Schauspiele der Weltordnung

Ordnung – Ballett – Macht

Schauspiele der Weltordnung

Emmanuelle Haϊm dirigiert und komponiert Jean-Baptiste Lully und Jean-Philippe Rameau für die Berliner Philharmoniker

Französische Barockmusik steht nicht oft auf dem Programm der Berliner Philharmoniker. Mit Jean-Baptiste Lullys Le Bourgeois gentilhomme, unter Mitwirkung von Molière und dem Komponisten in den Hauptrollen am 14. Oktober 1670 vor Ludwig XIV. in Schloss Chambort als Comédie-ballet aufgeführt, bis Jean-Philippe Rameaus Tragédie en musique Dardanus, die am 19. November 1739 in der Pariser Académie royale de musique ihre Premiere hatte, schlug Emanuelle Haϊm einen Bogen von über 69 Jahre. Die Musik des Comédie-ballet unterscheidet sich von der Tragédie en musique ebenso deutlich wie die Uraufführungsorte. Die Gründung der Académie royale de musique in einem Saal des Palais Royale in Paris geht 1673 auf Lully zurück.

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Das Publikum feierte das Debüt von Lauranne Oliva, Sopran, und Reinoud Van Mechelen, Tenor, unter der Leitung von Emmanuelle Haϊm bei den Berliner Philharmonikern, nachdem sie mehrere Arien und Duette gesungen hatten. Emmanuelle Haϊm ist seit 2011 regelmäßig zu Gast bei den Berliner Philharmonikern als Dirigentin und Cembalistin. Sie hatte für den Abend die Suite Le Bourgeois gentilhomme zusammengestellt und das Duett „Bel tempo che vola“ (Schöne Zeit, die vergeht) an den Schluss gesetzt. Die Berliner Philharmoniker möchten mit dem Saisonschwerpunkt »Kontrovers!« „die aktuelle Debattenkultur aus der Perspektive der Musik“ reflektieren. Denn nach Rameaus Premiere von Hippolyte et Aricie 1733 entbrannte ein Streit zwischen den Lullyisten und Rameauisten über die französische Musik.

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Die musikhistorische Debatte in Paris nach 1733 hat nicht zuletzt mit der Institutionalisierung der Musik bzw. des Kompornierens durch Lullys Gründung der Académie royale de musique zu tun, was in Werkeinführungen geflissentlich übersehen wird. Die Gründung der Akademien im Umfeld Louis XIV. führt einerseits zu einer Emanzipation der französischen Musik von der lateinischen Kirchenmusik nach einer neuen Ordnung. Andererseits wird dadurch die Ordnung zum Gegenstand von Debatten. Die Akademie stellte eine neuartige Öffentlichkeit, in der ein Musikwissen entwickelt, übertragen, gelehrt und debattiert werden kann, allererst her. Jean-Philippe Rameau wird zum „Musicien des Lumières“ (Sylvie Bouissou)[1], zum Komponisten der Aufklärung. Im Paris des Siècle des Lumières (Zeitalter der Aufklärung) ist Rameau durch seinen Mäzen Alexandre Jean Joseph Le Riche de La Popelinière und dem Schriftsteller-Philosophen Voltaire gut mit den Diskursen vernetzt.

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Das Thema der Ordnung setzt bei Lully bereits mit dem Ballet de la nuit als ballet du cour, als Hofballett bzw. Hofzeremoniell zur Unterhaltung des Königs am 23. Februar 1653 in Paris im Saal Petit-Bourbon am Hof Louis XIV. ein. Obwohl bereits Ballette am Hof seines Vaters Louis XIII., seines Großvaters Henry IV. und seiner Großmutter Marie de‘ Medici unter Mitwirkung des Herrschers und seines Hofes üblich waren[2], gewinnen sie mit Jean-Baptiste Lully als Komponisten, Choreographen und Ensemblemitglied eine neue Qualität. Im Ballet de la nuit erscheint der fünfzehnjährige König als Gott Achilles und Sonne. Er ist seit zehn Jahren König nach dem Tod seines Vaters Louis XIII., der das Tragen der Allongeperücke für die Männer am Hof eingeführt hatte.
„Plays with music, ballet, and scenic effects were produced from 1603 to 1622 under Andreini’s direction, and the introduction of machines and spectacular scenery by Italians became a feature both of ballet de cour and of the opera.”[3]

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Ohne zu weit ausgreifen zu wollen, markiert das Ballet de la nuit nach einer Phase der Rebellion des französischen Adels gegen den König nun eine neue Ordnung. Der von seinem Vormund, dem italienischen Kardinal Mazarin, geleitete junge König, braucht ein Machtkonzept, das sich an die Narrative der katholischen Kirche in Rom wie ein kosmologisch-mythologischen Bildungswissen knüpfen lässt. Auf diese Weise wird die zentrale Macht als Apollon und Sonne inszeniert. Das Ballet de la nuit funktioniert nach dem Modus der Allegorie.
„Der König, fünfzehn Jahre alt, tanzte die Figuren einer Stunde, eines Spiels, eines Ardens, eines Neugierigen, eines Wütenden, und dann in der letzten Szene die der aufgehenden Sonne, umgeben von Ehre, Sieg, Tapferkeit und Ruhm. Ebenfalls beteiligt waren der Herzog von Joyeuse, der Herzog von Genlis, der Marquis de Vivonne, der Marquis de Genlis, der Marquis d’Humières, der Marquis de Villeroy, der Marquis de Roquelaure sowie professionelle Tänzer: Delorge, Dolivet, Mollier, Robichon.

Récit de l’Aurore : […] Le Soleil qui me suit c’est le jeune LOUIS.
(Erzählung der Aurora: […] Die Sonne, die mir folgt, ist der junge LOUIS.)“[4]     

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Sowohl der Einsatz von Maschinen, die Joyce Newman im ballet du cour erwähnt, als auch die Astrologie als Kosmologie gewinnen im 17. Jahrhundert als Regelwerke an Bedeutung. Die wiederkehrenden Sternen-, Sonnen-, Mondkonstellationen am Himmel werden wichtiger als das Kirchenjahr. Die vier Jahreszeiten als Regelwerk werden ebenso im ballet du cour inszeniert und vorgeführt. Die Faszination der Maschine im französischen Hofballett besteht nicht nur in mehr oder weniger funktionstauglichen künstlichen Fischen und Ungeheuern in Versailles[5] oder der Erweiterung menschlicher Bewegungen bis zum Fliegen, vielmehr wird das Uhrwerk aus ineinandergreifenden Zahnrädern zum prototypischen Modell der Maschinen. Sie lassen sich gleich einem göttlichen Schöpfer konstruieren und beherrschen. Der Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal konstruiert für seinen Vater 1643 beispielhaft die Pascaline, eine Rechenmaschine.[6]   

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Als Komponist und Choreograph wurde für Lully der Takt von entscheidender Bedeutung. Der Taktstrich in den Noten setzt sich erst im 17. Jahrhundert durch. In einer illustrierten Notensammlung Pariser Kopisten Nezon von Ballett- und Opernmelodien Lullys für die Violine aus dem Jahr 1691 wird der Taktstrich systematisch gebraucht.[7] Zugleich illustrieren 2 Seiten den Gentilhomme als Musiker. Der Taktstrich stellt Ordnung her und sichert Wiederholbarkeit. Eine streng getakte Ballettmusik am Hof ermöglicht die synchrone Wiederholung für Tänzer und Musiker. Durch den Takt lassen sich Schritte zählen und Variationen merken. Der Taktstrich gehört zur Akademisierung der Musik, des Musikmachens und des Tanzens. Als Choreograph verstärkt Lully auf diese Weise ein Merk- und Wiederholungssystem. Man könnte sagen, dass das Uhrwerk und sein Zifferblatt als Modell der Aufklärung zumindest tendenziell, mit dem Taktstrich in die Musik und den Tanz übertragen wird. Standuhren aus Paris werden beispielweise ab 1740 für Friedrich II. wichtig.[8]

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Die Wiederholung ist ein Modus der Einübung, der nicht zuletzt für das erste Comédie-ballet wichtig wird. Denn das Komische am Le Bourgeois gentilhomme ist, dass der Bürger nicht weiß, wie sich der „gentilhomme“ bewegt. Der reiche Bürger stellt zur Belustigung des Hofes einen Musiklehrer (!), einen Tanzlehrer (!), einen Fechtmeister und einen Philosophen an. 1670 sind dies in der Tat die Wissensvermittler für die Lebensweise eines adeligen Mannes am Hof, wie schon im Ballet de la Nuit vorgeführt wurde. Die Figurenkonstellation erlaubt zudem zahlreiche Referenzen auf den Hofstaat und sein Personal. Dass Moliere als Dichter selbst den ungeschickten, aber reichen Bürger spielte, gibt einen Wink auf den Theater- und Hofdichter als Philosophen(!). Einerseits wird die jahrhundertetradierte Genealogie der Herrscherhäuser in Europa bestätigt. Andererseits wird insbesondere durch das lehrende Personal – Musik- und Tanzlehrer, Fechtmeister und Philosoph –, die der reiche Bürger aus Paris bezahlen kann, ein Wissen vermittelt, das über die Genealogie hinaus den „gentilhomme“ nobilitiert. Anders als im ballet du cour tritt insofern ein Personal auf, das die Hofregeln und das Wissen am Hof bestätigt, aber nun nicht mehr in einem allegorischen, sondern in einem repräsentierenden, fast spiegelbildlichen Verhältnis vorführt. 

Ich bin nicht allzu unangenehm, denn ich richte mich immer nach der Mode.
Ich gewinne ein Herz geschickt und bezaubernd mit meinem Instrument.
(Übersetzung T.F.)

Emmanuelle Haϊm hat für die Suite 9 Kompositionen aus Le Bourgeoise gentilhomme zusammengestellt. Das Duett „Bel tempo che vola“ wird im Comédie-ballet von italienischen Musikern gesungen: „Schöne Zeit, die verfliegt / Entführt das Glück; / In der Schule der Liebe / Ergreift man den Augenblick.“[9] Obwohl Moliere eine Komödie um Geld und Elitewissen geschrieben hat, geht es am Schluss um eine nationale Konstellation der französischen, italienischen und spanischen Nation, in die der Hofstaat einstimmt. Mit den spanischen, französischen und italienischen Melodien hat Haϊm diese Dimension des Balletts neben dem Marsch für die türkische Zeremonie mit dem Schellenbaum als Instrument berücksichtigt. In den spanischen „Air“ kommen Kastagnetten zum Einsatz. Am Hof Louis XIV. gehört selbst der Bürger zum Unterhaltungsprogramm:
„All dies endet mit dem Zusammentreffen der drei Nationen, und dem Applaus im Tanz und in der Musik des gesamten Publikums, das die folgenden zwei Verse singt:
Welch reizende Schauspiele, welche Freuden genießen wir!
Sogar die Götter selbst, die Götter haben keine süßere.“[10]

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Le Bourgeoise gentilhomme von Molière wird in der Romanistik nicht nur der Epoche der Klassik zugerechnet, vielmehr noch wird das Ballett als Vorform der Oper eingeordnet. Liest man allerdings das Original mit seinem gesellschaftlichen Aufstiegsnarrativ im Original, wird deutlich, wie sehr es in das Hofzeremoniell, bei dem das „gesamte Publikum“ am Schluss mitsingen muss(!), eingebunden war. Es geht weiterhin um die Bestätigung der höfischen Ordnung, nach der Louis XIV. nicht nur französischer König, sondern zugleich Herzog von Navarra, Sohn der spanisch-portugiesischen Infantin Anna Maria Mauricia von Österreich und Nachfahre der Florentinerin Marie de‘ Medici ist. Das genealogische Wissen bleibt selbst im Le Bourgeoise gentilhomme präsent. In den Divertissements für den singulären Sonnenkönig geht es weiterhin um die Inszenierung seiner Macht. Wie tonangebend die Kombination aus Musik, das Spielen z.B. einer Flöte und die Philosophie für europäische Herrschaftsmodelle werden sollte, bestätigt Friedrich II. von Preußen als Musiker, Flötenspieler und Roi philosophe unter Anleitung Voltaires.    

Indem ich meine Finger über dieses graue Instrument bewege,
erklingen andere, viel feinfühligere als ich, ganz anders,
Mit bloßem Zupfen kann ich nur das Ohr erfreuen,
und sie wissen, wie man die Harfe wunderbar spielt.
(Übersetzumng T.F.)

Spanische und italienische Melodien kehren bei Jean-Baptiste Lully ebenso wieder wie türkische Märsche und andere Elemente. Wie in Le Bourgeoise gentilhomme werden sie oft nur neu für ein Ballett kombiniert. Die Kompositionspraxis der Wiederholung und Kombination ist nicht nur dem Moment des Befehls zur Unterhaltung geschuldet, vielmehr unterstützt sie die Generierung eines exklusiven Herrschaftswissens am Hof. Das geteilte Wissen schafft eine Gemeinschaft, die immer wieder erneuert werden muss:      
„… extent music from one ballet was repeated in another. It is known that this was a common practice, for the King frequently asked to have an entertainment at a moment’s notice so that Lully developed a repertory of intermèdes, love-dialogues, and pastoral sequences. He also had a repertory of ballet entrées featuring hunters, satyrs, Turks, demons, beggars, astrologists, wild spirits, zephyrs, peasants, Spaniards, and gypsies, all ready to be incorporated into a presentation. Molière’s Ballet des Ballets is such a work, as the title indicates, and it is well known that the various fêtes and grottes de Versailles contained excerpts from a variety of other works.”[11]

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Mit der Musik von Jean-Philippe Rameau für Hippolyte et Aricie des Abbé Simon-Joseph Pellegrin als Tragédie en musique ändert sich alles. Obwohl ein antik-griechisches Narrativ in einer neuen Kombination gebraucht wird, beginnt mit der Arie »Temple sacré, séjour tranquille« der Aricie eine neuartige Artikulation der Gefühle. Nunmehr steht das Begehren der antiken Heldinnen und Helden in einem Verhältnis zu dessen Einlösung. Denn es kann verwehrt, blockiert, versprochen oder eingelöst werden. Der Musik wird die Ausgestaltung des Begehrens als Gefühl anvertraut.
« Temple sacré, séjour tranquille.
Où Diane aujourd’hui va recevoir mes vœux.
À mon cœur agité daigne servir d’asile,
Contre un amour trop malheureux!

Et toi, dont malgré moi je rappelle l’image
Cher Prince, si mes vœux ne te sont pas offerts,
Du moins j’en apporte l’hommage
À la Déesse que tu sers. »[12]

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Der Reim als Regelwerk und u.a. die Windmaschine werden für Rameau wichtig. Was sich im Französischen reimt auf die Göttin Diana wird von Rameau als ein Naturereignis Tonnere (Donner) mit der Windmaschine als Gefühlsregung instrumentiert. Die Herkunft der Windmaschine für Rameaus Instrumentierung ist nicht genau geklärt. Doch Rameau ist derjenige, der sie prominent und mehrfach, so auch in Les Boréades als Trajédie en musique 1763 einsetzt, wie es nicht zuletzt Simon Rattle bei den Berliner Philharmonikern wiederentdeckt hat.[13] Der Einsatz der Windmaschine kommt somit in der ersten wie in der letzten Oper von Jean-Philippe Rameau vor. Später verschwindet sie wieder aus dem Orchesterapparat. Zunächst ist eine Windmaschine als Instrument eine Maschine, mit der sich akustisch Wind erzeugen lässt. Doch die Naturgewalten stehen in der Tragédie en musique immer in den Diensten der Gefühle. Die Windmaschine und das Scheppern auf Blechen inszenieren ein Gewitter, in dem sich das Begehren entlädt.

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Die Tragédies en musique und ihre Libretti kombinieren ständig und wiederholend griechische Mythen. Götter oder Halbgötter entfachen eine Mythologie des Begehrens, die im französischen Barock zwar noch strengstens verboten ist, aber in den höchsten Kreisen von Paris genussvoll praktiziert wird. In dieser späteren Phase des Barock, die man auch Rokoko nennen kann, gehört vor allem eine promiskuitive Sexualität zur neuen, nicht zuletzt höfischen Unterhaltungskunst. Das gilt für Hippolyte et Aricie ebenso wie für Castor et Pollux und Dardanus, die von Emmanuelle Haϊm aufgeführt wurden. Als ein Indiz für das Artikulieren von sexuellen Praktiken mögen nicht nur einige Texte Voltaires wie seinem Candide (1759) gelten.[14] Vielmehr verfasst Rameaus Mäzen Alexandre Jean Joseph Le Riche de La Popelinière die Schrift Tableaux des mœurs du temps dans les différents âges de la vie (Bilder der Sitten der Zeit in den verschiedenen Lebensaltern), die 1750 von Alexandre Antoine Marolles eindeutig pornographisch illustriert wird.[15]

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In den Texten der Librettisten u.a. Simon-Joseph Pellegrin, Pierre-Joseph-Justin Bernard, Charles-Antoine Leclerc de la Bruère, mit denen Rameau zusammenarbeitet, artikuliert sich auf eine neuartige Weise ein Ich – „mes vœux“ (meine Wünsche), „moi je rappelle l’image“ (dessen Bild ich mich erinnere), „Où sui-je?“ (Wo bin ich?) mit der Arie der Aricie wie dem Rezitativ des Dardanus wird diese Orientierungsfrage plötzlich wichtig. – » Où suis-je ? de mes sens j’ai recouvré l’usage;/dieux, ne me l’avez-vous rendu,/que pour me retracer l’image/du tendre amant que j’ai perdu ?« (Aricie)[16] – » Où suis-je ? Dans ces lieux quel dieu m’a transporté ?« (Dardanus)[17] – Aricies Artikulation von „vœux“ (Wünschen) als „mes“ (meine) gegen eine höhere Macht (Theseus), für deren Unterstützung die Göttin Diana als Göttin der Jagd, der Beschützerin der Frauen, der Liebe im Tempel angerufen wird, stellt sich vor allem gegen ein Gesetz. Die Selbstbehauptung des Subjekts gegen das vorherrschende Gesetz ist im Grunde ein gesellschaftlicher Skandal. Doch anders als im ballet du cour geht es nun bei Rameau permanent um eine Selbstbehauptung im Namen der Gefühle, insbesondere der Liebe mit eingängiger Musik. Nach der wiederholten Frage „Wo bin ich?“ muss sich das Subjekt vor allem Finden, was durch die Liebe bzw. das Begehren geschieht. 

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In der historischen Konstellation der Hofpraktiken in Paris und Versailles um 1740 spielt Voltaire eine entscheidende Rolle. Immer wieder gerät er als Schriftsteller und antiklerikaler Philosoph in Frankreich mit der Katholischen Kirche und dem Gesetz in Konflikt. Mit Rameau und seinen heute weitgehend vergessenen Librettisten wird durch die Maske der antiken Held*innen und Gött*innen – Classic – etwas Neues sagbar. Die Frage des Dardanus nicht nur danach, wo er ist, vielmehr nach der kausalen Frage, welcher Gott ihn an diesen Ort gebracht – „Dans ces lieux quel dieu m’a transporté“ – hat, artikuliert ein neuartiges Selbstverhältnis, das sich um Liebe, Begehren und Selbstbestätigung dreht. Dass die Eröffnungsszene des Dardanus nicht mehr im Tempel, sondern im « Palais de l’Amour « in Kythira südöstlich von der Halbinsel Peleponnes platziert wird, macht die Liebe und Sexualtität zum Hauptthema :
« Le théâtre représente le palais de l’Amour à Cythère ; on y voit ce dieu sur un trône de fleurs ; Vénus est à côtés, les Grâces et les Plaisirs l’environnent, et la Jalousie est dans le fond du théâtre avec les Troubles, les Soupçons etc. qui forment sa suite. »[18]
(Das Theater stellt den Palast der Liebe in Kythera dar; man sieht dort diesen Gott auf einem Thron aus Blumen; Venus steht neben ihm, die Grazien und die Freuden umgeben ihn, und die Eifersucht befindet sich im Hintergrund des Theaters mit den Unruhen, den Verdächtigungen usw., die ihr Gefolge bilden.)

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Das Theater inszeniert einen Diskurs der Liebe und des Begehrens mit den Grazien, Freuden, der Eifersucht, den Unruhen, den Verdächtigungen usw. 1739 wird mit Dardanus von Rameau ein Theater der Gefühle allegorisch visualisiert, zugleich repräsentiert und musikalisch komponiert. „Les Plaisirs“ in ihrer Mehrdeutigkeit von Freuden, Lebensfreuden, Genuss, Lust geben einen Wink auf das Genießen der Liebe durch das Subjekt, in dem es sich finden soll. Es war 1740 der junge Friedrich II., der unter dem Einfluss Voltaires das Gedicht La Jouissance in seiner Mehrdeutigkeit von Lebensgenuss, Genuss, Zinsgenuss, Orgasmus als heimliches Regierungsprogramm schrieb.[19] „Divine volupté! Souveraine du monde!“ (Göttliche Wollust! Herrscherin der Welt!), dichtet der junge Philosophenkönig (Roi philosophe), der die libertären Hoffnungen seines Philosophielehrers Voltaire, dann allerhöchstens an seinem Hof in Sanssouci praktizieren konnte.

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Emmanuelle Haϊm hat mit ihrem Lully-Rameau-Programm, bei dem es musikhistorisch um eine Kontroverse der richtigen, französischen Musik im Umfeld des Hofes von Louis XIV. und Louis XV. gehen soll, ließe sich ebenso berechtigt als einen Machtwechsel vom König- zum Bürgertum formulieren. Die Akademisierung der Musik durch Lully hatte die zunehmende Macht des Bürgertum unterschätzt. Die Genealogie wird durch das bürgerliche Konzept des Subjekts mit seinen Gefühlen, Begehren, Lieben und Vorlieben, aber auch mit seinen Ängsten etc. zurückgedrängt. Die sehr lange Regierungszeit Louis XV. von fast 60 Jahren bis 1774 lässt mit den Enzyklopädisten völlig neue Wissensformen in Paris entstehen. Die Selbstdarstellung des Hofes als Machtzentrum war schließlich gegen die Diskurse veraltet. Mit dem Disput zwischen den Lullyisten und Rameauisten hat sich eine grundlegende Verschiebung ereignet. Der Schwenk vom disziplinierenden ballet du cour zum Gefühlsregime der Tragédie en musique wurde im Programm mit der exzellenten, fünfundzwanzigjährigen Sopranistin Lauranne Olivia und den auf den französischen Barock spezialisierten Tenor, Reinoud Van Mechelen, zu einem Triumph der Gefühle.

Torsten Flüh

Berliner Philharmoniker
Digital Concert Hall
Emmanuelle Haϊm dirigiert französische Barockmusik
Aufzeichnung des Konzertes vom 25. Oktober 2025


[1] Sylvie Bouissou: Jean-Philippe Rameau. Musicien des Lumières. Paris : Fayard, 2014.

[2] Joyce Newman: Jean-Baptiste de Lully and the Tragédies Lyriques. Ann Arbor: umi Research Press, 1979, S. 22-23 

[3] Ebenda S. 22.

[4] Übersetzung nach: Opera Baroque: Ballet de la Nuit. https://operabaroque.fr/CAMBEFORT_NUIT.htm

[5] Joyce Newman: Jean … [wie Anm. 2]

[6] Wikipedia: Pascaline.

[7] Siehe z.B. Ouverture de Chambor Le Bourgeois gentilhomme. [Airs de ballets et d’opéras] partie de dessus de violon. Lully, Jean-Baptiste (1632-1687). Compositeur Fait a Pris de dernier Jour D’Octobre 1691 Nezon (Gallica)

[8] Ballettschuhe und Standuhren aus Paris wurden in der Ausstellung zum 300. Geburtstag Friedrich II. im Neuen Palais gezeigt: Torsten Flüh: Risiko gewinnt. Friederisiko im Neuen Palais in Potsdam eröffnet. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. April 2012 (PDF)

[9] Übersetzt und zitiert nach https://moliere.gueuledebois.net/BourgeoisGentilhomme/BalletNations.html

[10] Übersetzt nach ebenda.

[11] Joyce Newman: Jean … [wie Anm. 2.] S. 26.

[12] Heiliger Tempel, ruhige Stille,
Wo Diana heute meine Wünsche empfangen wird. 
Darf meinem unruhigen Herzen ein Zufluchtsort dienen,
Gegen eine zu unglückliche Liebe! 

Und du, dessen Bild ich trotz mir erinnere,
Lieber Fürst, wenn meine Wünsche dir nicht dargebracht werden,
So bringe ich ihnen doch die Ehrung 
Der Göttin, der du dienst.
(Übersetzung nach https://www.ipasource.com/wp-content/uploads/ipa-source/samples/poems/16092.pdf)

[13] Siehe: Torsten Flüh: Silvesterstimmung. Das Silvesterkonzert 2012 der Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle mit Cecilia Bartoli. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. Januar 2013. (PDF)
Zu Jean-Philippe Rameaus Les Indes Galantes siehe ausführlich: Torsten Flüh: Belletristik, Poesie und Begehren als Musikkomposition. François-Xavier Roth mit Les Siècles und Zubin Mehta mit dem Israel Philharmonic Orchestra beim Musikfest Berlin 2019. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. Oktober 2019.

[14] Das Verb jouir kommt neben les jouissants dreimal prominent im Candide (1759) von Voltaire vor. Eine satirische Funktion nehmen die Bulgares als Preußen ein. Candide ou L’optimisme. Wikisource.

[15] Siehe: https://fr.wikipedia.org/wiki/Alexandre_Jean_Joseph_Le_Riche_de_La_Popelini%C3%A8re#/media/Fichier:La_Pouplini%C3%A8re_-_Marolles_1750.JPG

[16] Opera Libretti: Hippolyte et Aricie: 5. Akt.

[17] Vocal Music Instrumentation Index: Où suis-je? Dans ces lieux …

[18] Dardanus edited by Vincent d’Indy, 1851-1931; composed by Jean-Philippe Rameau, 1683-1764 (1739), Dardanus (A. Durand & Fils, 1913), 565 page(s) S. 1

[19] Siehe zu La Jouissance: Torsten Flüh: Für eine Kulturforschung der Sexualitäten. Zu Tim Blannings neuer „Biographie“ FRIEDRICH DER GROSSE. König von Preußen.In: NIGHT OUT @ BERLIN 25. Februar 2019. (PDF)

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