Vom Sonnengesang, der Trauermusik und dem Alpengipfel ironisch

Erzählen – Klanggemälde – Musikpreis

Vom Sonnengesang, der Trauermusik und dem Alpengipfel ironisch

Zur Uraufführung des Cantico delle Creature durch das Ensemble Modern Orchestra, dem Boston Symphony Orchestra und dem Bayrischen Staatsorchester beim Musikfest Berlin

Darf der Berichterstatter drei ebenso unterschiedliche wie herausragende Orchester beim Musikfest Berlin in einer Besprechung nacheinander würdigen? Ihm ist nicht ganz wohl dabei. Doch die Komprimierung führt zugleich dazu, dieses von Winrich Hopp mit den Berliner Philharmonikern und den Berliner Festspielen zusammengestellte Festival mit seiner Abfolge großer und größter Orchester und Dirigent*innen ins rechte Licht zu rücken. Beim Musikfest Berlin stellen sich Jahr für Jahr die weltbesten Orchester zu Beginn ihrer Tournee durch Europa und Großbritannien ein. Das Berliner Musikpublikum bekommt das seit Jahren eher etwas träge mit. Kurt es noch spätsommerlich auf Mallorca oder in Heringsdorf und Świnoujście an der Ostsee? Glücklicherweise wird das Festival medial von Deutschlandfunk Kultur begleitet und fast lückenlos aufgezeichnet.

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Große Dirigent*innen sind weiterhin fast immer männlich. Das Programm des Konzerthausorchesters Berlin mit seiner neuen Chefdirigentin Joana Mallwitz hat der Berichterstatter am 12. September versäumt, pardon. Ansonsten wurden bereits Ivan Fischers Dirigat mit dem Concertgebouw Orchestra, Sir Simon Rattles mit dem London Symphony Orchestra[1] und das aufsehenerregende, fast zufällige Debut von Dinis Sousa mit dem Orchestre Révolutionnaire et Romantique[2] besprochen. Am 3. September dirigierte nun Sir George Benjamin das einzigartige Ensemble Modern Orchestra beim Start seiner Tournee anlässlich der 30jährigen Zusammenarbeit. Benjamin hatte erst kürzlich als Komponist und Dirigent den hochdotierten Ernst von Siemens-Musikpreis erhalten. Am 5. September folgte Andris Nelsons als Stardirigent und am 11. September leitete Vladimir Jurowski das Bayrische Staatsorchester anlässlich seines 500jährigen Jubiläums – in Berlin.

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Die Ernst von Siemens Musikstiftung feiert 2023 ihr 50jähriges Jubiläum.[3] Die 1972 durch den kinderlosen Industriellen und Mäzen Ernst von Siemens gegründete Musikstiftung gehört neben der Kunststiftung zu den wichtigsten deutschen Musikförderungsinstitutionen. Der Ernst von Siemens-Musikpreis wurde am 7. Juni 1974 von seinem Stifter an Benjamin Britten überreicht. In der Stiftungsurkunde vom 20. Dezember 1972 ist als Zweck unter 2c formuliert: „die Verleihung von Preisen an produzierende oder reproduzierende Musikkünstler oder Musikwissenschaftler, die auf ihrem Gebiet besondere Leistungen vollbringen, insoweit dadurch ihr künstlerisches Schaffen gefördert und wertvolle Kunstwerke der Allgemeinheit zugeführt werden.“[4] Nach Benjamin Britten, Herbert von Karajan, 1979 Pierre Boulez[5], Karlheinz Stockhausen[6], Hans Werner Henze[7], die Bratschistin Tabea Zimmermann[8] oder Rebecca Saunders 2019[9] und Olga Neuwirth 2021[10] hat nun George Benjamin[11] den Ernst von Siemens-Musikpreis erhalten.

© Fabian Schellhorn

Sir George Benjamin hatte mit dem Ensemble Modern Orchestra ein besonderes Konzertprogramm ausgewählt, in dem die Uraufführung von Francesco Filideis Cantico delle Creature und seine Liedkomposition A Mind of Winter (1981) mit Anna Prohaska als Solistin zwei Höhepunkte setzten. Das sehr jung besetzte Ensemble Modern Orchestra brillierte indessen ebenso mit Spira (2019) von Unsuk Chin, Cloudline (2021) von Elisabeth Ogonek, die ihre Komposition „ein Klanggemälde für Orchester“ nennt, und glut (2014-18) von Dieter Ammann. Damit war eine erstaunliche Bandbreite an zeitgenössischen Kompositionspraktiken zwischen „Konzert“, erzählendem Gestus und „Klanggemälde“ angelegt. Benjamin lässt sich vielleicht als ein Klangforscher der Stimmungen beschreiben. Die Stimmung wird auditiv durch eine große Besetzung zwischen Flöten, Oboen bis zur Tuba, einem umfangreichen Schlagwerk und nicht weniger groß besetzten Streichern zwischen Violine und Kontrabass produziert. Unsuk Chin erzeugt mit einer derartig großen Besetzung aus leisen, zarten Tönen bis in eine breite Polyphonie eine kreisende Bewegung, die sich visuell als aufsteigende Spirale denken lässt. Nach einer größtmöglichen Klangausdehnung bewegt sich die Spirale wieder zurück und verklingt in den Violinen.

© Fabian Schellhorn

Die Spielweisen in der zeitgenössischen Musik erforschen oft das Klangspektrum jenseits der klassischen Stimmungen. Das praktische Regelwerk der Stimmung wird überschritten. Instrumente werden auf immer wieder andere Klangspektren durch Praktiken erforscht. Darin haben sich das Ensemble Modern und das Ensemble Modern Orchestra ein einzigartiges Feld der Klangerzeugung erarbeitet. Von den Orchestermitgliedern wird eine hohe Präzision und Flexibilität ebenso wie eine außergewöhnliche Ensemblesensibilität verlangt. Kein Themen- oder Melodiengerüst trägt das Orchester. George Benjamin hat nicht nur 30 Jahre mit dem Ensemble Modern diese Orchesterklangbereiche erforscht, vielmehr hat er sie mit den Musiker*innen und Komponist*innen praktisch entwickelt. Diese Musikpraxis wurde im Konzert nicht zuletzt dadurch bestätigt, dass Unsuk Chin, Francesco Filidei und Dieter Ammann bei der Aufführung anwesend waren und sich beim Dirigenten wie dem Ensemble bedankten.

© Fabian Schellhorn

Francesco Filidei entfaltet mit seiner Komposition des Cantico delle Creature, der in der Übersetzung als Sonnengesang des Franz von Assisi bekannt ist, aus einem leisen Pfeifen des Windes ein Welthörspiel zur Ehre Gottes. Der tiefreligiöse Gesang auf alle Lebewesen bzw. die Schöpfung lässt diese wiederholt zu Ton kommen, wenn Filidei in seiner Besetzung prominent 2 Schwirrbögen für ein ansteigendes Pfeifen des Windes oder einer Art Lebensströmen einsetzt. „Cowbells, Ocean Drum, Lockpfeifen (Nachtigall, Wachtel, Drossel)“[12] etc. geben nicht nur vom Namen her, vielmehr noch durch ihre Klangbreite einen Wink auf die Vielfalt der Klangereignisse, die in dem lyrischen Sopran von Anna Prohaska sehr hoch als Lob intoniert werden.
„Laudato si, mi signore, per sor‘ aqua,
la quale è multo utile et humile et pretiosa et casta.
Laudatio si, mi signore, per frate focu,
per lo quale enn’allumini la notte,
et ello è bello et iocundo et robustoso et forte.
(Gelobt seist du, mein Herr, durch Schwester Wasser,
gar nützlich ist es und demütig und kostbar und keusch.
Gelobt seist du, mein Herr, durch Bruder Feuer,
durch das du die Nacht erleuchtest;
und schön ist es und fröhlich und kraftvoll und stark.“[13]     

© Fabian Schellhorn

Anna Prohaska zelebriert mit ihrer lyrischen Sopranstimme Filideis Cantico ebenso wie George Benjamins A Mind of Winter mit dem Gedicht von Wallace Stevens. Ihre Projekte für die zeitgenössische Musik machen Anna Prohaska zu einer Ausnahmesängerin. Sie erweitert ständig ihr Repertoire in neue Bereiche, ob mit den Bachkantaten unter der Leitung von Sir Simon Rattle 2022[14] oder dem Projekt Endor 2021[15] immer wird das Lied mit ihrer Stimme neu ausgelotet. Bedenkenlos könnte man Anna Prohaska für den Ernst von Siemens-Musikpreis vorschlagen. Nach einer Art Vorspiel mit gregorianischen Anklängen in Filideis Cantico delle Creature stimmt Prohaska den Gesang an. Stimme und Polyphonie des Gesangs bilden ein vielschichtiges und voluminöses Klangereignis. Der religiöse Gesang wird durch die Polyphonie eher in eine zeitgenössische Wahrnehmung von Natur und Umwelt transformiert. Anthropozän und Klimawandel geben heute einen Wink darauf, dass wir mit den Ressourcen respektvoller umgehen sollten.
„Laudatio si, mi signore, per sora nostra matre terra,
la quale ne sustenta et governa,
et produce diversi fructi con coloriti flora et herba.
(Gelobt seist du, mein Herr, durch unsere Schwester, Mutter Erde,
die uns erhält und lenkt
und vielfältige Früchte hervorbringt und bunte Blumen und Kräuter.)“[16]

© Fabian Schellhorn

George Benjamin hat für A Mind of Winter das Gedicht The Snow Man von Wallace Stevens umbenannt und 1981 mit der Widmung „For my mother, on her birthday“ versehen. Die Umbenennung erlaubt nicht zuletzt die geschlechtliche Befreiung des Gedichtes. Welches Geschlecht das lyrische „one“ im ersten Vers des Gedichtes hat, bleibt offen, wenn es nicht durch den Titel The Snow Man bestimmt wird. Benjamins Gespür für Stimmungen wird nicht zuletzt im Titelwechsel deutlich. Das Gespür für die frostige Winterstimmung beginnt „aus einer mit „Silence“ überschriebenen Generalpause, um dann „icy and misterious“ fortzufahren.[17] Anna Prohaska versteht es, die Stimmung fast gänzlich ohne Vibrato mit ihrer Stimme entstehen zu lassen.
„One must have a mind of winter
To regard the frost and the boughs
Of the pine-trees crusted with snow;
(Man muss Winter im Sinn haben,
um auf den Frost und die mit Schnee
verkrusteten Äste der Kiefern zu achten,)”[18]    

© Fabian Schellhorn

Das Ensemble Modern Orchester und die Solistin wurden vom Publikum begeistert gefeiert. Es bedarf weniger eines ausgedehnten Musikwissens als ein Gespür für das Engagement und die Sensibilität des Orchesters. Das wurde einmal mehr dadurch bestätigt, dass neben dem Berichterstatter zwei jüngere Menschen aus Italien saßen, mit denen er ins Gespräch kam. Sie verstünden nicht viel von klassischer oder zeitgenössischer Musik, aber sie hätten bemerkt, wie begeistert und konzentriert diese jungen Musiker*innen gespielt hätten. Dass sie mit Anna Prohaska einen Weltstar ihres Faches auf den internationalen Opernbühnen gehört hätten, könnten sie nicht beurteilen. Aber das sei sehr intensiv gewesen. Das kennten sie gar nicht. Und der junge Mann fragte, wo er denn noch in Deutschland in ein Konzert gehen solle. Herkunft und Hintergrund des Paares blieben im Dunkel. Aber sie hatten etwas entscheidendes mitbekommen, das das Konzert so einzigartig machte. Das Zusammenspiel von Dirigent, Solistin und Orchester war von gegenseitigem Respekt und Freude an der Musik geprägt.

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Andris Nelsons tourte mit dem Boston Symphony Orchestra, kurz BSO, vom 25. August bis 8. September zwischen Royal Albert Hall in London und der Philharmonie de Paris durch Europa. Am 5. September gastierte er beim Musikfest Berlin mit dem Orchester. Das Programm wechselte mehrfach während der Tournee, wiederholt bildete George Gershwins Piano Concerto in F mit Jean-Yves Thibaudet den Mittelteil. In London und Berlin eröffnete Andris Nelsons mit Julia Adolphes Makeshift Castle (2022) den Abend. Die Komposition ist ein Auftragswerk des BSO und des Gewandhausorchesters Leipzig, denen Andris Nelsons als Chefdirigent und Gewandhauskapellmeister vorsteht. In Berlin beendete mit dem zweiten Teil Igor Strawinskys Ballettmusik Petruschka von 1911 den Abend. Petruschka erforderte einen Kommentar der Berliner Festspiele, der äußerst berechtigt erscheint:
„Wir weisen darauf hin, dass in Strawinskys Partitur Petruschka mit den Figuren des M* und des Z*** im Originaltext rassistische Stereotype und Figurennamen enthalten sind. Diese historischen Bezeichnungen waren bereits im Zeitkontext mit abwertenden Konnotationen verbunden und sind Teil einer rassistisch-romantisierenden Erinnerungskultur, die bis heute zur Abgrenzung und Abwertung von Schwarzen Menschen und europäischen Sinti*zze und Rom*nja beiträgt.
Die Berliner Festspiele haben sich den Grundsätzen der Antidiskriminierung und Diversität verpflichtet. Aus diesem Grund haben wir uns entschieden, die historischen Begriffe nur noch in der abgekürzten Version (M*, Z***) zu verwenden.“[19]

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Einerseits gehören die Ballettmusiken wie Petrouchka – Scènes burlesques en quatre tableaux (1911) und Sacre du printempsTableaux de la Russie païenne en deux parties (1913)[20] von Igor Strawinsky zum Repertoire der Klassischen Moderne, andererseits bricht mit ihnen die Geschlechterfrage der Moderne in der Musik auf. Auf der Suche nach dem Geschlecht in der im Deutschen angelegten Mehrdeutigkeit von Ursprung, Herkunft, Rasse, Nation und Identität wie nicht zuletzt dem Russischen in der Moderne zertrümmert Strawinsky in der Musik tradierte Muster und schafft zugleich neue ein- wie ausschließende Abgrenzungen. Musikalisch spielt dafür eine Aufwertung wenn nicht Neudefinition der Perkussionsinstrumente im Orchester die entscheidende Rolle. In Petruschka beginnt das erste Bild mit Strawinskys Russischem Tanz. Doch was ist an dem Tanz aus einer Jahrmarktsmusik heraus russisch? Petruschka ist nicht nur ein „ewig unglückliche(r) Held() aller Jahrmärkte in allen Ländern“[21], wie Strawinsky es formulierte, oder ein russischer Melancholiker, vielmehr wird er selbst mit dem Russischen Tanz als Russe eingeführt – und häufig mit den Matroschka-Puppen, die sich gleich einer Zwiebel bis zu einer kleinsten Puppe seit dem Ende des 19. Jahrhunderts entpacken lassen, verwechselt.

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Das Russische in den Ballettmusiken Igor Strawinskys war nicht zuletzt dem Branding der Ballets russes Serge Diaghilevs in Paris geschuldet. Gleichzeitig vollzog der Komponist einen radikalen Bruch mit dem Russischen und trieb das Orchester mit Sacre du printemps an das Ende der Melodie und des Melodischen als Folklore. Diese Bewegung kündigt sich in Petruschka bereits an, in der es zwar dreizehn Szenen gibt, die sich unterdessen in der Musik schwer abtrennen lassen. In der Visualisierung als Ballett lassen sich die Szenen genau unterscheiden, in der Aufführung von Andris Nelsons mit dem BSO verliert sich schnell der Faden in der Abfolge der Szenen bis „Petruschkas Geist erscheint“. Insofern sind die Szenen „Der M*“ und „Z*** und ein genusssüchtiger Kaufmann“, womit eine Prostitutionsszene umschrieben wird, durchaus rassistisch angelegt. Allerdings fällt es schwer, dies in der Musik zu hören, weil Strawinsky eben keine folkloristischen Modell benutzt. In der Hinsicht könnte die Frage nach dem Russischen bei Strawinsky durchaus intensiver bearbeitet werden.

© Fabian Schellhorn

Julia Adolphes Makeshift Castle mit den beiden Sätzen Sandstone und Wooden Embers verfolgt einen Gestus der Erzählung in der Musik. Dahingehend korrespondiert sie mit der erzählenden Geste des Concerto in F von George Gershwin, das 1925 in den drei Sätzen „Allegro“, „Adagio – Andante con moto“ und „Allegro con brio“ die Lebenspraktiken der Stadt New York als Inbegriff der modernen Großstadt des 20. Jahrhunderts in Musik verwandelt. Die Hektik, Schnelligkeit und Wechselhaftigkeit des Großstadtlebens, wie es mit dem „Allegro furios“ zwischen Klavier mit Jean-Yves Thibaudet und Orchester zum Klingen gebracht wird, reißt derart mit, dass das Publikum am 5. September zum Beifallssturm ermuntert wurde. In der Großstadt des 20. Jahrhundert wird das Individuum mitgerissen. Im Unterschied dazu wecken die „gegensätzliche(n) Zustände von Beständigkeit und Vergänglichkeit, von Beharrlichkeit und Auflösung, von Entschlossenheit und Hingabe“, wie es Julia Adolphe formuliert, mit Sandstone (Sandstein) und Wooden Embers (Hölzerne Glut) nicht zuletzt im Schlagwerk von Tomtoms, Großer Trommel, Glockenspiel, Klangstäben und Holzblock ein fast meditatives Hinhören.

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Dass das Bayrische Staatsorchester unter der Leitung von Vladimir Jurowski sein 500jähriges Jubiläum am 11. September mit einer Laudatio von Claudia Roth, Staatsministerin für Kultur und Medien, gebürtig aus Ulm, in der Berliner Philharmonie hochoffiziell feierte, hat fast einen Zug von Ironie. Gleichzeitig gibt es einen Wink auf die Verflochtenheit der Orchesterlandschaft der Bundesrepublik Deutschland. Denn Claudia Roth setzt als Ministerin das Förderprogramm „Exzellente Orchesterlandschaft“ fort.[22] In ihrer Rede wandte sie sich mehrfach vom Rednerpult den Orchestermitgliedern direkt zu, um zu betonen, wie wichtig die Orchesterarbeit sei. Im Jahr 1523 stellte Herzog Wilhelm IV. von Bayern aus dem Haus Wittelsbach den Sänger-Komponisten Ludwig Senfl in München an seinem Renaissance-Hof im Neuen Hof, dem Ursprung der Münchner Residenz an. Darauf führt das Bayrische Staatsorchester seinen Ursprung zurück.

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Das Berliner Jubiläumskonzert wurde symbolträchtig von dem in Moskau geborenen Dirigenten Vladimir Jurowski, der sein Studium in Berlin und Dresden fortsetzte, mit der Symphonie Nr. 3 „White Interment“ (2003) der ukrainischen Komponistin Victoria Vita Polevà eröffnet, was seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges 22. Februar 2022 eine starke Geste ist. Polevà komponiert mit dem großen Orchester von 144 Mitgliedern satte Klangcluster, die melodisch angelegt sind. Aus einem Klangteppich steigen rhythmische Schläge empor, die an Herzschläge erinnern können und zumindest teilweise durch Zupfen der Harfe erzeugt werden. Polevà komponierte mit White Interment (Weißes Begräbnis) eine Trauermusik, die 2003 einen Wink auf postsowjetische Verwerfungen in der Ukraine geben kann. Die breitangelegte, getragene Symphonie mit den Tempi „Andante assai – Meno mosso – Più mosso – Andante assai bildet fast eine geschlossene Kreisform. Vladimir Jurowski dirigierte das Bayrische Staatsorchester detailreich und ernst. Das Publikum applaudierte intensiv und der Dirigent bat die Komponistin ans Pult.

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Mit der Trauermusik von Victoria Vita Polèva war auch für das zweite Stück des Abends, Alban Bergs Konzert für Violine und Orchester, „Dem Andenken eines Engels“, eine Stimmung vorgegeben. Den Anlass für Bergs Konzert gab der Tod der 18jährigen Manon Gropius an Kinderlähmung am 22. April 1935 in Wien. Sie war die Tochter von Alma Mahler-Werfel und Walter Gropius. Die Epidemie der Kinderlähmung oder Poliomyelitis war insbesondere zu Beginn des 20. Jahrhunderts oft tödlich.[23] Vilde Frang spielte die Solovioline, wofür sie stürmisch gefeiert wurde. Auf diese Weise war das Konzert von einer Trauermusik und einer das Requiem mit dem Zitat des Bachchorals Es ist genug paraphrasierenden Komposition geprägt. Doch im Konzertsaal spielt dann gerade durch den Anlass des Jubiläums und der Exzellenz des Orchesters eine Art freudige Begeisterung in den traurigen Hintergrund hinein.

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Eine freudige Begeisterung strukturiert nicht zuletzt Richard Strauss‘ Eine Alpensinfonie genanntes Großwerk. Zwischen 1899 und 1915 komponiert, fällt die Komposition in eine Zeit des Reisens und der Entdeckungen malerischer Landschaften unter zunehmend schnellerer Eisenbahnverbindungen. Von den Kaiserbädern auf Usedom wie Heringsdorf an der Ostsee bis in die Chiemgauer Alpen z.B., wo Ernst von Siemens‘ Vater 1911 in Ruhpolding ein großzügiges Jagdhaus als Urlaubsziel errichten ließ [24], nahm der frühe Tourismus des Bürgertums einen kräftigen Aufschwung. Hatte im 18. Jahrhundert die Grand Tour des Bürgertums und des Adels in Italien noch ein Bildungsprogramm mit dem Reisen verknüpft, so entdeckt das Bürgertum des Kaiserreichs um 1900 den Reiz der schnellen Ortswechsel im Rhythmus des Jahreszeiten bei gleichzeitig größtmöglichem Komfort. Deshalb ist es vielleicht nicht ganz so überraschend, dass Eine Alpensinfonie schließlich unweit des Siemens-Stammsitzes in der Schönberger Straße am Anhalter Bahnhof in der alten Berliner Philharmonie an der Bernburger Straße am 28. Oktober 1915 mit der Dresdner Königlichen Kapelle uraufgeführt wurde. Man darf annehmen, dass das Orchester aus Dresden mit dem Zug über den Anhalter oder den Dresdner Bahnhof angereist war. (Der Siemens-Stammsitz lag insofern fernverkehrsmäßig günstig an zwei Kopfbahnhöfen.)

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Doch zurück zur freudigen Begeisterung, die in einem Auf-und-Abstiegs-Motiv von Richard Strauss als eine individuelle Erkundung eines Alpengipfels strukturierend bis in einzelne Wassertropfen in der Klarinette beim Abstieg nach einem Gewitter intoniert wird. Geradewegs zyklisch wird ein Tag in den Alpen von der „Nacht“ und dem „Sonnenaufgang“ bis zum „Sonnenuntergang – Ausklang“ und „Nacht“ auskomponiert. Die alpine Landschaft mit einer psychovisuellen „Erscheinung“ sowie „Gefahrvolle(n) Augenblicke(n)“, einer „Vision“ und einer „Elegie“ wird zu einer Erlebnislandschaft mit allem drum und dran. Mehr konnten sich selbst die Angehörigen der Berliner Industriellenfamilie von Siemens in den Alpen nicht wünschen. In mehreren Klangebenen überschneiden sich in der mehr oder weniger individuellen und einmaligen Alpensinfonie Ausflugserlebnis und Naturereignis. Nicht ohne Ironie wird das alpine Programm mit „Auf dem Gipfel“ und einer trotz heftigem Gewitter nicht wirklich gefährlichen Alpenwanderung vielschichtig und ereignisreich mit dem größtmöglichen Klangkörper bis zur Orgel auskomponiert. Die Pastorale schimmert nur noch hervor, längst ist alles zum imperialen Effekt zwischen alter Philharmonie und riesigem Anwesen der Familie Siemens in Potsdam geworden.  

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Vladimir Jurowski dirigiert Eine Alpensinfonie genau zwischen dem Bogen der kaiserlichen Reichshauptstadt Berlin und dem Jagdhaus, sagen wir, bei Ruhpolding in den Chiemgauer Alpen mit dem Schnellzug im Hintergrund. Den Schnellzug hat Richard Strauss nicht in den Tagesablauf einkomponiert. – Ankunft per Schnellzug. – Nacht – Sonnenaufgang … – Doch Eine Alpensinfonie mit ihrem Erlebnispotential funktioniert genauso wie die durchaus kostspieligen Schnellzüge von und nach Berlin. Eine Alpensinfonie endet so leise, dass man ein ansetzendes Schnarchen des erlebnisgestättigten Wanderers erwarten könnte. Doch Richard Strauss hat mit dem leisen Schluss bestimmt schon den ansetzenden, brausenden Applaus mit einkalkuliert. Ein wenig fühlt man sich als Hörer bei Richard Strauss immer an der Nase geführt. Ein triumphaler Konzertschluss! Mit dem Vorspiel zum 3. Aufzug der Meistersinger von Nürnberg von Richard Wagner als Zugabe unterstrich der Dirigent die Exzellenz des Orchesters, aber verschwendete sie auch.

Torsten Flüh 

Musikfest Berlin 2023
bis 18. 9. 2023

Konzerte zum Nachhören:
Deutschlandfunk Kultur
Ensemble Modern Orchestra
Aufzeichnung vom 3. September 2023

Bayrisches Staatsorchester
Aufzeichnung vom 11. September 2023


[1] Torsten Flüh: Furiose Gedankenmusik. Zum Concertgebouw Orchestra mit Iván Fischer und London Symphony Orchestra mit Sir Simon Rattle beim Musikfest Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 1. September 2023.

[2] Torsten Flüh: Grandioses Großwerk durchglüht. Zur gefeierten Aufführung von Les Troyens durch Dinis Sousa als Ersatz für Sir John Elliot Gardiner beim Musikfest Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. September 2023.

[3] Zeitreise: 50 Jahre Ernst von Siemens Musikstiftung. (Website)

[4] Ebenda year 1973.

[5] Zu Pierre Boulez und Daniel Barenboim als seinen Schüler siehe: Torsten Flüh: Verspätete Ankunft der Moderne. Zum Eröffnungskonzert des Musikfestes Berlin, dem Rotterdam Philharmonic Orchestra und Horos Meteoros von Jakob Ullmann. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. September 2018. (als PDF unter Publikationen)

[6] Zu Karlheinz Stockhausen siehe: Torsten Flüh: Spiritualität und elektronische Geisterkunst. Zum Stockhausen-Zyklus mit Telemusik, Mantra und Inori beim Musikfest. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. September 2018. (als PDF unter Publikationen)

[7] Zu Hans Werner Henze siehe: Torsten Flüh: Queering the Classics. Zu Wystan Hugh Audens, Chester Kallmans und Hans Werner Henzes moderner Antiken-Oper The Bassarids in der Komischen Oper. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. November 2019.

[8] Zu Tabea Zimmermann siehe: Torsten Flüh: Von dem Gesang der Bratsche. Zum Abschlusskonzert des Musikfestes Berlin mit Kompositionen von Wolfgang Rihm und der Uraufführung seiner (zweiten) Stabat Mater. In: NIGHT OUT @ BERLIN 26. September 2020.

[9] Zu Rebecca Saunders siehe: Exakte Explosionen. Zur Deutschen Erstaufführung von Rebecca Saunders to an utterance beim Musikfest Berlin 2021. In: NIGHT OUT @ BERLIN 8. Oktober 2021.

[10] Zu Olga Neuwirth siehe: Singularitäten und das Einmalige. Zum BBC Symphony Orchestra unter Sakari Oramo und Georg Nigl mit Olga Paschenko beim Musikfest Berlin 2019. In: NIGHT OUT @ BERLIN 20. September 2019.

[11] Zu George Benjamin siehe: Torsten Flüh:  Aufgespürte Stimmungen. Zu Verklärte Nacht von Arnold Schönberg und Into the Little Hill von George Benjamin beim Musikfest Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. September 2018. (als PDF unter Publikationen)

[12] Musikfest Berlin: Programm 3.9.2023 Ensemble Modern Orchestra/Sir George Benjamin II. Chin/Ogonek/Filidei/Benjamin/Ammann. Berlin: Berliner Festspiele, 2023, S. 6.

[13] Ebenda S. 18-19.

[14] Torsten Flüh: Kantaten Johann Sebastian Bachs als Konzertereignis. Zum gefeierten »Late Night«-Konzert der Berliner Philharmoniker mit Sir Simon Rattle (und Anna Prohaska). In: NIGHT OUT @ BERLIN 24. Mai 2022.

[15] Torsten Flüh: Bezaubernd verhext. Zu Endor von und mit Anna Prohaska, Nicolas Altstaedt und Francesco Corti im Kammermusiksaal der Philharmonie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. Dezember 2021.

[16] Musikfest Berlin: Programm 3.9.2023 … [wie Anm. 12] S. 20-21.

[17] Dirk Wieschollek: Feier der Elemente. In: ebenda S. 13.

[18] Ebenda S. 16-17.

[19] Musikfest Berlin: Programm 5.9.2023 Boston Symphony Orchestra/Andris Nelsons. Adolphe/Gershwin/Strawinsky. Berlin: Berliner Festspiele, 2023, S. 3.

[20] Siehe zu Le Sacre du Printemps: Das Enden der Melodie. Sir Simon Rattle treibt die Berliner Philharmoniker zu einem schonungslosen Le Sacre du Printemps. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. Juni 2017. (als PDF unter Publikationen)

[21] Ebenda S. 12.

[22] Bundesregierung: Bund stärkt vielfältige Orchesterkultur. Pressemitteilung 5. September 2023.

[23] Siehe zur Kinderlähmung: Torsten Flüh: Von der Fiktionalität der Epidemie. Zu Philip Roths Roman Nemesis über eine fiktionale Polio-Epidemie in Newark 1944. In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. Januar 2021.

[24] Erik Lindner: Ernst von Siemens. In: Siemens Historical Institute (Hg.): Lebenswege. München: Siemens, 2015, S. 10.

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