Grandioses Großwerk durchglüht

Industrielle Revolution – Antike – Grand Opéra

Grandioses Großwerk durchglüht

Zur gefeierten Aufführung von Les Troyens durch Dinis Sousa als Ersatz für Sir John Elliot Gardiner beim Musikfest Berlin

Sir John Eliot Gardiner (80), dem die Einstudierung und Aufführung der ungekürzten Fassung der Grand Opéra Les Troyens von Hector Berlioz durch den Monteverdi Choir und das Orchestre Révolutionnaire et Romantique sowie mehreren hochkarätigen Solist*innen zu verdanken ist, fiel gleichsam der Revolte eines Sängers auf den Altären von Troja und Karthago zum Opfer. Nach der Aufführung beim Festival Berlioz in La Côte-Saint-André, Auvergne-Rhône-Alpes, dem Geburtsort des Komponisten, sei der Sänger des Priam und Narbal, William Thomas (Bass), zur falschen Seite von der Bühne abgegangen, woraufhin es hinter der Bühne zu einem Disput gekommen sei, an dessen Ende Gardiner den Sänger des Königs von Troja und des Ministers der Königin von Karthago geohrfeigt habe. Fortan übernahm Gardiners Assistent Dinis Sousa bei den Salzburger Festspielen und beim Musikfest Berlin sowie bei den BBC Proms in der Royal Albert Hall das Dirigat.

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Hector Berlioz schrieb das Libretto zu seiner Oper Les Troyens nach dem Epos Aeneis des römischen Dichters Vergil selbst. Es geht um den Gründungmythos Roms und des römischen Reiches durch den Trojaner Aeneas (Michael Spyres). Insofern Vergil mit Aeneis Motive und Mythen der früheren Illias und Odyssee wiederholt und transformiert, handelt es sich um eine Wiederholung, die von Berlioz ins Format der Grand Opéra im Paris der Industrialisierung transformiert wird. Gefühle und Wissen, Gesetze und Verrat, Erfüllung von Konventionen und Eigensinn, Zukunftswissen und Zufall, Volk und Prosperität spielen bei Berlioz eine strukturierende Rolle. Im aufblühenden Karthago schimmern die Versprechen der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch. Dido (Paula Murrihy) und Aeneas geben sich als Höhepunkt der unendlichen Ekstase hin: „Nuit d’ivresse/et d’exstase infinie!“, der „Nacht der Glut und des sel’gen Verlangens!“

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Die Grand Opéra Les Troyens in Gänze halbszenisch aufzuführen, war seit Jahren der große Wunsch von Sir John Eliot Gardiner. Die doppelte Tragödie des Untergangs von Troja mit dem Suizid der Cassandra (Alice Coote) wie den Trojanerinnen und des Suizids der Königin von Karthago, Dido bzw. französisch Didon (Paula Murrihy), setzt das antike Format von den Gesetzen der Götter, der Prophezeiung und den Gefühlen der Menschen gleich zweimal ebenso aufwendig wie eindrücklich in Szene. Gardiners, sagen wir, Leitungspraxis ist seit Jahren umstritten. Die Gesetze eines globalen Gleichheitsdiskurses und nicht allein die nun herbeizitierten Ärzte, Medikamente und hohen Temperaturen in La Côte-Saint-André haben Gardiner zumindest tragisch mitgespielt. Die Hochkultur der europäischen Klassik bebt mit Les Troyens und einem Gesetzeswandel.

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Die Aufführung von Les Troyens beim Musikfest Berlin war mit erheblichem Aufwand und einem Comic von Mikael Ross als Plakat und Programm angekündigt und beworben worden. Les Troyens sprengt Dimensionen mit „über sechseinhalbtausend Takte(n) Partitur“[1]. Der Comic bietet nicht nur Bilder von der antiken Sage der Trojaner, nach der Cassandra, Tochter des Königs von Troja, Priamus, franz. Priam, die die Zerstörung Trojas vorhersagt und nicht gehört wird, vielmehr ziehen die Trojaner witzig in Hans Sharouns Philharmonie ein. Dort wird Cassandra ausgebuht. Doch dann wird die Aufführung zu einem Triumph. Der zeitgenössische Comic verknüpft Literatur- und Opernwissen mit den aktuellen Themen einer so großen, weil vielzähligen konzertanten, halbszenischen Opernaufführung.

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Die Erwartungen an eine ungekürzte Aufführung von Les Troyens waren groß. Dennoch war das Haus nicht ausverkauft, was als Verhalten des Klassik- und Opernpublikums kaum nachzuvollziehen ist. Es sei allerdings die Indiskretion erlaubt, dass Sir Simon Rattle und seine Frau Magdalena Kožená der Aufführung beiwohnten. Das war mehr als eine Überraschung, weil die Aufführung um 17:00 Uhr begann und nach 22:00 Uhr endete. Einerseits ist bekannt, dass Sir Simon Rattle selbst ein Interesse für Hector Berlioz hegt und die Grande Symphonie funèbre et triomphale mit den Berliner Philharmonikern zum 50. Jubiläum der Philharmonie 2013 prominent aufgeführt hat.[2] Andererseits wird Dinis Sousa seine Neugier geweckt haben. Dinis Sousa wurde vom Publikum, den Solist*innen, dem Chor und Orchester gefeiert, soviel kann vorweggenommen werden.

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2019 stand die Opéra comique Benvenuto Cellini von Hector Berlioz mit Sir John Eliot Gardiner dem Monteverdi Choir und dem Orchestre Révolutionnaire et Romantique im Programm des Musikfestes Berlin und gab mit einem Streikchor einen Wink auf die Industrialisierung sowie politische Debatten der 1830er Jahre in Frankreich und Paris.[3] Berlioz begann nach längerem Zögern im April 1856 die Komposition von Les Troyens, nachdem von Mai bis Oktober 1855 in Paris die Exposition Universelle des produits de l’Agriculture, de l’Industrie et des Beaux-Arts stattgefunden hatte und das bekannte Dimensionen sprengende Palais de l’Industrie am Champs-Élysee gebaut worden war. Berlioz hatte zur Weltausstellung im Oktober und November zwei Konzerte beigesteuert. Benvenuto Cellini war schon 1838 in der Pariser Oper mit dem proletarischen Streikchor uraufgeführt worden. In die Spannung von Industrialisierung, Investitionen, Kapitalismus, neuen Großbauten und wirtschaftlicher Blüte, die zugleich ganz Paris und seine Bevölkerung davonrissen, ziehen die Trojaner ins Exil nach Karthago.

© Fabian Schellhorn

Die Zukunft lässt sich in Paris um 1855 schwer vorhersagen. Seit 1838 hat die Geschwindigkeit der Veränderungen zugenommen, als Hector Berlioz mit Cassandra eine Frau, die hellsichtig geworden ist und deren Warnungen nicht gehört werden, zur Hauptfigur des ersten Teils seiner Oper macht. Gegenüber dem Epos wird die Funktion Cassandras viel stärker herausgearbeitet. Das Zukunftswissen spielt in der Oper als Gesetz der Götter eine brutale und strukturierende Rolle, während im zeitgenössischen Paris niemand weiß, ob er/sie morgen unermesslich reich oder bankrott sein wird. Industrialisierung und Finanzkapitalismus machen vor allem Paris zum neuen Dreh- und Angelpunkt der Welt in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Anders gesagt: Das „Vergilische() Herzweh“[4], dass Hector Berlioz in seiner Autobiographie zum Auslöser für die Komposition der Grande Opéra macht und mit der Michael Stegemann in Hectors Schatten argumentiert, kann zugleich in der Industrialisierung liegen, in der alles Versprechen, aber nichts mehr sicher ist.

© Fabian Schellhorn

Im Unterschied zu den prägenden Vergil-Lektüren der Kindheit im ländlichen La Côte-Saint-André kann Berlioz, der mit Rufnamen so heißt wie der älteste Sohn des trojanischen Königs Priamos, Hector, welcher von Achilleus getötet und dreimal um die Stadt Troja geschleift wird, in Paris nicht mehr davon laufen. Er muss seine Erzählung verarbeiten oder die Figur Hector verschieben. Der schreckliche Tod Hectors wird vom Librettisten und Komponisten nicht erwähnt, vielmehr erscheint er Cassandra als um die Zukunft wissender Geist. Die Opernhandlung beginnt mit dem Tod Achills. Opfer will Hector nicht sein.
„SOLDAT
Wisst ihr wohl, wessen Kriegszelt an diesem Ort stolz sich erhob?
TROJANISCHES VOLK
Nein, sag es uns. Hier stand …
SOLDAT
Das des Achills.
TROJANISCHES VOLK weicht entsetzt zurück
Zeus!
SOLDAT
Verweilt, tapfere Männer,
Achill ist tot,
und dort könnt ihr sein Grab erblicken.
Schaut es an.“[5] 

© Fabian Schellhorn

Diese initiale, gleichsam mikrologische Beobachtung des Beginns der fünfaktigen Oper gibt einen Wink auf Berlioz‘ Übertragungsverfahren. Er überträgt nicht nur Vergils Aeneis vom Lateinischen ins Französische, vielmehr noch vom Epischen ins Dramatische, das mit einer neuartigen Subjektposition des Dichtererzählers bei Vergil bereits angelegt war. „Während sich in den Proömien von Ilias und Odyssee kein Verb in der ersten Person Singular findet und der Erzähler der Argonautika erst am Anfang  des zweiten Verses „ich will erinnern“ sagt, folgt bei Vergil schon in Vers 1 unmittelbar auf die knappe Themenangabe Arma uirumque („Waffen und Mann) das selbstbewußte cano („singe ich“).“[6] Das neuzeitliche Auftauchen des Subjekts im Libretto der Oper verändert alles. Kassandra sieht in der Eröffnungssequenz Hector als Wissenden. Im Französischen wird diese entscheidende Übertragung durch Cassandre mit einer Wiederholung noch stärker betont:
„J’ai vu l’ombre d’Hector
parcourier nos remparts
comme un veilleur de nuit.
J’ai vu ses noirs regards
interroger au loin
le détroit de Sigée …
Malheur !“[7] 

© Fabian Schellhorn

Das Sehen als Form des subjetbezogenen Zukunftswissens wird für Cassandre bzw. Kassandra zur Tragödie. Denn sie sieht etwas Anderes, das weder ihr Geliebter Choröbus (Lionel Lhote) noch die Trojaner sehen können oder sehen wollen. Das Trojanische Pferd wird vom Volk in die Stadt gezogen. Der warnende Priester Laokoon wird von Schlangen aus dem Meer verschlungen. Durch die Subjektivierung des Sehens und Wissens von Kassandra und Choröbus schafft Hector Berlioz einen neuartigen dramatischen Konflikt, der ebenso neuzeitlich ist, wie er den Konventionen der Oper entspricht. Die Übertragungen funktionieren auf eine Art und Weise, die aus dem lateinischen Text neuartige Erzählungen entstehen lässt. Der Berichterstatter muss zugeben, dass er nicht vergilfest ist und die Aeneis nicht vollständig kennt. Choröbus kommt im Buch II des Epos in der Schreibweise Coroebus als Geliebter vor, indessen lassen sich die unterschiedlichen Formen des Wissens wie sie im Duett artikuliert werden, nicht finden.[8] Vielmehr meldet sich der Epiker, Vergil in Vers 402 prominent mit einem Ausruf zu Wort, der beide Wissensformen in Frage stellt, bevor sich Coroebus, dem Tode nah, in den Zug der Kämpfenden wirft:
„Heu nihil inuitis fas quemquam fidere diuis!“
(Leider kann man lange Zeit niemandem vertrauen!)

Es ist die Gesangsform des widerstreitenden Duetts, mit der exemplarisch das unterschiedliche Wissen der Subjekte Cassandra und Choröbus inszeniert und verhandelt wird. Die verfehlende oder tragische Liebe des Subjekts, die im Duett von Kassandra und Choröbus besungen wird, trägt Züge der Romantik und ihres Liebesdiskurses. Für den ersten und zweiten Akt der Oper mit dem Schauplatz Troja wird dieser Liebesdiskurs als Problem des subjektiven Wissens strukturierend. Kassandra drängt Choröbus aus ihrem Vorwissen zur Flucht. Doch der „Liebeswahn“ als Form seines Wissens lässt ihn bei ihr bleiben.
„KASSANDRA
Willst du so blind wie sie
darauf bestehen,
zu opfern dich für deinen Liebeswahn?
CHORÖBUS
Ich weiche nicht von dir!“[9]

© Fabian Schellhorn

Hector Berlioz schrieb sein Libretto für das Publikum seiner Epoche in Paris. Dadurch verschiebt sich nicht zuletzt die antike Erzählung. Obwohl er sich an Vergils Handlung orientiert, werden die Sehnsüchte, Diskurse und Ängste der Mitte des 19. Jahrhunderts verhandelt. Es geht weniger um ein Bildungswissen der Antike, als darum im Format der Bildung narrativ und musikalisch den Nerv der Zeit zu treffen. In Karthago stärker als in Troja bis zum Schluss des 2. Aktes kommen die Sehnsüchte nicht zuletzt nach einem gerechten und prosperierenden Staat zum Zuge. Didon bzw. Dido als Königin von Karthago gibt den geflüchteten Trojanern nicht nur Asyl, vielmehr noch ehrt sie ganz nach dem Programm der Weltausstellungen Landwirtschaft, Industrie und die Schönen Künste, die in „constructeurs, matelots, laboureurs“ (Konstrukteure, Matrosen, Arbeiter) übersetzt werden.
„DIDO
Es ward euch zu gefallen
dieser herrliche Tag,
den im Herzen stets bergt,
auf dass er kröne euer Friedenswerk,
auserkoren vor allen.
Naht euch, Männer des Baus,
ihr des Meers, ihr des Felds!
Diese Hand reicht euch dar
die würdige Belohnung
für jenes Wirken, welches Kraft
und Wohlergehn den Staaten verleiht.“[10]

© Fabian Schellhorn

Mit mehreren Pantomimen und Balletten entfaltet Berlioz einen musikalischen Horizont des Staates bzw. eine universelle Staatspraxis, in der das Trojanische wie das Karthagische Volk nicht nur als Chor zu Wort kommt. Märsche und Hymnen ordnen ganz im Sinne eines prosperierenden Staates nicht zuletzt die Arbeiter der Industrie. Gegenüber Benvenuto Cellini gibt es keinen Streikchor. Vielmehr werden die Arbeiter in militärischen Märschen diszipliniert. Vor dem Hintergrund der Barrikadenkämpfe vom 22. bis zum 26. Juli 1848 in Paris, der wechselnden Putschversuche in den folgenden Jahren, liefert Berlioz mit Dido als Königin ein befriedendes Staatsmodell, während im Hintergrund das Gesetz der Götter unerbittlich für Aeneas an der Bestimmung, nach Italien zu reisen, festhält. Das unausweichliche Gesetz der Götter, so sehr es die Liebe zwischen Dido und Aeneas ermöglicht und zerreißt, verspricht eine Stabilität, die es in Paris schwerlich gibt.

© Fabian Schellhorn

Die Ordnung der Natur wird vom Dichter Iopas (Laurence Kilsby) auf Befehl der Königin nicht zuletzt als eine des Staates besungen. In das antike Gewand gekleidet soll Iopas „in der schlichten Hirtenart“ singen. Im Refrain des Liedes wird die römische Göttin des Ackerbaus und der Fruchtbarkeit, Ceres, besungen. Das Hirtenlied, das man auch eine Pastorale nennen könnte, erfüllt nicht nur eine Forderung der Grand Opéra, vielmehr führt es die Ordnung als Natürliches auf. Es naturalisiert gewissermaßen die Ordnung. Das Lied ist von Berlioz besonders schön und eindrücklich komponiert und wurde von dem jungen Tenor Laurence Kilsby bravourös gesungen. Während eine antike Erzählung aufgeführt wird, schimmert doch überall ein Ringen um Ordnung und Gesetze durch, an denen es mangelt:
„O Ceres voll Huld,
wenn begrünt die Flur
zur Feier des Lenzes
du lässest erglänzen,
schallt dir Lob und Preis.“[11]  

© Fabian Schellhorn

Der Suizid der Frauen, also Cassandras, der Trojanerinnen und der Dido ist einerseits im Epos angelegt, andererseits stellt er im Kontext des 19. Jahrhunderts in Paris und der Industrialisierung die Frage nach dem Frauenbild. Cassandra und Dido sind weibliche Herrschaftsfiguren. Während Cassandra durch ihr Zukunftswissen herrscht und machtlos bleibt, quasi nur als Medium von den Göttern missbraucht wird, um die Härte des Gesetzes vorzuführen, ist Dido vielschichtiger zwischen treuer Witwe, Mutterfigur, Schwester und Liebender angelegt. Klaus Heinrich Kohrs hat auf die „Spiegelungen der beiden „personnages dominateurs““ hingewiesen.[12] Seit 1830 kursiert durch Eugène Delacroix in Paris und Frankreich das Bild der Marianne als Nationalfigur mit dem Gemälde La Liberté guidant le peuple. Marianne führt das Volk mit der Trikolore in die Freiheit. Sie trägt eine in der Antike den Männern vorbehaltene Bonnet phrygien oder phrygische Mütze und löst die dynastische Nationalfigur der Francia oder Gallia ab. Es gibt insofern ein gewisses Spannungsfeld des Frauenbildes, in dem Frauen in einem Suizid über sich selbst und ihr Leben bestimmen. Kohrs hört und liest bei Didon gar eine „äußerste() Willenskraft“:
„„Von einer konvulsivischen Energie ergriffen, besteigt Didon mit schnellem Schritt den Scheiterhaufen“, notiert Berlioz in der Partitur.“[13]

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Das Frauenbild der Grand Opéra, das von Berlioz über die Musik auch mit einem psychologischen Wissen von sich selbst ausgestattet wird, spitzt zumindest jenes des Epos zu. Auffällig sind die männlichen Attribute, mit denen die vorbildlichen Frauenfiguren versehen werden. Es geht ihnen um Ehre und Kontrolle über ihr Leben. Anders formuliert: mit dem Suizid, nehmen sie sich das Leben und beenden es nicht nur.[14] Die letztlich auf der Opernbühne pantomimische Geste der Selbsttötung behauptet unter der Herrschaft der Weissagung eine Autonomie des Subjekt, die gerade für Frauen in der 2. Hälfte des 19. Jahrhundert fragwürdig oder utopisch ist. Aeneas als prototypischer Mann wird von den Gesetzen der Götter getrieben und unterwirft sich seiner Bestimmung, nach Italien ins Exil zu gehen und Rom zu gründen, während die beiden Frauenfiguren Cassandre und Didon ihre Autonomie behaupten. Wie lässt sich dieses verschlungene Geschlechterverhältnis lösen?

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Das Geschlechterverhältnis als eines neuartiger Lebens- und Arbeitsverhältnisse für Männer und Frauen spielt eine Rolle für Hector Berlioz. Als Mann und als Namensvetter des antiken Hector muss er Übertragungsprobleme bearbeiten. Insofern die phrygische Mütze der Marianne antikengeschichtlich ursprünglich ein Stierhoden gewesen sein soll und La Liberté damit einen Machtverlust der Männer verspricht, wird von Berlioz mit Cassandre, Didon und Hectors Gattin Andromaque das Geschlechterverhältnis verhandelt. Der Librettist und Komponist findet sich immer wieder verstrickt in den Epos. Kohrs sieht in der Pantomime eine erfolgreiche Übertragung.
„… des toten Hector Gattin Andromaque mit ihrem Sohn Astyanax, deren Pantomime zu einer ergreifenden langen Klarinettenmelodie zum Musterfall einer Seelenbewegung wird. Die Musik im Verein mit der Pantomime repräsentiert hier den inneren Vorgang eines schmerzlichen Ausbruchs der Selbstdisziplin und deren schließliche Wiedergewinnung, die Voraussetzung für das Auferstehen aus dem Schmerz ist.“[15]

© Fabian Schellhorn

Die Pantomime indessen wird seit Ende des 18. Jahrhunderts als Gefühlsmedium entwickelt. Sie ist heutzutage fast völlig als Medium verschwunden. Pantomimen und Lebende Bilder entwickeln seit der Zeit um 1800 eine neuartige Sichtbarkeit von Gefühlen insbesondere mit Antikenbildern z.B. der Lady Hamilton. Doch die Lebenden Bilder werden nicht von Musik begleitet oder gar durch sie zum Sprechen gebracht. Das Weinen der Andromaque, das in der Pantomime auf das Volk übertragen wird, gehört geradewegs zum Repertoire der Pantomimen und Lebenden Bilder. Weit wichtiger als die Sichtbar- und Hörbarmachung der „Seelenbewegung“ wird, dass Berlioz die Kunst der Pantomime so weiterentwickelt, dass ein psychologisches Schauspiel aller erst wahrgenommen werden kann. Die nicht zuletzt mit den Frauenfiguren aufgeworfene Geschlechterproblematik wird quasi durch Berlioz‘ Musik aufgenommen und in eine „Seelenbewegung“ transformiert. Der Gefühlsprozess oder auch die musikalische Gefühlsgeschichte befriedet gleichsam die Geschlechterfrage, indem Hector(!) Andromaque vorspielt, wie sie sich verhalten soll.

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Durch eine erweiterte Lektüre gewinnt Hector Berlioz Grand Opéra Les Troyens eine Vielschichtigkeit, die sich beim Hören und Zuschauen in der Philharmonie an mancher Stelle wie ein Blitz einstellte. Dafür braucht es eine Genauigkeit und Klarheit in der Aufführungspraxis durch exzellente Musiker*innen, Chorist*innen und Solist*innen, die von einem brillanten Dirigat geführt werden. Deshalb wurde der Abend durch Dinis Sousa zu einem Triumph. Ob sich der Dirigent Gedanken um die vielfältige Verflochtenheit der Komposition wie des Librettisten und Komponisten gemacht hat, wissen wir nicht. Sie ließen sich auf ihn übertragen, aber das muss nicht sein. Vielmehr wurde die Verflochtenheit der Grand Opera durch die komplette Aufführung gerade in jenen Passagen, von denen Opernkenner häufig sagen, dass sie als Längen und Wiederholungen verzichtbar seien, man die Partitur also kürzen könne, zu aller erst hörbar. Und das ist ein unschätzbares Verdienst des Projektes, das auf tragische Weise mit Sir John Eliot Gardiner verbunden sein wird. Wie ein Epos für alle Zeit.

Torsten Flüh

Musikfest Berlin 2023
bis 18. September 2023


[1] Michael Stegemann: Hectors Schatten. In: Berliner Festspiele: Musikfest Berlin: Abendprogramm 1.9.2023. Berlioz: Les Troyens, Berlin 2023, S. 15.

[2] Siehe: Torsten Flüh: Die hohe Schule des Hörens. Zum Festkonzert der Berliner Philharmoniker für 50 Jahre Philharmonie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. Oktober 2013. (PDF unter Publikationen)

[3]  Siehe: Torsten Flüh: Pariser Industrialisierung glüht durch Hector Berlioz‘ Benvenuto Cellini. Sir John Eliot Gardiner beschenkt das Musikfest Berlin mit einer Ophicleide, Saxhörnern und einem Streikchor. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. September 2019.

[4] Michael Stegemann: Hectors … [wie Anm. 1] S. 13.

[5] Berliner Festspiele: Musikfest Berlin: Libretto. Berlioz: Les Troyens, (Deutsche Übertragung : Simon Werle) Berlin 2023, S. 4-5.

[6] Niklas Holzberg: Die Stimme der Einfühlung. Vergil als empathischer Epiker. In: Berliner Festspiele: Musikfest … [wie Anm. 1] S. 27.

[7] Berliner Festspiele: … Libretto … [wie Anm. 5] S. 6.

[8] Siehe: Publius Vergilius Maro: Aeneis. (Wikisource)

[9] Berliner Festspiele: … Libretto … [wie Anm. 5] S. 10.

[10] Ebenda S. 31.

[11] Ebenda S. 45.

[12] Klaus Heinrich Kohrs: Eine Oper der Frauen: Cassandre und Didon. In. Berliner Festspiele: … Abendprogramm … [wie Anm. 1] S. 22.

[13] Ebenda S. 25.

[14] Siehe dazu auch: Torsten Flüh: Der Suizid muss ein moderner Wiener sein – und stören. Thomas Macho stellt sein Buch Das Leben nehmen in der Feierhalle des Kulturquartiers silent green vor. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. November 2017. (PDF unter Publikationen)

[15] Klaus Heinrich Kohrs: Eine … [wie Anm. 12] S. 24-25.

3 Kommentare

  1. Ganz schön mutig, der lange Beitrag. Gefällt mir (und nicht nur, weil ich zitiert werde). Aber der Kurzschluss mit dem Paris des mittleren 19. Jahrhunderts, so richtig ich ihn finde, müsste natürlich noch genauer ausgearbeitet werden. Dass aber das Werk derart ernst genommen wird: eine Wohltat (im Gegensatz zum Geschwätz von der „Monsteroper“ und den abenteuerlichen Zeitangaben eines flüssigen Werks voller Überraschungen – von genau vier Stunden).

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