Zahlen – Intelligenz – Epidemie
Der Geist der Zahl
Über Zahlen in Zeiten der Pandemie und im Roman Die Pest von Albert Camus
Zahlen üben derzeit eine ungemeine Faszination aus. Täglich werden bisweilen mehrmals jüngste Zahlen zur Ausbreitung von COVID-19 veröffentlicht. Große Zahlen im Ranking der am Schlimmsten betroffenen Länder, besonders die Todeszahlen faszinieren am meisten, um Angst und Schrecken, bisweilen Unglauben oder gar eine leichte Häme auszulösen. Am 28. April erreichten, um nicht konkurrenzlogisch zu sagen, knackten die USA die Grenze von einer Million Corona-Infizierten. Eine Nachricht. Die immer neuen Zahlen, die mehr und mehr aufgeschlüsselt werden – „Weltweit“, „Deutschland“, „Bei Ihnen“, „Krankenhäuser“, „Die Covid-19-Pandemie im Schnellüberblick“, „Reproduktionszahl“ … –, verwandeln Menschen in Zahlen und Zahlen in Emotionen ebenso wie Wissen. Mit sinkenden oder steigenden Zahlen wird argumentiert und Politik gemacht. Doch nicht nur das, die Zahlen der Pandemie führen zu einer Umwertung der Werte, wenn es beispielsweise um die sogenannte „Schwarze Null“ im Bundeshaushalt geht.
Die Zahlen, nach denen in Deutschland seit mehr oder weniger 6 Wochen gehandelt wird, sind gespenstisch. Sie sind, wie bereits mehrfach erinnert und wiedergelesen wurde, ein Wiedergänger von Albert Camus‘ Roman Die Pest. Die „große Zahl“, die „Unzahl“ und das Zahlreiche kommen häufig im Roman in der Übersetzung von Uli Aumüller vor. Die Pest ist ein Kampf gegen die Zahlen und um die Zahlen. Schließlich entscheidet die Erzählerfigur Dr. Rieux gegen die „zahlreicher“ werdenden „bunten Sträuße am Himmel“, „den Bericht zu verfassen“, weil er ein „Zeugnis“ für diese Pestkranken „ablegen und wenigstens ein Zeichen zur Erinnerung an die ihnen zugefügte Ungerechtigkeit und Gewalt hinterlassen“ will.[1] Was weiß der Roman Die Pest von den Zahlen? Wie werden sie zum Medium des Wissens? Was lässt die Fixierung auf Zahlen indessen verschwinden, so dass Albert Camus‘ Arzt Bernard Rieux mit seinem „Bericht“ dagegenhalten will? Was verrät die Nachträglichkeit des Berichtes?
Der Arzt Dr. Bernard Rieux wird zu einem Überlebenden. Viele Ärzte, Krankenschwestern und Krankenpfleger in der Volksrepublik China, in Italien, Großbritannien und den USA etc. haben schon jetzt die Pandemie nicht überlebt. Sie sind an COVID-19 verstorben. Einzelne Geschichten bilden Blasen wie in einem Schlamm der großen Zahlen und steigen auf in die Nachrichten der globalen Medien. Einmal wurde in vielen Medien das Schicksal der italienischen Medizinstudentin Lorena Quaranta kolportiert, die von ihrem Freund erdrosselt wurde, weil sie in den Epidemie den Kranken helfen wollte und er davon ausging, dass sie ihn angesteckt habe.[2] Konnte er wirklich wissen, dass sie ihn mit dem Virus infiziert hatte? Wie verwandelt sich die Ursachenfragen in eine Mordtat? Was hatte sich Antonio alles erzählen müssen, um Lorena zu erdrosseln?
Anders als bei Albert Camus „194. in Oran“[3] herrscht derzeit eine Pandemie mit anderen und doch oft ähnlichen Effekten. Camus lässt offen, in welchem Jahr genau sein Roman spielt, und gibt damit zugleich einen Wink, dass der fiktive Bericht an keinen genauen Zeitpunkt gebunden ist. Zugleich wird La Peste noch 1947 veröffentlicht, wodurch eine temporale Unsicherheit entsteht. Ist sie bereits beendet? Oder dauert die Epidemie noch an, obwohl im Erzähltempus des Präteritums berichtet wird? Dieser Bericht bzw. „cette chronique“[4] wird temporal in einer bemerkenswerten Gegenwärtigkeit situiert. Erst am Schluss erklärt Dr. Rieux, wofür er seine „chronique“ geschrieben hat. Im Französischen überschneiden sich zudem das Substantiv chronique als Chronik oder Kolumne in einer Zeitung mit dem Adjektiv chronique als z.B. ein andauerndes Leiden.
Mehrere Leser wie der heute-journal-Moderator Claus Kleber lasen schon in der zweiten März-Hälfte Die Pest als Buch der Stunde. Es sei der Kampf eines Arztes gegen die Epidemie, der im Roman beschrieben werde. Am Ende wird die Pest in Oran besiegt, was mit einem Siegesfest wie nach einem Krieg gefeiert wird. Die Epidemie und der Krieg werden von Camus wiederholt aufeinander bezogen. Doch das Messen der Toten zieht sich quasi thematisch und poetologisch durch den Roman. Im Deutschen schwer zu übersetzen ist u.a. die Schlussformulierung „à mesure que les gerbes multicolores s’élevaient plus nombreuses dans le ciel“.[5] Das Messen (mesure) der zahlreicher werdenden (plus nombreuse) vielfarbigen Garben betont das Paradox der Darstellung durch Zahlen in zweifacher Hinsicht. Wie in der schrecklichen Epidemie machen die messbar zahlreicher werdenden vielfarbigen Garben (les gerbes) in ihrem Doppelsinn von Getreidebündeln und Abschüssen den Jubel sichtbar, um die einzelnen Toten verschwinden zu lassen.
Ein Pestausbruch, wie er von Albert Camus als Geschehen erzählt wird, hat so in Oran nicht stattgefunden. Das ist deshalb, wichtig zu bemerken, weil Leser*innen den Text häufig als Chronik und Wissen vom Verlauf der aktuellen Pandemie von COVID-19 verstehen. Die Pest ist eine fiktive Chronik, die unterschiedliche Quellen der Literatur zur Pest und Epidemie verarbeitet. 1943 hatte Raoul Maria de Angelis in Mailand den Roman La peste a Urana veröffentlicht. Doch der 304seitige Roman ist und war vermutlich schwer zu erreichen.[6] Gleichwohl hat Camus medizinische und epidemiologische Literatur verarbeitet. In einer entscheidenden Passage knüpft er an den spätantiken Historiker Prokopios von Caesarea an, dessen Geschichte der Persischen Kriege eine ausführlichere Passage zur Pest um 542 enthält, worauf zurückzukommen sein wird. Ferner erkrankte Camus 1932 an einer Tuberkulose, die ihn mit dem infektio- wie epidemiologischen Wissen konfrontiert haben dürfte. Doch der Roman hebt entschieden die Nachträglichkeit des Wissens als Geschehen – „« Ceci est arrivé »“[7] – hervor.
„Später begriffen wir, daß es Vorboten der ernsten Begebenheiten waren, von denen wir hier berichten wollen; sie werden den einen ganz natürlich, den anderen hingegen unwahrscheinlich vorkommen. Aber schließlich kann sich ein Chronist nicht auf solche Widersprüche einlassen. Seine Aufgabe ist es einzig, zu sagen: «Das ist geschehen», wenn er weiß, daß es wirklich geschehen ist, daß es das Leben eines ganzen Volkes anging und es also Tausende von Zeugen gibt, die in ihrem Herzen die Wahrheit des Gesagten ermessen können.“[8]
Im Roman kommen wie in dieser Eröffnungssequenz Zahlen und Zahlbegriffe häufig vor. Es werden nicht einzelne oder wenige „Zeugen“ aufgerufen, sondern „Tausende“, die die „Wahrheit des Gesagten ermessen“ oder schätzen werden („estimeront“) können. Damit kündigt sich bereits eine gewisse nummerische Logik des Romans an. Das Messen und Schätzen mit Zahlen regelt gewissermaßen die Epidemie und das Wissen von ihr. Gleichwohl bleibt dieses empirische Wissen strikt nachträglich, wie sich zeigen wird. Es kann eine Krux des Wissens von der Epidemie genannt werden, weil die nachträglichen Zahlen mit dem Wunsch nach einer Prognose verknüpft werden. Die Zahlen von Gestern sollen Auskunft darüber geben, was morgen passieren wird. In einer Epidemie wird die Krux besonders stark, weil sie mit einem Leiden an der Zahl verbunden wird. Die Epidemie kündigt sich zunächst mit einer „Unzahl toter Ratten“ – „la quantité de rats morts“[9] – an. Was sich nicht in Zahlen fassen lässt, macht Angst.
„Der Arzt gab ihm die Hand und bemerkte, er könnte einen eigenartigen Bericht schreiben über die Unzahl toter Ratten, die man gegenwärtig in der Stadt finde.“[10]
Die große Zahl oder „grand nombre“[11] wird zu einer Schnittstelle des Wissens von der Epidemie. Ähnlich wie die Unzahl benennt die große Zahl das Aussetzen der Messbarkeit. An der großen Zahl, die nicht oder nur schwer beziffert werden kann, scheitert das Verständnis zumindest im Roman Die Pest, während aktuell die großen Zahlen ein Verstehen-wollen provozieren, weil sie durch weltweite Datenakkumulation vor allem vom Center of Systems Science and Engineering (CSSE) an der Johns Hopkins University erstellt werden. Die Forschungsgruppe des Center’s Systems ist ein offenbar führender Zusammenschluss der Fakultäten „Engineering, Public Health and Medicine“ mit dem gemeinsamen Interesse, „systems methods“ zu nutzen, um komplexe Probleme zu verstehen.[12] Doch zuvor wird das Problem der großen Zahl im Roman genauer mit den Ratten angeschrieben.
„Immerhin telefonierte Rieux mit dem städtischen Entrattungsdienst, dessen Direktor er kannte. Hatte er schon von den Ratten gehört, die in großer Zahl ins Freie kamen und starben? Direktor Mercier hatte davon reden hören, man hatte sogar in seinen eigenen Diensträumen in der Nähe des Meeres über fünfzig Stück gefunden. Doch fragte er sich, ob das Ganze ernst zu nehmen sei. Rieux wußte es nicht, aber er war dafür, daß der Entrattungsdienst einschreite.“[13]
Wie Heinrich von Kleist in seinen Berliner Abendblättern beschreibt auch Albert Camus in seinem Roman das Entstehen von Gerüchten und Nachrichten, für die er die mehrdeutige Agentur Ransdoc „(renseignements, documentation, tous les renseignements sur n’importe quel sujet)“[14] erfindet. Diese Nachrichten-Agentur für Auskünfte, Hinweise, aber auch Belehrungen (renseingements), Dokumentation, alle Informationen zu jedem Thema trägt ironische Züge in ihrem Namen. Sie erklärt sich für alles zuständig und weiß von nichts. Sie gibt aber eine aberwitzig genaue Zahl von „six mille deux cent trente et un rats“[15] an, als ob irgendjemand die große Zahl gezählt hätte.
„Die Sache ging so weit, daß die Agentur Ransdoc (Informationen, Nachweise, Auskünfte auf allen Gebieten) in ihrer Rundfunksendung «Unentgeltliche Nachrichten» bekanntgab, daß am 25. April allein 6231 Ratten eingesammelt und verbrannt worden waren. Diese Zahl gab dem täglichen Schauspiel, das die Stadt vor Augen hatte, einen klaren Sinn und vermehrte die Verwirrung. Bis jetzt hatte man sich über einen etwas widerwärtigen Zwischenfall beklagt. Nun merkte man, daß das Geschehen, dessen ganze Tragweite noch nicht abzusehen war und dessen Ursprung unerklärlich blieb, etwas Bedrohliches hatte.
… am nächsten Tag verkündete die Agentur, die Erscheinung habe unvermutet aufgehört, und der Entrattungsdienst habe nur noch eine ganz unbedeutende Anzahl toter Ratten eingesammelt.“[16]
In Bezug auf die große Zahl in den Nachrichten benutzt Albert Camus auf einmal die Ironie, um sie in den Nachrichten als geradezu fragwürdig erscheinen zu lassen. Man müsste tatsächlich Sechs-tausend-zwei-hundert-dreißig-und-eine Ratte übersetzen, um die Komik der Zahl zur Geltung zu bringen. Im Deutschen verschwindet die eine Ratte fast in der Einunddreißig. Wenn die große Zahl in Bezug auf die Ratten ausgeschrieben wird, die sonst mit Schaufeln beseitigt worden waren, dann wird sie nicht nur komisch im Sinne von unheimlich oder „etwas Bedrohliches“, sondern geradezu lächerlich. Für die epidemiologische Erzählung gibt das einen Wink, der Camus nicht ganz unwichtig war. Die mit der genauen Zahl versprochene Beherrschbarkeit als Zählbarkeit des großen Unerklärlichen verrät sich als Fiktion in ihrer Lächerlichkeit. Die Zahl „gab dem täglichen Schauspiel, …, einen klaren Sinn und vermehrte die Verwirrung“, formuliert Camus. Das Paradox der epidemiologischen Zahl von Sinn und Verwirrung widerspricht nicht zuletzt der Intelligenz aus Zählen, Messen und Schätzen.
In der Epidemie-Erzählung nehmen die Hefte (carnets)[17] von Jean Tarrou eine wichtige, ergänzende Funktion ein. Camus stellt auf diese Weise einen multiperspektivischen Blick in der „Verwirrung“ her. Tarrou ordnet in seinen Heften seine Beobachtungen nicht nach einem Wissen von der Epidemie, vielmehr schreibt er „die Geschichte dessen (…), was keine Geschichte hat“. Im Unterschied zum Medizinwissen des berichtenden Arztes will er Historiker dessen werden – „à se faire l’historien de ce qui n’a pas d’histoire“ –, das keine Geschichte hat. Das Bizarre (la bizarrerie) in „große(r) Zahl nebensächlicher Einzelheiten“ in den Heften Tarrous macht keinen Sinn, um sich dennoch zu einer Geschichte zu verdichten.
„Auf den ersten Blick könnte man glauben, Tarrou sei darauf bedacht gewesen, die Menschen und Dinge durch eine Art Verkleinerungsglas zu betrachten. Kurz, er bemühte sich, in der allgemeinen Verwirrung die Geschichte dessen zu schreiben, was keine Geschichte hat. Diese vorgefaßte Absicht kann man gewiß bedauern und darin Herzlosigkeit vermuten. Das hindert aber nicht, daß diese Tagebuchblätter zu einer Chronik jener Zeit eine große Zahl nebensächlicher Einzelheiten beitragen können, die immerhin ihre Bedeutung haben und deren Absonderlichkeit einen davor bewahren wird, voreilig über diese interessante Gestalt zu urteilen.“[18]
Albert Camus stellt in seinem Roman mit der Multiperspektivität und dem Bizarren insbesondere eine Erzählung von der Leere her. Tarrou erzählt von Lebenspraktiken, Ereignissen oder Gewohnheiten, die in ihrer Eigensinnigkeit ins Leere gehen. Was als Lebenspraxis höchste Bedeutung angenommen hat, muss, obwohl es ins Leere geht, wiederholt werden. Sehr genau wird die Geschichte des „Männchen(s)“ beschrieben, der die Katzen anlockt, um sie zu bespucken. Doch dann kommen keine Katzen mehr. Woraufhin Tarrou in sein Heft notiert:
„Heute ist das Männchen von gegenüber ganz verblüfft. Es gibt keine Katzen mehr. Sie sind tatsächlich verschwunden; die toten Ratten, die man in großer Zahl auf der Straße findet, haben sie aufgeregt. Meiner Meinung nach kommt es nicht in Frage, daß Katzen tote Ratten fressen. Ich erinnere mich, daß meine das verabscheuten. Dennoch rennen sie wohl in den Kellern umher, und der Alte ist fassungslos. Er ist weniger sorgfältig gekämmt, sieht weniger kräftig aus. Man spürt seine Beunruhigung. Er ist nach kurzer Zeit wieder hineingegangen. Aber einmal hat er doch gespuckt, ins Leere.“[19]
Das Bizarre trägt Züge des Automatischen. Das Leben läuft in Oran wie von selbst, so dass Tarrou unbedeutende ebenso wie undeutbare Störungen aufgreift, die sogleich beseitigt werden. Der Automatismus des städtischen Lebens wird nicht zuletzt mit einer Szene aus der Straßenbahn von Tarrou/Camus angeschrieben. Zu erinnern ist dabei an die Eigentümlichkeit der Straßenbahn oder Tram, dass sie immer in den gleichen Gleisen ihre Strecken fährt. Anders als das Freiheit verheißende Auto bleibt die Tram immer in den Gleisen, die allein durch Weichenstellungen verändert werden können. Die Gleichförmigkeit der automatischen Wiederholung erfordert, dass Störungen unverzüglich beseitigt werden, um wie aktuell häufig zu hören ist, z.B. Berlin oder Deutschland am Laufen zu halten.
„In der Stadt hat man heute einen Wagen der Straßenbahn angehalten, weil eine tote Ratte entdeckt wurde, die auf unbekannte Weise dort hineingelangt war. Zwei oder drei Frauen sind ausgestiegen. Die Ratte wurde entfernt. Der Wagen ist weitergefahren.“[20]
Es sind gerade Tarrous, sagen wir ruhig, existentialistische Beobachtungen und Notizen, die aktuell im Modus der Wiederholung Züge des Gespenstischen annehmen. Wie hat Albert Camus das epidemiologische Geschehen in Die Pest so genau beschreiben können, dass permanent von Konflikten erzählt wird, als stammen sie aus den letzten Tagen? Die Einmischung der Zeitungen sowie der Druck auf Stadtverwaltung und Politiker erinnert mit „Rattengeschichten“ nur allzu verstörend an Corona-Geschichten. In der Epidemie, müsste man womöglich sagen, kommen eingeübte Narrative wie die Ratten aus ihren Löchern, während mit großer Leidenschaft fast jede/r glaubt, von sich selbst zu sprechen.
„Trotz dieses schönen Beispiels redet man in der Stadt viel von der Rattengeschichte. Die Zeitungen haben sich eingemischt. Die lokale Chronik, die für gewöhnlich sehr abwechslungsreich ist, beschäftigt sich jetzt ausschließlich mit einem Feldzug gegen die Stadtbehörden. <Sind sich unsere Stadtväter bewußt, welche Gefahr die verwesten Nagetiere bedeuten können?> Der Hoteldirektor kann von nichts anderem mehr sprechen. Das kommt auch daher, daß er sich ärgert. Es ist ihm unfaßlich, daß man Ratten im Aufzug eines anständigen Hotels finden kann. Um ihn zu trösten, sagte ich ihm: <Aber es geht doch allen gleich.> <Eben>, antwortete er, <jetzt sind wir wie die anderen.> …
<Aber es ist ganz sicher nicht ansteckend>, hob er mit Nachdruck hervor. Ich sagte ihm, das sei mir gleich.
<Ach so. Der Herr ist wie ich, der Herr ist Fatalist.> Ich hatte nichts dergleichen behauptet, und übrigens bin ich nicht Fatalist. Ich habe es ihm gesagt …»[21]
Die Rattengeschichte wird in der Geschichte der Pesttoten bereits bei Camus wiederholt. Was sich bei den Ratten als Strategie noch als schwierig, wenn nicht gar bei der Sechs-tausend-zwei-hundert-dreißig-und-einen Ratte ins Komische gekippt war, kehrt nun als notwendiges „Zusammenzählen“ wieder. Durch das Addieren – „L’addition était consternante.“[22] – wird auf eine Vervielfältigung geschlossen, die das Wissen einer „regelrechte(n) Epidemie“ generiert. Das epidemische Wissen lässt sich nicht leugnen, weil es aus einer Dynamik der Zahlen besteht. Das ist für das Subjekt in der Moderne zutiefst kränkend, weil es meinte, die Zahlen beherrschen zu können. Doch in der Epidemie beherrschen die Zahlen das Subjekt und seine Freiheit.
„Aber schließlich genügte es, daß einer ans Zusammenzählen dachte. Das Ergebnis war beängstigend. In kaum ein paar Tagen vervielfältigten sich die tödlich verlaufenden Fälle, und denen, die sich mit dieser merkwürdigen Krankheit befaßten, wurde es ganz klar, daß es sich um eine regelrechte Epidemie handelte.“[23]
Für René Descartes dienen „die Dauer und die Zahl“ der Selbstvergewisserung als „Vorstellung meiner selbst“. Wenn das Ich „verschiedene Gedanken“ zählen kann, vermisst es sich in seinen Gedanken quasi selbst. Für das Subjekt der Moderne wird die Zahl geradezu existentiell, weil es sich selbst darüber in seinem Denken bestätigt findet. Es wird über „die Dauer und die Zahl“ berechenbar, womit sich der moderne Intelligenzbegriff ankündigt. Das im Denken aus sich selbst generierte Wissen von der Zahl wird bei Descartes „auf andere Gegenstände übertragen“. Anders gesagt: Wissen und seine Übertragung wird von Descartes als Verfahren der Ich-Konstruktion formuliert
„Was aber das Klare und Deutliche in den Vorstellungen der körperlichen Dinge anlangt, so kann ich Einzelnes von der Vorstellung meiner selbst entlehnt haben, nämlich die Substanz, die Dauer und die Zahl, und was sonst etwa dem ähnlich ist. (…) Ebenso wenn ich denke, dass ich jetzt bin und mich entsinne, dass ich auch früher eine Zeit lang bestanden habe, und wenn ich verschiedene Gedanken habe, deren Zahl ich bemerke, so gewinne ich die Vorstellungen der Dauer und der Zahl, die ich dann auf andere Gegenstände übertragen kann.“[24]
Die existentielle Funktion der Zahl für das Subjekt wird mit der Epidemie quasi außer Kraft gesetzt. Darin zeigt sich die Verwirrung durch jegliche Epidemie. Die Zahlen überrollen quasi das auf Zahlen und Zählen ausgerichtete Subjekt. Das machen nicht zuletzt die erstmals in der Geschichte der Epidemien global verfügbaren und akkumulierten Zahlen durch Lauren Gardner, Ensheng Dong und Hongru Du deutlich. Bereits am 17. Februar 2020 publizierten die Forscher*innen vom Center of Systems Science and Engineering (CSSE) der Johns Hopkins Universität ihr „interactive web-based dashboard to track COVID-19 in real time”, um am 19. Februar in The Lancet unter der Rubrik „Infectious Diseases“ ihre Methode zu erklären.
“The dashboard, first shared publicly on Jan 22, illustrates the location and number of confirmed COVID-19 cases, deaths, and recoveries for all affected countries. It was developed to provide researchers, public health authorities, and the general public with a user-friendly tool to track the outbreak as it unfolds. All data collected and displayed are made freely available, initially through Google Sheets and now through a GitHub repository, along with the feature layers of the dashboard, which are now included in the Esri Living Atlas.”[25]
Für die Johns Hopkins Universität und Lauren Gardner, die erst 2019 von der Universität New South Wales in Sidney, Australien, nach Baltimore, Maryland, USA, gewechselt war, ist das Echtzeit-Projekt des Dashboards ein globaler Erfolg. Denn mittlerweile benutzt „every major news outlet worldwide“ die so akkumulierten Daten und „more than 1 billion usage requests per day“ werden gestellt.[26] Als Echtzeit-Projekt unterläuft das Dashboard allerdings auch die Funktion der Dauer, wie Descartes sie für das Ich formuliert hatte. Die Zahlen werden permanent aktualisiert. Descartes‘ Ich wird mit ihnen davon gerissen. Was es gestern wusste, hat sich heute verschoben. Zwar wird es durch die Internet-Quellen wie durch die Meldungen der Gesundheitsämter und Kliniken an das Robert-Koch-Institut ebenfalls systembedingte Verzögerungen geben, doch schnell entflammte durch Journalisten die Frage, warum die Zahlen für Deutschland nicht mit denen des RKI genau übereinstimmten. Die Künstliche Intelligenz der Datenakkumulation, bei der die Daten immer noch von Menschen in Tabellen und Veröffentlichungen allerdings online eingetragen werden, generiert eine eigene Logik der Epidemie. Weil die Echtzeit immer auch den Verzögerungen von neuen Infektionen und ihrer Datenerfassung bis zu 14 Tagen unterliegt, bleibt die Aussagekraft der täglich neuen Zahlen elastisch, was gerade in einer Art Datenjournalismus auf Unverständnis stößt.
Albert Camus hat bereits vor mehr als 70 Jahren das Problem der großen Zahl mit einem Wink auf den spätantiken Geschichtsschreiber Prokopios von Caesarea plastisch erzählt. Die Künstliche Intelligenz kann heute zählen ohne Ende, während Prokop kaum zählen konnte. Doch Camus‘ Arzt hatte einen Sinn für die Vergeblichkeit des Zählens, wenn die Zahl zu groß wird. Abgesehen davon, dass Prokop nicht zählt, stellte er sich aber Fragen nach einer Theorie für die Epidemie und entwarf Bilder für die Überzahl an Toten. Dr. Rieux in Die Pest lässt die Zählungen und Berechnungen indessen ins Aberwitzige kippen.
„Aber was bedeuten hundert Millionen Tote? Wer den Krieg mitgemacht hat, weiß kaum noch, was ein Toter ist. Und da ein toter Mensch dann etwas wiegt, wenn man ihn tot gesehen hat, sind hundert Millionen über die Geschichte verstreute Leichen nichts als Rauch in der Einbildung. Der Arzt erinnerte sich an die Pest von Konstantinopel, der nach Prokop an einem Tag zehntausend Menschen zum Opfer gefallen waren. Zehntausend Tote, das macht fünfmal die Zahl der Zuschauer in einem großen Kino. Das sollte man tun. Man faßt die Besucher von fünf Kinos an den Ausgängen zusammen, führt sie auf einen Platz in der Stadt und läßt sie dort alle miteinander sterben, damit man wieder ein bißchen klarer sieht. Dann könnte man wenigstens ein paar bekannte Gesichter auf diesen namenlosen Haufen stecken. Aber das ist natürlich undurchführbar. Und wer kennt schließlich zehntausend Gesichter? Übrigens ist ja bekannt, daß Leute wie Prokop gar nicht zählen konnten. Vor siebzig Jahren waren in Kanton vierzigtausend Ratten an der Pest gestorben, ehe die Seuche sich mit den Menschen befaßte. Aber 1871 gab es keine Möglichkeit, die Ratten zu zählen. Man berechnete annähernd, summarisch. Die Wahrscheinlichkeit eines Rechenfehlers war groß. Wenn jedoch eine Ratte dreißig Zentimeter lang ist, ergäben vierzigtausend Ratten aneinandergereiht . . .“[27]
An der Epidemie und ihrem Geschehen scheitern schon nach Prokopios alle Theorien. Epidemien, selbst dann, wenn sie heute virologisch oder infektiologisch erklärt werden können, lassen sich, wie in der vorausgegangenen Besprechung zu Verschwörungstheorien analysiert wurde, in der Forschung schwer begründen. Das epidemiologische Wissen, könnte man an Prokopios anknüpfend sagen, ist älter als die Wissenschaft der Epidemiologie, weil es letzte Fragen stellt.
„Nun, im Fall aller anderen Geißeln, die vom Himmel gesandt wurden, könnten gewagte Männer eine Erklärung für eine Ursache geben, wie die vielen Theorien, die von denen aufgestellt werden, die in diesen Angelegenheiten klug sind; denn sie lieben es, Ursachen heraufzubeschwören, die für den Menschen absolut unverständlich sind, und ausgefallene Theorien der Naturphilosophie zu erfinden, wohl wissend, dass sie nichts Vernünftiges sagen, sondern es für ausreichend halten, wenn sie durch ihre Argumentation einige von denen, denen sie begegnen, völlig täuschen und überzeugen sie zu ihrer Ansicht.“[28]
Bei Prokopios gerät die „Zahl der Sterbenden“ außer Kontrolle, womit die Zahl sehr früh ihre Ambiguität zeigt. Sie verspricht Kontrolle und zeigt doch zugleich ihren Verlust an. Nicht in Galata, nicht in Paris beim Ausbruch der Cholera wie Heinrich Heine im Frühjahr 1832 vom Pére Lachaise für die Augsburger Allgemeine Zeitung berichtet[29], sondern in New York und anderswo hat es bereits Massengräber gegeben. Der Geschichtsschreiber Prokopios erzählt schon davon, was passiert, wenn die Gräber nicht mehr reichen. Dennoch wissen wir nicht, ob die Bürger von Sycae wirklich ihre Toten in die Türme der Befestigungsanlage warfen. Wahrscheinlich hatte Prokopios vom Hörensagen die Beschreibung in seine Chronik aufgenommen.
„… Und als es dazu kam, dass alle zuvor existierenden Gräber mit Toten gefüllt waren, gruben sie nacheinander alle Orte in der Stadt aus, legten die Toten dort hin, jeder so gut er konnte, und gingen; aber später bestiegen diejenigen, die diese Gräben machten und nicht mehr mit der Zahl der Sterbenden mithalten konnten, die Türme der Befestigungsanlagen in Sycae [Galata], und rissen die Dächer ab, um die Leichen dort in völliger Unordnung hinein zu werfen; und sie stapelten sie auf, als jeder fiel, und füllten praktisch alle Türme mit Leichen und bedeckten sie dann wieder mit ihren Dächern. Infolgedessen durchdrang ein böser Gestank die Stadt und beunruhigte die Einwohner noch mehr, besonders wenn der Wind aus diesem Viertel frisch wehte.“[30]
Die Türme der Befestigungsanlage von Sycae könnten vielleicht in einem Krieg gegen menschliche Feinde helfen, doch im Kampf gegen die Epidemie helfen sie nicht. Vielmehr sorgen die Toten dafür, dass sie durch den Gestank nicht vergessen werden und nehmen die Funktion eines Memento mori an. Sie beunruhigen die Einwohner, dass auch sie sterben werden. Auf diese Weise erzählt letztlich auch Albert Camus von der Pest, die zugleich an die Toten des Zweiten Weltkriegs und die Resistance erinnern soll. – In diesen Tagen jährt sich das Ende der Zweiten Weltkriegs zum 75. Mal.
Torsten Flüh
PS: Die Fotos zu dieser Besprechung wurden am 26. April 2020 zwischen 18:16:44 Uhr und 18:45:40 Uhr auf dem Flughafen Otto Lilienthal Berlin Tegel – TXL – gemacht. Nach neuesten Meldungen wird TXL schon im Juni stillgelegt und aus den Flugzielen gelöscht werden.
[1] Albert Camus: Die Pest. Übersetzt von Uli Aumüller. Reinbek: rororo, 1998, S. 257.
[2] Alessandro Puglia und Maria Stöhr: Die Geschichte von Lorena Quaranta erschüttert Italien. In: Der Spiegel vom 10.04.2020, 18.05 Uhr.
[3] Albert Camus: Die … [wie Anm. 1] S. 4.
[4] Albert Camus: La Peste. Ebooks libres et gratuits, 2011, S. 5.
[5] Ebenda S. 233.
[6] Raoul Maria di Angelis: La peste a Urana: Milano: Mondadori, 1943. (Bibliotheca Nazionale Braidense)
[7] Albert Camus: La … [wie Anm. 3] S. 7.
[8] Ders.: Die … [wie Anm. 1] S. 6.
[9] Ders.: La .. [wie Anm. 3] S. 12.
[10] Ders.: Die … [wie Anm. 1] S. 12.
[11] Ders.: La .. [wie Anm. 3] S. 13.
[12] Eigendarstellung: “The Center’s Systems Research Group brings together faculty from Engineering, Public Health, and Medicine with a common interest in using systems methods to advance our understanding of complex problems.” Center for Systems Science and Engineering: About us. Johns Hopkins Whiting School of Engineering.
[13] Albert Camus: Die… [wie Anm. 1] S. 15.
[14] Ders.: La .. [wie Anm. 3] S. 20.
[15] Dass Camus hier die Zahl in Worten ausschreibt und nicht nur als Zahl wie in der deutschen Übersetzung, gibt einen Wink auf die Ironie der Passage. Ebenda.
[16] Ders.: Die … [wie Anm. 1] S. 16.
[17] Ders.: La .. [wie Anm. 3] S. 21.
[18] Ders.: Die … [wie Anm. 1] S. 23.
[19] Ebenda S. 24.
[20] Ebenda S. 25.
[21] Ebenda S. 25-26.
[22] Ders.: La .. [wie Anm. 3] S. 29.
[23] Ders.: Die … [wie Anm. 1] S. 32.
[24] René Descartes: Dritte Untersuchung. Über Gott, und dass er ist. In: ders.: Untersuchungen über die Grundlagen der Philosophie, in welchen das Dasein Gottes und der Unterschied der menschlichen Seele von ihrem Körper bewiesen wird. Berlin: Heimann, 1870, S. 59-60. (Digitalisat)
[25] Ensheng Dong, Hongru Du, Lauren Gardner: An interactive web-based dashboard to track COVID-19 in real time. In: The Lancet vom February 19, 2020.
[26] CSSE: Lauren Gardner.
[27] Albert Camus: Die… [wie Anm. 1] S. 35.
[28] “… Now in the case of all other scourges sent from heaven some explanation of a cause might be given by daring men, such as the many theories propounded by those who are clever in these matters; for they love to conjure up causes which are absolutely incomprehensible to man, and to fabricate outlandish theories of natural philosophy knowing well that they are saying nothing sound but considering it sufficient for them, if they completely deceive by their argument some of those whom they meet and persuade them to their view.” Procopius: History of the Wars. 7 Vols., trans. H. B. Dewing, Loeb Library of the Greek and Roman Classics. Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1914, Vol. I, S. 451/453.
[29] Siehe: Torsten Flüh: Ein europäischer Klangroman. Zu Volker Hagedorns furiosem Roman Der Klang von Paris. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. Mai 2019.
[30] „… And when it came about that all the tombs which had existed previously were filled with the dead, then they dug up all the places about the city one after the other, laid the dead there, each one as he could, and departed; but later on those who were making these trenches, no longer able to keep up with the number of the dying, mounted the towers of the fortifications in Sycae [Galata], and tearing off the roofs threw the bodies there in complete disorder; and they piled them up just as each one happened to fall, and filled practically all the towers with corpses, and then covered them again with their roofs. As a result of this an evil stench pervaded the city and distressed the inhabitants still more, and especially whenever the wind blew fresh from that quarter.” Procopius: History … [wie Anm. 28] S. 467/469.
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