindest der Sachstand von Februar 2020, als Sars-Cov-2 noch als Epidemie auf Wuhan und Umgebung lokalisierbar erschien.

Ralf König ist nicht der Mann langer Texte. In seinen Graphic Novels oder einfach Comics mit so treffenden Titeln wie Stehaufmännchen (2019), Bullenklöten (1992) und Kondom des Grauens (1987) entwickelt er prägnante Überzeichnungen schwuler Charaktere. Für das Jahrbuch Sexualitäten 2020 hat König nun nicht nur den Schutzumschlag gestaltet, vielmehr noch seinen längsten, jemals veröffentlichten Text geschrieben, der im Titel bereits vieldeutig ausfällt: Brüsseler Spitzen. Einerseits klingen darin die berühmten Spitzen der Textilindustrie an, andererseits gibt es, wie schon angedeutet, relativ plötzlich spitze Bemerkungen, gar queerpolitische Kritik aus Brüssel. Der Untertitel macht klar, worum es geht: „Über ein Wandgemälde in Belgiens Hauptstadt und seine politisch überkorrekte Missdeutung“.[27] Es geht um die Frage der graphischen Kunstform Comic und dem spitzen Vorwurf von „TRANSPHOBIE!“ und „RACIST!“, was auch graphisch interessant ist. Denn der Berichterstatter ist sich sicher dies mit Ausrufezeichen auf dem abgedruckten Farbfoto(!) zu lesen. Oder sollte es doch anders funktionieren:
„Vier Jahre lang. Dann erreichte mich eine etwas betretene Mail von einem der damaligen RainbowHouse-Kollegen, in der mir mitgeteilt wurde, das Bild sei über Nacht von Aktivistinnen mit den Worten »RACISM« und »TRANSPHOBIA« besprüht worden.“[28]

In seinem Text überprüft, um es nun einmal klar zu sagen, der Weltstar des queeren Comics, Ralf König, ob an dem Vorwurf, dass eine seiner Comicfiguren rassistisch und die andere transphob sein könnte, etwas dran sein könnte. Er macht das in einer Art der guten, alten Tradition der linken Selbstkritik. Bei Stalin und bei Mao sowie all deren Adepten stand die Selbstkritik spätestens seit 68 hoch im Kurs. Die Selbstkritik gilt dem „alte(n) weiße(n) Männchen“[29]. Und natürlich kann König sehr wohl werkbiographisch belegen, dass die graphischen Charaktere weder das eine noch das andere sind. Die graphischen Elemente, man kann sogar von einer graphischen Semiologie sprechen, überschneiden sich nämlich auf vielfältige Weise.
„Wenn irgendwelche Figuren bei mir dicken, roten Lippenstift tragen, haben sie automatisch überdimensionale Lippen, egal ob Drag Queen, Frau oder Pauls schlampige Schwerster Edeltraut. Es sind Comics! Als ich sie zeichnete, war die Lesbe für mich stolz und selbstbewusst, aber ich sehe ein, dass diese meine Darstellung Schwarzer für viele ein No-Go ist. Ganz so unbedarft passiert mir das nicht wieder.“[30]

Es geht also um ein queeres Schisma, das am weltbekannten Brüsseler Wandgemälde verhandelt wird und aufbricht. Das ist keine kleine Sache. Ralf König hat wie kaum ein anderer mit seinen selbstironisch karikierenden Comics die queere Bilderwelt geprägt. Jährlich wird auf der Berlinale der Teddy Award als goldener pummeliger Bär auf einem Pflasterstein verliehen, der schwule Oskar. Die Trophäe mit dem Pflasterstein erinnert an die linke, anarchische Herkunft des Teddy Award. Der niedliche Teddy kann auch anders. Zu den ersten Preisträgern gehörte Almodovar, als er für den Mainstream noch unbekannt war. Es ist durchaus ein dickes Ding, eben diesem Ralf König, dessen Comicfiguren für die queere Community ikonisch geworden sind, Rassismus und Transphobie vorzuwerfen. Jedes neue Selfstyling in der Szene wurde von König in den letzten 40 Jahren aufgegriffen und ironisch als Karikatur überzeichnet. Soll also queere Karikatur nur noch unter einer Inquisition des totalen Queer stattfinden dürfen? Oder ist einigen einfach das kulturelle Wissen der Aufgabe der Karikatur im Eifer verloren gegangen?
„Es ist also verwirrend. Plötzlich bin ich als Zeichner transphob. Rassistisch gar, zusätzlich zu dicken- und frauenfeindlich. Letzterer Vorwurf begleitet mich schon seit dem frühen Anfängen, obwohl auch meine schwulen Männchen wenig würdevoll testosteronbesoffen durch die Geschichten irrlichtern und meine Heterokerle oft grunzende Idioten sind.“[31]

In seiner Diversität liest sich das Jahrbuch Sexualitäten 2020 wie ein großer Abenteuerroman vom queeren Leben. Ständig werden Diskurse und Verhaltensweisen aufgebrochen, um in Frage gestellt zu werden. Seyran Ateş spricht mit Jan Feddersen „Über die Schwierigkeiten, sich in einer traditionell-muslimischen Familie zu behaupten – und wie es einer jungen Frau gelingt, sich von ihr zu entfernen: ein Lehrstück in Sachen antipatriarchalen Eigensinns“. Und die in Berlin-Wedding aufgewachsene Ateş findet im Gespräch ein paradoxes Bild für ihr Verhältnis zur Lebensform Familie: den Omnibus. „»Eine Familie ist wie ein Omnibus. Und du musst aussteigen.«“ Zwischenzeitlich ist sie allerdings auch auf die eine oder andere Weise wieder eingestiegen. Zumindest in Berlin kann man als Muslimin aus- und einsteigen. Als Geschäftsführerin und Imamin des Ibn Rushd-Goethe Moschee-Vereins ist sie gar in die muslimische Religion wieder eingestiegen und hat mit Mitgliedern des Vereins am Gottesdienst in multireligiöser Gastfreundschaft anlässlich des Christopher-Street-Days am 24. Juli 2020 in der St. Marienkirche teilgenommen. Allerdings lebt sie unter permanentem Personenschutz des Landeskriminalamtes.

Torsten Flüh

Jahrbuch Sexualitäten 2020
Herausgegeben im Auftrag der Initiative Queer Nations von Jan Feddersen, Benno Gammerl, Rainer Nicolaysen und Benedikt Wolf
262 S., 7, z.T. farb. Abb., geb., Schutzumschlag, 15 x 22,3 cm
ISBN 978-3-8353-3786-2 (2020)
€ 34,90 (D) / € 35,90 (A)


[1] Siehe Instagram Richard Grenell https://www.instagram.com/p/CCpFoizgIDz/ 

[2] Adrian Daub: Homophobie ohne Homophobe. Gender und Sexualität im internationalen Rechtspopulismus. In: Jahrbuch Sexualitäten 2020. Herausgegeben im Auftrag der Initiative Queer Nations von Jan Feddersen, Benno Gammerl, Rainer Nicolaysen und Benedikt Wolf. Göttingen: Wallstein, 2020, S. 15.

[3] Ebenda.

[4] Ebenda S. 16.

[5] Ebenda S. 18.

[6] Ebenda.

[7] Ebenda S. 19.

[8] Ebenda S. 31.

[9] Ebenda S. 20.

[10] Ebenda S. 21.

[11] Ebenda S. 24.

[12] Ebenda S. 25.

[13] Ebenda S. 33.

[14] CNN: Graham breaks with Trump in Fauci feud. 07.14.2020.

[15] CBS News: One of Trump’s closest Senate allies, Lindsey Graham, breaks with him on several issues. 07.07.2020.

[16] Karsten Schubert: PrEP als demokratische Biopolitik. Zur Kritik der biopolitischen Repressionshypothese – oder: die pharmazeutische Destigmatisierung des Schwulseins. In: Jahrbuch Sexualitäten 2020 … [wie Anm. 1] S. 91.

[17] Ebenda.

[18] Michel Foucault: Der Wille zu Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Frankfurt am Main: suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 1983, S. 8.

[19] Ebenda S. 27.

[20] Michel Foucault: Die Geständnisse des Fleisches. Sexualität und Wahrheit 4. Berlin: Suhrkamp, 2019.

[21] Karsten Schubert: PrEP … [wie Anm. 16] S. 92.

[22] Siehe u.a. Marco D’Eramo: The Philosopher’s Epidemic. In: New Left Review 122 Mar/Apr 2020: A Planetary Pandemic. London 2020, S. 24. (Article in NLR 122)

[23] Giorgio Agamben: Höchste Armut. Ordensregeln und Lebensform. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2012, S. 15.

[24] Ebenda S. 9.

[25] Karsten Schubert: PrEP … [wie Anm. 16] S. 125.

[26] Ebenda.

[27] Ralf König: Brüsseler Spitzen. Über ein Wandgemälde in Belgiens Hauptstadt und seine politisch überkorrekte Missdeutung. In: Jahrbuch Sexualitäten 2020 … [wie Anm. 1] S. 126.

[28] Ebenda S. 128.

[29] Ebenda S. 130.

[30] Ebenda S. 131.

[31] Ebenda S. 136.

Politische Theorie aus dem Netz der Sprachen

Literatur – Theorie – Rhetorik

Politische Theorie aus dem Netz der Sprachen

Zur Ausstellung Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert im Deutschen Historischen Museum

Hat Hannah Arendt Ausstellungen besucht? Hatte sie eine Haltung zum Format der Ausstellung? Da ich zugeben muss, kein Experte für Hannah Arendt zu sein, kenne ich keine Formulierung von ihr zum Format Ausstellung. „Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen“ als Bonmot, Aufforderung zum Widerstand und rhetorische Figur könnte aktuell allerdings auch falsch verstanden werden. Die von Monika Boll kuratierte ebenso materialreiche wie herausragende und wichtige Ausstellung im Deutschen Historischen Museum wählt einen multimedialen Ansatz, um Hannah Arendt anhand 16 zeithistorischer Themenpunkte vorzustellen. Die Bereiche der Ausstellung – u.a. Jüdisches Selbstverständnis, Totale Herrschaft, Die Nachkriegszeit, Die Vereinigten Staaten, Juristische Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, Protestbewegung und Politisches Denken – werden als Parcours im Pei-Bau durchaus chronologisch-biographisch über zwei Etagen von unten nach oben angelegt. 

Historische Ausstellungen werden meistens als eine Art Parcours der Texte, Bilder, Fotos, Videos, Audios, Schriftstücke, Reproduktionen, Modelle und Artefakte eingerichtet. Zu sehen und zu lesen gibt es viel wie die Originale von Hannah Arendts Eichmann in Jerusalem: A Report on the banality of evil als A Reporter at Large in fünf Ausgaben des Magazins The New Yorker zwischen dem 16. Februar und 16. März 1963. Die Covers des New Yorker legen amerikanische Idyllen in Aquarellen zwischen Korallen mit Seepferdchen und einer Straßensilhouette mit Wolkenkratzerplan in Blautönen vor. Nichts deutet auf den schnell skandalisierten Bericht. Neben den Magazinen können die Besucher*innen den Artikel per Touchscreen nachlesen oder auch nur durchblättern.[1] Ein Ausschnitt aus dem Gespräch zwischen Hannah Arendt und Günter Gaus wird über dem raumgreifenden, weißen Modell des Krematoriums II Ausschwitz-Birkenau (1995) von Mieczyslaw Stobierski projiziert. Fast am Ausgang Hannah Arendts Aktentasche mit Monogramm – „H. A. B.“ (Hannah Arendt Blücher) – und ihr Zigarettenetui.

Im Katalog beginnen die Herausgeber*innen mit dem Hinweis auf Hannah Arendts Formulierung des „»Denkens ohne Geländer«“.[2] Die 19 Essays sind hochkarätig und unterstreichen, dass das Format Ausstellung mit seinen Praktiken der Visualisierung und Verräumlichung für die politische Denkerin, Schriftstellerin und Dichterin Hannah Arendt durch längere Texte eben doch sehr gewinnt. Hannah Arendts „Jüdisches Selbstverständnis“ eröffnet die Ausstellung wie den Katalog. Sie entdeckt Rahel Varnhagen für sich als gesellschaftlich durch ihren Berliner Salon stark vernetzte jüdische Frau. Nachdem sie mit ihrem ersten Ehemann Günther Stern, der als Journalist mit dem Namen Günther Anders für Berliner Zeitungen schreibt, nach Berlin gekommen ist, arbeitet sie um 1930 an ihrem Buch zu Rahel Varnhagen, die postum durch die von ihrem Ehemann Karl August Varnhagen von Ense herausgegebenen Briefe unter dem Titel Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde (1834) in drei Bänden noch berühmter geworden war. Wie Liliane Weissberg für den Katalog recherchiert hat, reicht der Verkehr mit dem Rahel-Buch lange zurück, weil Hannah Arendt es schon als 15jährige 1921 in Königsberg an ihre „drei Jahre ältere Freundin Anne Mendelsohn“ verschenkt hatte.[3]

Das Rahel-Buch kursiert und zirkuliert also bereits seit acht Jahren zwischen Hannah und Anne, als es die erstere nach ihrer Promotion bei Karl Jaspers 1929 zum Forschungsthema über „Rahels Judentum“ machen möchte.[4] „Arendts Briefwechsel mit Jaspers von 1929 bis 1933 konzentrierte sich allerdings nicht nur auf Rahels Judentum, sondern auch auf eine Bestimmung der »fatale[n] Sache« des »deutschen Wesen[s]« und auf Arendts Verständnis ihrer eigenen Identität.“[5] Hannah liest Rahel, wie sie von Karl August herausgegeben worden war. Und sie liest die Briefe aus dem Nachlass, wie sie zu der Zeit in der Staatsbibliothek zu Berlin aufbewahrt werden. Zu gleicher Zeit lässt sie sich erstmals mit einer Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger fotografieren. Der Berichterstatter stellt sich vor, wie Hannah Arendt durch das Portal der Staatsbibliothek Unter den Linden in den Ehrenhof geht, die schwere Tür öffnet, die Stufen hinaufsteigt und sich im damaligen Handschriftenlesesaal die Konvolute vorlegen lässt. Sie liest die Handschriften, macht sich wohl doch Notizen, obwohl sie 1964 im Gespräch mit Günter Gaus gesagt haben wird, sie mache sich niemals Notizen[6] und sie legt bis zum Sommer 1933 ein „Rahel-Manuskript“ an, das sich unterdessen mit anderen Recherchen überschneidet.
„In Berlin engagierte sich Arendt in der Zionistischen Vereinigung für Deutschland (ZVfD) unter der Leitung Kurt Blumenfelds, sie dokumentierte für diese antisemitische Propaganda. Durch diese Arbeit fiel sie der Gestapo auf und wurde im Sommer 1933 festgenommen. Nach acht Tagen Haft entschied sich Arendt sogleich, das Land zu verlassen.“[7]

In der Ausstellung können sich die Besucher*innen in eine Hörbox setzen – aber bitte nur einzeln wegen der Maßnahmen zur Eindämmung der CoVid-19-Pandemie -, um als Audiomontage z.B. Walter Benjamins Ermutigung zu hören, das „Rahel-Manuskript fertigzustellen“ im Pariser Exil.[8] Die Arbeit am Rahel-Buch wird insofern vielfach überschrieben und im Kontext einer Dokumentation „antisemitische(r) Propaganda“ sowie der Flucht nach Paris durchkreuzt. Während Varnhagen in seiner Herausgabe der Briefe den Begriff Antisemitismus nicht ein einziges Mal gebraucht, wird doch von Rahel in ihren Briefen gelegentlich, aber eher selten sprichwörtliches von „Juden“ zitierend verwendet. In dem längeren Brief von Rahel aus Paris an Rose in Amsterdam vom 14. März 1801 klingt einmal ihr Verständnis des Judentums in Berlin im Unterschied zu Amsterdam und Paris an.
„Und du würdest mir gewiß eben so unpartheiisch und unbefangen einen Ort beschreiben können, als ich euch Paris. Also mit den Juden steht’s hier so schlecht?! Es liegt doch an ihnen. Denn ich versichre dich, ich sage hier allen Leuten, daß ich eine bin; ch bien! le même empressement. Aber nur ein Berliner Jude kann die gehörige Verachtung und Lebensart im Leibe haben; ich sage nicht: hat sie. Ich versichre dich, ordentlich eine Art contenance giebt’s einem auch hier, aus Berlin zu sein und Jude, wenigstens mir; ich weiß darüber Anekdoten. Lebt wohl, die Dame kann nicht ewig lesen.“[9]

„(A)us Berlin zu sein und Jude“ wird für die Jüdin Rahel Levin während einer Reise in Paris wichtig, wo sie nicht gerade solidarisch ihre Glaubensgenoss*innen schilt, zu jammern und nicht selbst emanzipiert zu werden. Weissberg hat die auch prekäre Einwirkung Karl Jaspers‘ auf das von ihm als Forschungsarbeit dennoch unterstütze „Rahel-Buch“ genauer skizziert. Wie lässt sich nun für die engagierte Dr. phil. über Rahel schreiben? Philosophisch? Soziologisch? Literarisch? Karl Jaspers war für Hannah Arendt nicht nur ein Doktorvater, vielmehr noch eine Vaterfigur, wie sie es in Zur Person 1964 freimütig aussprechen wird. Während ihr jüdischer Vater früh verstorben war, fand sie zumindest retrospektiv in Karl Jaspers einen Vaterersatz, der nicht nur seit 1910 mit Gertrud Mayer, der Schwester seines Studienfreundes Ernst Mayer, der aus einer orthodoxen deutsch-jüdischen Kaufmannsfamilie stammte, verheiratet war, vielmehr leugnete er noch um 1930 das Jüdischsein. So bekommt Jaspers einen starken Einfluss auf das „Rahel-Buch“ seiner ehemaligen Doktorandin und deren Juden-Konzept wie Weissberg schreibt.
„Für Arendt waren Juden Parias, Außenseiter also, und es war der Fehler vieler deutscher Jüdinnen und Juden, in ihrer nach sozialer Anerkennung und Aufstieg ihr Judentum aufzugeben und »Parvenüs«, so Arendts abwertende Bezeichnung, zu werden. (…) Mit Rahel fand Arendt eine Jüdin, die zwar zum Christentum konvertiert war und in den Adel eingeheiratet hatte, die sich aber letztendlich, so Arendt, der Assimilation verweigerte, Rahel wurde zu einem »bewussten Paria« und zog aus dieser Position ihre Stärke.“[10]   

Im Raum Jüdisches Selbstverständnis werden nicht nur Texte, vielmehr noch Bilder und das Interieur eines Biedermeier-Salons mit Goethe-Büste arrangiert. Doch war ein Salon nur oder vor allem ein Ensemble aus Möbeln und großen Namen wie Bettina von Arnim, von der eine Zeichnung im Lehnstuhl vor einer Goethe-Büste zur Illustration aufgehängt wird? Der Biedermeier-Salon fällt in der Ausstellung mit der Büste und den Möbeln ein wenig fatal aus, obgleich mittlerweile eine reichhaltigere Forschung zum Berliner Salon existiert.[11] Während sich das „Buch des Andenkens“ als eine Briefsammlung entfaltet, war der Salon eine Gesprächspraxis des Flüchtigen. Die Gespräche ließen sich gerade nicht im Buch festhalten.[12] Sie ließen sich in Briefen kaum nacherzählen und lebten nicht nur von Worten und Sätzen, sondern ebenso von Gesten, Gerüchen, Raumtemperaturen, Beleuchtungen, Tonfällen und Idiomen. So unterlag der Salon denn all jenen Eigentümlichkeiten und Eigensinnigkeiten, die sich der Darstellung entziehen. Er fand nicht immer mit gleicher Intensität, geschweige denn Regelmäßigkeit statt. Doch genau in diesem Feld des Eigensinns reüssierte Rahel Levin als Gastgeberin oder Salonière, von der nicht zuletzt übermittelt wird, dass sie ihren Namen mehrfach wechselte.

Erst nach dem Krieg kann Hannah Arendt zur Arbeit am Rahel-Buch zurückkehren, das nun stärker zwischen Belletristik, gar Roman und Forschungsliteratur angesiedelt wird. Einerseits gelten die Autographen aus der Staatsbibliothek als Kriegsverlust, so dass die Forschungspraxis nicht wieder aufgenommen werden kann. Andererseits waren ihre Forschungsansätze zum Antisemitismus bereits 1955 in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft eingegangen, so dass Weissberg schreibt, dass „(d)ie Arbeit an Rahels Lebensgeschichte (…) zu einer Vorarbeit für jenes Buch“ wurde.[13] Nicht nur das Zeitgeschehen durchkreuzt das Rahel-Buch, mehr noch das sich überschneidende literarische wie wissenschaftliche Schreibverfahren, ihr „literarisches Experiment verwandelte sich in eine wissenschaftliche Qualifikationsarbeit“[14], um nach dem Krieg wieder in schöne Literatur transformiert zu werden. Als 1959 Hannah Arendts Rahel-Buch unter dem Titel Rahel Varnhagen. Die Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik im Münchner Piper Verlag erscheint, ist das der Autorin wichtige Wort „Jüdin“ ohne Rücksprache auf dem Schutzumschlag gelöscht.

Die Löschung der „Jüdin“ lässt sich heute als eine mutwillige lesen. Hans Rößner dürfte als Cheflektor des Piper Verlags über den Schutzumschlag zumindest mitentschieden haben. Arendt und die Menschen außerhalb seines SS-Netzwerkes, das nicht nur in München existierte, konnten nicht ahnen, dass die Löschung der „Jüdin“ kein Versehen war. Der Germanist Hans Rößner „war 1934 Mitglied der SS geworden, 1937 der Nationalsozialistischen Partei“ beigetreten und machte ab 1938 Karriere im Reichssicherheitsdienst (SD). Ab 1939 leitete er bis zum Zusammenbruch 1945 „im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) die Abteilung »Volkskultur und Kunst«“.[15] Rößner hatte demnach an höchster, administrativer Stelle, darüber zu entscheiden, was »Volkskultur und Kunst« nach der nationalsozialistischen Doktrin inklusive des institutionalisierten Antisemitismus war und was nicht. Die Jüdin Rahel Levin, die sich 1814 für die Heirat mit dem Schriftsteller und Diplomaten Karl August Varnhagen von Ense, der in den Adelsstand erhoben worden war, taufen ließ, durfte nicht zur sogenannten deutschen „Volkskultur“ gehören. Der Antisemitismus überlebte und maskierte sich sozusagen in allernächster Nähe zu Hannah Arendt.

Hannah Arendts politische Theorie zum Antisemitismus als „Band I“ von Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft entspringt dem „literarischen Experiment“ eines Buches und einer Relektüre des Buches Rahel. Die Überlappung von Literatur und Theorie ist keine zufällige, vielmehr eine strategische. Karl Jaspers schrieb 1958 das „Geleitwort“ zum „Buch“ und pries es als „Geschichtsschreibung großen Stils“.[16] In der „Geschichtsschreibung großen Stils“ geht es nicht immer nur um Fakten, vielmehr um eine Generierung von Sinn durch verfügbare Fakten. Als ein wichtiges Scharnier ihrer „Geschichtsschreibung“ kommt Arendt auf „jüdische Salons“ und Rahels „»Dachstübchen«“ zu sprechen.[17] Anders als die Saloninszenierung in der Ausstellung mit der bürgerlichen Geste sozusagen in und aus der Mitte der Gesellschaft legt Arndt wert darauf, dass „das Dachstübchen der Rahel am Rande, ja außerhalb der Gesellschaft und ihrer Konventionen“ angesiedelt war.
„Hatte Henriette (Herz, T.F.) durch Gelehrsamkeit geglänzt und war durch die »tugendhaften« Grafen Dohna gesellschaftsfähig geworden, so war Rahel stolz auf ihre »Ignoranz« und berühmt durch ihre originale Klugheit und gesellschaftliche Begabung; das Dachstübchen verdankte sein Renommee dem Prinzen Louis Ferdinand, dem man viel Gutes, aber nicht übertriebene Rücksichtnahme auf »Tugend« nachsagen kann. Der Salon der Rahel, der nach ihrem eigenen Zeugnis 1806 in der preußischen Niederlage unterging »wie ein Schiff, den höchsten Lebensgenuß enthaltend«, ist ein in der Geschichte von Assimilation und Ausnahmejuden absolut einzigartiges und einmaliges Gebilde gewesen. […] Hier galt wirklich jeder nur genau so viel, wie er darzustellen vermochte, hier ward jeder nach nichts anderem beurteilt als seiner Persönlichkeit. […] Er war naiv paritätisch und entsprach einer kurzen Blütezeit deutsch-jüdischer Geselligkeit, die mehr Mischehen aufzuweisen hatte als irgendeine spätere.“[18]

Rahels Salon im Dachstübchen wird bei Hannah Arendt zur deutsch-jüdischen Gesellschaftsutopie. Das „Dachstübchen“ ist nicht nur der bescheidene Ort eines kleinen Zimmers im Dach eines Hauses, vielmehr wird es auch metonymisch für den Ort des Denkens, das Gehirn gebraucht.[19] Diese Überlappung von bescheidenem, schmucklosen Ort im Dach als Lokalität des Salons bekommt auch einen konspirativen Beiklang, wenn sich ausgerechnet dort der Hohenzollernprinz Louis Ferdinand nicht ganz nach den Regeln der Tugend verhalten haben soll. Louis Ferdinand verhielt sich nicht nur höchst libertinär, vielmehr spielte er ebenso Klavier, komponierte und lud Ludwig van Beethoven bei seinem einzigen Aufenthalt in Berlin 1796 ein. Als Louis Ferdinand am 16. Oktober 1806 in der Schlacht bei Saalfeld von Napoleons Soldaten tödlich verwundet wird und er mit 33 Jahren stirbt, wird er vollends zum nationalen Mythos. Rahel wollte ihn ab Mai 1800 „(o)rdentliche Dachstuben-Wahrheit … hören“ lassen.[20] Anders gesagt: Arndts Transformation der „Dachstube“ zum Deminutiv „Dachstübchen“ in einer entscheidenden Passage über den „Antisemitismus“ als „profane Ideologie des 19. Jahrhunderts“[21] gibt einen Wink auf die Rhetorik ihrer Geschichtsschreibung zwischen Belletristik, „literarischem Experiment“ und Politischer Theorie.

In die von Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann als Denktagebuch[22] veröffentlichten Hefte schreibt Hannah Arendt zwischen 1950 und 1973 nicht nur „eigene“ Gedanken, vielmehr finden sich in ihnen ebenso Exzerpte, Gedichtzitate und für Hermann Broch im Juni 1951 gar ein Gedicht zu dessen Tod am 30. Mai 1951 in New Haven.[23] Das Gedicht hat den Titel Überleben.[24] Hefte in unterschiedlichen Größen gehören seit dem 19. Jahrhundert z.B. bei Karl Marx, Alexander von Humboldt oder Marcel Proust, aber auch die vertrackten Schwarzen Hefte Martin Heideggers zu den Medien bisweilen plötzlichen Denkens und Memorierens. Zum Denken in den Heften gehört demnach das Dichten, durch das sich Sinn und Sinnlichkeit auf vielfache Weise überlappen. Das Gedicht aus dem Umfeld der Todesnachricht von Hermann Broch geht durch seine formale Schreibweise über einen plötzlichen Einfall hinaus.
„Überleben.

Wie aber lebt man mit den Toten? Sag
wo ist der Laut, der ihren Umgang schwichtet,
wie die Gebärde, wenn durch sie gerichtet
wir wünschen, dass die Nähe selbst sich uns versag?

Wer weiss die Klage, die sie uns entfernt
und zieht den Schleier vor das leere Blicken?
Was hilft, dass wir uns in ihr Fortsein schicken,
und dreht das Fühlen um, das Überleben lernt.

Das umgedrehte Fühlen ist doch wie der Dolch, den man im Herzen umdreht.“[25]

Barbara Hahn hat in ihrem Essay für den Katalog darauf aufmerksam gemacht, dass Hannah Arendt in mehreren Sprachen – Altgriechisch, Französisch, Lateinisch, Englisch, Deutsch, Hebräisch – las, dachte und schrieb. In Englisch und Deutsch habe sie eine „Meisterschaft“ entwickelt. Und: „Hannah Arendt hat sehr genau darüber nachgedacht, warum Einsprachigkeit – »die künstlich gewaltsame Vereindeutigung des Vieldeutigen« – zeitgemäßem Denken nicht angemessen ist.“[26] Die Mehrsprachigkeit generiert nicht zuletzt idiomatische Überlappungen oder, wie Hahn schreibt, „Sprachen prägen und färben das Denken; Sprachen nehmen Erfahrungen und Erkenntnisse auf und tragen sie weiter“.[27] So verwendet Arendt für Überleben gar ein Reimschema, das in den vierzeiligen Strophen am Ende mit ab und ba – Sag/schwichtet | gerichtet/versag – eine Spiegelung erzeugt, dergleichen entfernt/Blicken | schicken/lernt. Zwar lässt sich das Gedicht auf Hermann Broch beziehen, aber durch die rhetorischen Mittel insbesondere der Interrogativpronomen wie, wo, wer, was, der Syntax und dem Wechsel von Frage zur antwortenden Aussage wird Überleben zu einer existentiellen Frage. So wird „das Überleben“ zum Subjekt, während die Syntax zugleich vorschlägt „das Überleben lernt“ als Relativsatz zu „Fühlen“ zu lesenhören: „das überleben lernt“. Im Nachsatz, von dem sich nicht eindeutig sagen lässt, ob er noch zum Gedicht gehört, wird das „Fühlen“ auf eine Weise paraphrasiert, die fast schon eine Antimetabole ist.

Die rhetorische Kunst der Dichtung, wie sie insbesondere aus dem Barock herüber winkt, gehörte zu Hannah Arendts Praxis des Denkens. So wird im letzten Raum der Ausstellung ein Schleier mit dem Portrait und rudimentären Angaben zu Wystan Hugh Auden gezeigt. Hannah Arendt habe Audens The Age of Anxiety, das 1948 den Pulitzer Prize for Poetry erhielt, gelesen und daraufhin einen begeisterten Brief an ihn geschrieben, so dass eine Freundschaft zustande kam. Auden hatte sein Zeitalter der Angst allerdings als „A Baroque Eclogue“ in angelsächsischen alliterierenden Versen geschrieben.[28] Die barocke Ekloge knüpft mit der Alliteration für die Erzählung von der Angst im, wie Hannah Arendt sagen würde, Zeitalter des Totalitarismus an die Rhetorik des Barock an, was einerseits als unzeitgemäße Darstellungsweise in der Moderne aufgefasst werden kann. Andererseits wird durch den Modus der Ekloge als Auswahl eben auch angezeigt, dass kein generalisierender Anspruch erhoben wird. Gleichzeitig werden in der Eröffnung von The Age of Anxiety die geschlechtliche Mehrdeutigkeit und die Ambivalenz auf die Spitze getrieben:
„So, fully conscious of the attraction of his uniform to both sexes, he looked round him, slightly contemptuous when he caught an admiring glance, and slightly piqued when he did not.
It was the night of All Souls.

Q U A N T was thinking:
My deuce, my double, my dear image,
Is it lively there, that land of glass
Where song is a grimace, sound logic
A suite of gestures? You seem amused.
How well and witty when you wake up,
How glad and good when you go to bed,
Do you feel, my friend? What flavor has
…“[29]

Nicht nur W. H. Auden setzte sich für The Age of Anxiety mit der Metrik als Form des Denkens auseinander[30], auch Hannah Arendt fühlte sich vertraut mit der Form wie der thematischen Ambivalenz. 1967 fotografierte sie ihn leicht „out of focus“.[31] In der Pluralität des Personals wird auf ebenso poetische wie erschütternde Weise vom Zeitalter der Angst erzählt, wenn etwa Rosetta sagt: „Violent winds / Tear us apart. Terror scatters us / To the four coigns. Faintly our sounds / Echo each other, unrelated / Groams of grief at a great distance.“[32] – Es ist hier nicht der Ort näher auf The Age of Anxiety einzugehen. Doch Audens Praxis der barocken Form generiert eine Art Queerness, die, selbst wenn sie das Wort nicht gekannt haben wird, Arndt nicht verborgen geblieben sein konnte. In der Ausstellung gibt es auch eines jener Hefte, die als Denktagebuch veröffentlicht sind. Aufgeschlagen ist eine Doppelseite mit handschriftlichen Notaten und dem Ausschnitt eines eingeklebten maschinenschriftlichen Textes, von dem sich erst einmal nicht sagen lässt, ob es ein Zitat aus einem Roman, einem Gedichtepos vielleicht oder von ihr selbst stammt. Er endet:
„O Leben, Leben: Draussensein.
Und ich in Lohe. Niemand der mich kennt …“

Torsten Flüh

Deutsches Historisches Museum
Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert
Pei-Bau
bis 18. Oktober 2020
Sonntag bis Mittwoch 10:00 bis 18:00 Uhr

Katalog
Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert
Herausgeber: D. Blume, M. Boll und R. Gross für das Deutsche Historische Museum
€ 22,-


[1] Siehe auch das Archiv von The New Yorker online.

[2] Die Arendt-Formulierung „Denken ohne Geländer“ wird aktuell auch als Werbespruch in Plakatgröße auf der Liegeplatzbrücke des Redaktionsschiffes media pioneer im Nordhafen von Michael Bröcker benutzt, ohne auf Hannah Arendt hinzuweisen. Dorlis Blume, Monika Boll, Raphael Gross (Hg.): Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert. Stiftung Deutsches Historisches Museum, Piper: 2020, S. 9.

[3] Liliane Weissberg: Hannah Arendt und ihre »wirklich beste Freundin, die nur leider schon hundert Jahre tot ist«. In: Ebenda. S. 28.

[4] Ebenda S. 30.

[5] Ebenda.

[6] Siehe: Torsten Flüh: Hannah Arendts Zigarettenrauchen als Haltung. Zur Ausstellung Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert und Hannah Arendt im Gespräch mit Günter Gaus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. Juli 2020.

[7] Liliane Weissberg: Hannah … [wie Anm. 3] S. 31.

[8] Ebenda.

[9] Rahel Varnhagen von Ense: Rahel. Bd. 1. Berlin: Duncker und Humblot, 1834, S. 237. (Digitalisat)

[10] Liliane Weissberg: Hannah … [wie Anm. 3] S. 30.

[11] Siehe u.a. Hannah Lotte Lund: Der Berliner ‚jüdische Salon’ um 1800. Emanzipation in der Debatte? Berlin/Boston: de Gruyter, 2012.

[12] Vgl. dazu: Torsten Flüh: Gespräche – Bettina von Arnim. In: ders.: Flugblatt – Zeitung – Blog. Materialität und Medialität als Literaturen. Wien: Passagen Philosophie, 2017, S. 80-101, insbesondere S. 80-83.

[13] Liliane Weissberg: Hannah … [wie Anm. 3] S. 31.

[14] Ebenda S. 36.

[15] Ebenda S. 33.

[16] Karl Jaspers: Geleitwort. In: Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Band I: Antisemitismus. Frankfurt/M – Berlin – Wien: Ullstein, 1975 (zuerst 1958 Piper), S. 6.

[17] Ebenda S. 108-109.

[18] Ebenda S. 109-110.

[19] Siehe: Dachstübchen (Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache).

[20] Barbara Hahn: Der Mythos vom Salon. Rahels „Dachstube“ als historische Fiktion. In Hartwig Schulz (Hrsg.): Salons der Romantik. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Theorie und Geschichte des Salons. S. 213 ff.

[21] Hannah Arendt: Elemente … [wie Anm. 16] S. 11.

[22] Hannah Arendt: Denktagebuch. Herausgegeben von Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann. München: Piper, 2016.

[23] Ebenda Anmerkungen. Zweiter Band. S. 941.

[24] Ebenda Erster Band, S. 92.

[25] Ebenda.

[26] Barbara Hahn: Die »eigene« und andere Sprachen. In: Dorlis Blume, Monika Boll, Raphael Gross (Hg.): Hannah … [wie Anm. 2] S. 153.

[27] Ebenda S. 147-148.

[28] Zu Wystan Hugh Audens Dichtung vgl. auch: Torsten Flüh: Queering the Classics. Zu Wystan Hugh Audens, Chester Kallmans und Hans Werner Henzes moderner Antiken-Oper The Bassarids in der Komischen Oper. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. November 2019.

[29] W. H. Auden: The Age of Anxiety. A Baroque Eclogue. Edited by Alan Jacobs. Princeton: Princeton University Press, 2011, S. 6.

[30] Ebenda S. 109-111.

[31] Siehe: Hannah Arendt fotografiert Verwandte und Freunde. In: Dorlis Blume, Monika Boll, Raphael Gross (Hg.): Hannah … [wie Anm. 2] S. 220.

[32] W. H. Auden: The … [wie Anm. 29] S. 78.