Der lange Sommer der Verschwörungstheorien

Wissen – Lüge – Angst

Der lange Sommer der Verschwörungstheorien

Einige Beobachtungen zur politischen Ökonomie und Dynamik von Verschwörungstheorien in Zeiten der Covid-19-Pandemie

Ende September erinnerte Thomas Assheuer im ZEIT-Feuilleton daran, dass Leo Löwenthal im Exil schon vor 70 Jahren Verschwörungstheorien in der „Mitte“[1] der Gesellschaft der USA untersucht hatte.[2] Assheuer formulierte die Frage „Warum glauben vernünftige Bürger an Verschwörungen und globale Drahtzieher?“ 1949 veröffentlichten Leo Löwenthal und Norbert Guterman unterstützt vom American Jewish Commitee in der Social Studies Serie als ersten Band: Prophets of Deceit. A Study of the Techniques of the American Agitator. bei Harper & Brother in New York. Später wurde die Studie in der deutschen Übersetzung Falsche Propheten. Studien zur faschistischen Agitation bekannt und mehrfach in Anthologien publiziert. Löwenthal blieb in den USA und wurde Professor in Berkley. Am 20. Oktober 2020 publizierte Charles H. Clavey im Boston Review mit Bezug auf Löwenthal den Artikel: Donald Trump, Our Prophet of Deceit.[3] Fast plötzlich wird Leo Löwenthals methodologischer Ansatz für die frühe Studie wieder lesenswert.

Aktuell lässt sich während der zweiten epidemiologischen Welle beobachten, dass sich die Verschwörungstheoretiker in sogenannten Anti-Corona-Demonstrationen in Leipzig und Frankfurt am Main etc. radikalisieren und offen mit rechtsradikalen Gruppierungen fraternisieren. Während Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz einen zweiten, harten Lockdown verordnen muss, liefern sich Corona-Leugner in Frankfurt Straßenschlachten mit der Polizei und behaupten, dass es weder das Virus Sars-Cov-2 noch eine Pandemie gebe. Leo Löwenthal untersuchte die sprachlichen Prozesse und Narrative, die während des Zweiten Weltkriegs in Amerika zu rechten, faschistischen, um nicht zu sagen nationalsozialistischen Politikern und Agitatoren überzulaufen aufriefen. Wie konnte es sein, dass amerikanische Wähler*innen rechtsradikalen Politikern glaubten, während Millionen amerikanische Soldaten in Europa gegen Nazi-Deutschland kämpften? Wie können hunderte niedergelassene Ärzte und Wissenschaftler wie der Hirnforscher und Neurobiologe Gerald Hüther mit Wege aus der Angst (Oktober 2020) Verschwörungstheorien nähren?    

Als Bildmaterial erscheinen in dieser Besprechung Fotos vom Haus der Statistik Ecke Karl-Marx-Allee und Otto-Braun-Straße in unmittelbarer Nähe zum Alexanderplatz. Die Fotos wurden am 1. Juni 2020 um ca. 18:30 Uhr aufgenommen. Es war Pfingstsonntag und die Einschränkungen des ersten Lockdowns seit März wurden nach und nach gelockert. Seit dem 4. Mai fuhren z.B. in Berlin die Busse, Straßenbahnen und U-Bahnen wieder im Regelbetrieb. Ein Pfingstkonzert hatte vor der Auferstehungskirche in der Friedenstraße im Freien stattgefunden. Viele Veranstaltungen der „Werkstatt Haus der Statistik“ finden im November nicht wie geplant statt. Das Haus der Staatlichen Zentralverwaltung der Statistik (SZS) der DDR steht seit 10 Jahren leer. Es ist eine Liegenschaft des Landes Berlin geworden. Die Werkstatt arbeitet in einem Interessenverband an Perspektiven für eine Zukunft des repräsentativen Plattenbaus aus vier Hochhausscheiben, der zwischen 1968 und 1970 mit einer Grundfläche von 46.000 m² erbaut wurde. Eine Neonröhrenzeichnung zeugt heute noch vom DDR-Café Mocca-Eck.

Im Kontext der Verschwörungstheorien spielen die Fotos vom Haus der Statistik auf staatliche Berechnungen und Planungsmodelle in Zentralplanungswirtschaften an. Die Konzepte und Methoden der Staatlichen Zentralverwaltung der Statistik unterschieden sich von denen des Statistischen Bundesamtes der Bundesrepublik Deutschland, so dass die Statistikgesetze des Bundes am 3. Oktober 1990 auch für die neuen Bundesländer in Kraft traten. Die Geschichte des Bundesamtes vermerkt entsprechend für 1991: „Alle Statistiken in den neuen Ländern und Berlin-Ost werden nach den Konzepten und Methoden der Bundesstatistik durchgeführt.“[4] In seinem Leitbild definiert sich das Statistische Bundesamt heute als ein Service für „demokratische, faktenbasierte Entscheidungsprozesse“, was auch einen Wink auf die nicht immer entsprechenden Prozesse in Zentralplanungswirtschaften wie z.B. der Volksrepublik China gibt.
„Wir stellen neutrale, objektive und fachlich unabhängige Statistiken zur Verfügung. Diese Zahlen sind die Basis für demokratische, faktenbasierte Entscheidungsprozesse. Wir bilden mit unseren Daten nicht nur das Hier und Heute ab, sondern vermitteln auch Informationen zu gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen.“[5]

Das Zahlen-Wissen, die Planungsmodelle und die Planbarkeit von „gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen“ haben durch die Covid-19-Pandemie einen epochalen Bruch erfahren. Das aus den Statistiken generierte Zahlen-Wissen ist in Deutschland seit dem Beginn der Epidemie im März grundlegend erschüttert, was sich nicht zuletzt daran zeigte, dass die Politik der „Schwarzen Null“ von einem auf den anderen Tag mit den sogenannten Corona-Hilfen von der Bundesregierung und Finanzminister Olaf Scholz nach einer Dringlichkeitsabwägung für obsolet erklärt wurde.[6] Dahinter wirkt eine nachhaltige Verschiebung der Konzepte und Methoden. Die Krise des statistischen oder Zahlen-Wissens gehört zu jenem Komplex der Wissenserschütterung, der durch die Pandemie in Europa und der Welt eingesetzt hat. Paradoxerweise sind es die rein statistischen Methoden, Erhebungen und Berechnungen wie z.B. durch den R0-Wert, die Basisreproduktionszahl, die nicht nur Wirtschaft und Gesellschaft, sondern massiv die Lebenspraxis jedes Einzelnen beeinflussen. Das Statistische Bundesamt hat eine eigene Kategorie der „Corona-Statistiken“ eingerichtet.[7]

Die Macht der Statistik hat sich verschoben zu einem Akteur, der fast unsichtbar oder dem Großteil der Bevölkerung nahezu unbekannt war: dem Robert-Koch-Institut, kurz RKI. Vor dem RKI am Nordufer stehen wie im Frühjahr seit einigen Wochen wieder Fernsehteams mit Reporter*innen, die per Live-Schaltung die neuesten Infektionszahlen ins Mikrophon sprechen. Die Direktoren und Mitarbeiter*innen des RKIs haben, soviel mir bekannt ist, bislang keine Interviews vor ihrem Institut gegeben. Mehr als Zahlenwerte ermittelt bzw. bündelt das Robert-Koch-Institut aus den nationalen Gesundheitsämtern nicht. Vor 20 oder 30 Jahren hätte das per Telefon oder FAX stattfinden müssen, was eine gewisse Verzögerung bedeutete. Heute werden die Zahlen durch digitale Datenübermittlung generiert und bisweilen jede Zeitverzögerung skandalisiert. Millionen von Bundesbürgern warten auf die morgendlich verkündeten Zahlen vom Vortag, als gehe es um die Lotto-Gewinnzahlen, was für die Macht der Zahlen spricht. Da es um mittelfristige Entwicklungen und nicht um plötzliche Zufallszahlen geht, dürfte diese Wahrnehmung der Zahlen ihre Aussagekraft verfehlen.

Den Hintergrund der Verschwörungstheorien gibt jene Macht der Zahlen ab, die in einer gewissen Monstrosität der leeren Fenster des Hauses der Statistik verkörpert werden könnten. Das historisierende Gebäude des Robert-Koch-Instituts in Backstein von 1910 am Berlin-Spandauer-Schifffahrtskanal wirkt dagegen geradezu pittoresk. Trotzdem ist es bereits zum Ziel eines Brandanschlags und von Protesten der Corona-Leugner mit Megaphon geworden. Charles H. Clavey, der in Harvard lehrt, hat sich in seinem Artikel zu Leo Löwenthal und seinem Text Prophets of Deceit nicht nur mit dessen Rahmen der Frankfurter Schule um Theodor W. Adorno und Max Horkheimer befasst, vielmehr weist er auf Löwenthals neue Methoden hin:
„The first prong was “content analysis,” a new method for systematically analyzing the creation and transmission of meaning through speech and text. Researchers in the emerging field of communications studies practiced content analysis by assembling a large body of evidence and then parsing each text, cataloging recurring images, tropes, claims, and rhetorical devices.”[8]     

Anders als es die deutsche Übersetzung des Titels von Prophets of Deceit vorgibt, geht es nicht um „Falsche Propheten“, sondern um Propheten des Betrugs oder der Täuschung bis hin zur Lüge. Die Lüge lässt sich indessen als rhetorische Figur auffassen. Sie formuliert das Gegenteil von dem, was zuvor als wahr und faktisch ausgesagt worden ist. Im Kontext des Zahlen-Wissens wird dieses per se als falsch erklärt. Die Lüge unterliegt einer Nachträglichkeit selbst dann, wenn z.B. Donald Trump im Voraus von einer manipulierten Wahl spricht, um bewusst Misstrauen in die Demokratie zu schüren. Donald Trump lässt sich nach Clavey als ein Prophet der Lüge auffassen. So stellte schon Leo Löwenthal seinem Buch ein Bibelzitat des alttestamentarischen Propheten Jeremia in Englisch voran: „Yeah, they are prophets of deceit of their own heart. Jer. 23:26“ In der Lutherbibel wird Jeremia 23:26 auf folgende Weise übersetzt: „Wann wollen doch die Propheten aufhören, die Lüge weissagen und ihres Herzens Trug weissagen“.[9] Die Lüge, so Jeremia, wird dazu verbreitet, damit sie Vergessen bewirkt: „27und wollen, dass mein Volk meinen Namen vergesse über ihren Träumen, die einer dem andern erzählt, so wie ihre Väter meinen Namen vergaßen über dem Baal?“ Der hebräische Text lässt einen gewissen semantischen Spielraum bei der Übersetzung ins Englische oder Deutsch. Dennoch gibt Löwenthal einen Wink auf ein sehr altes rhetorisches Verfahren, das eine faktische Wahrheit in eine oft offensichtliche Lüge verkehrt. Donald Trump hat erwiesenermaßen tausendfach während seiner Präsidentschaft gelogen, dennoch oder gerade deshalb haben ihn ca. 70 Millionen Amerikaner*innen gewählt.

Die Lüge lässt sich nicht nur als äußerst wirksame Rhetorik analysieren. Sie wird nach Clavey von Löwenthal und Guterman methodisch ebenso mit der Psychoanalyse nach Sigmund Freud und Erik Erikson kombiniert, um zu erklären, „how the agitator’s material activated “unconscious mechanisms” in followers’ minds, reinforcing deep-seated fears, manipulating their behavior, and diminishing their abilities to think and act independently“.[10] Obwohl die Forscher ihre Methode als „frankly experimental“ erklärt hätten, sei es ihnen möglich geworden, zu erklären wie Agitatoren ihre Zuhörer und Leser zu „followers“ transformierten, indem sie das Gespenst (specter) eines existentiellen Feindes konstruiert und sich selbst als Führer etabliert hätten. Sie schufen allererst die Wahrnehmung einer feindseligen Welt (hostile world).[11] Anders gesagt: Es lässt sich leicht erkennen, dass die oft reproduzierten und keinesfalls neuen Narrative durch geschickte Kombination häufig äußerst intensive Gefühle erzeugen, die die gesamte Wahrnehmung verändern. Die Benennung und Beschreibung von Ängsten – „deep-seated fears“ – nimmt dabei eine entscheidende Funktion ein. Ich werde auf die Funktion der Ängste zurückkommen.

Die Funktion der Lüge hat Slavoj Žižek in Anknüpfung an Lacan einmal genauer mit dem Fetisch beschrieben. Der Fetisch sei effektiv eine Art Umkehrung des Symptoms. „That is to say, symptom is the exception which disturbs the surface of the false appearance, the point at which the repressed truth erupts, while fetish is the embodiment of the Lie which enables us to sustain the unbearable truth”. Der Fetisch sei die Verkörperung der Lüge, welche es uns ermöglicht, die unerträgliche Wahrheit aufrecht zu erhalten, heißt, dass in Bezug auf die Verschwörungstheorien der Agitator oder politische Anführer wie etwa Donald Trump zum Fetisch gemacht wird, um es einmal so zu formulieren. Žižek führt als Beispiel den Tod einer geliebten Person an: „when I „repress“ this death, I try not to think about it, but the repressed trauma persists and returns in the symptoms. (…)” Wenn der Tod der Person als Trauma geleugnet oder verdrängt wird, dann kehrt er in den Symptomen für das Ich wieder.[12]

Žižek formuliert, wie der Fetisch bzw. die Fetischisierung genau die gegenteilige Funktion zu Leugnung oder Verdrängung erfüllt. Der Fetisch kann eine sehr konstruktive Rolle einnehmen, damit wir mit der besonders krassen Realität zurecht zu kommen. Wenn der Hinterbliebene von den schrecklichsten Momenten des Sterbens in einer besonders kalten und klaren Weise spricht, dann klammert sich das Ich an den Fetisch. Das Trauma leitet sozusagen die Fetischisierung ein. Anders als bei Löwenthal und Guterman spricht Žižek allgemeiner vom Trauma, obwohl der Tod eines geliebten Menschen selbstverständlich eine soziale oder gesellschaftliche Katastrophe sein kann oder ist. Mit Žižeks Worten:
„In the case of a fetish, on the contrary, I „rationally“ fully accept this death, I am able to talk about her most painful moments in a cold and clear way, because I cling to the fetish, to some feature that embodies for me the disavowal of this death. In this sense, a fetish can play a very constructive role of allowing us to cope with the harsh reality: fetishists are not dreamers lost in their private worlds, they are thoroughly „realists,“ able to accept the way things effectively are – since they have their fetish to which they can cling in order to cancel the full impact of reality.”[13]

Der Modus der Wiederholung lässt sich als ein wesentliches Element in „den verschiedenen Agitationstexten“ nach Löwenthal und Guterman identifizieren. Als „Agitationsmaterial“ dienten ihnen „Flugschriften, Zeitschriften und Reden“ im damals neuartigen Medium Radio. Doch „(i)n den weitaus meisten Fällen könnten die in diesem Buch verwandten Zitate ohne weiteres als ständig sich wiederholende Themen im Agitationsmaterial gefunden werden.“[14] Was die Autoren Agitation nennen, beschreiben sie „als Manifestation tiefliegender sozialer und psychologischer Trends“.[15] Trends lassen sich nur durch Wiederholungen erkennen. Löwenthal und Guterman haben vor allem die Beschreibung der Juden in den Texten als Konstruktion des Antisemitismus untersucht. Der Antisemitismus der Corona-Leunger unterdessen ist so diskret, dass ihn sogar jüdische Bürger*innen nicht erkennen oder partout übersehen wollen. Doch was Löwenthal über die „Sprache des Agitators“ schreibt, lässt sich der Struktur nach leicht in aktuelle Verschwörungstheorien übertragen.
„In der Sprache des Agitators gewinnt die Vorstellung vom Auserwähltsein der Juden eine negative Bedeutung. Die „geheimnisvollen Wurzeln des jüdischen Schicksals“, von denen die Theologen sprechen, werden als ausgeklügeltes jüdisches Komplott gedeutet; die Besonderheiten des jüdischen Intellekts gelten als jüdische Rücksichtslosigkeit und Gerissenheit; die kompromißfeindlichen messianischen Zielvorstellungen werden als verbrecherischer Vernichtungswillen gegen die nichtjüdische Welt ausgelegt. Ehrfurcht und Bewunderung verwandelt der Agitator in Furcht, Neid und Haß.“[16]

Löwenthal beschreibt sprachliche Operationen der Verkehrung, aus denen Antisemitismus und Verschwörungstheorien gemacht werden. Das zentrale Narrativ in Form des Gerüchts von QAnon sind die das Blut von Kindern trinkenden Mächtigen. Kinder und Schwangere nehmen eine entscheidende Funktion für die die Pandemie leugnenden Verschwörungstheoretiker ein. Die Machtlosesten werden von den Verschwörern misshandelt, gequält und getötet, um selbst an Macht zu gewinnen. Das setzt erhebliche Emotionen frei. Immer wieder wird von Teilnehmerinnen auf Corona-Demonstrationen die schwere Misshandlung der Kinder durch die Aufforderung zum Tragen von Mund-Nasen-Bedeckungen artikuliert und kolportiert. Insofern wäre die Wiederholung der immer gleichen Lügen wie bei QAnon keine Ausnahme, vielmehr gehört sie zur Struktur der Agitation oder Verschwörungstheorien. Denn der- oder diejenige, der sich der Verschwörungstheorie angeschlossen hat, will sie wiederholt hören, indem der/die andere sie ebenfalls ausspricht. Auf diese Weise lässt sich verstehen, dass der das Tragen einer Maske in der Bäckerei verweigernde Corono-Leugner die Verkäuferin und Frau des Bäckers, die allein im Laden bedient, davon überzeugen will, dass sie keine Mund-Nasen-Bedeckung tragen soll. Man könnte das einen regelrechten Wiederholungszwang des sich selbst als frei von Angst wahrnehmenden Leugners beschreiben.

Das Aussprechen bzw. die Artikulation der Verschwörungstheorie als „mein“ Wissen nimmt z.B. für die Trump-Anhänger hinsichtlich einer amtlich widerlegten gestohlenen Wahl eine nicht nur verbindende Funktion ein. Sie wollen alle Anderen zwingen, ihre Lüge als Wahrheit zu übernehmen. Roland Barthes hat einmal in seiner Antrittsrede am College de France formuliert, dass Faschismus nicht heiße, am Sagen hindern, sondern dass das Zum-Sagen-zwingen faschistisch sei. Insofern sind Verschwörungstheorien nicht zufällig faschistisch, vielmehr liegt es in ihrer Struktur wie etwa beim Kunden in der Bäckerei, der die ihm hilflos ausgelieferte Verkäuferin zwingen will, die Maske abzunehmen und damit zu sagen, dass sie nicht an die Covid-19-Pandemie glaube. Im Hintergrund läuft ein unausgesprochenes Machtspiel als Narrativ ab, dass davon ausgeht, dass die Frau erstens keinen Kunden verlieren will und befürchten muss, dass durch eine sogenannte Mundpropaganda weitere Kunden ausbleiben könnten. Zweitens muss die Bäckersfrau befürchten, dass der erregte Corona-Leugner ihre Schaufensterscheibe beschmiert oder einschmeißt, wenn sie auf das Tragen der Maske besteht. Die Bäckersfrau erzählte mir eben jene Befürchtungen, die der Corona-Leugner selbstverständlich weiß.

Was ist Angst? Wie lässt sich z.B. mit der Angst vor einer ungewollten Infektion mit Sars-Cov-2 umgehen? Bin ich ängstlich, wenn ich meine Kontakte zu Bekannten, Freunden und Familie einschränke, weil die Bundesregierung und die Landesregierungen angesichts der dynamischen Epidemie und den entsprechenden Infektionszahlen in Deutschland zur Kontaktbeschränkung auffordern, Bußgelder verordnen und von der Nutzung des Öffentlichen Personennahverkehrs abraten? Gerald Hüther hat laut seiner Website Anfang Oktober 2020 bei Vandenhoeck & Ruprecht Wege aus der Angst. Über die Kunst, mit der Unvorhersehbarkeit des Lebens umzugehen veröffentlicht.[17] Der Vertrauen erweckende Titel mit der Bildungsgeste einer Anknüpfung an die Kunst des Lebens spricht aufgeschlossene Leser*innen an, die sich womöglich mit ihren Ängsten konstruktiv befassen möchten. Ein gewisser Bildungshorizont wird insofern vorausgesetzt und angesprochen. Gerald Hüther kann man einen Spitzenwissenschaftler nennen, weil er vor einigen Jahren in das Heisenberg-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft aufgenommen worden war. Er hatte also die Möglichkeit erhalten, sich an einem universitären Forschungsinstitut anzudocken und binnen fünf Jahren mit einem Volumen über 500.000 € für eine ordentliche Professur in seinem Fach der Neurobiologie zu qualifizieren. Nur die Besten werden in das DFG-Programm aufgenommen. Hüther hat wiederholt über Angst publiziert und seit 19. April 2020 mindestens zwei Videos zum Thema Angst auf YouTube hochgeladen. Gleich am 28. März 2020 äußerte sich Hüther in einem Gespräch mit Michel Friedmann zu Angst während der Covid-19-Pandemie.[18]

Gerald Hüther kommt nach einer kurzen Anmoderation sofort auf die Kinder zu sprechen, um die „Folgeschäden“ des Lockdowns zu illustrieren, was gewiss kein Zufall ist: „Ich nehme mal so, was ganz einfach ist, dass es Unmengen von Kindern gibt, die normalerweise mit ihren Müttern, wenn sie von den Vätern geprügelt und geschlagen werden, die dann in solche Frauenhäuser gehen können. Die sind alle zu. Das hat mit Ökonomie gar nichts zu tun. Wo sollen denn die jetzt eigentlich hin? Wo soll ein Mensch, der völlig ratlos ist, jetzt finden?“[19] Die Transkription der mündlichen Rede über Zoom etc. wurde in der Syntax nicht normalisiert. Vielmehr wird auf diese Weise in der mündlichen Rede das willkürliche Aufrufen der „Kinder“ als Zeugen deutlich. Häusliche Gewalt, die durch einen Lockdown hätte zunehmen können, wird nicht erklärt, sondern syntagmatisch offen assoziiert. Mit Löwenthal lässt sich sagen, dass bei den Zuhörer*innen vom Agitator hängenbleiben sollte: „Mein Gott, die armen Kinder!“ Auf seiner Website kündigt der bekannte Neurobiologe zur „Angstforschung“ mit einer gewissen sprachlichen Elastizität sein neues Buch an:
„Das Schüren oder Beschwichtigen von Angst ist also gezielt zur Durchsetzung eigener Interessen und Absichten einsetzbar. Diese Instrumentalisierung der Angst macht Menschen abhängig und manipulierbar, beraubt sie ihrer Freiheit. Deshalb beschreibt Gerald Hüther in diesem Buch auch nicht, wie wir uns von der Angst befreien, sondern was wir tun können, um nicht zu Getriebenen der von anderen Menschen oder Interessengruppen geschürten Ängste zu werden.“[20]

Gegenüber dem Versprechen eines lebenspraktischen Umgangs mit Angst im Titel, wird nun die Angst ins Machtpolitische verschoben. Hätten wir erwarten dürfen, etwas über die neurobiologischen Wirkungsweisen von Angst im Gehirn erfahren zu dürfen, so geht es nun um eine politische „Instrumentalisierung der Angst“. Die therapeutische Praxis wird politisch, weil „wir uns von der Angst befreien“ müssen, die von anderen „Menschen oder Interessengruppen geschürt()“ wird. Die vermeintlich naturwissenschaftlich begründete methodologische Wende zur Gesellschaftspolitik wird von Hüther denn auch im darauffolgenden Absatz als entscheidende und positive Neuerung in einem großen Bogen zwischen Klima- und Epidemiepolitik herausgestellt.
„Es ist das gesellschaftspolitisch brisanteste Buch, das Gerald Hüther bisher veröffentlicht hat. Es erklärt nicht nur, weshalb so viele Menschen nichts tun, um das Überleben unserer Spezies auf diesem Planeten angesichts der vielen, real existierenden Bedrohungen zu sichern. Es macht auch verständlich, weshalb bereits die bloße Vorstellung von der Gefährlichkeit eines Virus uns Menschen in Angst versetzt und zu willfährigen Befolgern behördlich verordneter Rettungsprogramme macht.“[21]

Michel Friedmann hatte im März noch mit Hüther über die Funktion von Vertrauen in die Politik und die Politiker gesprochen. Einige Monate später geht es um eine Wissensformation, die als falsch und interessengeleitet denunziert wird, weil „die bloße Vorstellung von der Gefährlichkeit eines Virus uns Menschen in Angst versetzt und zu willfährigen Befolgern behördlich verordneter Rettungsprogramme macht“. Mit Angst und Schrecken zu regieren, heißt Terror, weshalb Corona-Leugner von „Corona-Terror“ sprechen. Doch damit wird Zahlen-Wissen per se zu Terror erklärt. Die Leugnung des Virus setzt auf diese Weise einen vermeintlich berechtigten Widerstand, eine Art staatsbürgerlichen Ungehorsam frei. Leider ist dieser Ungehorsam seit einigen Wochen so letal, dass die Intensivbetten in den Kliniken nahezu überbelegt sind. In der Schweiz, Italien, Frankreich, Belgien, Spanien und den Niederlanden ist die Intensivversorgung an ihre Grenzen gestoßen, so dass das „Virus“ nicht nur gefährlich, sondern tödlich ist. Auf eine grundlegende Analyse der Angsttexte von Gerald Hüther kann hier verzichtet werden, weil sich schon an den zitierten Passagen abzeichnet, dass es hier nicht um Wissenschaft oder Neurobiologie geht, wohl aber um Narrative, die bereits Leo Löwenthal und Norbert Guterman als Repertoire der, wie sie es nannten, Agitatoren analysieren konnten.

Torsten Flüh


[1] Leo Löwenthal: Falsche Propheten. Studien zur faschistischen Agitation. In: ders.: Untergang der Dämonologien. Studien über Judentum, Antisemitismus und faschistischen Geist. Leipzig: Reclam 1990, S. 144.

[2] Thomas Assheuer: Hier walten geheime Kräfte. In: DIE ZEIT Nr. 41/2020, 1. Oktober 2020 (Online 4. Oktober 2020, 12:57)

[3] Charles H. Clavey: Donald Trump, Our Prophet of Deceit. In: Boston Review. A Political and Literary Forum October 20, 2020.

[4] Siehe: destatis – Statistisches Bundesamt: Über uns: Geschichte.

[5] Ebenda Inhalt.

[6] Siehe auch: Torsten Flüh: Der Geist der Zahl. Über Zahlen in Zeiten der Pandemie und im Roman Die Pest von Albert Camus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. April 2020.

[7] destatis – Statistisches Bundesamt: Corona-Statistiken.

[8] Charles H. Clavey: Donald … [wie Anm. 3].

[9] Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.): Die Bibel. Nach Martin Luthers Übersetzung. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 2016.

[10] Charles H. Clavey: Donald … [wie Anm. 3].

[11] Ebenda.

[12] Slavoj Zizek: Self-Deceptions. On Being Tolerant and Smug. Zuerst in: Die Gazette. Israel, 27 August 2001. In: Lacan.com.

[13] Ebenda.

[14] Leo Löwenthal: Falsche … [wie Anm. 1] S. 145.

[15] Ebenda.

[16] Ebenda S. 168.

[17] Gerald Hüther: Mediathek: Buchmanuskript.

[18]  MICHEL FRIEDMAN CORONA-SPEZIAL: Neurobiologen Gerald Hüther zu ANGST in der Covid-19-Isolation. YouTube: WELT Nachrichtensender 28.03.2020.

[19] Eigene Transkription nach ebenda.

[20] Gerald Hüther: Mediathek … [wie Anm. 17].

[21] Ebenda.

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