Improvisation – Form – Faszination
Vom Originalklang bis zu Frequenzspektren
Zu den Konzerten von Les Siècles, dem SWR Experimentalstudio und dem Busan Philharmonic Orchestra beim Musikfest Berlin 2025
Das Musikfest Berlin 2025 ist zwischenzeitlich Geschichte, vorbei. Warum dann noch über drei Konzerte schreiben? Es ist mir ein Bedürfnis, über die hochkarätigen Ensembles, über die Musik und die Emotionen zu schreiben. Das Originalklangensemble Les Siècles war mit 2 Konzerten an einem Abend wieder so wunderbar und vielfältig unter der Leitung von Ustina Dubitsky und Franck Ollu, dass das festgehalten werden muss. Mark Simpson, Jean-Guihen Queyras, Pierre-Laurent Aimard und das SWR Experimentalstudio begeisterten mit Kompositionen von Lachenmann und Andre. Und zum Abschluss wurde dem Musikfest und Berlin mit dem Konzert des Busan Philharmonic Orchestra ein Geschenk der Republik Korea gemacht. Gefeiert wurde mit minutenlangen Standing Ovations der 80. Geburtstag der koreanischen, in Deutschland lebenden Komponistin Younghi Pagh-Paan.

Das Instrumentarium von Les Siècles wurde für das Konzert für Violine und Orchester D-Dur von Ludwig van Beethoven mit Isabelle Faust als Solistin auf eine Frequenz von 430 Hz gestimmt. Das entspricht der um 1806 üblichen Stimmung. Für die Symphonie fantastique von Hector Berlioz ebenfalls unter der Leitung er jungen Dirigentin Ustina Dubitzky lag der Kammerton bei 438 Hz. Üblicherweise liegt der Kammerton A heute bei 440 Hz. Das Originalklangensemble spielt auf Originalinstrumenten. Im zweiten Konzert des Abends ab 21:00 Uhr für Pli selon pli von Pierre Boulez auf einem Instrumentarium des 20. Jahrhunderts unter der Leitung von Franck Ollu mit Sarah Aristidou (Sopran) als Solistin wurde der Kammerton mit 442 Hz gewählt. Frequenzspektren wurden von Mark Andre für sein Stück … selig ist … analysiert.

Beethovens Konzert für Violine und Orchester wurde zum Prototyp für Violinkonzerte im 19. Jahrhundert, nachdem der Geigenvirtuose Franz Clement am 23. Dezember 1806 die Uraufführung im Theater an der Wien gespielt wie geleitet und der 12-jährige Josef Joachim es 1844 aufgeführt hatte. Clement trieb die Virtuosität seines Spiels im Konzert so weit, dass er „sich zu manchen Schnacken und Possen herabwürdigen konnte“. Im eher populären „k. k. priv. Schauspielhaus an der Wien“[1], dessen Musikdirektor er war, galten fast akrobatische Übungen, in die seines Freundes Beethoven Solokonzert eingebettet war, als erfolgversprechend. Clement soll das Stück vom Blatt gespielt und geleitet haben, ohne dass er Kenntnis von der Partitur hatte. Die Virtuosität ist immer ein wenig zweischneidig. Für Isabelle Faust und Ustina Dubitsky stand allerdings das musikalische Einfühlungsvermögen im Vordergrund. Die Stimmung auf 430 Hz sorgte für einen tieferen, satteren Klang.

Der Originalklang des Orchesters der nachgebauten Instrumente aus der Zeit zwischen 1790 und ca. 1820 und Wunderlich-Pauken, gespielt von Camille Baslé, knüpft an den zeitgenössischen Orchesterapparat an. Wie genau das Orchester des Theaters an der Wien geklungen hat, wissen wir. Auf welcher Violine Franz Clement gespielt hat, ist ebenfalls nicht überliefert. Doch Isabelle Faust spielt die Dornröschen-Stradivari von 1704, die ihr von der Landeskreditbank Baden-Württemberg als Förderung verliehen wurde. Denn Stradivaris sind Finanzanlagen. Die L-Bank besitzt 5 Stradivaris. Die Pauken eröffnen das Konzert und Isabelle Faust hat für ihre Interpretation eine wesentlich von Beethoven selbst vorgeschlagene Kadenz gewählt, in der Solo-Violine und Pauke zusammengeführt werden.[2] Isabelle Faust und Ustina Dubitsky am Pult wurden mit Les Siècles vom Publikum gefeiert, so dass Faust noch eine Zugabe spielte.

Die furios von Ustina Dubitsky ebenfalls mit der Hand dirigierte Symphonie fantastique (1830) von Hector Berlioz müsste man mit den 5 Sätzen und ihren narrativen Titeln sowie dem Klangapparat wohl zwischen Unterhaltungsmusik und Symphonie ansetzen. In einem Manuskript von Hector Berlioz zur Symphonie fantastique heißt der Titel zunächst „Episode de la vie d’un artiste … en 5 partier“.[3] Insofern handelt es sich um eine einzelne Episode im Leben eines Künstlers in 5 Teilen. In dem beschreibenden Autograf nennt Berlioz die Symphonie in einer Korrektur „drame instrumental“ (instrumentales Drama).[4] Damit formuliert Berlioz ein narratives Musikgenre, das Richard Strauss ab 1888 mit Don Juan Tondichtung nennen sollte. Auch die Alpensinfonie von 1915 trägt noch deutlich die Züge einer Tondichtung.[5]

Mit Künstler ist vor allem ein „jeune musicien“ gemeint, wie schnell klargestellt wird. Der junge (27jährige) Musiker, dessen Drama in Paris als romantische Liebesgeschichte erzählt werden sollte, trägt, wie oft hervorgehoben, autobiographische Züge. Vielleicht bot ein instrumentales Drama von einem jungen Komponisten für ein junges, eher männliches Publikum besonders starke Identifikationsmöglichkeiten. Einerseits wird mit Rêveries – Passions (Träumereien – Leidenschaften) und Un bal im Walzerrhythmus zu Beginn Themen großstädtische Praktiken des Begehrens angestimmt. Andererseits wird der dritte Teil mit Scène aux champs im Adagio durchaus an die Pastorale von Beethoven andockend klassisch eingeflochten. Songe d’une nuit du Sabbat, im Deutschen als Traum vom Hexensabbat übersetzt wird, als letzter Teil fällt geradewegs orgiastisch aus, was sich Beethoven gewiss nicht getraut hätte.

In der Instrumentierung des Dramas greift Berlioz über die üblichen Instrumente hinaus. Militär- und Unterhaltungsmusikinstrumente schließen das sexuelle Begehren nicht aus, vielmehr machen sie es sich zur Erregung bei Märschen zu nutze. Insbesondere werden zwei Ophikleiden, eine Roch- und eine Gautrot-Ophikleide, und eine Serpent eingesetzt, die aus dem aktuellen Orchesterapparat verschwunden sind.[6] Das Ophikleide-Solo mit dem Dies-Irae-Motiv in der Symphonie fantastique ist besonders bekannt, wird heute indessen oft von einer Ventiltuba gespielt. Die Symphonie fantastique gehört in ihrer starken Narrativität und Dynamik sicherlich zu den beliebtesten Klassikstücken. Das Publikum kann, sofern es noch etwas unter z.B. Walzer versteht, sich zum Mitwalzen hinreißen lassen. Ustina Dubitzky hat in ihrem Dirigat nicht die geringsten Bedenken, das Emotionspotential der Symphonie fantastique auszuschöpfen. 2019 dirigierte Zubin Mehta dreiundachtzigjährig die Symphonie mit dem Israel Philharmonic Orchestra aus dem Kopf.[7]

Im zweiten Konzert von Les Siècles unter der Leitung von Franck Ollu wird die Improvisation als Modus der Musik in Anknüpfung an Gedichte von Stéphane Mallarmé mit Pli selon pli von Pierre Boulez befragt. Einerseits geht es mit der Komposition um einen komplexen Entstehungsprozess des Werkes aus der Lektüre und Relektüre von 5 Gedichten Mallarmés. Diesen Prozess formuliert er mit einem Zitat aus einem Sonett des Dichters mit Pli selon pli (Falte um Falte). Die wiederholten Zurücknahmen und Überarbeitungen unterlaufen eine imaginär-genialische Entstehung. Es geht vielmehr Spiel und Analyse der Sonette. Andererseits gibt es in den Neufassungen zwischen 1957 und 1989 philosophische Anklänge mit Don/Gabe (1989) und Pli (Falte) ebenso wie mit Tombeau/Grab. Essai sur le don (1950) von Marcel Mauss schimmert hindurch.[8] Und die Diskussion um die Falte mit Le Pli. Leibniz et le baroque. (1988) von Gilles Deleuze schwingt durchaus mit.[9]

Für Pierre Boulez wird nicht zuletzt die Form und „formale Strenge“ der Poesie Mallarmés wichtig. Der Kritik, dass Mallarmé ein Dichter des 19. Jahrhunderts sei, entgegnete er im Gespräch mit Wolfgang Fink am 11. Mai 1999 mit der „formale(n) Strenge“. Marcel Mauss‘ Essay Die Gabe heißt im Untertitel „Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften“. Insofern knüpfte Boulez an eine neuartige Lektüre der Gedichte an. Boulez entwickelte eine neuartige Weise der Komposition für Pli selon pli, bei der er mehr auf die Form achtet als beispielsweise den „Ausdruck“, stattdessen spricht er von Artikulation und dass er nie „eine imaginäre Sprache“ benutzt habe.[10]
„… Sie haben selbst gesagt: nach Mallarmé gab es doch so gut wie keine formelle Entwicklung mehr, zumindest nicht in der von Mallarmé eingeschlagenen Richtung. Ich wollte nichts anderes, als diese formale Strenge in die Musik zu transponieren.“[11]

Während mit der Improvisation oft eine aus dem Stegreif, ohne Vorbereitung gestaltete Musikdarbietung wie beispielsweise bei Franz Clement mit dem Violinkonzert verstanden wird, gehen die Improvisations I bis III in Pli selon pli von einer an eine Form gebundene Verarbeitung eines Gedichtes aus. Denn nach Boulez bietet das Gedicht „auf allen Ebenen, von denen wir eben gesprochen haben, sehr viel mehr Möglichkeiten als irgendeine imaginäre Sprache“.[12] Das Verständnis für die Form und ihre Analyse spielte für Pierre Boulez nicht zuletzt 1976 bei seiner Interpretation des sogenannten Jahrhundertrings im Bayreuther Festspielhaus eine entscheidende Rolle. In Richard Wagners Ring des Nibelungen wurden durch ihn beispielsweise die Maschinen, Dampfmaschinen der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts hörbar.
„Der Textkörper ist für mich wichtig, obwohl ich auch mit dem Text spiele, wenn ich etwa eine Silbe so ornamentiere, dass man dem Text kaum mehr folgen kann, weil einen die Ornamentierung der melodischen Linie so ablenkt, dass man den Faden verliert.“[13]

Im Programmheft sind die 5 Gedichte von Mallarmé mit Titeln in Französisch und Deutsch abgedruckt. Bei Boulez wird Pli selon pli mit Don eröffnet, während es bei Mallarmé heißt Don du Poeme. Die Gabe des Gedichts löst sich am Schluss in eine Art Katarakt auf: „… basalte…..y…..échos…..et……une… a…..écume…..mais.. ./…laves …..épaves .. ./…selon nul ventre…..enfui…..blême .. ./…d’autrefois se souvient …..qui….. sans espoir…..resplendi…..vivre.. ./…pour n’avoir pas …..c’est lui…..hiver…“[14] Nach einem orchestralen Auftakt singt Sarah Aristidou mit Orchester den ersten Vers wechselt die Komposition in eine instrumentale Improvisation des Gedichts. Erst mit „basalte“ beginnt die Sopranistin zunächst ohne Orchester zu singen, dann kommt Orchester hinzu. Nach „hiver“ folgt eine ca. vierminütige orchestrale Improvisation. Anders gesagt: Boulez macht aus dem Poem kein Lied. Die Stimme und der Orchesterapparat mit großem Schlagwerk und drei Harfen werden von Boulez auf neue Weise eingesetzt.

Sofern sich Don du Poeme übersetzen lässt, ist es doch gerade fraglich, ob damit nicht das Imaginäre der Sprache in Programmheftmanier wieder eingesetzt wird, das Boulez verworfen hatte. Der „hiver“ lässt sich singen, aber in der Musik wird er imagnär nicht hörbar. Boulez hat indessen ein Gespür dafür, die Sopranstimme in Szene zu setzen. Pli selon pli als ein „Portrait de Mallarmé“ wendet sich gegen eine imaginäre Sprache in der Musik, wie sie sich über Jahrhunderte entwickelt hatte. Sie bebildert nichts. Vielmehr werden Formen und Strukturen analysiert und komponiert. Es könnte sich entfernt um die Form eines Liedzyklus‘ handeln. Doch Boulez befragt die tradierten Formen. Für Les Siècles unter der Leitung von Franck Ollu, der international als Experte für zeitgenössische Musik gilt mit einer herausragenden Kenntnis der Musik von Pierre Boulez, und Sarah Aristidou wurde das Konzert zu einem umjubelten Erfolg.

Mit Allegro sostenuto von Helmut Lachenmann, das in einer zeitlichen Nähe zur Endfassung von Pli selon pli 1986/1988 komponiert wurde, befragten Mark Simpson (Klarinette/Bassklarinette), Jean-Guihen Queyras (Violoncello) und Pierre-Laurent Aimard (Klavier) die Hörhaltungen im Konzertbetrieb. Hat man am 12. Oktober 2025 ab 22:15 Uhr eher zufällig die OPUS KLASSIK Gala aus dem Konzerthaus Berlin mit Désirée Nosbusch als gefühlsseliger Moderatorin im ZDF gesehen, existieren die tradierten Hörhaltungen fort. „OPUS KLASSIK Leidenschaft feiern. Innovation fördern. Exzellenz ehren.“, heißt der Slogan der Musiklabels, Verlage und Veranstaltern. Zwischen Deutsche Grammophon, anderen und Warner Music Group wird die klassische Musik mit viel Gefühlwissen ausgehandelt. Reflexe sollen ausgelöst werden. Doch Helmut Lachenmanns Kompositionen setzen auf Reflexion.[15] Lachenmann formuliert:
„Indem die gewohnte Klangpraxis ausgesperrt wird, wird bisher Unterdrücktes offengelegt und die Klanglandschaft zeigt quasi die Rückseite der gesellschaftsüblichen philharmonischen Muster.“[16]

Die Klangsprache generiert sich bei Lachenmann in Allegro sostenuto gegen die traditionelle Erwartung eines Tempos mit „rasch getragen“ durch die Spannung zwischen Bewegung und Beharren in der Musik. Die Tempoangaben in der Musikliteratur spielen nicht zuletzt durch die Mehrdeutigkeit von Tempo und Gefühl auf ein musikalischen Gefühlswissen an, das erst einmal von einem Interpreten herausgearbeitet und dann vom Publikum verstanden werden soll. Lachenmann ist in seinem Konzept nicht ganz so radikal wie Boulez könnte man sagen. Denn im Unterschied zu jenem verspricht er mit einer Befreiungsgeste des „bisher Unterdrückte(n)“ eine imaginäre „Klanglandschaft“. Lachenmann unterläuft die „gesellschaftsüblichen philharmonischen Muster“, indem er 6 „Zonen“ beschreibt, die für „Form und Ausdruck“ entscheidend sind:
„1. eine große Eröffnungssequenz, die den gesamten Raum der tiefen Töne nutzt: Legato-Kantilenen, die sich aus einfachen Erweiterungen der Klangfülle zusammensetzen, d.h. natürlichen oder künstlichen, direkten und indirekten, fast „falschen“ Resonanzfeldern, von denen die letzte auf einer Kadenz endet („Stop“ / „Stillstand“: ein typisches Konzept, bei dem Resonanz und Bewegung Extreme verbinden);
2. eine sehr abwechslungsreiche Reihe von sehr trockenen Klängen, die zwischen Secchissimo und einer lang anhaltenden Klangfülle schwankten;
3. der eigentliche Allegro-Teil, in dem die Resonanz als Bewegung mit großer Geschwindigkeit einzufrieren scheint (oder umgekehrt);
4. unterbrochen und abgelenkt von einer Art „leerer Hymne“, einem Rezitativ bestehend aus Rufen, die sich in Räumen unterschiedlicher Resonanz und manchmal in „tauben Räumen“ ausbreiten;
5. eine Bewegung wiederentdecken, klettern und sich so an die Grenzen der heftig perforierten instrumentalen Klangfülle klammern;
6. gleichsam am Ende mit einer Schlusskadenz bestehend aus Klangfarbenmischungen, in denen Resonanz und Bewegung wieder ineinander übergehen.“[17]

Pierre-Laurent Aimard hat Allegro sostenuto bereits 1994 mit Pierre Strauch und Alain Damiens eingespielt, weshalb die Aufführung mit junger Begleitung ein ganz besonderes Erlebnis wurde. Aimard gehört zu den Pionieren der zeitgenössischen Musik und arbeitet seit langem mit Helmut Lachenmann zusammen. Beim Musikfest Berlin ist er eine Konstante mit diversen Programmen beispielsweise 2019 mit Catalogue d’Oiseaux von Olivier Messiaen.[18] Lachenmann verspricht mit Allegro sostenuto eine „Klangfülle“ die über die Muster hinausgeht. Es gibt keine Melodie, in die sich hineinlegen lassen könnte, aber Resonanzen, die neu gehört werden können. Entsprechend der Formulierung, dass „Kunst (..) nirgendwo hin“ führe „und schon gar nicht zum Ziel“[19], von Lachenmann ging es um nicht weniger, als die Resonanz und Bewegung zu hören.

Im zweiten Teil des Abends spielte Pierre-Laurent Aimard das Stück … selig ist … des Lachenmann-Schülers Mark Andre mit diskreter Live-Elektronik. Freiburg spielt für die Entstehung des Stücks eine gewisse Rolle. Das Stück erlebte seine Uraufführung am 19. Oktober 2024 in Donaueschingen mit Pierre-Laurent Aimard, Michael Acker und Markus Radke vom SWR Experimentalstudio für die Klangregie. In gleicher Besetzung kam es nun im Kammermusiksaal zur Aufführung. Die Regler der Mischpulte auf der Konzertbühne gehören zur Klangerweiterung. Sie werden sparsam genutzt. Andre hat das Stück Aimard gewidmet und trägt in Klammern die Anmerkung „Dem Andenken an Aurelius A.“. Es geht, um es einmal direkt zu formulieren, um den Krebstod des achtjährigen Schulkindes Aurelius. „Aufnahmen von Orten (wie der onkologischen Klinik der Charité Berlin) und Situationen, die in Aurelius‘ Leben eine Rolle gespielt haben“[20] wurden im Experimentalstudio des SWR in Freiburg zum Ausgangsmaterial für die Komposition.

Andre hat die spezifische Klanglichkeit der Aufnahmen erforscht und analysiert. Obertonzusammensetzungen, Frequenzspektren, die Hallspezifika von Ausklängen etc. gingen in die Komposition für die Klavierstimme und die elektronische Schicht ein. Doch die Quellen lassen sich nicht mehr isoliert identifizieren. Wiederum steht hier eine Analyse im Vordergrund der Komposition. Doch im Titel … selig ist … schwingt eine weitere Ebene des musikalischen Denkens mit. Denn Mark Andre zitiert damit die Bergpredigt im Matthäus-Evangelium: „Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen geröstet werden“. Die Anknüpfung an das Bibelzitat gibt auch einen Wink darauf, dass Andre sich als „bekennender Christ“ versteht und mit seiner Musik einen „Zwischenbereich“ hörbar machen möchte. Es geht auch eine Wahrnehmung, die ein Dazwischen klanglich eröffnet:
„Die Präpositionen in der deutschen Sprache sind etwas ganz Besonderes, weil sie eine Art latenter Ebene repräsentieren. Es sind Formen des Übergangs, und eben dieser Zwischenbereich spielt in meiner Musik eine zentrale Rolle.“[21]

Die Praktiken der Analyse und des Glaubens lassen bei Mark Andre eine Musik entstehen, die Klangräume eröffnet. Seine Kompositionen wie Entschwinden (2022)[22] oder eben … selig ist … kreisen um Vorgänge und Ereignisse, die sich logisch und emotional nicht fassen lassen. Vielleicht ist eine höchst komplexe Kompositionsweise, die sich für das Klavier und Live-Elektronik in ebenso komplexen Praktiken wie konkreten Referenzen und Frequenzspektren abspielt, zwischen Feldforschung und Trost eine Möglichkeit, andere Räume zu öffnen. Auf jeden Fall war die Aufführung mit Pierre-Laurent Aimard äußerst intensiv. Die Interpreten und Mark Andre wurden im Kammermusiksaal gefeiert, wobei Andres Köpersprache verriet, dass ihm der Applaus für das persönlich nahegehende Stück eher unangenehm war.

Das Abschlusskonzert mit dem Busan Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Seokwon Hong aus Seoul mit Sori (1980) und Frau, warum weinst Du? Wen suchst Du? (2021) von Younghi Pagh-Paan feierte den 80. Geburtstag der Komponistin und war nur deshalb möglich geworden. Winrich Hopp, der Künstlerische Leiter des Musikfestes Berlin, hatte beim Botschafter der Republik Korea angefragt, was er zum Geburtstag einer der bedeutendsten Komponist*innen Koreas und Deutschlands beitragen wolle.[23] So wurde ihm und den Berliner Festspielen gleich ein ganzes Konzert mit dem an der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin ausgebildeten Künstlerischen Direktor des Orchesters Hong und dem in Berlin lebenden und lehrenden Pianisten Ben Kim geschenkt. Ein grandioses Geschenk, wie sich herausstellen sollte. Denn Frau, warum weinst Du? Wen suchst Du? war mit dem Deutschen Sinfonie Orchester (DSO) unter der Leitung von Anna Skryleva im Januar im Großen Sendesaal zu hören gewesen.[24]

Im Unterschied zu Frau, warum weinst Du? Wen suchst Du? ist die frühere Komposition Sori — 소리 für großes Orchester mit einem weit größeren, vielfältigeren, regionalen Schlagwerk instrumentiert. Yonghi Pagh-Paan lässt durch das Schlagwerk mit seinen Referenzen zur koreanischen Klangwelt wie 3 Tempelblocks (klein, mittel, groß), Hyoshigi, Getrocknete Erbsen, Hängende Bambusrohre im Bündel, Tamtams, Tomtoms, Koreanische Glocke und Lotusflöte lässt als Auftragswerk des Südwestfunk Baden-Baden einen dramatisch-instrumentalen Klangraum entstehen. 1980 eröffnete die Uraufführung in Donaueschingen mit Sylvain Cambreling als Dirigenten des Sinfonieorchesters des Südwestfunks Baden-Baden eine neuartige Klangwelt aus zeitgenössischen Kompositionsweisen und südostasiatisch geprägtem Schlagwerk. Im Koreanischen bezeichnet — 소리 „alles, was akustisch wahrnehmbar ist: Geräusch, Schrei, Stimme, Ton, Ruf, Schall, Klang“, schrieb die Komponistin über ihr Stück.[25]

Ysang Yun und Younghi Pagh-Paan gehören zu den größten koreanischen Komponist*innen, die vor der Militärdiktatur in Südkorea nach Deutschland geflohen sind. Beide kamen auf unterschiedliche Weise über den Deutschen Akademischen Austauschdient (DAAD) nach Deutschland. 2017 wurde beim Musikfest der 100. Geburtstag von Ysang Yun aufwendig gefeiert.[26] Pagh-Paan hat es in ihrem Werkkommentar 1986 vermieden, den Sturz des Militärregimes als Anstoß für ihre Komposition zu erwähnen. Doch Winrich Hopp berichtete in seiner Anmoderation zum Konzert von den elektrisierenden Ereignissen, die zum Sturz des Regimes geführt und die Komponistin 1979 inspiriert haben. Sie studierte 1974 bis 1979 an der Musikhochschule Freiburg i.Br.. Sori — 소리 führt sie als fünfte Komposition in ihrem Werkverzeichnis auf. 1979 endete die Militärdiktatur in Südkorea, woraufhin Younghi Pagh-Paan das Stück mit Anklängen an die koreanische Geschichte wie traditionelle Klangwelt zu komponieren begann. Insofern kann Sori — 소리 als eine Art koreanische Befreiungssinfonie in fünf Teilen gehört werden, obwohl sie keine Sinfonie schreiben wollte.

Seokwon Hong führte mit seinem Orchester und dem Pianisten Ben Kim mit Maurice Ravels Konzert für die linke Hand D-Dur eine Art Solitär der Musikliteratur auf. Denn der Bruder des weithin bekannten Philosophen Ludwig Wittgenstein[27], Paul, verlor als Konzertpianist und Soldat im ersten Weltkrieg seinen rechten Arm. 1929 gab der vermögende Industriellenerbe und Pianist den Auftrag an Maurice Ravel, ein Konzert für die linke Hand zu komponieren. Am 5. Januar 1932 spielte Paul Wittgenstein in Wien mit dem Wiener Symphonieorchester unter der Leitung des bekannten, deutschen Dirigenten und Komponisten Robert Heger die Uraufführung. Ravel erfand nicht nur einen Klang- und Farbenreichtum für das einhändige Klavierspiel, vielmehr schnitt er seine Komposition auf die virtuosen Fähigkeiten Paul Wittgensteins zu. Ben Kim meisterte die extremen Ansprüche der Partitur mit Bravour und wurde vom Publikum gefeiert.

Zum Abschluss des ersten Teils wurde L’Ascension – Quatre méditations symphoniques von Olivier Messiaen fast nach der Liturgie von I Majesté du Christ demandant sa gloire a son Père bis IV Prière du Christ montant vers son Père also von einem Gloria bis zu einer Himmelfahrt gespielt. Das frühe Werk von 1932/33 zur Himmelfahrt Christi wurde vom Busan Philharmonic Orchestra brillant aufgeführt und bekanntlich gehört Pierre Boulez zu seinen frühen Schülern, wie zum Konzert des Netherlands Radio Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Karina Canellakis besprochen worden war.[28] Doch den Berichterstatter will die naive Narrativität Messiaens hier nicht gefallen. Mit Sibelius‘ Sinfonie Nr. 7 C-Dur op. 105 machte das koreanische Orchester im zweiten Teil seinen Abschluss. Von Sibelius war beim Musikfest bereits die 5. Sinfonie unter der Leitung von Esa-Pekka Salonen mit dem Orchestre de Paris aufgeführt worden.[29] Vielleicht geht es Sibelius in der Sinfonie Nr. 7 um eine Entstehung der Musik aus sich selbst heraus. Mehrfach hatte der Berichterstatter das Gefühl, dass in der Sinfonie Musikgedanken des Komponisten als plötzliche Einfälle unmotiviert auftauchen.
Torsten Flüh
[1] Siehe die gute Dokumentation auf Wikipedia: Violinkonzert (Beethoven)
[2] Siehe Martin Wilkening: Im freien Fluss der Gedanken. In: Musikfest Berlin 2025: Abendprogramm 6.9.2025 Les Siècles I Beethoven/Berlioz … Berlin, S. 9.
[3] [Programme autographe de la Symphonie Fantastique] (manuscrit autographe) Berlioz, Hector (1803-1869). Auteur du texte. Gallica.
[4] Ebenda.
[5] Zur Tondichtung Alpensinfonie siehe: Torsten Flüh: Vom Sonnengesang, der Trauermusik und dem Alpengipfel ironisch. Zur Uraufführung des Cantico delle Creature durch das Ensemble Modern Orchestra, dem Boston Symphony Orchestra und dem Bayrischen Staatsorchester beim Musikfest Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 14. September 2023.
[6] Siehe Instrumentarium Les Siècles. In: Musikfest … [wie Anm. 2] S. 7.
[7] Torsten Flüh: Belletristik, Poesie und Begehren als Musikkomposition. François-Xavier Roth mit Les Siècles und Zubin Mehta mit dem Israel Philharmonic Orchestra beim Musikfest Berlin 2019. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. Oktober 2019.
[8] Marcel Mauss : Essai sur Don. Forme et raison de l’échange dans les sociétés archaïques. Paris : Presses Universitaires de France, 1950. (Zuerst 1923-1924)
[9] Gilles Deleuze : Le Pli. Leibniz et le baroque. Paris : Les éditions de Minuit, 1988.
[10] Im Gespräch Pierre Boulez über Pli selon pli. In: … Abendprogramm 6.9.2025 … [wie Anm. 2], S. 26.
[11] Ebenda S. 24.
[12] Ebenda S. 26.
[13] Ebenda.
[14] Ebenda S. 28.
[15] Siehe u.a. Torsten Flüh: Haltung zeigen in der Musik. Helmut Lachenmann, Unsuk Chin, Lisa Streich und Rebecca Saunders mit dem Ensemble Modern und dem EnsembleKollektiv Berlin sowie dem hr-Sinfonieorchester beim Musikfest Berlin 2025. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. September 2025.
[16] Helmut Lachenmann zitiert nach: Musikfest Berlin 2025: Abendprogramm 18.9.2025 Mark Simpson/Jean-Guihen Queyras/Pierre-Laurent Aimard/SWR Experimentalstudio Lachenmann/Andre. Berlin 2025, S. 7.
[17] Siehe IRCAM Centre Pompidou: Allegro sostenuto (1986-1988) (Programm in Französisch)
[18] Siehe Torsten Flüh: Extrem engagierte Pianisten. Pierre-Laurent Aimard und Alexander Melnikov rahmen das Eröffnungskonzert des Musikfestes Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 2. September 2019.
[19] Musikfest … [wie Anm. 17] S. 8.
[20] Ebenda S. 11.
[21] Mark Andre zitiert nach ebenda S. 10.
[22] Zu Entschwinden von Mark Andre siehe: Torsten Flüh: Neue Musik zwischen Freiburger Schule und no school. Zu den Konzerten von MAM.manufaktur für aktuelle Musik, Ensemble Apparat und Deutschem Symphonie-Orchester bei ultraschall berlin 2024. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. Februar 2024.
[23] 2022 hatte die Republik Korea bereits mit Jongmyo Jeryeak beim Musikfest begeistert. Siehe: Torsten Flüh: Faszinierende Lebenspraxis und Kosmologie Koreas. Zur begeistert aufgenommenen Vorführung von Jongmyo Jeryeak des National Gugak Centers in Seoul beim Musikfest Berlin 2022. 16. September 2022.
[24] Siehe: Torsten Flüh: Encore – ein Zauber. Zum Eröffnungskonzert des Festivals Ultraschall Berlin 2025 mit dem DSO unter Leitung von Anna Skryleva. In: NIGHT OUT @ BERLIN 21. Januar 2025.
[25] Younghi Pagh-Paan: SORI für großes Orchester (1979/80) (Website)
[26] Siehe Torsten Flüh: Isang Yuns Weltmusik der Haltung. Zum 100. Geburtstag des Komponisten Isang Yun (Korea) beim Musikfest Berlin 2017, In: NIGHT OUT @ BERLIN 21. September 2017.
[27] Zu Ludwig Wittgenstein siehe: Torsten Flüh: Das Problem mit dem Apfel und der Handbuchliteratur. Zu Götz Wienolds Theaterstück Wittgenstein in Cassino und dem Wittgenstein-Handbuch von Anja Weiberg und Stefan Majetschak. In: NIGHT OUT @ BERLIN 26. Oktober 2022.
[28] Torsten Flüh: Furios tänzelnde Eröffnungen des Musikfestes Berlin 2025. Klaus Mäkelä dirigiert das Royal Concertgebouw Orchestra und Karina Canellakis das Netherlands Radio Philharmonic Orchestra. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. September 2025.
[29] Torsten Flüh: Komponiertes Erinnern. Zum gefeierten Konzert des Orchestre de Paris unter der Leitung von Esa-Pekka Salonen beim Musikfest Berlin 2025. In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. September 2025.
