Zu Peter Grosz‘ Ausstellung ZitronenBlau in der Galerie des Kunsthauses Artes
Die Galerie Artes in der Auguststraße 19 in Berlin-Mitte zeigt aktuell bis 13. August farbintensive Arbeiten von Peter Grosz, die als abstrakte Kunst eingeordnet werden. Häufig werden Farben kontrastiv eingesetzt. Einen Wink gibt der Ausstellungstitel mit ZitronenBlau. Er wird zusammengeschrieben. Doch er kontrastiert durch die Großschreibung des B Zitronen und Blau ebenso. Die Montage macht aus einem Zitronengelb einen Blauton, der sich zugleich schwer einordnen lässt. Ein intensives Blau ruft einen ganzen Assoziationsraum auf. In den beiden letzten Jahren hat Peter Grosz eine kleinformatige – 18 x 18 cm – Serie von Acryl-Bildern produziert, die visuell ansprechen und reizen. Faszinierend. Sie sind durch unterschiedliche Praktiken, denen nachzudenken sein wird, entstanden.
Wie generiert Peter Grosz seine Bilder? Was macht seine visuellen Arbeiten zu Bildern? Beginnen wir mit der Rahmung der Serie. Der Rahmen, das wiederkehrende Format sind für die Serie wichtig, weil er den Modus der Wiederholung hervorbringt. Durch die dicken weißen Rahmen (28 x 28 cm) mit der Glasscheibe bekommen die Arbeiten aus Acryl auf Pappe eine Aufwertung. Die überpointierten Rahmen mit Glasscheibe sagen in gewisser Weise: Schaut her, dies ist ein Bild. In den Rahmen wird ein Bild erwartet. Die quadratischen Farbkompositionen sind singulär, soviel lässt sich sagen. Das Singuläre wird durch die Rahmen in den Zug einer Wiederholung gehängt. Da Peter Grosz nicht allein malt, vielmehr gleichfalls reißt, schneidet und klebt, lässt sich nicht einfach an Die Wahrheit in der Malerei andocken. Oder lässt sich die Malerei bei Grosz auf ein Reißen, Schneiden, Kleben, vielleicht gar ein Spachteln, Spritzen, Klecksen erweitern?
Das Kunsthaus Artes mit seiner Galerie in der Auguststraße liegt im Galerienkiez schräg gegenüber der Kunstwerke – Institute for Contemporary Art. Die Künstler*innen-Dichte in den Alt- wie Neubauten ist groß. Igor Levit, den weltberühmten Pianisten, kann man hier vormittags auf der Straße treffen. Die Schriftstellerinnen Ginka Steinwachs und Ilma Rakusa leben hier um die eine Ecke Richtung Tucholskystraße oder um die andere in der Großen Hamburger Straße. Die Wunderkammer Olbricht war noch direkter schräg gegenüber zwischen 2010 und 2020 im me Collectors Room zu sehen. Ein paar Schritte weiter bietet Clärchen’s Ballhaus wieder Tanzkurse im Spiegelsaal an. Der Galerienkiez ist Berlins Greenwich Village. Neuerdings schon ein bisschen overheated. Klimakrise. Eismanufaktur in der Kleinen Hamburger Straße heißt jetzt Spoonfull Berlin. In der Auguststraße 11-13 ist das Museum Frieder Burda Salon Berlin vorübergehend geschlossen. Zwischen Tor- und Oranienburger Straße spielt sich eine eigene Kunst- und Modeszene ab, zu der bis vor einigen Jahren auch Claudia Skoda in der Linienstraße gehörte.
Vor den Rahmen der Arbeiten von Peter Grosz gibt es somit weitere Rahmungen durch das Viertel und die Galerie. Das Kunsthaus Artes rahmt mit seiner Galerie und illustren Namen wie Gerhard Richter die Einraum-Ausstellung ebenso. Kunsthaus und Galerie vereinen zwei Formate in stilvollem Ambiente: Auktions- bzw. Handelshaus für Kunst und Ausstellungsraum. Das Kunsthaus Artes leistete nach eigenen Angaben seit 1978 zweimal „Pionierarbeit auf dem Kunstmarkt: als erste Versandgalerie überhaupt und später mit dem ersten Online-Shop für Kunst“.[1]ZitronenBlau erscheint insofern an einer innovativen Schnittstelle des Kunstmarktes, die wenn nicht global, zumindest international Kunst vernetzt. Der Galerienkiez in Mitte mit seinem fast dörflichen Charme ist zugleich digital und finanztechnisch international hoch verflochten.
Die Materialität der Arbeiten von Peter Grosz kommt visuell auf vielfache Weise zum Zuge. In der Serie von 2020 bis 2021 werden bei den meist titellosen Arbeiten Schnittkanten sichtbar. Er sagt, dass er frühere Arbeiten zerschnitten und neu zu gleichformatigen Quadraten kombiniert habe. Bei einem in Rottönen wird das kleine Quadrat an den Rändern überschritten oder aufgelöst. Die Einzelteile sind so aneinander und übereinander montiert, dass sie einen plastischen Eindruck bekommen. Farblinien und -felder brechen an den Kanten ab. Hier tritt das Material Pappe auf einzigartige Weise hervor. Die Pappe wird nicht nur zum Untergrund der Farbe, sie wird selbst zum Material für das Bild. Die Praxis, die zum Motiv führt, erweitert und hinterfragt die Malerei in ihrer Abstraktion. Wann kippt das Abstrakte ins Figurale? Die Farblinien und -felder werden fragmentiert, um den Malprozess selbst zu befragen. – Zumindest lässt sich das Ergebnis des Arbeitsprozesses eines ausgewiesenen Malers als Befragung denken.
Was verrät Paul Cezanne über die Wahrheit in der Malerei? Er schrieb am 23. Oktober 1905 an seinen Freund Émile Bernard: „Je vous dois la vérité en peinture.“ Also legen wir los! War Cezanne ein schlechter Maler, „lent, lourd et stupide“? Ein tollpatschiger Kleckser, der unter dem Einfluss von Delirium tremens „au pistolet“ malte, fragt Rafik Zénine für sein Feature auf Radio France.[2] Jacques Derrida zitierte Cezannes aufgeschobene Antwort als Titel für sein Buch über Malerei 1978. Derrida nennt es eine „befremdliche Aussage“. „Derjenige, der spricht ist ein Maler. Er spricht, er schreibt vielmehr, es ist ein Brief, und dieses „bon mot“ schreibt sich leichter, als daß es sich spricht. Er schreibt in einer Sprache, die nichts zeigt. Er läßt nichts sehen, beschreibt nichts und stellt noch weniger dar.“[3] Man kann sagen, dass das Cezanne-Zitat mit dem Maler Peter Grosz, besser mit seiner Malpraxis korrespondiert. Der Farbauftrag ist eher selten mit einem Pinsel gemalt worden. Ein Pinselduktus lässt sich bei Zitronenblau von Grosz nicht identifizieren. Vielmehr malt er oft sehr nass, so dass Fließspuren entstehen. Das wäre fast das Gegenteil von einem Duktus in der Malerei. Kleckse werden Kalkül – oder auch nicht.
Der Pinselduktus als sichtbares Merkmal in der Malerei ist ein elastischer Begriff, der in der deutschsprachigen Beschreibung von Malerei häufiger gebraucht wird. Einerseits bleibt er in seiner Definition auf de.wikipedia.org unscharf und ohne Quelle, was darauf hinweist, dass er akademisch eher selten gebraucht worden ist.[4] Der Eintrag bleibt zugleich auf den deutschen Sprachraum begrenzt, was ungewöhnlich ist. Andererseits kennt das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) den Duktus seit dem 18. Jahrhundert. Hanns Friedrich von Fleming gebraucht ductus in seiner „Jagd-Wissenschaft“ Der Vollkommene Teutsche Jäger[5] 1719 extensiv teilweise synonym für Röhre.[6] Im 20. Jahrhundert steigt der Gebrauch des Duktus‘ in Kopula wie „Sprachduktus“ bis 2000 steil an, um nach der Jahrtausendwende deutlich abzufallen.[7] Der Duktus als visueller Wissensträger wird weniger gebraucht. Denn mit dem Duktus geht es um eine Praxis des Führens von ducere im Lateinischen.[8]
Wer führt den Pinsel oder die Linie? „Linienführung“ und „Strich“ ebenso wie „Ausdruck“ und „Stil“ werden als Synonyme für Duktus genannt.[9] Führt ein Subjekt den Pinsel auf eine individuelle Weise? Und welche Implikationen hält das Führen bereit? Es geht um die Hand und den Menschen. Mit Handhabung ist vielleicht schon zu viel gesagt. Die Menschenhand, die für ZitronenBlau zerschneidet und montiert. Insofern ist der Duktus mit dem ganzen Bereich der Graphologie und Psychologie verknüpft, wenn behauptet wird, „dass die Handschrift des Menschen immer den gleichen Duktus“ aufweise.[10] Es wird spürbar, wie sehr Peter Grosz mit seinen Praktiken die Malerei unterläuft – und bestätigt. Nichts als Gemaltes, das zerschnitten neu kombiniert werden kann.
Für die Malerei werden seit Jacques Derridas Lektüre mit Die Wahrheit in der Malerei Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft (1788) und das „Ideal der Einbildungskraft“ diskutiert.[11] Im ersten Teil heißt es bei Kant unter „§ 2. Wohlgefallen, welches das Geschmacksurtheil bestimmt, ist ohne alles Interesse.“ und als „§ 6 Das Schöne ist das, was ohne Begriff als Object eines allgemeinen Wohlgefallens vorgestellt wird.“[12] Derrida macht besonders auf das „ohne“ in beiden Formulierungen aufmerksam: „ohne alles Interesse“ und „ohne Begriff als Object“. Denn das „ohne“ könne nur „vom freien Spiel“ verstanden werden. „Gleichermaßen wie man das Vermögen der Einbildungskraft nur (…) ausgehend vom ohne und vom freien Spiel verstehen kann, erlangt man keinen Zugang mehr zu ihm ohne diesen Darstellungswert: das freie Spiel des ohne im Gegenwärtig-Machen (mise en présence). (…) Reine Schönheit und ideale Schönheit sind inkompatibel. Das ohne des reinen Einschnitts scheint hier folglich den Idealisierungsprozeß zu unterbrechen. Das Aufklaffen in der Idealisierung läuft auf die umherirrende Schönheit und das Ereignis eines reinen ästhetischen Urteils hinaus.“[13]
Die Schönheit der Arbeiten von Peter Grosz entspringt ihrem Produktionsprozess, lässt sich mit Derrida formulieren, insofern er „ohne alles Interesse“ ist. Grosz schneidet nicht aus, er zerschneidet und montiert. Damit unterläuft er zugleich Praktiken in der Geschichte der Malerei, die etwas darstellen wollen. Insbesondere in der Serie, die wir nach der Erstpräsentation in der Ausstellung ZitronenBlau nennen, arbeitet der Maler an den Rändern der Malerei. Er befreit sich und das Sujet von einer kunsthistorischen wie malpraktischen Einengung. Abstraktion bzw. „Abstrakte Kunst“ als ein kunsthistorisches Wissen bekommt durch die praxeologische Überschreitung eine ganz andere, radikalere Wendung.
Unter den sonst titellosen Arbeiten sticht eines mit dem Titel „Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen“ (2021) hervor. Was macht der Titel mit dem Motiv von 18 x 18 cm? Bilden die tintenblauen Linien, die genauso gut von sich aus auf der Pappe verlaufen sein könnten, eine spitzige Figur? Könnten diese Linien als ein Berggipfel sichtbar werden? Der Titel ist ein Zitat des Anfangs von Psalm 121, der als Wallfahrtslied gesungen wird: „Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Woher kommt mir Hilfe?“ Die Hilfe kommt in den Psalmen von dem Herren. Doch wir wissen nicht, ob Peter Grosz ein Gläubiger ist. Vielmehr ist die Eröffnungsformulierung des Psalm 121 schön und untrennbar mit der Frage verknüpft: „Woher kommt mir Hilfe?“ Ist das ein Wink auf die Pandemie? Wir wissen nicht, ob die radikale Schönheit der Jahre 2020 bis 2021, in der sogar blaue Blumen sichtbar werden können, ein Effekt der Covid-19-Pandemie und ihrer Verwerfungen ist. Wenn Peter Grosz davon sprechen könnte, hätte er die Arbeiten nicht gemacht. Er ist kein Erzähler, vielmehr ein Produzent.
Torsten Flüh
Peter Grosz ZitronenBlau bis 13. August 2022 Kunsthaus ARTES Auguststraße 19 10117 Berlin
Zur Ausstellung ZusammenSpiel – Tabea Blumenschein und Ulrike Ottinger in der Berlinischen Galerie
Ulrike Ottinger und Tabea Blumenschein haben in einem einzigartigen Lebensexperiment für Millionen Frauen und Männer ebenso wie trans- und intergeschlechtliche Menschen weltweit Ikonen geschaffen. Über den Film Madame X schrieb Ginka Steinwachs in Die schwarze Botin 1978, dass er von „Ulrike Ottinger und Tabea Blumenschein“ sei. Die beiden Frauennamen stehen für sie nach dem französischen Dichtermonteur und Literaturtheoretiker André Breton für die „konvulsivische Schönheit (…) magisch-umstandsbedingt“ gleichberechtigt nebeneinander.[1] Sie produzierten zusammen Ikonen, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte. Längst haben sich die Ikonen ins internationale Kino verbreitet, wurden auf internationalen Festivals gefeiert, liefen im Öffentlich-rechtlichen Fernsehprogramm, als an Streaming noch gar nicht zu denken war. Nun zeigt die Berlinische Galerie die Fotos von Ulrike Ottinger und die Buntstiftzeichnungen von Tabea Blumenschein an den Grenzen der Geschlechtszuschreibungen zum ersten Mal einer größeren Öffentlichkeit.
Jenseits der Ikonen zeichnete Tabea Blumenschein im Leben steile Kurven, bis sie 2020 verstarb. Sie entwarf Kostüme für Madame X und die Underground-Punkband Die tödliche Doris, um auch mit diesen aufzutreten. Tabea Blumenschein begehrte obsessiv fotografiert und gefilmt werden. Nächtelang entwarf sie neue Posen, die ihre Geliebte ablichten sollte. Die Bilderfinderin Ulrike Ottinger fand in der Autoikonographin Tabea Blumenschein mehr als eine Muse. Ottingers und Blumenscheins Filme wie Die Betörung der Matrosen (1975), Madame X – Eine absolute Herrscherin (1978), Bildnis einer Trinkerin (1979), Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse (1984) spielten immer nah am Leben der Berliner Szene. Wie viele Anekdoten der West-Berliner-Jahre ließen sich erzählen?! Tabea Blumenschein trat auch in Frank Ripplohs schwulenikonischer Satire Taxi zum Klo (1980) auf, der als Regieassistent bei Ottingers Regie mitarbeitete. Irgendwann wurde Blumenschein wohnungslos. Ihre Lebensdaten in der Berlinischen Galerie verschweigen den Absturz nicht. Die Einraumwohnung in Marzahn und die Transferleistungen wurden zur notdürftigen Existenz, die in den letzten Jahren bis zu ihrem Tod vor allem von Freundinnen anerkannt wurde. Sie wurde von Freundinnen mit den Buntstiftzeichnungen bärtiger Frauen 2015 zu einer Gruppenausstellungen eingeladen.[2]
Die Vernissage am 13. Juli wurde zu einem Flashback der Berliner Szene aus den 70er und 80er Jahren. Es kamen Schriftstellerinnen wie Ginka Steinwachs und Heidi von Plato, Performerinnen wie Käthe Kruse (Tödliche Doris) und Eva & Adele. Tout Berlin wie Rosa von der Schulenburg und der Kunstsammler Peter Raue waren gekommen, um Tabea Blumenschein zu würdigen. Das ist keinesfalls selbstverständlich, vielmehr vor allem durch die Schenkung ihrer Arbeiten von Ulrike Ottinger an die Berlinische Galerie möglich geworden. Die Berlinische Galerie unter ihrem Direktor Dr. Thomas Köhler sammelt insbesondere Kunst von in Berlin lebenden Künstler*innen. Außerdem wurde so die Vernissage zu einem selbstbewusst queeren Fest 10 Tage vor dem Berliner Christopher Street Day, kurz: CSD. Ulrike Ottinger signierte auf Wunsch die Bände aus dem Schuber der beiden Kataloge zur Ausstellung – „Band 1: Tabea Blumenschein, Band 2: Ulrike Ottinger“. Der Verlag Hatje Cantz hat die beiden Bände aufwendig ediert.[3] Die Berlinische Galerie als Herausgeberin stellt die ebenso geheimnisvolle wie zeitgeschichtliche Eröffnungserzählung von Bildnis einer Trinkerin voran. Tabea Blumenscheins Gesicht und die futuristisch-brutalistische Architektur des Flughafengebäudes Tegel Otto Lilienthal [4] bildeten für Generationen ein changierendes Doppelbild von West-Berlin: „Sie, eine Frau von hoher Schönheit, geschaffen wie keine andere, Medea, Madonna, Iphigenie, Aspasia zu sein, beschloss an einem sonnigen Wintertag, ihrer Einsamkeit zu entfliehen und La Rotonda zu verlassen. Sie löste ein Ticket ›Aller jamais retour. Berlin Tegel‹.“
Die Identitätssuche spielt in der Ikonografie kunsthistorisch bei Aby WarburgsBilderatlasMnemosyne ebenso wie im Werk von Ulrike Ottinger und Tabea Blumenschein eine entscheidende Rolle. Aus der Konstellation von Bildern springen neue hervor. Die Obsession von etlichen Filmstunden und hunderten von Fotosessions auf analogem Filmmaterial, das immer auch Geld kostete, hatte zugleich eine verschwenderische Komponente. Lustvolle Verschwendung durch Arbeit am Bild bzw. einem eigenen Bilderatlas. Möglicherweise gibt es im Archiv von Ulrike Ottinger irgendwo eine Zahl, wieviel Stunden und Meter, Richtung viele Kilometer, Film verbraucht wurden. Negativ-Film musste verbraucht werden, während Pixel kaum zu verbrauchen sind. Die Verschwendung durchkreuzt andererseits immer auch das eine Bild, das herausgeschnitten zur Ikone wird. Es sind Bilder-Fluten, die durchaus auf freibeuterische Weise entstanden. Madame X war nicht nur ein Film über eine Piratin, vielmehr wurde er eine feministische „Piraterie“, wie es Ginka Steinwachs in der Zeitschrift Die schwarze Botin formulierte. „Nicht nur kommen Frauen als Weltumsegler und Raumfahrerinnen in Historie und Geografie nicht vor, sie werden sogar kriminalisiert, wenn sie sich, wie die Chinesin Lai Cho San um 1930, auf Piratenfahrt in den südostasiatischen Meeren umtun. Madame X. auf ihrer Dschunke Orlando als Raum- und Zeitfahrerin tätig, ist eine solche Piratin. Sie führt das Oberkommando über eine Mannschaft Frauen so, als gelte es, diesen ihren jahrtausendealten Wunsch nach Entdeckung der eigenen Entdeckerfreudigkeit und Abenteuerfertigkeit als erfüllt vorzustellen.“[5]
Anders gesagt in Madame X ist bei Ottinger bereits mit der „Dschunke Orlando“ ihr Bilderkosmos von Freak Orlando (1981) angelegt, in dem Blumenschein nicht mitspielte. Es geht immer um eine Umwandlung der Bilder. In Freak Orlando wird nicht zuletzt die Figur des Heiligen Jakobus als Pilgervorbild umgewandelt. Transformation von Fundstücken aus Kunst- und Filmgeschichte. Mit der Jakobsmuschel am Hut und auf der Tasche wird der Figur des Pilgers eine andere, heute könnte man sagen, genderfluide Rolle gegeben. Orlando wird ein Geschlechtsreisender, O. wandelt von Szene zu Szene das Geschlecht. Den Feminismus von Madame X hat Ginka Steinwachs mit der Transformation der Bilder treffend beschrieben: „Aus dem Schwarzwald mit seinen Silberforsten eilt auf den Flügeln des Goethe-Zitats direkt vom Frühstückstisch im Grünen weg die Förstersgattin Flora Tannenbaum aus der Medienlandschaft mit Bildern, Abbildern und Abbildern von Bildern eist sich auf Rollschuhen die europäische Künstlerin Josephine de Collage los, dem Eisschrank, den sie füllt oder seiner Konsumgüter entleert, es gilt alles gleich, kehrt auf einem Klappfahrrad die amerikanische Hausfrau Betty Brillo den Rücken; ihre Luxuslimousine, alter Mercedes, der aussieht wie ein neuer Rolls Royce, lässt das amerikanische Fotomodel Blow-up vom Chauffeur in die genau entgegengesetzte Richtung lenken, (…).“[6]
Steinwachs lässt mit der Syntax ein Frauenbild ohne Punkt als Abschluss in ein anderes übergehen. Die visuelle Syntax Ottingers funktioniert ähnlich. Ein filmisches Prinzip, mit dem die Schnitte und Einstellungswechsel kaum wahrnehmbar werden. Es gibt einen Wink nicht nur auf das Medium Film im Werk von Ulrike Ottinger, vielmehr noch auf Frauenbilder, die anders montiert werden, wobei u.a. Michelangelo Antonionis Fotografie-Thriller über das Erscheinen und Verschwinden von Leichen in der Londoner Modewelt Blow-up zitiert wird. Ulrike Ottinger, Tabea Blumenschein und Ginka Steinwachs zitieren und montieren nicht nur André Breton. Sie montieren und kreieren, damit feministische Wirklichkeiten oder solche von FRAU. Während Theodor Geus in der FAZ am 14. April 1978 in Madame X. einen „Struwwelpeter für Emanzen“ sah[7], diskutierte die Regiekollegin Monika Treut in Frauen und Film 1981 bereits die Anti-Repräsentation als Konzept des Films. „[…] MADAME X repräsentiert nichts, weder die Macht noch die Ohnmacht der Frau(en); viel eher simuliert der Film: er arbeitet mit Zeichen, die Macht vortäuschen, die parodistisch auf ein Szenarium anspielen, das eher der Simulation (Vorspiegelung, Vorwand, Schein, Täuschung) angehört als der Wirklichkeit. Ein Spiel / Film also, der die Möglichkeiten von phantastischen Handlungen in der Abgeschlossenheit eines begrenzten Ganzen (Dschunke) zeigt, in Szene gesetzt nach bestimmten Regeln und begleitet vom Wissen der Differenz zum gewöhnlichen Leben, fern jeglicher Kampfanweisung für einen feministischen Alltag.“[8]
Die Besprechungen zu Madame X lassen sich zur Ausstellung ZusammenSpiel verlängern. Tabea Blumenschein und Ulrike Ottinger haben eine Bildproduktion in Gang gesetzt, die das Geschlecht nicht nur befragen, vielmehr verwandelt sie sich in Unterschiede. Sie wird zu einer unablässigen Autoikonografie der Unterschiede und des Möglichen jenseits des „gewöhnlichen Leben(s)“ (Treut), wenn es das überhaupt gibt. Die Autoikonographie geschieht in den Medien Fotografie, Buntstift, Kostüm, Maske, Film einerseits wie von selbst, andererseits hinterlässt sie Selbstbilder. Ulrike Ottinger lehnte kürzlich in einem Interview mit Ilka Piepgras die Trennung von Leben und Kunst ab. Hat sie doch immer ihr Leben durch die Kunst gestaltet: Kunstleben und Künster*inleben. Stattdessen lebe sie nach ihrem Credo „“Mein ganzes Leben ist eigentlich Arbeit (…), denn meine künstlerische Arbeit ist das, was mich ausmacht“.“[9] Doch Ilka Piepgras wollte diese Aussage mit dem Wunsch nach Repräsentation und dem Geheimnis der nun ihr 80. Lebensjahr vollendenden Künstlerin nicht gelten lassen und machte aus einer Besprechung von Ottingers Film Paris Calligrammes einen „schamlos persönlich(en) (Dokumentarfilm), denn er (enthalte) viele Hinweise darauf, wie Ulrike Ottinger zu der geworden ist, die sie ist“.[10]
Die Visualität des Geschlechts in den Zeichnungen von Tabea Blumenschein winkt hinüber zur Zeichnerin und Dichterin Else Lasker-Schüler, deren Bilder und Autoporträts erst viel später mit der Ausstellung Else Lasker-Schüler – Die Bilder 2011 im Hamburger Bahnhof gewürdigt wurden. Prinz Yusuf von Theben schimmert durch die androgynen Gesichter, die Blumenschein malte. Indianer*innen und Bartfrauen – lesen Sie richtig: keine Barfrauen, sondern Barfrauen mit t – gibt es ebenso bei Else Lasker-Schüler, die freilich von der Kunst- und Literaturgeschichte immer ganz anders normiert worden ist. ELS war auf ihre Weise obsessiv, wurde verfolgt, diskriminiert, ins Nomadische, schließlich ins Exil abgeschoben. Man nennt das heute Homelessness mit Homi K. Bhaba.[15] Homelessness muss frau/man aushalten können. Es geht nicht nur darum, keine 3-Zimmer-Wohnung mit Bad und Balkon zu bewohnen. Vielmehr geht es um die andere Seite der Ikone. Aus der Homelessness schweift Blumenschein ab in den Dschungel des „WEIßBARTLANGUR(s) PREBYTIS SENEX NESTOR“.
Die Figur der Bartfrauen in den Zeichnungen von Tabea Blumenschein lässt sich noch einmal anders wenden. Der Bart könnte eine geschlechtsunspezifische Körperbehaarung sein. Doch wenn es heute um die Frage der Anzahl von Geschlechtern und Geschlechtsmerkmalen geht, dann wird die Körperbehaarung signifikant. Gibt es nach dem Diskurs der Biologie nur 2 Geschlechter als Dogma? Oder gibt es nach der Kulturforschung mehrere, bis zu 6 oder unabschließbar viele Geschlechter? – Tabea Blumenscheins Bartfrauen sind König*innen, Heilige, Zauber*innen, Tänzer*innen in einer satten Farbigkeit. Die weiblichen Brüste werden eher angedeutet als ausgeformt. Sind sie Dragkings als lustvolle Aneignung eines maskulinen Geschlechtsmerkmals? Für Bartfrauen ist in den Zeichnungen von Tabea Blumenschein vieles möglich. Andererseits ist der Bart das patriarchale Geschlechtsmerkmal nicht nur des Patriarchen von Moskau, der russischen Popen und arabischen Mullahs. In jedem Friseurladen für überwiegend Männer mit türkischem oder arabischen Hintergrund werden die Bärte gefärbt, geformt, geschnitten und poliert. Der Prenzlauer Berg kennt das auch. Vielleicht sind die Bartfrauen zugleich Schwestern des weltweiten Ordens der Sisters of Perpetual Indulgence, die sich als Streetworker*innen in Drag zur HIV- und AIDS-Prävention zusammengeschlossen haben. Blumscheins Bartfrauen sind polymorph. Diese Bartfrauen jedenfalls werden nicht als Freaks ausgestellt, vielmehr gestalten und präsentieren sie sich selbstbewusst. Zugleich geben die Bartfrauen einen Wink auf den Kreis von Ulrike Ottinger und z.B. Heidi von Plato, die den Roman Das haarige Mädchen 2005 veröffentlichte.[16]
Im Roman Das haarige Mädchen wird die Frage des Geschlechts wegen der Körperbehaarung noch einmal auf eine andere Weise gestellt. Denn die Körperbehaarung wirft nicht nur die nach weiblich oder männlich, vielmehr noch nach der Kategorie von Mensch oder Tier oder Mischwesen auf. Das Humanum steht als Wissensformation mit einer ungewöhnlich starken Körperbehaarung auf dem Spiel. Die Ikonographie von Weiblichkeit und Männlichkeit wird von Tabea Blumenschein und Ulrike Ottinger vielschichtig bearbeitet. Die Diva als Überfrau generiert ihre eigenen Erzählungen. Diesen Frauen wie Madame X kann man kein X für ein U vormachen. Die Geschlechtszuschreibungen werden fließend. Ikonen sind immer Bilder zum Anhimmeln, der Rückseiten leer, roh und nackt bleiben.
Torsten Flüh
ZusammenSpiel Tabea Blumenschein Ulrike Ottinger bis 31. Oktober 2022 Berlinische Galerie Museum für moderne Kunst Alte Jakobstraße 124-128 10969 Berlin
Hrsg. Berlinische Galerie, von Ulrike Ottinger, Text(e) von Annelie Lütgens, Ulrike Ottinger, Katharina Sykora, Gestaltung von Tobias Honert / zentrale Deutsch, Englisch 2022. 576 Seiten, 500 Abb. Zwei Bände im Schuber Band 1: Tabea Blumenschein Band 2: Ulrike Ottinger 20,00 x 29,00 cm 65 € ISBN 978-3-7757-5243-5
[1] Ginka Steinwachs: Madame X. – Ein Versuch zur Archäologie der Subjektivität von Ulrike Ottinger & Tabea Blumenschein. In: Die schwarze Botin, 6/1 1978, S. 61.
[2] Am 22. August 2015 um 18:00 Uhr kam z.B. zu einem Artist Talk in die Ausstellung Wie wenn am Feiertage/If we took a holiday in der Gruppenausstellung mit Kerstin Drechsel und Nancy Jones in der Galerie Zwinger in der Mansteinstraße in Schöneberg. Siehe: Torsten Flüh: Kann man das Bild benutzen? – Zum Artist Talk mit Kerstin Drechsel in der Ausstellung Wie wenn am Feiertage/If we took a holiday In: NIGHT OUT @ BERLIN August 3, 2015 22:13.
[4] Zur Architektur des Flughafengebäudes Tegel siehe auch Torsten Flüh: Der Geist der Zahl. Über Zahlen in Zeiten der Pandemie und im Roman Die Pest von Albert Camus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. April 2020.
[11] Roland Barthes: Über mich selbst. München: Matthes & Seitz, 1978, S. ohne Nummerierung (S. 8).
[12] Siehe Torsten Flüh: Une Éducation sentimentale et imaginaire. Ulrike Ottinger erhält die Berlinale Kamera und zeigt Paris Calligrammes als Weltpremiere auf der Berlinale 2020. In. NIGHT OUT @ BERLIN 25. Februar 2020.
[14] Siehe zu Carl Einstein: Torsten Flüh: 2 + 1 for 1: Eine imaginäre Bibliothek und Galerie zu Carl Einstein. Neolithische Kindheit – Kunst in einer falschen Gegenwart, ca. 1930 lädt im Haus der Kulturen der Welt zu einer Kopfreise ein. In: NIGHT OUT @ BERLIN April 16, 2018 20:51.
[15] Zur Homelessness bei Homi K. Bhaba siehe: Torsten Flüh: Die politische Krux mit der Sicherheit. Homi K. Bhabhas ZfL-Inaugural Lecture „On Culture and Security“ in der Akademie der Künste. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juni 8, 2015 20:01.
[16] Heidi von Plato: Das haarige Mädchen. Berlin: Parthas, 2005
Zu Norbert Scheuers Mosse-Lecture »Kleine Flüsse, große Fluten. Szenen vom Hochwasser in der Eifel«
Am Abend vor der Mosse-Lecture von Norbert Scheuer sendete Arte die Doku Die Nacht, als die Flut kam – Protokoll einer Klimakatastrophe von Matthias Fuchs, die in der Eröffnungssequenz mit der Idylle beginnt. „Sie kennt die Ahr nur als idyllischen Bach. Ein Privatvideo zeigt, wie sie sich im Sommer auch schon mal mit der Luftmatratze in den Fluss traut.“ (3:58 bis 4:05)[1] Nicht nur die Ahr gilt als idyllisch, vielmehr wird auch der Schriftsteller Norbert Scheuer die Eifel als idyllisch und fernab des politischen Geschehens in Berlin beschreiben. Die Idylle wird ebenso von der Navigation der Website Heimat Eifel mit „Familie“, „Wohnen“, „Arbeiten“, „Lage“, „Freizeit“, „Erfahrungsberichte“ und einem „Blog“ reproduziert.[2] Unter den Erfahrungsberichten kann man weiter zu „Angekommen“, „Zurückgekommen“ und „Hiergeblieben“ navigieren.[3] Im nicht offensichtlichen „Impressum“ zeichnet der Weltmarkführer für kohlensäurehaltige Mineralwasser Gerolsteiner Brunnen GmbH & Co. KG für die Seite verantwortlich.[4]
En passant erwähnt Norbert Scheuer, dass er vor der Flut mit dem Eifel-Express von Kall in die Bibliothek nach Köln gefahren sei. Seit der Flutkatastrophe vom 14. auf den 15. Juli 2021 fährt der Regionalexpress 22 zwischen Gerolstein und Köln Hauptbahnhof voraussichtlich bis 10. Dezember 2022 nicht mehr.[5] Zwischen Kall und Gerolstein verkehrt als „Unwetterfolge()“ ein Schnellbus als Schienenersatzverkehr. Kall liegt in der Nordeifel an der Urft, deren Einzugsgebiet im Südosten an das der Ahr grenzt. Auch die Urft verwandelte sich in einen reißenden Strom und führte in Kall zu Überschwemmungen.[6] Im Anfangsteil seines Buches Kall, Eifel (2005) rauscht die Urft und ein „Teil des Flußlaufs verschw(i)nd(et) … in alten Bergwerksstollen“.[7] Von Kall nach Köln braucht der Eifel-Express ca. 60 Minuten. Man könnte sagen, dass Urft und Kall zum Einzugsgebiet der Köln-Bonner-Region gehören. Das war eben, etwas grob formuliert, mehr als 50 Jahre bis 2000 die deutsche Hauptstadtregion. Die Idylle und Kleinheit der Eifel sollte nicht über ihre einst zentrale Lage hinwegtäuschen.
Die Idylle lässt sich als ein Format der gleichsam als natürlich empfundenen Ordnung beschreiben. Die Ahr als Bach ist idyllisch, weil sie als befriedet und friedlich wahrgenommen wird. Auf der Ahr kann sich die Anwohnerin sogar mit einer Luftmatratze gefahrlos treiben lassen. Jan Gerstner und Christian Riedel haben 2018 „idyllische Erscheinungsformen“ in der „Gegenwartsliteratur und -medien“ untersucht.[8] Das „Idyllische“ liege „im Auge des Betrachters“ und sie greifen auf Clemens von Brentano zurück, wenn sie die „romantische() Denkfigur“ mit Novalis dahingehend auflösen, „dass die Welt idyllisiert werden muss, um etwas Verlorengegangenes wiederzufinden“.[9] Hans Adler hatte schon 2014 die Idylle als „Ordnung in der und durch die zeitliche und räumliche Beschränkung“ formuliert.[10] Die Idylle gestaltet einen Wunsch nach Ordnung, wenn diese als gefährdet angesehen wird. Je unübersichtlicher die Welt erfahren wird, desto stärker wird der Wunsch nach Idylle wie sie von Gerolsteiner Brunnen bzw. der Agentur FACE! Employer Branding & Communication mit der Website Heimat Eifel programmiert wird.
In meiner Besprechung der Mosse-Lecture von Norbert Scheuer möchte ich die widerstreitenden Wissensformationen von Idylle, Heimat und Anthropozän untersuchen, wie sie u.a. mittelbar von Hannah Cloke in der Doku Die Nacht, als die Flut kam angesprochen werden. Die Professorin für Hydrologie an der University of Reading (UK) hatte die Reihe der Mosse-Lectures Welt im Fluss am 28. April 2022 mit Dreaming of Disaster: A River Journey of Imagination eröffnet.[11] In der Doku von Matthias Fuchs reagiert sie im Schnittwechsel auf den Wunsch einiger Einwohner des Ahrtals, ihre Existenz und ihr Haus, ihre Heimat wieder am „idyllischen Bach“ aufzubauen. Cloke antwortet diplomatisch, dass die Bewohner des Ahrtals doch wollten, dass ihr Heim sicher sei.[12] Deshalb empfiehlt sie keinen Wiederaufbau direkt an der Ahr. Vielmehr sei wegen des Klimawandels mit häufigeren Starkregen-Ereignissen zu rechnen. Auf den Eröffnungshinweis der Doku von Ulrike Vedder reagierte Norbert Scheuer damit, dass er die Doku nicht habe sehen müssen.
Gibt es unterschiedliche Formate, mit denen die Flutkatastrophe wahrgenommen werden kann? Und, so schon meine Frage nach Vortrag und Podiumsdiskussion, kommen Fluten in den Literaturen der Welt nicht immer wieder vor? Angefangen mit der Reinigungs- und Zornerzählung von der Arche Noah, spielen Fluten, in denen Häuser sowie Hab und Gut von einem plötzlich reißenden Strom hinweggespült werden, immer wieder eine Rolle. In der Übersetzung der Bibelstelle 1. Moses 6 bis 7[13] von Noah und der Sintflut durch Martin Luther kommt der Begriff Zorn nicht vor.[14] Doch am 30. Juni 2020 hat zuletzt Margot Käßmann die Noah- und Sintflut-Erzählung mit dem „Zorn Gottes“ in Verbindung gebracht, weil „aus der guten Ordnung Chaos wächst“.[15] Nach Luther heißt es in der Genesis über Gott: „22 Alles, was Odem des Lebens hatte auf dem Trockenen, das starb. 23 So vertilgte er alles, was auf dem Erdboden war, vom Menschen an bis hin zum Vieh und zum Gewürm und zu den Vögeln unter dem Himmel. Sie wurden von der Erde vertilgt. Allein Noah blieb übrig und was mit ihm in der Arche war. 24 Und die Wasser wuchsen gewaltig auf Erden hundertfünfzig Tage.“[16]
Die oft in bunten Bildern oder z.B. im Bibelmuseum Biblorama in Stuttgart als lustiges Holzspielzeug[17] dargestellte Geschichte von der Arche Noah, so nach Luthers Übersetzung, als Rettungserzählung gegen eine übergroße Flut, die sich vergleichbar im Gilgamesch-Epos wie in einer assyrischen Keilschrifttafel aus der Zeit um 1.700 vor Chr. finden lässt, wird vor allem als eine Reinigungsphantasie des alttestamentarischen Gottes begründet und gerahmt. Allein Noah soll mit seinen drei Söhnen und deren Frauen überleben, weil er nicht „böse“ ist, sondern den Gesetzen seines Gottes folgt. Mit der Flut und Sintflut wird insofern in der Genesis eine patriarchale Gerechtigkeits- mit einer Reinigungsphantasie verknüpft. Gottes Ordnung soll mit dem Genozid aller Geschlechter außer Noahs gerettet und wiederhergestellt werden. In der Bibelforschung ist daraufhin an verschiedenen Stellen nach dem Lande- wie Rettungsplatz der Arche Noah gesucht worden. „5 Als aber der Herr sah, dass der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar, 6 da reute es den Herrn, dass er die Menschen gemacht hatte auf Erden, und es bekümmerte ihn in seinem Herzen, 7 und er sprach: Ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, vertilgen von der Erde, vom Menschen an bis hin zum Vieh und bis zum Gewürm und bis zu den Vögeln unter dem Himmel; denn es reut mich, dass ich sie gemacht habe.“[18]
Gerechtigkeit und Reinigung werden fortan in der Erzählung von Fluten eine wiederkehrende Rolle spielen. Anders gesagt: Nach dem biblischen Erzählmodell müssen Sintfluten einen Sinn haben. Am Schluss winkt die Idylle der Rettung, wie sie bis hin zum Kinderspielzeug bildhaft wird. Ein Handeln wider die Ordnung des alttestamentarischen Gottes, dessen patriarchale Regeln bis 1. Moses 6 noch gar nicht so genau ausgeführt sind, setzt den Wunsch, „die Menschen, die ich geschaffen habe, (zu) vertilgen“, in Gang. Denn die Vertilgung macht Sinn, wenn Noah als Gerechter im Patriarchat überlebt. Der Schrecken und die Grausamkeit der eigenmächtigen Vertilgung werden nicht erzählt, weil die Macht des Gottes einzig und allein durch die Rettung stabilisiert wird. Die biblische Erzählung von der Arche Noah schlägt manchen haken, so dass Gott nicht etwa einen häufig reproduzierten Regenbogen über ihr aufgehen, vielmehr wird Noah nun prototypisch mit der Macht über das Leben auf der Erde ausgestattet. Diese Macht über Tiere, Vögel und Natur überhaupt, hat aus der gegenwärtigen Perspektive im Zeitalter des Menschen, dem Anthropozän, als Wissensformat manches Problem wie den Klimawandel generiert. „9 1 Und Gott segnete Noah und seine Söhne und sprach: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde. 2 Furcht und Schrecken vor euch sei über allen Tieren auf Erden und über allen Vögeln unter dem Himmel, über allem, was auf dem Erdboden wimmelt, und über allen Fischen im Meer; in eure Hände seien sie gegeben. 3 Alles, was sich regt und lebt, das sei eure Speise; wie das grüne Kraut habe ich’s euch alles gegeben.“
Die Macht des Menschen „über alle() Tiere() auf Erden und über alle() Vögel unter dem Himmel, über alle(s), was auf dem Erdboden wimmelt,“ als Ergebnis und Schluss der Erzählung von der Arche Noah, lässt sich als Versprechen und Schrecken des Anthropozän lesen. Die vermeintliche Idylle als (neue) Ordnung der Arche Noah geht heute auf, im Anthropozän-Diskurs und Klimawandel. In seinem Roman Am Grund des Universums hat Norbert Scheuer 2017 unter der Überschrift „Frühjahr 2008: Überschwemmung“ am Schluss eine eben solche in Worte gefasst, was ihn 2021 für die Süddeutsche Zeitung zu einer Art Flutexperten der Eifel machte: „Schnell wurde daraus ein riesiges Tor, durch das die Wassermassen ins Urftland strömten. Ninas Fass wurde vom reißenden Strom der Urft aus den Büschen am Ufer gerissen und trieb zusammen mit Hundehütten, Gartenzäunen und ausgerissenen Bäumen den Fluss hinunter. Kall und viele kleine Dörfer des Urftlandes waren bald vollständig überflutet. Die Grauköpfe, die an diesem Morgen wie immer getagt hatten, konnten sich auf das Flachdach des Supermarktes retten; von dort oben hielten sie Ausschau nach ihren Autos, die irgendwo im Schlamm der reißenden Fluten verschwunden waren. Ein Drittel der Häuser des Urftlandes stand unter Wasser, das Land hatte sich in einen riesigen See verwandelt; die Bewohner erreichten ihre Häuser nur noch mit Schlauchbooten.“[19]
Der Supermarkt mit seiner Cafeteria, auf dessen Flachdach sich die Grauköpfe am Schluss des Romans gerettet haben, ist im Universum des Urfttals Dreh- und Angelpunkt des Erzählens. Norbert Scheuer beschreibt sein Kall und die Urft im Roman, wie sie nicht zuletzt in seinem literarischen Vortrag über die Hochwasserkatastrophe vor einem Jahr wiederkehren werden. Die Cafeteria im Supermarkt am Bahnhof gehört neben der „Cortina-Eisdiele am Kreisverkehr gegenüber der Sparkasse“, dem „Restaurant des Sportclubs außerhalb von Kall oder die Gaststätte von Evros in der Bahnhofstraße“ zu den „wenige(n) Orte(n), an denen man jemanden treffen kann“.[20] Der Stausee mit der „Vergrößerung des Staudamms“, der am Schluss des Romans bricht und zu den Überflutungen führt, zieht sich thematisch durch die kurzen Abschnitte zwischen „Cafeteria“ und „Uferschwalben“. Das neuzeitliche Staudammprojekt wird von der jahrtausendealten Ordnung der Uferschwalbenbrut im Urfttal konterkariert. „Seit Jahrtausenden zogen sie hier ihre Jungen groß. Im Herbst würden die Vögel wieder nach Afrika fliegen, um dort zu überwintern. Aufgeregt schwirren sie umher, schienen sich in der Luft zu begrüßen, tanzten zirkelnd im Himmel, suchten ihre Höhlen auf. Der Fluss mäanderte durch das Tal, Nebelschleier stiegen empor und verschwanden im Licht der Sonne.“[21]
Die Kategorien der Eifler, ob jemand neu, „Angekommen“, „Zurückgekommen“ und „Hiergeblieben“ ist, spielen im Roman auch für die Grauköpfe eine entscheidende Rolle. Scheuers Gebrauch der Grauköpfe spielt einerseits auf das Alter der Männer an, andererseits lassen sich die Graukopfpapageien mithören. Die Grauköpfe wiederholen Geschichten und beobachten die Eifler. Hiergebliebene wie ein junger Mann, der „sich am Hauptbahnhof (in Köln) Drogen besorgt“ hat und vollgedröhnt über den Parkplatz am Bahnhof torkelt, werden von den Grauköpfen erkannt und taxiert. Die Cafeteria-Idylle ist brüchig und bissig von biblischen Ausmaßen. „Die Grauköpfe erkennen sofort, ob jemand neu ins Urftland gezogen oder nach Jahrzehnten wegen einer Beerdigung, Hochzeit oder sonstiger familiärer Angelegenheiten zurückgekehrt ist. Sie lesen den Leuten an ihren Gesichtern ab, was sie hier wollen. Sie sehen Lünebachs Exfrau mit ihrem neuen Mann, und einer kann sich die Bemerkung nicht verkneifen, er wäre von dieser Frau auch abgehauen und bis ans Ende des Universums geflogen.“[22]
Mit dem Wissen der Literaturen erzählt Norbert Scheuer in seinem Roman Am Grund des Universums von den Verhaltensweisen der Menschen und vor allem der Grauköpfe in der Cafeteria, die beinahe wörtlich in der Doku von Matthias Fuchs vorgekommen sein werden. Norbert Scheuer sagt im Senatssaal der Humboldt-Universität, dass er nicht die Realität, aber das Reale beschreibe. Darauf legt er viel wert. Nach einem Jahr sprengt das Ausmaß der Flutkatastrophe und ihrer Schäden weiterhin die Erzählformate. Dass bei einem Staudammbruch der durch das Tal mäandernde Fluss sich in einen reißenden Strom aus Wasser und Schlamm verwandeln müsse, könne jeder wissen, sagt Scheuer fast wörtlich. Warum aber handeln die Menschen, die Eifler, gegen das Wissen und bauen sich gleich wieder am idyllischen Bach ihr Heim? In der aktuellen Diskussion ein Jahr nach der Flutkatastrophe im Ahrtal und auch im Urfttal, wird mangelnde Hilfe für den Wiederaufbau direkt am Bach beklagt. Andere haben sich dort wieder eingerichtet. „Einer, der gerade vom Stausee kommt, steuert auf den Tisch unter dem Spiegel zu, stützt sich mit den Händen auf, blickt gewichtig in die Runde und verkündet, der ganze Schlamm und Dreck sein nun weggebaggert, ein polnischer Arbeiter sei von der Staumauer gestürzt. Vielstimmiges Raunen setzt ein, aufgeregtes Durcheinander. Kurz darauf verlassen die Alten das Café und steigen in ihre Autos.“[23]
Wie kommt die Heimat bei Norbert Scheuer vor? Der Begriff Heimat und seine vielfältigen Kontextualisierungsmöglichkeiten formt Wissen. Er wird politisch immer wieder unterschiedlich genutzt und geformt vom einstigen Konzern „Neue Heimat“ bis zu Horst Seehofers „Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat“ 2018.[24] 2011 veröffentlichte Scheuer den Band Bis ich dies alles liebte mit dem Untertitel „Neue Heimatgedichte“.[25] Zwischen den Gedichten Brot und Seele, Fortgehen und Um was es geht entfaltet Scheuer ein ganzes Panorama von Heimat. Im eröffnenden Gedicht Brot und Seele gibt die Formulierung „Studenten die über Philosophie und Literatur diskutieren/keins meiner Gedichte wird je in ihren Büchern stehen/werde nie alles aufgeben“ fehlt ein Subjekt als ich.[26] Während der Gedichtband immerhin im renommierten Verlag C.H.Beck erschien, werden in dem Gedicht „meine() Bedeutungslosigkeit“ und das Desinteresse an den Büchern der „Studenten die über Philosophie und Literatur diskutieren“ formuliert und mit dem christlichen Motiv von Brot und Wein als Titel verknüpft. Oder zeigt der Zeilensprung in der Gedichtform an, dass das Desinteresse bereits eine nicht notwendige Interpretation ist? Im Gedicht Vorfahren fällt der Begriff Heimat auf irritierende Weise. Denn einerseits werden „Kelten“ als Vorfahren benannt, andererseits gibt es keine Rückkehr in die „Heimat“ und die „Herkunft“ wird vergessen: „wo mein Vorfahre hastig gezeugt wurde von einem mit gelbem Haar und käfergrünen Augen einem der nie mehr in seine ligurische Heimat zurückkehren würde bald seine Herkunft vergaß“[27]
Das Vergessen der Herkunft, das hier formuliert wird, hat auch einen Verlust der „ligurischen Heimat“ oder/und den Gewinn der Eifel als Heimat zur Folge. In der Eifel gibt es mehrere Villen bzw. römische Landgüter, auf die Scheuer mit der Formulierung „in kleine Flusstäler abfallende Wiesen/Grundmauern einer zugeschütteten Villa Rustika“ anspielt. Gleichwohl wird für ihn die Lage der Villen, wenn er über die Eifel und das Hochwasser spricht, zu einem Zeugnis für das, sagen wir ruhig, ökologische Wissen der Römer. Die Römer hätten ihre Villen niemals in die Flusstäler gebaut. Vielleicht spielt das Vergessen der Herkunft für die Eifler genau in diesem Kontext eine Rolle. Das alte Wissen von der Herkunft spielt für den Eigentumsverhältnisse, Immobilienmarkt und das Heimatidyll an Ahr und Urft keine Rolle mehr. In seinem literarischen Vortrag lässt Scheuer uns auch wissen, dass er am Hang und nicht im Tal wohne. Erfahrungswissen und Geschichtswissen von den Villen generieren nicht zuletzt eine literarische Haltung, die die Idylle zumindest fragwürdig werden lassen.
Torsten Flüh
Mosse-Lectures: Welt im Fluss. Norbert Scheuer: »Kleine Flüsse, große Fluten. Szenen vom Hochwasser in der Eifel« von Donnerstag, den 30. Juni 2022 | 19.15 Uhr YouTube
[1] arte.de: Die Nacht, als die Flut kam – Protokoll einer Klimakatastrophe | Doku HD | ARTE In: YOUTUBE bis 26.09.2022.
[6] Kall: Hochwasser 2021. Stark betroffene Bereiche Urft. 19.08.2021.
[7] Norbert Scheuer: Kall, Eifel. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2010, S. 11. (zuerst C.H. Beck 2005).
[8] Jan Gerstner, Christian Riedel: Einleitung: Idyllen in Literatur und Medien der Gegenwart. In: dies.: Idyllen in Literatur und Medien der Gegenwart. Bielefeld: Aisthesis, 2018, S. 7.
[10] Adler: „Gattungswissen: Die Idylle als Gnoseotop“. Wissenstexturen. Literarische Gattungen als Organisationsformen von Wissen. Hg. Gunhild Berg. Frankfurt/M.: Lang, 2014. S. 23-42, hier: S. 29.
[11] Die Mosse-Lecture von Hannah Cloke lässt sich als Mitschnitt auf YouTube abrufen.
[14] Zum Thema Zorn siehe auch: Torsten Flüh: Zorn zwischen Gefühlsausbruch und Lebenspraxis. Zwischenlese zur digitalen Reihe der Mosse-Lectures zum Thema Zorn – Geschichte und Gegenwart eines politischen Affekts. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. Dezember 2020.
[25] Zum Begriff Heimat siehe: Torsten Flüh: Heimat-Fetisch und queerer Sex. Zu Just Love und Eure Heimat ist unser Albtraum im Zentrum für Aktuelle Kunst der Zitadelle Spandau. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. Oktober 2019.
[26] Norbert Scheuer: Bis ich dies alles liebte. Neue Heimatgedichte. München: C.H.Beck, 2011.
Zu Susanne Kennedys und Markus Selgs I AM (VR) und ihrer Inszenierung von Einstein on the Beach von Philip Glass und Robert Wilson
Frenetisch gefeiert vom Publikum wurde am 1. Juli 2022 auch die zweite der Berliner Aufführungen von Susanne Kennedys und Markus Selgs pausenloser, vierstündiger Operninszenierung von Einstein on the Beach, einer Produktion des Theaters Basel mit den Berliner Festspielen und den Wiener Festwochen. Am Schluss steht das Publikum an der Grenze der Drehbühne und vor dem schmalen Orchestergraben auf dem designten Bühnenteppich, ruft Bravo und applaudiert, als müsse sich nach vierstündiger Non-Stopp-Oper mit rituellen Tanzgesten und zwei Ziegen auf der Bühne eine Faszination entladen. Noch vor geschätzten 20 Minuten hatte sich ein großer Teil des Publikums selbst in der Bühneninstallation mitdrehen lassen. Einzelne hatten die Hand ausgestreckt, um die dressierten Ziegen zu berühren. Wie in einer durch Projektionen angereicherten Welt hatten sich Besucher*innen als vermeintlicher Teil der Inszenierung aufgeführt.
Der Berichterstatter knipst eigentlich immer für seinen Blog drauflos, um eine Visualität vom Geschehen herzustellen. Er weiß nicht, was er sieht und fotografiert. Und dann ist da plötzlich dieser kleine Haustier-Hund vor dem Eingang zum Festspielhaus, der gleich mehrere Blicke auf sich zieht. Ein Hund gehört nicht ins Theater. Doch Tiere gehören bis zum Elefanten zur Geschichte der Oper selbst. Heute seltener, früher im Paris des 19. Jahrhunderts häufiger. Tiere auf den Opernbühnen dieser Welt lösen immer einen Effekt aus. Häufig einen Streichelwunsch, mit dem das Tier auf den oder die Streichelnde aufmerksam werden soll. Streicheln macht glücklich. Susanne Kennedy und Markus Selg laden mit ihrem Angebot auf der Bühne „umher(zu)wandern“ zugleich zum Streicheln ein. Unter einigen Paaren in der Installation gelingt das dann auch. Kennedy und Selg haben mit ihrer Inszenierung etwas geschafft, was selten vorkommt: Das Welterzählungsformat Oper wird mit Einstein on the Beach noch einmal klarer und zugleich radikaler.
Die Virtuelle Realität von I Am und Einstein on the Beach korrespondieren visuell und narrativ miteinander. Zwei Mitarbeiter*innen der Berliner Festspiele begrüßen das Publikum und erklären den Ablauf. Susanne Kennedy geht es um das Ich und das Du. Die Selbstimaginationen und dessen Visualität fast mehr noch als dessen Audibility werden von Kennedy in einer temporären Überschneidung von Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart erforscht. Mit I Am unter dem Kopfhörer und der Datenbrille von Oculus werden die Besucher*innen eingeladen, zu sich selbst, sagen wir, auf einer Art fliegendem Teppich zu reisen. Der Raum ist dreidimensional. Die Farben sind intensiv. – Markus Selg und Rodrik Biersteker haben das Visual Design gemacht. Eine männliche Stimme spricht sanft, fast sedierend auf die Ohren der Besucher*innen. Es gibt mehrere Stimmen. Der Text von Susanne Kennedy hat Flow. Virtuelle Realität bietet den Besucher*innen immer auch Entscheidungsmöglichkeiten. Eine blaue Fläche will angeschaut werden. Ich soll den Kopf auf die blaue Fläche, eine Art Fenster richten. Eine Augengraphik erscheint. Dann eine digitale Sanduhr. Das Programm wird geladen.
Mein Körper wird in die VR hineingezogen. Erst stehe ich. Dann setze ich mich auf den runden fliegenden Teppich, den ich entdecke, als ich an mir herunter schaue. Mir kommt die Erzählung Aladin und die Wunderlampe in den Sinn. Zumindest in den trickreichen Filmen, die ich als Kind von Aladin oder dem Baron von Münchhausen im Fernsehen sah, fliegen Aladin und der Baron auf einem Perserteppich. Mein synthetischer Teppich hat ein amorphes Muster. Ich will mich entführen lassen. Eine Glastür öffnet sich nach rechts und links. Ich stoße mit der rechten Schulter an den Türrahmen, als mich der Teppich hindurchfliegt. Doch an meiner Schulter ist nichts zu spüren. Der Film hakt auch nicht. Aha, virtuelle Realität! Alles ist sehr intensiv bunt. Eine Zimmerdecke schiebt sich zur Seite und wallende Wolken werden sichtbar. Dampf. Irgendwann fliegt mich der Teppich zu einer Liegestelle mit Kopfstütze. Ich lege mich neben einen Avatar, dessen Bauchdecke sich gleichmäßig hebt und senkt. Werde ich gleich auf dieselbe Weise atmen?
In der virtuellen Realität ist alles in Bewegung (Programming: Rodrik Biersteker). Blätter bewegen sich. Bauchdecken heben und senken sich. Zimmerdecken geben den Blick auf die Wolken frei, die quellen. Zwutsch – Glastüren öffnen sich zu den Seiten. Die Flammen des Lagerfeuers züngeln. Knistern. Bäume, Farne wiegen sich – im Wind? Sagen wir: im Datenstrom. Sie wiegen sich, als ginge ein Windstoß durch sie hindurch. Es ist alles sehr friedlich. Es geht um mich und das, was ich sehe. Wie ich sehe, dass ich mittendrin bin. Dazu ein Sound (Sound Design: Richard Janssen) auf den Ohren, der mich umschmeichelt. Der Text ist nicht ganz klar verständlich. Vielleicht soll er das auch nicht sein. Es geht um Imagination. Meine Imagination, die irgendwie auch nicht meine ist. Bin ich der fliegende Teppich oder der Baron von Münchhausen? Ist das Lagerfeuer für mich da? Oder weil es so an dieser Stelle programmiert worden ist? Macht das Lagerfeuer mehr, als dass es mich fasziniert?
Irgendwann fliege ich mit meinem Teppich, der eine visuelle Programmierung von Rodrik Biersteker und Ultraworld Productions ist, durch eine Röhre, die in einer großen Höhle endet. Eine Art, wenn ich sie benennen sollte, Mondhöhle aus digitalen Felsen. Wow! Dann geht es hinüber in eine weitere Höhle, in der sich mehrere, bizarre Ringe gleich Himmelsphären umeinander drehen. Alles sehr groß. Monumental. Und ich auf meinem Teppich mittendrin, ziemlich klein, winzig. Alles ausgeleuchtet. Licht ohne Quelle. Unter einem mächtigen Baum – Zweige wiegen sich, Blätter zittern – sitzt ein Wesen, das existiert, dessen Namen ich höre, aber vergessen habe. Ich auf dem Teppich ihm gegenüber. Aber wir sprechen nicht miteinander. Das wäre ja noch etwas gewesen, wenn ich mit ihm gesprochen hätte. – Alexa mach das Licht aus. – Später ein schwebender, digitaler Augapfel mit Wimpern, der mich anblickt.
Auf der Retina spiegeln sich Lichteffekte. Mir ist es etwas unheimlich, wenn mich ein einzelner Augapfel anblickt. Wer blickt? Der Augapfel ohne Nervenbahnen und Sehzentrum im Gehirn? Oder blickt er mich an, weil ich denke, dass er mich anblicken muss. Soll er mir ein Zeichen geben? Für den Psychotiker wird alles zum Zeichen, sagt Jacques Lacan einmal. Man zwinkert ihm zu.[1] Ist das graphisch-mechanische Auf- und Niederschlagen der Wimpern ein Zeichen an mich? – Dann verkehren sich alle visuellen Gebilde in einen leeren Raum, als wolle Susanne Kennedy sagen: Und das bist Du ohne Deine Imaginationen. – Ist es leer in mir? Der fliegende Teppich, auf dem ich saß, ist weg. I AM, ich bin, ich existiere. – Ich setze die Brille und den Kopfhörer ab, hänge sie auf die Halterung an der Wand. – Draußen vor der Seitenbühne des Hauses der Berliner Festspiele hat es begonnen zu regnen.
Susanne Kennedy hätte mit Jacques Lacans Psychose-Seminar vom Oktober 1955 formulieren können, dass das Imaginäre im Realen erscheine.[2] Sie knüpft unterdessen an den Mainzer Neurophilosophen Thomas Metzinger[3], der sich mit der Philosophie des Geistes beschäftigt und in frontiers in Robotics and AI am 13. September 2018 folgende neurophilosophische These veröffentlichte: „The richest, maximally robust, and close-to-perfect VR-experience we currently know is our very own, ordinary, biologically evolved form of waking consciousness itself.”/”Die reichhaltigste, maximal stabile und nahezu perfekte Virtual-Reality-Erfahrung, die wir derzeit kennen, ist unsere ureigene, biologisch entwickelte Form des Wachbewusstseins selbst.”[4] Das liest sich radikal, weil ich dann nur eine „biologisch entwickelte Form des Wachbewusstseins selbst“ bin. Die Neurobiologie wäre dementsprechend ein biochemisches Schaltsystem, dass mir eine VR ins Gehirn spielt. Ich hieße wie in Wolf Singers Walter-Höllerer-Vorlesung an der Technischen Universität Berlin im Juni 2011 ein sich selbst produzierender Effekt der neuronalen Netze.[5] – Psychose oder Neurobiologie?
I AM, wie es aus nichts beginnt, folgt nicht irgendeinem Narrativ, vielmehr dockt es an eine Welterschaffungserzählung, Genesis, an – „Im Anfang erschuf Gott Himmel und Erde.“ Am Anfang war das Nichts, das nichts war. Am Ende werden wir mit dem leeren dreidimensionalen Graphikgitter konfrontiert. Das Gitter ist digital, eine Programmierung oder Modulation aus 0 und 1. Nach Thomas Metzinger hat es die VR schon immer neurobiologisch bei der Gattung Mensch, Homo sapiens sapiens gegeben. Dennoch speist sich die Radikalität seiner These von 2018 aus einer recht aktuellen Umkehrung der Verhältnisse von Mensch und Virtual Reality als relativ junge Technologie. Es ist allerdings 46 Jahre her, dass Philip Glass und Robert Wilson ihr Musiktheaterstück Einstein on the Beach rein pragmatisch ohne Vorwissen entstehen ließen. „We didn’t know where the piece was going – we were too much a part of it.”[6] Doch Susanne Kennedy und Markus Selg inszenieren die vierstündige Non-Stop-Oper ebenfalls als Epos.
Einstein on the Beach als Epos vor Augen und Ohren zu führen, darf man als Invention von Susanne Kennedy und Markus Selg herausstellen. Als im März 2014 im Haus der Berliner Festspiele die quasi restaurierte Originalversion von Einstein on the Beach aufgeführt wurde, wies Robert Wilson auf die Theaterpraxis des Work-in-Progress mit allen Beteiligten hin.[7] Gewiss war schon hinter dem „Happening“ das Epische angelegt. Doch das Zitat von Philip Glass gibt auch einen Wink auf das Imaginäre der Produktionspraxis, die Bilder, Sounds, Performances, Texte entstehen ließ. Die ebenso minimalistische wie eschatologische Choreographie von Ixchel Mendoza Hernandez konzentriert sich ganz auf Gesten, die vage bleiben, doch durch Wiederholungen zu unhintergehbaren Rituale werden. Schon die Zahlenreihen, die die Performer*innen und Tänzer*innen mechanisch vor/zu Beginn der Vorstellung vor sich hinsprechen, wollen und können keinen Sinn ergeben. Die Zahlen von 1 bis 9 lassen sich variieren, sagen aber nichts. Es sei denn, dass sie Zeichen geben. Fotografieren ist ausdrücklich nicht gestattet. Doch immer wieder werden Smartphones zur Abwehr gezückt.
Die Begehbarkeit der Installation auf der Drehbühne durch das Publikum als mit einem Extrazettel im Programm angekündigte Innovation des aktuellen Musiktheaters provoziert derartige Kollisionen von Publikum und Performer*innen, dass sich die inneren Schimpftiraden des Berichterstatters derart zu einer Publikumsbeschimpfung steigerten, dass er gerade aufstehen wollte, als die Projektionen auf der Installation plötzlich erloschen, die Drehbühne stillstand, die Performer*innen das Publikum vom Bühnenrund zu gehen baten, und eine Stimme zu einer Schriftanzeige sagte: „This is you.“ Ploing! Ein innerliches Bravo hörte ich. Geschätzte 20 Minuten weniger als nichts. Bei Robert Wilson war diese Leere und brüllende Stille noch in einen Sternenhimmel geradezu romantisch aufgegangen. Bei Susanne Kennedy gehen einfach die Lichter und Projektionen aus. Das ist tief traurig und berückend schön.
Susanne Kennedys Dramaturgie funktioniert gerade dadurch, dass das Publikum alles mitmachen darf. Man könnte sagen, dass beispielsweise seit Richard Wagners Schlusssequenz des „Bühnenweihfestspiels“ Parsifal das Publikum im Festspielhaus sich immer gewünscht hat, mit in der Gralshalle zu stehen und „erlöst“ zu werden.[8] Wagners Parsifal funktioniert so. Aber wie funktioniert denn das „(E)rleben“ des Publikums auf der Drehbühne? Erleben sind heute Smartphone zücken und abdrücken. Möglichst noch als Selfie. Zwei pensionierte Lehrerinnen, nehme ich an, sitzen mit dem Rücken an einen Fels gelehnt und verhalten sich so, als hätten sie die Perspektive gewechselt. Sie wollen gesehen werden. Sie amüsieren sich über das Publikum außerhalb der Drehbühne. Sie tuscheln miteinander. Karussellfahren. Welch eine Gaudi! Die Performer*innen/Tänzer*innen agieren mechanisch. Blicken und sprechen das Publikum an, ohne es wahrzunehmen. Prima Technik. Sehr professionell. Das Publikum will unbedingt angeblickt werden. Doch während einer Aufführung dürfen sich Performer*innen niemals, nie direkt auf das Publikum einlassen. Dann ginge alles kaputt auf dieser Drehbühne. Zappenduster.
Das Verhalten des Publikums auf der Drehbühne gibt einen Wink. „Auf der Bühne dürfen Sie umherwandern, sich auf die bestehenden Sitzgelegenheiten und den Boden setzen. Die Kapazität ist allerdings beschränkt. Achten Sie bitte auf Ihre Mitmenschen und tauschen Sie hin und wieder die Plätze. So haben alle die Möglichkeit, den Abend aus unterschiedlichen Perspektiven zu erfahren. Die Drehbühne befindet sich während der gesamten Aufführung in Bewegung.“[9] Die Musik wird anscheinend kaum noch gehört. Sie wird im dritten Teil oder Akt immer schöner. Man könnte in Trance geraten. Weil die Drehbühne sich dreht und Personen sich draufsetzen, muss ein Mitarbeiter der Berliner Festspiele immer darauf achten, dass sich niemand die Patschhändchen klemmt. Während die Mitarbeiter*innen alle Maske tragen, hat sich eine Mehrheit des Publikums vom Maskentragen befreit. Soviel über Solidarität und Achtsamkeit von „Mitmenschen“. Und immer wieder mehr oder weniger heimlich der Griff zum Smartphone.
Die Installation von Markus Selg erinnert und zitiert das Sternentor aus Fernsehserie Stargate SG-1, das allerdings auf unerklärliche Weise beschädigt ist. Eine Art Ruine des Sternentores, in dem sich Zukunft und Vergangenheit überschneiden. Eine Felsformation mit Höhle und Lagerfeuer wie zu Urzeiten des Anthropozän. Ein kleiner Tempel, in dem Rituale vorgenommen werden und die Ziegen ein Fressnapf findet. Diamanda Dramm hat sich für die Rolle den Kopf scheren lassen und spielt berückend schön die Solo-Geige. Die Performer*innen Suzan Boogoerdt, Tarren Johannson, Frank Willens, Tommy Cattin, Dominic Santia, Ixchel Mendoza Hernández bewegen sich und sprechen immer an der Grenze zur Maschine. Sind sie noch Menschen oder Teil der sich bewegenden Installationsmaschinerie. Einerseits wohnt der Praxis des Tanzes durch die Choreographie immer etwas Maschinelles inne. Das Sound Design von Building Train (Robert Hermann) verschiebt die Stimmen ins Mechanische. Da sprechen heute Alexa oder andere Voice Computer menschlicher mit mir …
Die Frage nach der Virtual Reality, wie sie zwischen I AM und Einstein on the Beach hin- und hergleitet, erinnert immer auch an die Maschine und den Wunsch nach Interaktion. Susanne Kennedy und Markus Selg haben Einstein on the Beach nicht zuletzt mit den aktuellen technischen Mitteln des Theaters radikalisiert. Das gilt nicht nur für die Visualität, sondern auch für die Audibility. Insofern haben sie eine Transformation des epochalen Musiktheaters von Beginn der 1970er Jahre in die 2020er vorgenommen. Erstaunlicher Weise funktionieren die Versprechen auf Partizipation durch Begehbarkeit und Mitmachen immer noch und kollidieren zugleich mit der Realität des Theaters und der Selbstpraktiken.
Torsten Flüh
[1] Zum Zeichen und Zuzwinkern bei Lacan: Torsten Flüh: Komische Verspätung à point. Zum Hörspiel Mädchenzimmer mit Soldaten von Anna Pein in der Akademie der Künste. In: NIGHT OUT @ BERLIN 2. April 2022.
[2] Jacques Lacan: Die Psychosen. In: ders.: Das Seminar von Jacques Lacan Buch III (1955-1956). Weinheim: Quadriga, 1997, S. 18.
[3] Berliner Festspiele: I AM (VR). Programm 30.06.-4.7.2022. Berlin: Berliner Festspiele, 2022, S. 2.
[4] Metzinger TK (2018) Why Is Virtual Reality Interesting for Philosophers? Front. Robot. AI 5:101. doi: 10.3389/frobt.2018.00101 Zu Thomas Metzinger siehe auch: Torsten Flüh: Müssen wir Menschlichkeit neu bestimmen? Zur Konferenz Humanity Defined: Politics and Ehtics in the AI Age des Aspen Institute Germany. In: NIGHT OUT @ BERLIN 13. April 2019.
[5] Siehe Torsten Flüh: Über die Verabschiedung des Ichs in die neuronalen Netze. Wolf Singers Walter-Höllerer-Vorlesung 2011 in der Technischen Universität Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juni 19, 2011 23:24.
[6] Berliner Festspiele: Einstein on the Beach. Programm 30.6.-3.7.2022. Berlin: Berliner Festspiele, 2022, S. 5.
[7] Siehe: Torsten Flüh: The Moon, the Shooting Star and the Happening. Einstein on the Beach im Haus der Berliner Festspiele. In: NIGHT OUT @ BERLIN März 4, 2014 20:46.
[8] Zu Parsifal und der Frage der Erlösung siehe: Torsten Flüh: Das Kreuz mit der Erlösung. Der fliegende Holländer in Kiel und Parsifal an der Deutschen Oper. In: NIGHT OUT @ BERLIN März 31, 2013 21:44.
[9] Zitiert nach Einlegezettel der Berliner Festspiele vom 1. Juli 2022.
Wechselvolle und dramatische Klimaveränderungen an der Wolga
Zu Janet Hartleys Mosse-Lecture Taming the Volga: Imperial Policies to Control Nature, People and Beliefs mit einer Respondenz von Hans Jürgen Balmes über den Rhein
Angekündigt wurde die Mosse-Lecture von Janet Hartley, die 2021 in der Yale University Press ihr Buch The Volga. A History of Russia’s Greatest River herausgebracht hat, mit dem Semesterplakat Welt im Fluss u.a. gleich neben dem Pförtnerhäuschen zum Innenhof der Humboldt-Universität zu Berlin. Wo dereinst die Zufahrt zur Universität kontrolliert wurde, sitzt schon lange kein die Zugangsberechtigung prüfender Pförtner mehr. Doch seit dem 9. März 2020 blinkt dort eine rote Zahlenkolonne zur Erinnerung und Kontrolle des CO²-Ausstoßes. Angestoßen durch die künstlerisch-wissenschaftliche Intervention der Klimauhr, die „die verbleibende Zeit (anzeigt), in der wir noch CO2 ausstoßen dürfen, bis wir den Betrag erreicht haben, der für ein Überleben auf der Erde zulässig wäre“[1], hat sich die Humboldt-Universität am 9. Dezember 2021 zu „einer Endenergie- und CO2-Einsparung von mindestens 27 Prozent für direkte CO2-Emissionen und mindestens zehn Prozent für indirekte CO2-Emissionen (verpflichtet)“.[2]
Die Klimauhr tickt nicht, aber sie blinkt rot, nicht zuletzt für die Flüsse dieser Erde. Stand sie am 9. März 2020 bei 5 Tage 14 Stunden 28 Minuten 33 Sekunden, so ist sie kurz vor Beginn der Mosse-Lecture zu Wolga und Rhein auf 414 Tage 18 Stunden 51 Minuten 14 Sekunden gesprungen. – Die Anzeige der Klimauhr für die „verbleibende Zeit“ gibt Rätsel auf. Haben wir Zeit dazugewonnen? – Wir werden auf das Klima und die Klimauhr zurückkommen müssen. Janet Hartley richtete ihre Lecture ganz auf die Zähmung (taming) der Wolga aus. Die Naturgewalt der Wolga mit einem Einzugsgebiet von 1.360.000 km² ist seit dem 18. Jahrhundert wohl technologisch gezähmt worden, doch Bevölkerungsgruppen und unterschiedliche Religionen zwischen Muslimen, Juden und russisch-orthodoxem Patriarchat entlang der Wolga lassen sich schwer kontrollieren. Denn das Einzugsgebiet der Wolga ist fast viermal so groß wie die gesamte Fläche der Bundesrepublik Deutschland mit 357.588 km².
Die Mosse-Lectures haben im Sommersemester 2022 einige wenige Flüsse der Erde zum Thema zwischen Geopolitik, Geschichten, Ökologie und Anthropozän gemacht. Gerade wird von der deutschen oder gar Welt-Öffentlichkeit das Schicksal von Euphrat und Tigris im Irak ignoriert. Das Zweistromland gilt als Wiege zumindest der westlichen Menschheit und ihres Wissens von sich selbst. Im Sommersemester 2016 hielt Stefan Maul seinen Vortrag über Wahrsagekunst im Alten Orient zum Semesterthema Zukunftswissen. Vom Orakel zur Prognostik am Beispiel der berühmten Orakellebern[3], die schon Aby Warburg als Wissensobjekte in seinem Bilderatlas Mnemosyne und Georges Didi-Huberman für sein Buch Atlas oder die unruhige Fröhliche Wissenschaft (2016) beschäftigt hatten.[4] Im August 2021 gab der irakische Wasserressourcenminister Mahdi Rasheed al Hamadani an, dass der Pegel von Euphrat und Tigris nur halb so hoch sei wie in den letzten Jahren.[5] Im Juni 2022 beschwerte sich der seit Oktober 2021 regierungslose Irak über die Türkei und den Iran, die die Flüsse und Zuflüsse kontrollierten und den Irak von der Hauptwasserversorgung abschnitten. “Iraq lost half of its inflow of the waters of the Tigris and Euphrates rivers because of Turkish dams and Iran’s cutoff of most tributaries”.[6]
Klimawandel und national wie religiös motivierte Geopolitik z.B. zwischen Sunniten und Schiiten in einem durch den Islamischen Staat und den fingierten Irak-Krieg der Administration von George W. Bush destabilisierten und besetzten Irak (2003-2011) führen im einst paradiesischen Zweistromland zur Verwüstung, Trinkwasserrationierung, Sandstürmen und Missernten an Weizen.[7] Die Mosse-Lectures haben als Beispiel schon den Nil mit dem Vortrag The Nile. History’s Greatest River and the Confluence of Hydropolitics, Empire and the Postcolonial World von Terje Tvedt am 19. Mai berücksichtigt. Dem Organisationsteam geht es darum, ein „Nachdenken über die raumstrukturierende Dimension der Flüsse, über ihre geographische, geopolitische, wirtschaftshistorische und ökologische Bedeutung mit ihrer Reflexion als Ressource der Selbstdeutung vormoderner und moderner Gesellschaft zu verbinden“.[8] Die Wolga strukturiert die Erde auf eine besondere Weise, insofern sie als größter Fluss Europas gilt. Gleichzeitig dient sie zumindest nach einigen Geographen als dessen kontinentale Grenze zu Asien. Als östliche Außengrenze wird ihre Grenzfunktion vom Fluss Ural wie dem gleichnamigen Gebirge in Russland streitig gemacht.[9]
Die Grenze spielt ebenso in Janet Hartleys Geschichte der Wolga eine prominente Rolle. Bis zur imperialen Ausdehnung der russischen Macht im 19. Jahrhundert bildete sie die südliche Grenze beim heutigen Wolgograd. Das russische Zarenreich, an das Wladimir Putin aktuell durch seinen Selbstvergleich mit Zar Peter I. bzw. Peter den Großen andockt[10], der zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch ein Kanalsystem die Wolga mit der Ostsee verbinden ließ, machte sie zu einer Art wirtschaftlichen, kulturellen und geopolitischen Lebensader, die auf Toleranz basierte, wie Janet Hatley es formuliert: „The tolerance by the Russian Empire of cultural distinctiveness that did not threaten central power has led it to be termed the ̀Empire of Difference ́; but was also a practical way of managing the periphery with a small bureaucracy and limited recourse of military force. The result was that by the early nineteenth century, the Volga lands from the north to the south of the river were fully incorporated into the empire. (…) The new unsettled southern border of the Russian Empire was no longer the Volga, but the north Caucasus.”[11]
Ethel Matala de Mazza gab in ihrer Anmoderation der Vorträge von Janet Hartley zur Wolga und Hans Jürgen Balmes‘ Respondenz mit dem Rhein einen Hinweis darauf, dass bei der Planung des Semesterthemas vor allem das Klima in geographischer Hinsicht eine Rolle gespielt habe. Zwischenzeitlich habe sich das politische Klima mit Russland gewandelt, so dass Janet Harleys Vortrag über die russische Geopolitik eine ganz andere Relevanz angenommen habe. Hinzukam bei der Mosse-Lecture im Senatssaal der Humboldt-Universität eine unzeitige Hitzewelle, die die Temperaturen deutlich über ungewöhnliche 30° Celsius steigen ließ und dazu führte, dass Professorin Hartley sich während ihres Vortrages kurzzeitig setzen musste. Das Fließen im mehrdeutigen Titel Welt im Fluss nahm nicht zuletzt mit Wink auf Heraklits πάντα ῥεῖ (alles fließt) ganz konkret eine weitere Bedeutungsvariante an. Ganz zu schweigen von Wladimir Putins Drohungsrhetorik seit dem 22. Februar 2022[12], die viele zum Schwitzen bringt.
Der Begriff Klima hat insbesondere im 20. Jahrhundert in der deutschen Sprache ein breites Bedeutungsspektrum zwischen dem „durchschnittliche(n) Zustand der Atmosphäre“ in einem „bestimmte(n) geografische(n) Gebiet“ und „durch psychologische, soziale o. ä. Umstände bedingte Stimmung, Atmosphäre unter Personen(gruppen), in Institutionen, zwischen Staaten“ angenommen.[13] Um 1800 blieb das Klima kurz und gut auf einen „Theil der Erdkugel, welcher zwischen zwey mit dem Äquator parallel gehenden Zirkeln lieget, besonders in Ansehung der Witterung“ beschränkt.[14] Da hatte der Berliner Pastor, Philosoph, homme de lettres und Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften Johann Heinrich Samuel Formey im Artikel climat der Erstausgabe der Encyclopédie bereits eine „Tabelle der halbstündigen Klimazonen“ (Table des climats de demi-heure) veröffentlicht.[15] Die Klimauhr im Pförtnerhäuschen der HU kombiniert zunächst einmal zwei Begriffe von geographischem Klima und Uhr als Zeitmessungsinstrument, die bislang so nicht auf einander bezogen wurden.
Deutete sich um 1800 bereits eine Berechenbarkeit des Klimas mit Formeys „Tabelle“ und den „Zirkeln“ aus der Geometrie an, blieb aber mit der „Witterung“ noch elastisch, so wurde der Gebrauch des Begriffs einerseits im 20. Jahrhundert immer stärker mit Daten verrechnet, um andererseits in weiteren Wissenschaftsbereichen wie Psychologie, Soziologie, Ökologie, Ökonomie – Wirtschaftsklima(!) – etc. eine eher elastische Verwendung zu finden. Die „KLIMA-UHR“, so ihre Schreibweise der „Wissenschaftler*innen der Humboldt-Universität zu Berlin, die sich mittwochs um 13 Uhr unter dem Motto „ClimateWednesday“ an diesem „Klimahäuschen“ treffen“, zeigt, jene Zeit an, die wir „zum Schaden zukünftiger Generationen und auf Kosten unserer Umwelt und anderer Menschen weiter CO2“ nach dem 15. März 2020, als das „Klima-Budget“ der Bundesrepublik Deutschland aufgebraucht wurde, verbraucht haben.[16] Berechenbarkeit und Kontrolle spielen für das durch Flüsse generierte Klima wie für das Klima, das Flüsse hervorbringt, eine menschheitsgeschichtliche Rolle. Im alttestamentarischen Auszug aus Ägypten im Buch Mose 15 können auch die Spuren einer Klimaveränderung gelesen werden, als sich das „Meer“ bzw. ein schwer zu lokalisierendes „Schilfmeer“ für die Israeliten teilt, damit sie hindurchziehen können, und über den sie verfolgenden Ägyptern hereinbricht.
Janet Hartley sprach in ihrer Mosse-Lecture vor allem den Kontrollwunsch der Wolga und ihrer unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen an. – Der Vortrag ist bereits auf dem Kanal der Mosse-Lectures von YouTube verfügbar. – Auf ihrer Flusskreuzfahrt berücksichtigt sie die historischen Verschiebungen und die imperiale Politik Russlands gegenüber den Menschen an der Wolga. Während Katharina die Große deutsche Siedler aus verarmten und überbevölkerten Regionen Deutschlands einlud, sich an den fruchtbaren Ufern der Wolga niederzulassen, ließen sich nomadische Völker muslimischen Glaubens an der Wolga schlecht kontrollieren. Die Großstadt Wolgograd, wo der Zufluss Tsarista in die Wolga mündet, wurde im tatarischen Gebiet durch ein russisches Fort gegründet und hieß bis 1925 Tsarítsyn, um in Stalingrad umbenannt zu werden. Kasan an der Wolga ist zugleich Hauptstadt der autonomen russischen Republik Tatarstan und gilt als Zentrum des Islam in Russland, während nach russischem Zensus „2010 zu 48,6 % aus Russen und zu 47,6 % aus Tataren (lebten). Daneben leben in Kasan zahlreiche weitere, kleinere Minderheiten wie etwa Tschuwaschen, Ukrainer, Mari, Russlanddeutsche, Juden und andere.“[17]
Die Wolga und ihre Bevölkerungsdiversität, die vermeintlich gezähmt ist, bietet, wenn man aufmerksam liest, nicht nur mit den „Ukrainer(n)“ ein gewisses Unruhepotential. Menschen und Bevölkerungsgruppen lassen sich nicht einfach durch Grenzziehungen ruhigstellen. Janet Hartleys Mosse-Lecture erinnert mit der Wolga daran, dass Russlands imperiale Politik immer auch einer gewissen Elastizität bedurfte, die durch den Angriffskrieg auf die Ukraine und ethnische Säuberungen im Donbass ad absurdum geführt wird. Die Russische Föderation oder Wladimir Putins Russland ist keine ethnisch oder religiös homogene Nation, sondern windet sich in den Verstrickungen des russischen Imperialismus. Vielleicht gibt der stalinistische Musical-Film Wolga, Wolga, russisch: Bónra, Bónra von 1938 einen Wink auf die Umkehrung der Verhältnisse als Traum und Trauma. Denn die musikalisch beschwingte Reise der sowjetischen Musikamateure geht nicht vom Norden in den Süden als Fließrichtung der Wolga, sondern von der Stadt Melkowodsk im Ural am Fluss Tschussowaja, der ein Nebenfluss der Kama ist, die in die Wolga mündet, diese hinauf zur Moskauer Musikolympiade.[18] Der Siegeszug der lustigen Musikamateure zieht insofern genau gegen die imperiale Machtstruktur Stalins und der Russen.
Kurz angesprochen wurde die Wolga als eine Art Mutter der russischen Nation wie sie über Wolgograd bzw. den russischen und deutschen Toten von Stalingrad zur monumentalen Siegesstatue geworden ist. An dieser Figur der Wolga als Mutter und Quelle der russisch-orthodoxen, patriarchalen Nation in den Waldaihöhen beim Dorf Wolgowerchowje (Волговерховье, 228 m) ist dann vielleicht doch auffällig, dass der Fluss als Strom vor allem durch seine zahlreichen Zuflüsse entsteht und so die Wolga eher eine Tochter eben dieser wäre. Leider ging Hans Jürgen Balmes mit dem „Vater Rhein“ wenig auf diese mythologisch-geschlechtlichen Unterschiede und Umkehrungen der Flüsse ein. Balmes knüpft mit Der Rhein: Biografie eines Flusses mehr an den Anthropozän-Diskurs und eine poetische Natur- und Kulturgeschichte an, wobei er William Turners Skizzenbuch von seiner Rheinreise auf einem der ersten Dampfschiffe heranzieht.
Über Rhein und Wolga ließe sich noch viel mehr bezüglich ihrer Umwelt nachdenken. Vladimir Sorokin hat in seinen Texten über Russland wie Манарага (Manaraga), einem der höchsten Berge des Ural im Nationalpark Jugyd wa, einem zum UNESCO-Welterbe erklärten Urwald in der Republik Komi mehrfach die Islamophobie thematisiert.[19] In Tartaristan wie Komi leben Muslime. Unterdessen könnte nach einer Analyse der russischen Landwirtschaft von 2021 die Wolgaregion, „wo überwiegend Sommerkulturen angebaut werden“, durch den Klimawandel die höchsten Ertragsrückgänge“ im globalen Norden erleiden.[20] Noch in der Zeit zwischen 2004 und 2007 finanzierte die Europäische Kommission in ihrem Bereich „Klimawandel und Umwelt“ das Projekt „Nachhaltige Lösungen für die Wolga“ mit 1.040.000 €, um eine nachhaltige Wirtschaft, die nicht weiter den Strom verschmutzt, zu fördern.[21] Die mangelnde Kontrolle der russischen Wirtschaft und Industrieunternehmen an der Wolga vermüllt und verdreckt sie weiterhin. Das zumindest hat ihr der Rhein voraus, dass er nicht nur mythologisch und geopolitische, sondern auch hydro-ökologisch wertgeschätzt wird.
Torsten Flüh
Nächste und letzte Mosse-Lecture im Sommersemester 2022 Norbert Scheuer »Kleine Flüsse, große Fluten. Szenen vom Hochwasser in der Eifel« Einleitung und Gespräch: Ulrike Vedder Donnerstag, den 30. Juni 2022 | 19.15 Uhr Senatssaal der HU, Unter den Linden 6 (Berlin) bzw. als Livestream über den Mosse-Lectures YouTube-Kanal
[1] Stefan Müller: Installation der Klimauhr im Pförtnerhäuschen an der Humboldt-Universität. Flickr: Berlin, 09.03.2020.
[2] Frank Aischmann: Humboldt-Universität und das Land Berlin unterzeichnen Klimaschutzvereinbarung. In: Humboldt-Universität zu Berlin: Presseportal 09.12.2021.
[3] Siehe: Torsten Flüh: Big Data aus dem Zweistromland. Drei Vorträge über das Zukunftswissen im Rahmen der Mosse-Lectures. In: NIGHT OUT @ BERLIN Mai 23, 2016 20:16.
[4] Siehe: Torsten Flüh: Zur Intelligibilität des Bilderatlas Mnemosyne. Über die Ausstellung und das Buch „Aby Waburg: Bilderatlas Mnemosyne – Das Original“ im Haus der Kulturen der Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. Oktober 2020.
[5] joe: Panik im Paradies. Irgendwo nahe den Flüssen Euphrat und Tigris soll der Garten Eden liegen, heißt es. In: Der Spiegel 30.08.2021.
[6] Faris al-Omran: Conflicts exacerbate drought that threatens millions in Syria, Iraq. In: Al-Mashareq 2022-06-01.
[9] Konrad Weber stellt die Überlegung an, dass die Wolga mit tiefsten Punkten die Grenze sein müsse: „Wenn streng die tiefstmögliche natürliche Stelle zwischen Europa und Asien die Grenze sein soll, verläuft die Grenze zwischen dem schwarzen und dem kaspischen Meer durch die Manytsch-Sümpfe (26 m ü.M.), dann entweder der Wolga entlang und durch den Weissen See (140 m ü.M.) zum Weissen Meer (Route 1) resp. der Kama und Petschora entlang (Kulmination auf 185 m ü.M., Route 2) oder – wenn der Ural noch zu Europa gehören soll – durch den Aralsee und die Flüsse Ischim, Irtysch und Ob (höchster Punkt 113 m ü.M., in der Karte Route 3).“ In: Konrad Weber: Geographische Definitionen: Die Abgrenzungen Europas. Ohne Ort, ohne Jahr.
[11] Janet M. Hartley: The Volga. A History of Russia’s Greatest River. New Haven: Yale University Press, 2021, S. 87.
[12] Zur Kriegserklärung von Wladimir Wladimirowitsch Putin am 22. Februar siehe: Torsten Flüh: Fragen der Intelligenz. Zu Our Space to Help in der Neuen Nationalgalerie und Putins Intelligenz als Streitfall. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. März 2022.
[13] Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache: Bedeutungsübersicht: Klima.
[18] Janet Hartley sprach nur kurz im Nachgespräch mit Ethel Matal de Mazza den Film Wolga, Wolga als einen großen und prägenden Mythos des Flusses an. Quelle: Wikipedia: Wolga, Wolga (1938).
[19] Siehe: Torsten Flüh: Putins Bücherverbrennung zwischen Propaganda und Postmoderne. Zu Wladimir Putins Geschichtsrecycling und Vladimir Sorokins Texte Die rote Pyramide, Manaraga und Das weiße Quadrat. In: NIGHT OUT @ BERLIN 10. April 2022.
[20] Florian Schierhorn: Analyse: Wird die russische Landwirtschaft vom Klimawandel profitieren? In: Bundeszentrale für politische Bildung vom 18.11.2021.
[21] CORDIS: Klimawandel und Umwelt: Nachhaltige Lösungen für die Wolga. Ein EU-finanziertes Projekt bestimmte die Herausforderungen in Bezug auf eine nachhaltigen Wirtschaft der Wolga und ging diese an. Europäische Kommission 29 Februar 2012.
Zur Ausstellung Schliemanns Welten in der James-Simon-Galerie und dem Neuen Museum
Erinnern Sie sich noch an die digitale Ausgabe der ZEIT vom 4. Januar 2022 mit einem Porträt Heinrich Schliemanns von Moritz Asslinger? – Eine Schliemann-Collage – Sophia als Model für den „Schatz des Priamos“ ganz links, Heinrich mit Gelehrtenbrille mittig und antike Vasen rechts, Wüstenlandschaft mit Kamelen als Hintergrund[1] – gleich auf dem Cover mit den Zeilen „200 JAHRE HEINRICH SCHLIEMANN – Vom Entdecker zum Plünderer – Warum der weltberühmte Archäologe, der das alte Troja fand, heute als Dieb dasteht.“ Mittlerweile wurde am 6. Januar 2022, genau an Schliemanns Geburtstag, der Titel redaktionell in Ein deutscher Held und Räuber abgewandelt. Und dann fiel Heinrich Schliemann zur Eröffnung seiner persönlichen Jahrhundertausstellung Schliemanns Welten. Sein Leben. Seine Entdeckungen. Sein Mythos. am 13. Mai 2022 dem russischen Angriffskrieg zum Opfer. Denn Schliemann war ausgerechnet in Russland, nämlich St. Petersburg als Kaufmann zu Reichtum und bürgerlichem Ansehen gelangt, bevor er ca. 1867 nach Kiew zog.
Schliemann liegt gerade nicht im Trend, war bei seinem Tod am 26. Dezember 1890 in Neapel allerdings derart deutscher Mythos geworden, dass BERLIN SCHLOSS 882 48 29 nach ST. NEAPEL telegrafierte: „EIN.AUFRICHTIGSTES.BEILEID.ZU.IHREM SCHWEREN.VERLUSTE (…) .WILHELM.“ Er war so berühmt geworden, dass Kaiser Wilhelm II. persönlich „FRAU.DR…HEINRICH SCHLIEMANN“ kondolierte. Die Kopie des Telegramms wird an der letzten Schauwand vor dem Ausgang der Ausstellung präsentiert. Davon weiß noch nicht einmal Wikipedia etwas. Hoch über der breiten Treppe zur James-Simon-Galerie von David Chipperfield hängt neben dem Eingang das Plakat mit den ikonischen Elementen zu Heinrich Schliemann: Homer-Büste, Schliemann in russischem Schlittenmantel mit Zylinder, Sophia mit dem „Schatz des Priamos“ als Kopfschmuck, die Grabanlage von Mykene. Alles zugeschnitten auf die Formate von Biographie und Archäologie des größten Sohnes von Neubuckow – nordöstlich von Wismar.
Heinrich Schliemann verwandelte sich und sein Leben qua Literaturen in einen Aufstiegs- und Bildungsmythos des 19. Jahrhunderts. Am Ende seines Lebens wird er nicht nur in einem antikisierenden Palast in Athen, dem Ιλίου Μέλαθρον, leben, seine griechische Ehefrau Sophia mit antikem Gold-Schmuck behängen und fotografieren lassen, er wird sich auch in einem bereits errichteten Mausoleum im dorischen Stil auf dem Athener Zentralfriedhof mit Blick auf die Akropolis beisetzen lassen. Seine Kinder aus der zweiten Ehe nannte er nach der griechischen Mythologie Agamemnon und Andromache. Neubuckow und Athener Zentralfriedhof haben eine gewisse Spannweite, wobei sich Schliemann zwischen 1866 und 1870, als er in Paris lebte und Immobilien anschaffte, sicher von der Mausoleum-Architektur des Pere Lachaise inspirieren ließ. St. Petersburg und Paris waren im 19. Knotenpunkte von Handel, Kultur und Lifestyle.
Weniger historisch-kritische Kontextualisierung einer zu erkundenden Biographie hat man in den letzten 20 Jahren in einer großformatigen Ausstellung wie Schliemanns Welten in Berlin selten gesehen. Als sei das 19. Jahrhundert ein blinder Fleck, wird die umstrittene Lebens-, Erfolgs- und Wissenschaftsgeschichte Heinrich Schliemanns in einem Parcours zwischen Neubuckow und Neapel als mehr oder weniger zufälliger Sterbeort erzählt. Matthias Wemhoff, Direktor des Museums für Vor- und Frühgeschichte der Staatlichen Museen zu Berlin und damit Hausherr der von Schliemann generierten Troja-Sammlung macht das Genre der Biographie zum Format der Ausstellung. Gut, das 19. Jahrhundert ist nicht Arbeitsfeld der Vor- und Frühgeschichte. Oder vielleicht doch? Biographie geht – und Heinrich Schliemann hatte dafür ein Gespür – jedenfalls so: „Leidenschaft, unbedingter Wille, Leidensfähigkeit und große Belastbarkeit sind Eigenschaften, die auch die größten Kritiker Heinrich Schliemann nicht absprechen werden. Sein Erfolg war ihm nicht in die Wiege gelegt. Zu seiner Ausgangssituation hätte die dauerhafte Ausstellung in einem Krämerladen in Fürstenberg an der Havel besser gepasst. Dass er genau diesen Weg nicht gegangen ist, sondern mit hohem Risiko sich neue Handlungsfelder erarbeitet hat, prägte sein Leben. In Amsterdam erkannte er, dass die russische Sprache ihm eine deutlich verbesserte Position im auf den Russlandhandel spezialisierten Kaufmannskontor verschaffte, seitdem war das Sprachenlernen – 8 bis 13 sind es am Ende gewesen, die er mehr oder minder beherrschte – ein Schlüssel für seinen Erfolg in fremden Ländern und ebenso für das Studium der antiken griechischen Literatur.“[2]
Gleich zu Beginn, wenn die Ausstellungsbesucher nach der Zeitfensterkontrolle die Einführung lesen wollen, hören sie in ihrem Rücken eine nicht ganz unbekannte Stimme. Ausgelöst durch einen Bewegungsmelder erscheint wie der fast Leibhaftige Katharina Thalbach als Heinrich Schliemann. Der Ton wird von der Schauspielerin perfekt gesetzt. Er geht immer leicht ins Aufschneiderische. Textlich handelt es sich vermutlich um Collagen aus Schliemanns biographischen Schriften wie Briefen und Büchern. Thalbach spricht mit einer Klarheit und leichten Ironie, die die Selbstlebenserzählungen ebenso glaubhaft wie leicht übertrieben erscheinen lassen. Gleich beim ersten Auftritt wird eine Taschenuhr des Vaters gezeigt, die zwar nur kurz gezückt und erwähnt wird, aber die allergrößte Bedeutung für Schliemann hat. Alles hat allergrößte Bedeutung für Schliemann, was er erzählt. Man kann sich eines Schmunzelns nicht erwehren. Denn zweifelsohne wird Katharina Thalbach auf diese Weise zum Star von Troja und all dem antiken Goldschmuck.
Wie bereits in der Einführung von Matthias Wemhoff angeschlagen, werden das Sprachenlernen, das Lesen und Übersetzen in Amsterdam zu einem Lebensthema von Heinrich Schliemann. Was sich allerdings in der biographischen Erzählweise wie von selbst zur Erfolgspraxis des Kaufmanns und späteren Wissenschaftlers entwickelt, wäre ein erster Ansatzpunkt, um das so wichtige Feld des Sprachenlernens und der Umbrüche der Kommunikation wie dem Telegramm aus dem Berliner Schloss in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts genauer zu betrachten. In der Ausstellung wird die von Schliemann selbst formalisierte Methode des Sprachenlernens thematisiert und inszeniert. Sie situiert sich nicht zuletzt an der Schnittstelle einer intuitiv wiederholenden Praxis, deren Formalisierung in mehreren Schritten und ihrer Publikation in Heften, die schließlich zu Büchern anwachsen. Wie erfolgreich diese „Methode Schliemann“ nicht zuletzt in ökonomischer Hinsicht schon für ihn selbst wurde, ist nicht überliefert.
Unterdessen verspricht bis auf den heutigen Tag jedes Sprachlernwerk den Schlüssel zum Spracherwerb in fast müheloser Weise. Es sei denn, man benutzt in aller jüngster Zeit eine Übersetzungssoftware, die für einen spricht, was man nicht versteht und man vertraut darauf, dass verstanden wird, was man sagen wollte. Wäre der Spracherwerb derart unproblematisch, gäbe es keine umfangreiche Diskussion zur Fachdidaktik. So heißt es beispielsweise zu den Prinzipien der Fremdsprachendidaktik beim Goethe Institut, dass die „Schülerinnen und Schüler (…) mit wenigen einfachen grammatischen Strukturen und Mustern einfache Sätze (bilden), zum Beispiel: Sie berichten und erzählen über gegenwärtige und vergangene Ereignisse aus dem eigenen Erfahrungsbereich“.[3] Doch die zur „Methode“ formalisierte Sprachlernpraxis Schliemanns funktioniert anders. Literarische Texte sollen gelesen und wiederholt werden. Der Methode wird in der Ausstellung eine Art Kabinett gewidmet.
Immerhin finden sich im Katalog der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz gleich zwei Titel zur Methode Schliemann, die nach dessen Tod veröffentlicht wurden. Es handelt sich um Lieferungswerke. Also Teile eines umfangreichen Werkes, das nach und nach geliefert wird. Das Lieferungswerk Methode Schliemann Französisch / [nach dem Herrn Schliemann vorgelegten …] wurde 1896 „vom Oberlehrer Otto Badke“ in Stuttgart begonnen.[4] Und Leo Mannow publizierte eben dort noch 1922 Methode Schliemann zum Selbsterlernen fremder Sprachen: Russisch : nach einem von Dr. Heinrich Schliemann gebilligten Plane unter Mitwirkung bewährter Fachleute auf Grund einer für den Lehrgang eigens verfaßten russischen Originalnovelle für den Selbstunterricht …[5] Zumindest postum knüpfen Sprachlehrer im Violet-Verlag Stuttgart mehrfach an die Methode Schliemann als „Selbstunterricht“ an. In der Ausstellung wird zu einem interaktiven Versuch eingeladen: „Für Schliemann war es beim Sprachenlernen wichtig, jemandem Texte laut vorzutragen. Ob die Zuhörer ihn verstanden, war ihm nicht wichtig. An der Wand siehst du in verschiedenen Sprachen einen kurzen Text aus dem Buch „Telemach“, das Schliemann zum Sprachenlernen nutzte. Suche dir die Sprache(n) aus, die du vortragen willst. Stell dich vor den Monitor. Wir hören dir zu.“[6]
In der Sprachlernforschung hat die Methode Schliemann heute keine weite Verbreitung mehr, wird allerdings gelegentlich zitiert. Die Kulturwissenschaftlerin Stefanie Samida machte zuletzt 2017 auf sie aufmerksam. Schliemanns Methode wird nach Samida „erstmals ausführlicher in der Vorrede zu seinem 1869 erschienen Buch Ithaka und dann nochmals in seiner Autobiographie, die er seinem Werk Ilios (1881) vorangestellt hatte“, erläutert.[7] Nach den von Samida zitierten Quellen wird die Methode Schliemann erst im Kontext der Autobiographie formalisiert und publiziert. Der russische Kontext, wie er nun prominent von Wemhoff angeführt und in der Ausstellung inszeniert wird, erscheint hier noch nicht. Bei den Heften, die in der Ausstellung gezeigt werden, handelt es sich offenbar um jene postumen aus dem Violet-Verlag in Stuttgart: „Papier, Pappe 1913 privat“. Das biographische Verfahren der Ausstellung erweist sich an dieser Stelle als etwas kühn. Aus der Rückschau erscheint die Methode Schliemann als nur allzu verständlich, was nicht zuletzt einem verlegerischen Konzept zu verdanken ist, das an einen gewissermaßen Über-Lehrer der Nation andockt. Es ist ein wenig wie mit den „Zuhörern“, die auf dem Monitor wie auf einem Dachboden interaktiv verstehend erscheinen.
Die für das Ausstellungskonzept strukturierende Autobiographie als „Einleitung“ von Ilios kommt in der Ausstellung selbst nicht vor. Nachdem das Kaufmannsleben im Teil der James-Simon-Galerie mit dem Aufbruch von Paris nach Griechenland endet, betreten die Ausstellungsbesucher*innen sogleich TROJA. Die Autobiographie als narratives Scharnier von 1881 wird über die Archäologie vergessen, als spielte sie weder für Heinrich Schliemann noch die Erfindung der modernen Archäologie eine Rolle. Dass diesem Text keine Funktion in der Ausstellung zugestanden wird, der schon mit der Eröffnungsformulierung die erzählerische Verknüpfung von Selbstlebenserzählung und Archäologie herstellt, darf zumindest als verblüffend auffallen. Es ist indessen ein Symptom für das Konzept der Ausstellung. Mit den entsprechenden Rahmungen heißt es dort: „I L I O S. EINLEITUNG. AUTOBIOGRAPHIE DES VERFASSERS UND GESCHICHTE SEINER ARBEITEN IN TROJA. I. Kindheit und kaufmännische Laufbahn: 1822 bis 1866. Wenn ich dieses Werk mit einer Geschichte des eigenen Lebens beginne, so ist es nicht Eitelkeit, die dazu mich veranlasst, wol aber der Wunsch, klar darzulegen, dass die ganze Arbeit meines späteren Lebens durch die Eindrücke meiner frühestem Kindheit bestimmt worden, ja, dass sie die nothwendige Folge der derselben gewesen ist; wurden doch, sozusagen, Hacke und Schaufel für die Ausgrabung Trojas und der Königsräber von Mykenae schon in dem kleinen deutschen Dorfe geschmiedet und geschärft, in dem ich acht Jahre meiner ersten Jugend verbrachte.“[8]
Bereits der Titel – I L I O S – des Buches, das als Schliemanns Hauptwerk gerahmt und in keinem geringeren Bildungsverlag als Brockhaus in Leipzig 1881 veröffentlicht wird, gibt einen Wink auf das literarische Verfahren, mit dem sich Heinrich Schliemann selbst in die Literatur und Geschichte einschreibt, indem er die „Eitelkeit“ als Motiv verneint und bestätigt. Denn ILIOS ist ein Neologismus, Schliemanns eigene Konstruktion aus Ἰλιάς (Ilias) von Homer und Ἶλος (Ilos) als dem Namen des Gründers Trojas.[9] Der Unterschied von ιά und ο in den altgriechischen Schriften bzw. von a und o wird mit der Autobiographie buchstäblich jener Ort, an dem sich Heinrich Schliemann als „ich“ einschreibt. Und dann beginnt die „Geschichte des eigenen Lebens“ mit „Hacke und Schaufel“. Für einen derart kosmopolitischen, vielsprachigen Kaufmann und Reisenden, wie es Heinrich Schliemann geworden sein wird, ist es gegen Ende des 19. Jahrhunderts nicht ganz selbstverständlich, dass er seine Werke und ILIOS Stadt und Land der Trojaner: Forschungen und Entdeckungen in der Troas und Besonderes auf der Baustelle von Troja, soweit bekannt, einzig und allein auf Deutsch veröffentlicht hat.
Die Vielsprachigkeit Heinrich Schliemanns, die so prominent in der Ausstellung gesetzt wird, steht seinen Publikation in Deutsch auf bemerkenswerte Weise entgegen. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts etwa wie bei Alexander von Humboldt wäre Französisch die Sprache der Wissenschaft gewesen.[10] Mit fließendem Englisch und Erfahrung im Goldgeschäft in Sacramento, den Vereinigten Staaten von Amerika, hätte Schliemann seine Werke ebenso in der kommenden Weltsprache veröffentlichen können. Für Russisch gab es vielleicht keinen Buchmarkt. Doch ILIOS im Brockhaus-Verlag, dem deutschen Enzyklopädie-Verlag des 19. Jahrhunderts schlechthin, formuliert nicht zuletzt einen Anspruch auf Wissen und Wissenschaft, der ebenso populär wie persönlich platziert wird. Reiste Schliemann ohne Reiseführerliteratur? Brauchte er keine Reiseführer, weil er schon früh seine Methode zum Sprachenlernen entwickelt hatte und sie scheinbar mühelos überall anwenden konnte? Was passierte aber, als er nach China reiste und wie im Ausstellungskabinett einfach Chinesisch drauflos redete? – Es dürfte einige Verwunderung und Unverständnis gegeben haben, wenn ein Wort mit einem falschen Ton ausgesprochen wurde… Oder: Heinrich Schliemann bewegte sich in einem Netzwerk internationaler Kaufleute, in dem man eine „eigene“ Sprache sprach.
Liest man die Autobiographie auch nur ansatzweise ein paar Zeilen weiter, springt ein literarischer Diskurs des 19. Jahrhunderts zwischen Romantik und Vor- und Frühgeschichte förmlich heraus. Zwischen „gespenstische(r) Jungfrau“ und „Hünengrab“ wird „Neu-Buckow“ zur romanesken Schnittstelle annährend aller Diskurse des 19. Jahrhunderts. Die Autobiographie wird zu einer komplexen Erzählung von der deutschen Nation. Ob und was davon stimmt oder von Schliemann erfunden worden ist, bleibt unerheblich. Die Herkunft wird tief in die – noch junge – deutsche Geschichte und ihrer narrativen Elemente eingeschrieben. Denn bei aller internationalen Kaufmannstätigkeit rund um den durch Dampfschiffe und Eisenbahnen zugänglichen Erdball muss die dörfliche Herkunft als Identität konstruiert werden. Heinrich Schliemann wird nicht zuletzt Jules Vermes Le Tour du monde en quatre-vingts jours (1873) gelesen haben, die bekanntlich durch eine Wette in einem Londoner Gentemen’s Club ausgelöst wird. „In unserm Gartenhause sollte der Geist von meines Vaters Vorgänger, dem Pastor von Russdorf, „umgehen“; und dicht hinter unserm Garten befand sich ein kleiner Teich, das sogenannte „Silberschälchen“, dem um Mitternacht eine gespenstische Jungfrau, die eine silberne Schale trug, entsteigen sollte. Ausserdem hatte das Dorf einen kleinen von einem Graben umzogenen Hügel aufzuweisen, wahrscheinlich ein Grab aus heidnischer Vorzeit, ein sogenanntes Hünengrab, in dem der Sage nach ein alter Raubritter sein Lieblingskind in einer goldenen Wiege begraben hatte.“[11]
In der Eröffnungssequenz seiner Autobiographie legt Schliemann mit „Neu-Buckow“ alle Motive an, die in Troja aufgehen sollen. Die Herkunft wird zur Bestimmung und Legitimation der Ausgrabungen im untergehenden osmanischen Reich. Schliemann und seine Wissenschaft nicht im Geflecht der Diskurse zu thematisieren, kann nur als Paradox des Ausstellungskonzeptes bedacht werden. Gelingt es ihm doch prototypisch, alle zeitgenössischen Diskurse miteinander zu verknüpfen. Das vorzeitliche Hünengrab wird zur Grablege eines „Lieblingskindes in einer goldenen Wiege“ des romantischen „alte(n) Raubritter(s)“. Voller Verständnis werden hunderttausende Leser*innen bei dieser Kombination „Hünengrab“ und „Raubritter“ genickt haben. Oder kündigte sich das sich selbst erzählende Ich damit als legitimer „Raubritter“ an? – „Sein Leben.“ als Programm wird lächerlich. Die Ausstellung verfehlt in der Charakterologie – „Schliemann war auf Anerkennung und Bestätigung aus, dies scheint ein nicht zu unterschätzender Antrieb für ihn gewesen zu sein.“[12] – jene Fragen an das 19. Jahrhundert und die Archäologie, die brennend wichtig gewesen wären. Mythen und Selbst werden von Schliemann als Verfahren des 19. Jahrhunderts ultimativ enggeführt. – „Sein imposantes Grabmal auf dem Athener Friedhof ziert ein Fries, der Szenen aus der Ilias mit Darstellungen seinen Grabungen verbindet, seine Büste über dem Portal wird von der Inschrift begleitet: Dem Helden Schliemann.“[13] – Das könnte nicht trotz des Reichtums als Kaufmann, sondern wegen diesem als eine Signatur des 19. Jahrhunderts gelesen werden.
Ilias und Ilios als Verfahren einer Aneignung von Mythos und Schätzen, wo Mangel herrscht, werden insbesondere im 19. Jahrhundert zu einer Praxis der Herrschaft, um die Leere zu stopfen. Weil sich die industriellen Erfolgsgeschichten wie z.B. die von August Borsig nicht erzählen lassen[14] und die neuen Könige sie nicht selbst erzählen konnten, wurden sie nachträglich zur Geschichte. Diese Figur lässt sich bis nach Paris verfolgen. Heinrich Schliemann muss den Mangel auf irgendeine Weise gespürt haben. Denn die unablässigen Reisen und Unternehmungen bis in den Goldhandel im Wilden Westen und nach Yokohama könnten auch eine gewisse Ruhelosigkeit verraten. Überhaupt werden der sagenhafte Goldhandel in Sacramento und die Finanzierung von Schürfrechten und Goldschürfen durch teure Kredite zu einer Art Vorspiel der Aneignung der antiken Goldschätze. Denn das vermeintlich urwüchsige Goldschürfen wird über Schliemann bereits durch das internationale Bankhaus Rothschild u.a. in Paris finanziert und organisiert, das seinerseits durch die Finanzierung von Eisenbahnstrecken reich und mächtig geworden ist. In der ruhelosesten aller Städte des 19. Jahrhunderts, in Paris[15], fasst der Mann aus „Neu-Buckow“ den Entschluss, Troja mit Homers Ilias in Hisarlik zu suchen und auszugraben, als handele es sich beim Epos um einen neuzeitlichen Reiseführer. Er findet und zerstört erstaunliches, von dem wir weiterhin nicht wissen, ob es Homers Troja war.
Als ein Verfahren der Aneignung wird von Schliemann ebenso das Erlernen der Sprachen nach seiner Methode in Ilios insbesondere durch Wiederholungen beschrieben. Das ist insofern bemerkenswert, als die Wiederholungen ohne Übersetzungen gleichsam als ein Gedächtnistraining formuliert werden, bei dem es nicht um ein Verständnis des Wiederholten geht. Schliemann liest und lernt „den ganzen „Vicar of Wakefield“ von Goldsmith und Walter Scott’s „Ivanhoe“ auswendig“, ohne zu verstehen oder zu wissen, was er auswendig lernt. Er vertraut insofern auf ein nachträgliches Wissen. Vor allem aber macht er sich eine Art Überzeugungskraft zu Nutze, die dadurch funktioniert, dass er „laut“ spricht und die anderen zuhören müssen. Das Selbstlernen findet zudem wie selbstverständlich in der Nacht statt. Man könnte sie fast eine unbewusste Methode der Aneignung nennen: „Vor übergrosser Aufregung schlief ich nur wenig und brachte alle meine wachen Stunden der Nacht damit zu, das am Abend Gelesene noch einmal in Gedanken zu wiederholen. Da das Gedächtniss bei Nacht viel concentrirter ist, als bei Tage, fand ich auch diese nächtlichen Wiederholungen von grösstem Nutzen; ich empfehle dies Verfahren Jedermann. So gelang es mir, in Zeit von einem halben Jahre mir gründliche Kenntniss der englischen Sprache anzueignen.“[16]
Die Autobiographie der Ilios lässt sich lesen und sollte nicht einfach nur wiederholt werden. Daran krankt das Ausstellungskonzept über weite Strecken. Um Schliemanns Fotostudio-Inszenierung mit russischem Schlittenmantel als wohlhabender Kaufmann der Kaufmannschaft von St. Peterburg zu verifizieren, wird ein ebensolcher aus dem Magazin des Ethnologischen Museums in der Ausstellung gezeigt. Das kann man machen, allemal im Heinrich-Schliemann-Museum in Ankershagen, aber für die Staatlichen Museen Berlin Preußischer Kulturbesitz wird das etwas unterkomplex, ja, naiv. Die Autobiographie Heinrich Schliemanns ist nicht mehr und nicht weniger als ein Roman des 19. Jahrhunderts. Ihre Musealisierung mit erstaunlichen Funden in Museumssammlungen und Archiven als Ausstellung knüpft selbst an Praktiken des 19. Jahrhunderts an. Die Kaufmanns- und Edelmetallhandelskarriere ist eben kein „neue(s) Handlungsfeld()“ im persönlichen Horizont, sondern Handels- und Wirtschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts mit all ihren Widersprüchen und Merkwürdigkeiten, in die Schliemann auch durch mancherlei Zufälle hineingerät.
Die Ausstellung, die noch bis zum 6. November 2022 geöffnet sein wird, erübrigt nicht zuletzt mit den Leihgaben des National Archaeological Museum Athens in diesem Sommer eine Reise in die brütende Hitze von Athen. Denn darin ist die Ausstellung dann doch grandios, dass sie einen Bogen schlägt zwischen dem Heinrich-Schliemann-Museum Ankershagen und den Leihgaben aus Mykene etc. des National Archaeological Museum Athens. Die Ministerin für Kultur und Sport der Hellenischen Republik, Dr. Lina Mendoni, hat nicht nur ein Grußwort geschrieben, sondern die umfangreiche Ausstellung wesentlich ermöglicht. Wenn es nicht nur ein Zufall war, dass der Berichterstatter nahezu ungestört bis auf die wiederkehrenden Auftritte Katharina Thalbachs als Heinrich Schliemann die Ausstellung allein besuchte, dann hat sie ein Besuchermangelproblem.
Torsten Flüh
Schliemanns Welten Sein Leben. Seine Entdeckungen. Sein Mythos. bis 6. November 2022 James-Simon-Galerie Museumsinsel Berlin
[1] Das Cover der Zeitausgabe wird nur noch auf Google Bilder angezeigt.
[2] Zur Archäologie siehe auch die künstlerische Intervention von Helene von Oldenburg und Claudia Reiche in: Torsten Flüh: Auditive Kraftfelder. Zu Ann Cleare und Enno Poppe mit dem Ensemble Musikfabrik beim Musikfest Berlin 2021. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. September 2021. Matthias Wemhoff: Schliemanns Welten. In: ders. (Hg.): Schliemanns Welten. Sein Leben. Seine Entdeckungen. Sein Mythos. Leipzig: E.A. Seemann, 2022, S. 11.
[3] Goethe Institut: Prinzipien der Fremdsprachendidaktik. (ohne Jahr/ohne Ort, abgerufen am 18.06.2022).
[4] Otto Badke: Methode Schliemann Französisch / [nach dem Herrn Schliemann vorgelegten und von ihm gebilligten Plane bearb. vom Oberlehrer Otto Badke …] Stuttgart: Violet, 1896.
[5] Leo Mannow: Methode Schliemann zum Selbsterlernen fremder Sprachen: Russisch : nach einem von Dr. Heinrich Schliemann gebilligten Plane unter Mitwirkung bewährter Fachleute auf Grund einer für den Lehrgang eigens verfaßten russischen Originalnovelle für den Selbstunterricht ; mit der Beilage: Das russische Zeitwort, einer Anleitung zum Erlernen der russischen Schreibschrift, der russischen Konversationsschule (Russkoe ėcho) und der russischen Handelskorrespondenz / bearb. von L. Mannow und Otto Breuninger. Stuttgart: Violet 1922.
[7] Stefanie Samida: Die ‚Methode Schliemann‘ zur Selbsterlernung von Sprachen: Ein Blick zurück – und auch nach vorn. In: Fokus Lehrerbildung. Blog der Heidelberg School of Education. 12/12/2017.
[8] Heinrich Schliemann: Ilios, Stadt und Land der Trojaner: Forschungen und Entdeckungen in der Troas und Besonderes auf der Baustelle von Troja. Leipzig: Brockhaus, 1881, S. 1. (Heidelberger historische Bestände – digital)
[10] Zur Frage der Sprache und des Schreibens von Wissenschaft bei Alexander von Humboldt siehe: Torsten Flüh: Wasserzeichen vom Orinoco. Zum 2. Alexander von Humboldt-Symposium „Forschen & Edieren“. In: NIGHT OUT @ BERLIN Mai 30, 2015 19:05.
[11] Heinrich Schliemann: Ilios … [wie Anm. 8] S. 2.
[12] Matthias Wemhoff: Schliemanns … [wie Anm. 2] S. 13.
[14] Zu August Borsig siehe: Torsten Flüh: Nietzsches „intelligente Maschinen“. Zur Intelligenz und Maschine bei Nietzsche, dem Technikmuseum Berlin und dem Riesen-Dampfhammer. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. Juli 2019.
[15] Zu Paris im 19. Jahrhundert siehe: Torsten Flüh: Pariser Industrialisierung glüht durch Hector Berlioz‘ Benvenuto Cellini. Sir John Eliot Gardiner beschenkt das Musikfest Berlin mit einer Ophicleide, Saxhörnern und einem Streikchor. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. September 2019.
Zur Fachkonferenz Microsoft Build 2022 in der Lagerhalle 1 des Westhafens
Wie sich die Einladung zur Fachkonferenz Microsoft Build Anfang Mai in mein Outlook-Postfach verirrte, bleibt ein Geheimnis der Speicher und des Internets. Immerhin funktionierte die Registrierung. Eine Woche vor Konferenzbeginn erreichte mich eine „exklusive Einladung zum Live-Event nach Berlin“ in „entspannter Konferenzatmosphäre“. Microsoft Build ist die Messe für „IT-Professionals“ mit eigenem Internetportal, Live Stream, Videos On-demand und „Techwiese“. Wie beziehungsreich die Location Westhafen Event & Convention Center, kurz WECC, für das Live Event ausgesucht worden war, wusste möglicherweise nur ein Event-Scout. Denn die Lagerhalle 1 im Westhafen entstammt einer gänzlich anderen Epoche der Speicher, Lager und Container. Dass sich im zehngeschossigen Westhafenspeicher bis 30. November 2019 die Zeitungsabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz befand, wissen wahrscheinlich nur wenige Berliner*innen und Nutzer*innen der Ringbahn, die das unübersehbare Gebäude vorbeiziehen lassen.
Die Geschichte von Microsoft Build erzählt von der Zukunft. Mit der Keynote verkörpert Satya Nadella, Chairman und Chief Executive Officer von Microsoft, wie die Gegenwart sich die Zukunft vorstellt und sie in Animationen visualisiert wird. Im Dezember 2017 hatte er seine Autobiographie auf Deutsch veröffentlicht: Hit Refresh: Wie Microsoft sich neu erfunden hat und die Zukunft verändert. Forbes listete ihn 2019 auf Rang 6 der innovativsten Führungspersönlichkeiten der Welt. Er ist sozusagen der Vater der Cloud-Speicher bei Microsoft. Für die gestreamte Keynote steht Nadella im Poloshirt in einem wohnzimmerartigen Büro mit Retrosessel und minimalistischem Buchregal sowie digitalen Fotorahmen. Satya Nadella könnte vom Outfit und Design in Berlin nebenan wohnen. Doch das Microsoft-Entwickler-Setting für die Keynote wurde bestimmt designt in einem Studio aufgenommen. Denn über die sonstigen Lebensgewohnheiten des Multimillionärs in Bellevue im Bundesstaat Washington ist eher wenig bekannt.
Die Keynote von Satya Nadella wird auf der Seite von Microsoft Build 2022 als Video bereitgehalten. Bekanntlich gehört der Microsoft-Gründer Bill Gates zu den beliebtesten Zielen der Verschwörungsnarrative während der Covid-19-Pandemie. Das ist schon deshalb absurd, weil er längst nicht mehr das operative Geschäft von Microsoft bestimmt. Vielmehr ist es Satya Nadella, der die Agenda für die „Microsoft-Community“ von ca. 31 Millionen Entwickler („developers“) und Entwickler*innen weltweit in 10 Punkten setzt und erklärt – wohl gemerkt aus einer Art Home-Office im Retro-Design. Die Materialität des Home-Offices korreliert mit der Digitalität des Entwickelns. Die 31 Millionen Entwickler*innen und Programmierer*innen haben zumindest einen großen Einfluss auf die Weltbevölkerung von 8 Milliarden und darauf, was sie sieht und wie sie sich verhält.
Im Westhafen Event & Convention Center geht es tiefenentspannt zwischen Home und Konferenz, zwischen Zuhause und Geschäft zu. Vor den zwei Bühnen im Großen und im Kleinen Saal mit Backsteinwänden und freitragendem Eisenbetondach sind Clubsessel zum Chillen aufgebaut. Der Clubsessel im Retro-Design gehört zum materiellen Ambiente der Microsoft-Community. Da das Entwickeln und Programmieren an Rechnern mit Tastaturen geschieht, indem in einer Programmiersprache standardisierte Befehle geschrieben werden, handelt es sich um eine Tätigkeit, die hohe Konzentration erfordert. Vertippen dürfen sich Programmierer*innen nicht. Unabhängig vom Geschlecht könnte jede und jeder codieren. Microsoft setzt auf Diversity in seiner Community. Eine nach Habitus und Körperformen sichtbare Transfrau, die auf der Herrentoilette ihren Lippenstift nachzieht, ist ebenfalls zu Microsoft Build erschienen. Home im Sinne von Heim und Zuhause geht im Design von Microsoft und der Messe ineinander über.
Wenn es die einzigartig materielle Architektur des Westhafens mit seinem zehngeschossigen Speicher, seinen Lagerhallen, seinen Hafenbecken für Massengüter wie Getreide, seinen Verwaltungsgebäuden, den Halbportalkränen und Gleisen nicht schon geben würde, hätte man diese riesige Infrastruktur für die Entwickler-Konferenz des Digitalen, Microsoft Build, erfinden müssen. Die Backsteinfassaden vermitteln eine „natürliche“ Bauweise mit Steinen aus Ton gebrannt, während schon 1895 ein erster Plan für die Hafenanlage mit Spree-Zugang zur Versorgung der industriellen Groß- und Hauptstadt Berlin entwickelt wurde und wenig später die Konstruktion der Geschosse wie Dächer aus Eisenbeton gefertigt wurden. Der Kornversuchsspeicher am Berlin-Spandauer-Schifffahrtskanal unweit des Nordhafens wurde bereits 1897/1898 gebaut.[1] In der zweiten Phase des Kornversuchsspeichers wird eine sichtbare Betonkonstruktion erprobt. 1914 bis 1923 beginnt die BEHALA mit den Erkenntnissen der Versuche, die Lagerhallen und Speicher nach den Entwürfen von Richard Wolffenstein am Westhafen zu bauen.[2] Die Berliner Hafen- und Lagerhausgesellschaft mbH mit 100-prozentiger Beteiligung des Landes Berlin nimmt offiziell 1923 mit der Fertigstellung des Westhafens ihren Betrieb auf.
Der Westhafen war ein industrielles Zukunftsprojekt für die Versorgung der Großstadt. Doch in der Sichtweise von 1914 „orientieren sich die Lagerhallen stilistisch an der Baukunst um 1800, die in ihrer klassizistischen Schlichtheit vor dem Ersten Weltkrieg als Vorbild für eine moderne Architektur galt“.[3] Anders gesagt: Die Fassade der Lagerhalle 1 versteckt bewusst die technologische Invention der Eisenbetonkonstruktion, die heute, 100 Jahre später für das Event mit farbigem Licht angestrahlt wird. Nach Kriegszerstörungen im Zweiten Weltkrieg musste die Konstruktion zwar erneuert werden, aber die Betonkonstruktion für das Speichergebäude liegt bereits dem „zweigeschossigen Baukörper“ mit „Zwerchhäuser(n)“, „mächtigem Walmdach und den Thermenfenstern in den Giebelfeldern“ zugrunde.[4] Wolffenstein verwendete mit anderen Worten eine Retro-Architektur mit sichtbarer Materialität der Backsteine, wie heute das Retro-Design der Stühle und Tische die zu programmierende Zukunft rahmt. Es funktioniert, als müsste der Zukunft ein künstlicher bzw. materieller Anker verpasst werden. Wenn es für die Entwickler*innen so gut wie kein materielles Zuhause mehr gibt, muss ihre nomadische Existenz ständig an eines virtuell erinnern.
Die heute pittoreske und denkmalgeschützte Hafenanlage als Bestandteil eines Kanal- und Flusssystems lässt sich genauer bedenken. Walther Ruttmanns Film Berlin – Die Sinfonie der Großstadt beginnt 1927 mit einer Einstellung auf eine leicht wellige Wasseroberfläche(!), die auf grafisch kreisende Streifen geschnitten wird, die sich montageartig in niedersinkende Bahnschranken verwandeln, um in Untersicht auf eine nahende Dampflokomotive geschnitten zu werden. Mit schnellen Schnittwechseln wird eine Schnellzugfahrt über Land und über Fluss- wie Kanalbrücken am Westhafenspeicher vorbei nach Berlin inszeniert.[5] Zwischen Häfen werden insbesondere zu Beginn des 20. Jahrhunderts industriell Güter in großen Mengen transportiert und ausgetauscht. Im Englischen heißen Häfen Ports. In der hier angerissenen, kleinen Geschichte der Speicher überschneidet sich der Diskurs des Westhafens mit dem der um die Welt jagenden Daten und Datenpakete, die zwischen zwei Ports(!) ausgetauscht werden. Hinsichtlich digitaler Crypto-Währungen oder im Finanzsystem entsteht sozusagen über die Tauschgeschwindigkeit zwischen den Ports eine Art Mehrwert, der das System am Laufen hält.
Bei der industriellen Großstadt Berlin ging es schon um 1900 nicht allein um einen Endverbrauch oder die Versorgung der Bevölkerung und Industrie. Vielmehr wurde der Westhafen so konzipiert, dass die Speicher und Lagerhallen einzig und allein aus den Frachtschiffen befüllt wurden, um schnell wieder durch Güterzüge oder Lastwagen geleert zu werden. Die Lagerhallen wandelten die Güter in gewisser Weise in Waren um. Vielleicht gibt es noch größere Speicheranlagen des industriellen Zeitalters in den USA oder in Liverpool. Aber in Deutschland oder ganz Europa ist der Westhafen einer der größten Binnenhäfen. Die Architektur wurde für die Distribution konzipiert: „An beiden Seiten des mittleren Hafenbeckens wurden Lager- und Speicherbauten gegenüberliegend angeordnet. Die lang gestreckten Lagerhallen 1, 2 und 3 für Stückgut sind so bemessen, dass vor jeder Halle zeitgleich zwei 600-Tonnen-Schiffe gelöscht werden konnten. Rampen an Wasser- und Landseiten sowie Ladetüren auch im Obergeschoss erleichtern das Be- und Entladen der Lagerräume, wobei die offene Konstruktion des freitragenden Eisenbetondachs eine optimale Nutzung des Dachraums ermöglicht.“[6]
Der Port benennt heute im Protokoll jene Zahlenkombination, die angibt, zwischen welchem Server- und Clientprogramm Datenpakete ausgetauscht werden. Beispielsweise geht es um den Austausch von E-Mails. Der Port 25 ist für das Simple Mail Transfer Protocol (SMTP) reserviert. Falls Sie Ihre E-Mail-Adressen selber unter Windows in Outlook einrichten oder eingerichtet haben, wissen Sie, dass Sie den Port manuell richtig einstellen müssen, um E-Mails vom Server abzurufen und einen weiteren Port zu versenden. Mit Windows 11 werden diese Port-Einstellung unterdessen automatisch in Outlook durchgeführt. Es ist allerdings so, dass zum Beispiel die Telekom oder Strato wiederum manuell eingerichtet werden müssen. Sie kennen das. Weil dann zur Sicherheit noch ein Passwort oder Kennwort abgefragt wird, das sie z.B. auf dem alten PC vor Jahren geändert und irgendwo(!) notiert, aber zwischenzeitlich vergessen haben, müssen Sie in ihrem Telekom-Mailprogramm oder bei Strato wieder ein neues Passwort eingeben … Ich gehe mittlerweile davon aus, dass es nicht nur mich Tage kostete, solche Port-Probleme zu lösen. Jede Vereinfachung führt wieder zu einer Festlegung auf z.B. den Outlook-Server von Windows.
Ist der Port erst einmal erreicht, lassen sich Datenpakete wunderbar in Ordner oder Container hin- und herschieben, um gespeichert zu werden. Die Rahmung von Microsoft Build hat nicht nur Programmierprobleme im Blick, vielmehr informieren Anne Kjaer Bathel & Anastasiya Leukhina im Kleinen Saal über die Schulungsprogramme für Frauen und insbesondere Frauen aus der Ukraine der ReDI School of Digital Integration. Die Microsoft Community braucht besonders in Deutschland programmierende Frauen. Auch Martha Splitthoff ermuntert in ihrem Vortrag Anyone Can Code – Light your Fire for Coding vor allem Frauen zum munteren Codieren. Martha strahlt während ihres Vortrags, als sei das Codieren „awesome“. Überhaupt wird im Wechsel zwischen dem Großen und dem Kleinen Saal mit Live Schaltungen die Konferenz zu einer Art Streaming Service. Überall stehen Kameras, die von einem Regiepult gesteuert werden. Ein Kameramann mit einer Steadicam wechselt zwischen den Sälen und produziert visuelle Nähe. Die Community Sessions sind zwischen Dapr – Entwicklung von Cloud-nativen, verteilten Microservices und Serverless Development mit VS Code und GitHub Codespaces durchgetaktet. Die Fachsprachen der Programmierenden bleiben geheimnisvoll. In den Community Sessions wird vorausgesetzt, dass alle wissen, worum es geht.
Nun kann man nicht gerade sagen, das der Große Saal bei den Community Sessions bis auf den letzten Platz besetzt war. Viele im Publikum wischen lieber auf ihren Smartphones herum oder Twittern, WhatsAppen oder machen Selfies. Die beschworene Community der großen Zahl von 31 Millionen Developers zersplittert am 24. und 25. Mai 2022 im WECC. Intensive Gespräche oder Diskussionen werden in den Community Sessions eher nicht geführt. Eine Moderatorin und ein Moderator wissen, was sie fragen müssen. So erfährt der Berichterstatter, dass es auch kostenlose Programme gibt. – Awesome! – Unterdessen sorgt die Graphikdesignerin und DJ VVET. alias @vvievvirddaswetter für das relaxed Ambiente. Als Hybrid Event lässt Microsoft Build alle an allem teilhaben ob vor Ort oder vor dem Screen, wobei das Live des vor Ort unbedingt mit dem Screen des Smartphone verkoppelt werden muss. Gleichzeitig führt die große Offenheit nicht zu mehr Gemeinschaft. Jede/r programmiert vielmehr allein und kann durch den richtigen oder falschen Code alles verändern. Oder der große Datenaustausch führt zu spam-verstopften Postfächern, E-Mail-Adressen, an die man nicht mehr herankommt, unfassbaren Mengen von inkriminierten Fotos oder Datenträgern, Speichern und Containern, die mit Fotos derart ungeordnet vollgestopft sind, dass ein ganz Bestimmtes sich nie wieder finden lässt.
In einer Fishbowl Discussion sollte am 24. Mai Satya Nadellas Keynote besprochen werden. Der Berichterstatter konnte allerdings aus Termingründen nicht daran teilnehmen. Deshalb wird die Keynote einmal anders nach der Goldfischglas-Methode analysiert. Wir suchen uns die Goldfische einfach mal einzeln heraus. FinanzNachrichten.de berichtete am 25. Mai um 15:07 Uhr zum Aktienkurs der Microsoft Corporation, dass das Kommunikations-Tool Teams eine Reihe neuer Funktionen erhalte, von denen Live-Share „wohl die spannendste“ sei.[7] Während immer mit Algorithmen programmiert wird, bleibt die Einordnung „wohl die spannendste“ ziemlich elastisch. Wie konkret wird Nadella in seiner Keynote? Satya Nadella eröffnet seine Keynote mit den Fragen „What can we build?“ und „What does the world need?”.[8] Die Fragen werden grafisch in Kreisen eingeblendet und die Syntax ist durch Farbgebung zusätzlich strukturiert, „can“ und „build“ sowie „world“ und „need“ werden farblich hervorgehoben. Natürlich stecken Codes hinter den animierten Grafiken, die sich überschneiden sollen. Obwohl sich die Fragen kaum einfacher formulieren lassen, konstruieren sie geradezu ein Weltrettungsnarrativ. Das Coding und die Software von Microsoft soll die Welt nämlich vor den großen Gefahren retten. Immerhin unterscheidet sich das Narrativ der Rettung der Welt von einer Eroberung derselben.
Das Codieren und Programmieren wird von Satya Nadella eröffnend auf geradezu schlichte Weise mit einem Weltnarrativ verknüpft, das gleichsam mythologisch mit einem Cover der Newsweek vom 27. Januar 1975 verknüpft wird.[9] Ein mittelalterlicher Ritter auf einem Pferd, auf dessen Helm das Präsidenten-Siegel der USA prangt und dessen Physiognomie an Gerald Ford erinnern soll, hebt seine Lanze gegen den dreiköpfigen, feuerspeienden Drachen von „INFLATION“, „RECESSION“ und „ENERGY“. Die mythologische Karikatur der Newsweek ist ebenso bedenkenswert, wie deren Kombination mit dem Cover der Zeitschrift Popular Electronics über „World‘s First Minicomputer …“ aus dem gleichen Monat. Um Geschichte und den historischen Moment herzustellen, wird auf den Januar 1975 und dessen historischen Durchbruch wie seinen Schrecken zurückgegriffen. Auf frappierende Weise erinnern die zitierten Cover an die materiellen Retrosessel und transformieren die Frage „What can we build?“ in eine Geschichte kontinuierlicher Entwicklung des Digitalen, der „Minicomputer“ zur Rettung der Menschheit.
Nadella knüpft mit Inflation, Rezession und Energie an ein zumindest für Amerika populäres Krisennarrativ an, das wiederholend als Problem der Welt bemüht wird. Die Cover sollen allerdings nicht zu präsent werden. Sie behaupten lediglich eine Wiederholung der Geschichte, die sich mit ähnlichen Mitteln abwenden lasse. Als Krisen, denen der durchaus etwas zweifelhafte, republikanische Präsident Gerald Ford heute entgegentreten könnte und müsste, hätten Russia, China, Climate Change, Guns etc. auf den Drachenhälsen stehen können und müssen. Gegen den Protektionismus Donald Trumps entwickeln die chinesischen Programmierer*innen seit 2019 allerdings ein eigenes Betriebssystem, das schon auf den Rechnern von Behörden und öffentlichen Einrichtungen als UOS (Unity Operating System) installiert wird.[10] Anders gesagt: In der Diversität von Nadellas Microsoft Community und des „Imagine Cup (…) for the innovators“ gibt es zwar noch Portraits von Chinesen, doch die Volksrepublik China bricht gerade als Markt weg. Was für China technologisch möglich ist, gilt noch lange nicht für die Russische Föderation. Doch Microsoft beteiligt sich an den internationalen Sanktionen gegen den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine.
Nadellas Lösung der Krise erscheint im Video in einer Adressenzeile: „developers and researchers using technology to adress sustainability, inflation, and recession, digital art“.[11] Die Grafik ist komplex, obwohl sie animiert nur wenige Sekunden eingeblendet wird. Denn sie benutzt die Oberfläche des Programms DALL-E, einem Programm für die Produktion von Bilder nach den in „natürlicher Sprache“ eingegebenen Begriffen.[12] Die Bildleiste wird also von einer AI bzw. einer künstlichen Intelligenz generiert. Die Unterschiede der Bilder von z.B. Satya Nadella und seinem Home-Office oder der Cover von Popular Electronics und Newsweek wird damit verwischt. Im schnellen Schnitt der Bildsequenzen schwinden die Unterschiede der Bilder und ihrer Herkunft. Während des Public Viewings der Keynote fielen dem Berichterstatter, diese Unterschiede überhaupt nicht auf. Im Fluss der Bilder und des Sprechens werden virtuelle Anker geworfen, um die Unterschiede zwischen KI und Kamera für die Zukunft verschwinden zu lassen. Auf diese Weise wird die enorme, mediale Konstruktion und das Script der gesamten Keynote erkennbar. Die Zukunft hat längst begonnen, während noch über die neuesten Funktionen von Dapr, Azure, DALL-E und Microsoft Teams diskutiert wird.
Die Keynote von Satya Nadella in ihrer ganzen Konstruktion zu besprechen, sprengte den Rahmen dieses Blogs. Der vermeintliche Fachbezug der Konferenz Microsoft Build im Westhafen in Berlin kann indessen ebenso als ein kulturelle Schnittstelle betrachtet werden. Microsoft programmiert mit seinen Programmen eben auch die Möglichkeiten zukünftiger Bild- und Anwendungswelten. Das ist nicht nichts. Denn Programmiersprachen sind nicht irgendwelche Sprachen, sondern solche die die Wahrnehmungspraktiken von „natürlichen“ Sprachen und Bildern verändern. So wird denn der Name von DALL-E mit dem im Englischen als i ausgesprochenen e als ein Kofferwort von WALL-E und Salvador Dalí hörbar.[13] Ob es sich bei den Bildern unterdessen um solche handelt, die wie bei Dalí aus Träumen und Sprachoperationen hervorgegangen sind, wäre zu untersuchen.
Torsten Flüh
[1] Zum Kornversuchsspeicher und seiner Geschichte siehe: Torsten Flüh: Iskandar Widjaja begeistert im Kornversuchsspeicher. Berliner Stargeiger geht neue Wege in Klassik und Weltmusik am Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juli 9, 2018 22:10.
[5] Diese Sequenz variiert in unterschiedlichen, kursierenden Schnittfassungen. Da der Film unterschiedliche Bahnstrecken und Zielbahnhöfe kombiniert, lässt sich der Westhafenspeicher nur annährend bei 3:31 identifizieren. Das Zusammenspiel von Wasserfläche, Wasserstraßen und Eisenbahn gibt bei Ruttmann einen Wink auf die Großstadt als Ziel und Speicher eines großflächigen Netzes. Siehe z.B.: Berlin – Die Sinfonie der Großstadt ist ein deutscher experimenteller Dokumentarfilm von Walther Ruttmann, der im September 1927 in Berlin uraufgeführt wurde. Zeitreise.
Kantaten Johann Sebastian Bachs als Konzertereignis
Zum gefeierten »Late Night«-Konzert der Berliner Philharmoniker mit Sir Simon Rattle
Am 21. Mai 2022 wurde die Aufführung der Kantaten 8, 84 und 105 nach dem Bach-Werke-Verzeichnis durch Mitglieder der Berliner Philharmoniker mit Anna Prohaska, Christoph Ainslie, Patrick Grahl und Bernd Tobias unter der Leitung von Sir Simon Rattle derart frenetisch vom Publikum gefeiert, dass sich das Ensemble wider die strikte Regel des Orchesters nach dem Abgang vom Podium, nicht noch einmal zum Applaus auf diesem zu erscheinen, dazu entschied, doch ein weiteres Mal hervorzukommen. Die Kantate als kirchliche Lied-Form des Barock hat in jüngerer Zeit ein intensiveres Interesse im Konzertsaal erfahren, während sie zugleich aus der Liturgie schwindet, weil die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) sich immer weniger auf den Besuch der Gottesdienste und die Einnahmen aus Kirchensteuern verlassen kann.
Die Entdeckung der Kantate, insbesondere der bis zu geschätzten 300 Kantaten von Johann Sebastian Bach für das Konzertpodium, fällt zusammen mit dem Schwinden der gesellschaftlichen Kraft der Evangelischen Kirche wie der Katholischen Kirche in Deutschland. Nach einer kurzen Sichtung der Forschungslage, die allein die Praxis hervorhebt, dass Bach für jeden Gottesdienst zu seiner Zeit als Thomaskantor in Leipzig für die evangelischen Kirchen der Stadt habe komponieren müssen und dass verschiedene Textquellen wie ein Lied von Caspar Neumann oder der Choral der Kantate 105 mit dem Text des Hamburger Barockdichters und Gründers des Elbschwanenordens Johann Rist von ihm zu fünf bis sechsteiligen Kantaten kombiniert und komponiert worden sind, verebben die Fragen nach der Praxis und Form der Kantate. Doch die in Orden hoch organisierte barocke, meist geistliche Dichtung um 1700 ist mit der Wissenschaft auf Basis der Mathematik tief verflochten.
Die Produktion, Komposition und Praxis der Kantate entspringt nicht zuletzt der Serialität, die sich aus dem Kalender des Kirchenjahres wiederholend und wiederholbar ergibt. Johann Sebastian Bach unterlag insofern einem gewissen Produktionsdruck durch den Rhythmus des Kirchenjahres. Im „Late Night“-Konzert wurden nun mit Sir Simon Rattle drei kompositorisch recht unterschiedliche Kantaten auf liebevolle Weise mit hoher Virtuosität herausgearbeitet. Jede Kantate ein klangliches Juwel, das zum Funkeln gebracht wird. Das widerspricht unterdessen nicht nur der Aufführungspraxis im Kirchenraum innerhalb der Liturgie, vielmehr noch werden die Instrumentalisten wie die Vokalisten selten von einer so hochkarätigen Qualität gewesen sein. Die Kantate kann zu Bachs Zeiten in einzelnen Teilen im Wechsel mit Predigt, Lesungen der Episteln wie Evangelien aus dem Alten und Neuen Testament, Glaubensbekenntnis und Vaterunser, Psalm, Fürbitten und Segen aufgeführt worden sein. Die Gottesdienstpraxis, eine Kantate diesem voranzustellen, lässt ihr bereits eine konzertante Form zu eigen werden.
Die Kantaten werden heute nach dem Textanfang des ersten Satzes benannt wie BWV 8 mit »Liebster Gott, wenn werd‘ ich sterben«. Johann Sebastian Bach kombiniert hierfür einen „unbekannten Dichter nach einem Lied von Caspar Neumann“ mit „Daniel Vetter (Nr. 6)“.[1] Caspar Neumann wie Daniel Vetter sind Zeitgenossen Bachs, die heute allerdings nahezu vergessen sind. Keine „großen Namen“, die dennoch und gerade deshalb in die Komposition eingebunden wurden. Sie sind Quellen oder Fragmente, die wie bei Caspar Neumann noch einmal durch einen „unbekannten Dichter“ bearbeitet wurden. Dies gibt einen Wink auf die Praxis des Dichtens und Komponierens. Es geht um kleine Verschiebungen nach gewissen Regeln und keine gänzlich neuen Inventionen. Denn Caspar Neumann (1648-1715) ist als Theologe und Statistiker in die Deutsche Biographie eingegangen.[2] Die Kombination aus Theologie und Statistik als mathematische Wissenschaft lässt sich als barocke Signatur bedenken.
Als „Verfasser geistlicher Lieder“ gehört Caspar Neumann zum Textkorpus für Bachs Kirchenmusik.[3] Seine Kirchenlieder und Gebetsammlung Kern aller Gebeter und Bitten, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, zu allen Zeiten, in allen Altern zu gebrauchen von 1680 wird noch 1815 wiederaufgelegt.[4] Der Titel der Sammlung formuliert mit der Wiederholung „alle(r)“ Gebrauchsmöglichkeiten eine nahezu totale Abdeckung des protestantischen Lebens. 1798 ist das Lied »Liebster Gott, wenn werd‘ ich sterben« in Martin Grünwalds Andächtiger Seelen, vollständiges Gesangbuch, darinnen der Kern … als Nummer 800 enthalten.[5] Doch Neumann bedichtet nicht nur das Sterben, er erforscht es als Pastor in Breslau zugleich mit der Schlüsselwissenschaft seiner Zeit. Er „unternahm als erster den Versuch, Geburts- und Sterbefälle statistisch zu erfassen, und erstellte darüber 1687-91 sorgfältig ausgearbeitete Tabellen aus den Kirchenbüchern der ev. Gemeinden Breslaus.“ Diese Forschungspraxis kann heute „als bahnbrechend für die moderne Bevölkerungsstatistik betrachtet werden“.[6] Die Mathematik wird von ihm eingesetzt, um göttliches Wirken in den Sterbefällen zu entschlüsseln.
Die Praxis der Montage zur Generierung der Kantate BWV 8 wird in der Kombination eines Liedes von Caspar Neumann mit dem Choral »Herrscher über Tod und Leben« des Leipziger Organisten und Komponisten Daniel Vetter deutlich. Der Dirigent und Musikologe Melvin Unger hat kürzlich die Choral-Fassung von Daniel Vetter mit der Johann Sebastian Bachs verglichen und herausgearbeitet, dass Bachs Setzungen im Abgesang signifikant kürzer als in seiner Vorlage sind.[7] Das heißt zweierlei: Montage und signifikante Änderung als ein nicht zuletzt mathematisches Prinzip bringen die Kantate als Partitur wie als Text hervor. Und die Reimformen der Texte stellen einerseits eine rhythmische Geschlossenheit her, andererseits verschlüsseln sie die Syntax. Sir Simon Rattle setzt bei seinem Dirigat weniger auf eine Textverständlichkeit als auf den instrumentalen und vokalen Klang. „Liebster Gott, wenn werd ich sterben? Meine Zeit läuft immer hin, Und des alten Adams Erben, Unter denen ich auch bin, Haben dies zum Vaterteil, Dass sie eine kleine Weil Arm und elend sein auf Erden Und denn selber Erde werden.“
Bereits im Chor-Teil wird das Reimschema – ABAB CCAA – variiert, um vermeintlich mit der A-Endung -ben in -den zu enden. Die Rhythmisierung und Schematisierung der Sprache und des Sprechens als Gesang korrespondiert mit einem tänzerischen Rhythmus und der hellen, freudigen Tonart, E-Dur. Die Frage nach dem Sterbezeitpunkt, den Caspar Neumann mit seinen Listen und Tabellen mathematisch nach Regeln erforscht, aus denen sich letztlich eine moderne Lebensversicherung berechnen ließe, wird insofern nicht als Schrecken, sondern mit einer fast freudigen Gewissheit gestellt. Die Regelhaftigkeit oder auch Berechenbarkeit des Sterbens erleichtert. Allein die Frage nach dem Tod als Schrecken, die nach Grünwald nicht bei Caspar Neumann vorkommt[8], wird im zweiten Teil als Tenor-Arie, wunderbar von Patrick Grahl gesungen, »Was willst du dich, mein Geist, entsetzen?« im dunkleren Cis-Moll gesetzt. „Was willst du dich, mein Geist, entsetzen, Wenn meine letzte Stunde schlägt? Mein Leib neigt täglich sich zur Erden, Und da muss seine Ruhstatt werden, Wohin man so viel tausend trägt.“[9]
Der Schlusssatz der Cantate als Choral entspricht, dann auch textlich wieder ganz Neumanns Lied. Bachs Invention und Abweichung besteht insofern vor allem in einer Formulierung des Schreckens, der sprachlich und wohl auch klanglich nicht bei Neumann und Vetter artikuliert wird. Der Choral als Schlusssatz betont die Geschlossenheit und Berechenbarkeit des christlichen Lebens und Sterbens nach Anspruch und Lehren der evangelischen Kirche. Für Neumann und Vetter geht dies bruchlos auf. Doch Johann Sebastian Bach formuliert für den 24. September 1724 einen nicht nur musikalischen Bruch als Zweifel, bevor nicht zuletzt musikalisch alles „(n)eben frommen Christen“ als Ordnung wieder hergestellt wird. „Herrscher über Tod und Leben, Mach einmal mein Ende gut, Lehre mich den Geist aufgeben Mit recht wohlgefasstem Mut. Hilf, dass ich ein ehrlich Grab Neben frommen Christen hab Und auch endlich in der Erde Nimmermehr zuschanden werde!“[10]
Sir Simon Rattle erweist sich mit seinem „Late Night“-Kantatenabend einmal mehr als Bach-Forscher, indem er drei eher seltener aufgeführte Kantaten in ihrer Vielschichtigkeit auslotet. Bereits 2014 hatte er mit den Berliner Philharmonikern die Johannes-Passion eingespielt, nachdem er anlässlich des 50jährigen Jubiläums des Philharmonie-Neubaus 2013 die Matthäus-Passion aufgeführt hatte. Beim Musikfest 2021 hatte John Eliot Gardiner mit der Gegenüberstellung von Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel einen Beitrag zur Kantatenforschung geleistet.[11] Er führte die Choralkantate »Christ lag in Todes Banden«, BWV 4, mit den English Baroque Soloists und dem Monteverdi Choir auf. Die von Rattle ausgewählten Kantaten sind mit den 6 und 5 Sätzen facettenreicher. Für »Christ lag in Todes Banden« konnte Bach auf ein Lied von Martin Luther zurückgreifen, während in BWV 8, 84 und 105 stärker das Kombinatorische als Kantatenpraxis betont wird. Denn in »Ich bin vergnügt mit meinem Glücke« und »Herr, gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht« werden Texte von Christian Friedrich Henrici, genannt Picander, und Ämilie Juliane von Schwarzburg-Rudolstadt, Psalm 143,2 und Johann Rist kombiniert und komponiert.
Ämilie Juliane von Schwarzburg-Rudolstadt wird mit dem Text für den Choral »Ich leb indes in dir vergnüget« von Grünwald 1798 nicht ins evangelische Gesangbuch aufgenommen. Die zwölf Strophen ihres Kirchenliedes »Wer weiß, wie nahe mir mein ende?«, das Bach mehrfach verarbeitet hat, wurde allerdings sehr wohl von Grünwald als Nummer 762 aufgenommen. Ämilie Juliane von Schwarzburg-Rudolstadt gibt mit der Veröffentlichung ihrer nahezu 600 Geistliche(n) Lieder 1685 einen weiteren Wink auf die protestantische Praxis der Dichtung in deutscher Sprache im 17. Jahrhundert. Übersetzungen, Wiederholungen, Rhythmisierung und Variationen lassen bereits für Johann Sebastian Bach einen Textkorpus entstehen, aus dem er wiederum schöpfen und variieren kann. Erst im 19. Jahrhundert wird Bach aus einer kollektiven Text- und Musikproduktion isoliert und individualisiert. Die barocke Praxis der Dichtung setzt weniger auf Individualität als vielmehr auf eine Erfüllung des kirchenmusikalischen Programms, in dem das Subjekt als Ich, wie mit der Kantate »Ich bin vergnügt mit meinem Glücke«, einzig und allein in seinem Verhältnis zu „Gott“ formuliert wird.
Es fällt uns im 21. Jahrhundert schwer, das Regelwerk der Kantatenproduktion zu erfassen. Doch den Regeln lässt sich sehr wohl nachspüren. Eine weitere Textquelle sind die Psalmen, wie Bach den Psalm 143,2 für die Kantate zum 9. Sonntag nach Trinitatis mit »Herr, gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht« verarbeitet. Das Datum des Kirchenjahres gibt bereits einen Textkorpus vor, der sich für Bach kombinieren lässt. Grünwald bietet nicht zuletzt ein „Register über die biblischen Stellen, darüber Lieder vorkommen, auf die Nummern der Gesänge gerichtet“. Möglicherweise hat Grünwald diese Kombination aus seiner eigenen Gottesdienstpraxis als „gewesener Archidiaconi in Zittau“ erstellt. Doch das Register zeigt hier die Regelhaftigkeit an, die schon für Bach verpflichtend war. Der Psalm wird thematisch kombiniert mit einem Gedicht von Johann Rist, dessen Vater zwar Pastor war, der aber als Lehrer und Dichter reüssierte. Rists Dichtungen gehören ebenfalls mit seinen zahlreichen Veröffentlichungen bis 1668 zu jenem prägenden Textkorpus, auf den Bach für seinen Choral »Nun, ich weiß, du wirst mir stillen« zurückgreifen kann, obwohl Rist eher der weltlichen Dichtung nach antiken Vorbildern zuneigte, wie mit Des Daphnis aus Cimbrien Galathee von 1642 in Hamburg anklingt. Bach greift auf Johann Rists Himmlische Lieder von 1641 zurück. „Nun, ich weiß, du wirst mir stillen Mein Gewissen, das mich plagt. Es wird deine Treu erfüllen, Was du selber hast gesagt: Dass auf dieser weiten Erden Keiner soll verloren werden, Sondern ewig leben soll, Wenn er nur ist Glaubens voll.“.[14]
Das „Late Night“-Konzert ist ein eher kleines Konzertformat, das Simon Rattle seit einigen Jahren entwickelt hat. Mit den Bach-Kantaten schöpft er alle Möglichkeiten dieses kleinen Formats aus. Ob es die Solisten wie der Flötist Michael Hase oder Jonathan Kelly an der Oboe sind, alle wären erwähnenswert an dieser großartigen Ensemble-Leistung. Was vermeintlich klein ist und wenig beachtet wird, wurde hier zu einem nuancenreichen Feuerwerk entfaltet. Gerade die heute befremdenden Praktiken der barocken Dichtung und Komposition wurden damit bedenkenswert. – Das Konzert wird noch für die Digital Concert Hall bearbeitet.
[1] Zitiert nach: Berliner Philharmoniker (Hg.): Late Night. Mitglieder der Berliner Philharmoniker, Sir Simon Rattle, Anna Prohaska, Christopher Ainslie, Patrick Grahl, Tobias Berndt. Berlin, Samstag 21.05.22.
[2] Peter Koch: Neumann, Caspar. In: Neue Deutsche Biographie 19 (1999), S. 156 [Online-Version].
[4] Caspar Neumann: Kern aller Gebeter und Bitten, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, zu allen Zeiten, in allen Altern zu gebrauchen. Breslau 1680. 8
[5] Martin Grünwald: Andächtiger Seelen, vollständiges Gesangbuch, darinnen der Kern … : Mit einem Anhange von Morgen- Abend- und … , Zittau, 1798. Siehe Digitalisat der Staatsbibliothek Berlin.
[7] Melvin Unger: Cantate Auf sechzehnten Sonntage auf Trinitatis „Liebster Gott, wann werd ich sterben.“ Melvinunger.com Dec-12-2021.
[8] Siehe Martin Grünwald: Kern … [wie Anm. 5] S. 847 (Digitalisat).
[9] Zitiert nach: Walter F. Bischof: BWV 8 Liebster Gott, wenn werd ich sterben. In: ders.: Bach Cantata Pages. University of Alberta, Edmonton. (Link)
[10] Ebenda und bei Martin Grünwald: Andächtiger … [wie Anm. 8].
[11] Siehe: Torsten Flüh: Händels gefeierte Hass-Kantate. Zum Problem der Kantate Dixit Dominus von Georg Friedrich Händel, Sir John Eliot Gardiner und Sir George Benjamin beim Musikfest Berlin 2021. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. September 2021.
[13] Martin Grünwald: Andächtiger … [wie Anm. 5] Alphabet-Register, auf die Nummer und Zahl der Blätter gerichtet (ohne Seitenzahl).
[14] Zitiert nach: Walter F. Bischof: BWV 105 Herr, gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht. In: ders.: Bach Cantata Pages. University of Alberta, Edmonton. (Link)
Zur Diskussionsveranstaltung Für freies Wissen – gegen Desinformation im Rahmen der 27. Mitgliederversammlung des Wikimedia Deutschland – Gesellschaft zur Förderung freien Wissens e.V.
Der Veranstaltungsort Amplifier im Amperium am Humboldthain war beziehungsreich für die Mitgliederversammlung des Trägervereins der digitalen Lexikon-Bewegung Wikipedia gewählt. Die Transformation des denkmalgeschützten ehemaligen AEG-Geländes mit Turbinenhalle, Hochspannungswerk und weiteren Gebäuden nach den Plänen von Peter Behrens hat als Amperium eine weitere Stufe erreicht. Die internationale Einheitsbezeichnung für die elektrische Stromstärke Ampere gibt einen Hinweis auf den Stromverbrauch beispielsweise eines Computers und des Internets in Kilowattstunden. Ein Amplifier ist schlechthin ein Verstärker des elektrischen Stroms. Wikipedia verstärkt gewissenmaßen Wissensprozesse weltweit. Im Hochspannungswerk grüßt Peter Behrens (German Architect, Painter, Designer and Typographer) als Graffiti: WELCOME HOME – ALL YOU BLOGGERS, COWORKERS, CAPITALISTS & CREATIVES, TECHIES, DIGITAL NATIVES & IMMIGRANTS, DREAMERS & DOERS!
Am Vorabend der Mitgliederversammlung ging es in kleinerem Rahmen hybrid, wie es heißt, vor Ort und per Chat im Internet um Wikipedia als Informationsbasis und die Desinformation. Selten zuvor war das von den aktiven Mitgliedern des Vereins kompilierte Wissen politischer und begehrter als seit dem 24. Februar 2022. In Russland werden ganze Wikipedia-Seiten heruntergeladen, bevor der Zugang durch das Putin-Regime blockiert wird, wie der scheidende ehrenamtliche Vorsitzende des Präsidiums von Wikimedia Deutschland, Lukas Mezger, in der Gesprächsrunde mit Pia Lamberty und Irene Plank, moderiert durch Vera Linß, recht früh verriet. Gleichzeitig verbreiten Plattformen wie RT DE, also der deutschsprachige Sender Russia Today aus Moskau und Berlin, Desinformation über den Krieg Russlands in der Ukraine. Zugleich führt die Desinformation zur Diskreditierung der Information westlicher Medien. Laut einer Umfrage des von Pia Lamberty gegründeten gemeinnützigen Centers für Monitoring, Analyse und Strategie (Cemas) glaubt ein Drittel der Befragten, dass „die Berichte westlicher Medien nicht vertrauenswürdig“ sind.
Plötzlich rückt die gezielte Desinformation im Unterschied zur Information in den gesellschaftlichen und informationspolitischen Fokus. Das ist eine semantische Verschiebung gegenüber den Verschwörungstheorien, die ab März 2020 den Diskurs zum Virus Sars-Cov-2 und der Pandemie angriffen und Sinn stifteten.[1] Denkwürdig bleiben die Einlassungen des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, Donald Trump, vom 17. April 2020 zum Ursprung des Virus gegen alle verfügbaren wissenschaftlichen Standards.[2] Informationen stiften keinen Sinn. Erst die Kontextualisierung und die Bestimmung eines oder mehrerer Urheber machen Sinn. In Verschwörungstheorien wird „ein Bedürfnis wirksam, komplexe Zusammenhänge auf einfache Sinngebungen zu reduzieren, wodurch eine psychotische und kollektive Dynamik in Gang gesetzt wird, die eigenen Ängste und Versagungen auf unbekannte Kräfte und geheime Mächte zu projizieren“.[3] Desinformationen sollen dagegen die Verarbeitung von Informationen von vornherein beeinflussen, unterwandern, verfälschen, entwerten.
Im Oktober 2020 machte die Strategische Kommunikation des Auswärtigen Amtes von Irene Plank darauf aufmerksam, dass „Soziale Medien … reichweitenstarke Kraftzentren der digitalen Kommunikation“ seien, „die autoritäre Staaten wie China und Russland intensiv für ihre Propaganda und Desinformation“ nutzten. Die Strategische Kommunikation des Auswärtigen Amts trete „ihnen mit faktenbasierter Information entgegen“.[4] Denn die EU erlebte 2020 „rund um die Corona-Pandemie“ durch eine „Flut an Desinformationen“ den „ersten großen Belastungstest“ für das im März 2019 „zur Überwachung von Falschmeldungen auf der EU-Ebene“ Rapid Alert System (RAS).[5] Am 11. Oktober 2021 erklärte die Bundesregierung unter Angela Merkel auf „eine Kleine Anfrage der FDP“, dass RAS gegen Desinformation „dem gemeinsamen Austausch der EU-Institutionen und der EU-Mitgliedstaaten über eine verschlüsselte digitale Plattform“ diene.[6] Allerdings blieb dabei die Frage offen, ob Donald Trump in seinen psychotischen Reden selbst Desinformation produzierte und verbreitete oder er „nur“ russische Desinformation reproduzierte.
Das Auswärtige Amt musste im Zuge der Informationen um die Europäische Flüchtlingskrise 2015 feststellen, dass durch Desinformationen auf Sozialen Medien wie Facebook, Twitter und dem russischen Telegram die Grenzen zwischen Innen- und Außenpolitik durchlässig werden. Das hatte einen Paradigmenwechsel im Auswärtigen Amt zur Folge. Im Gespräch des Rahmenprogramms der Mitgliederversammlung von Wikimedia sagte Irene Plank, dass sie zum ersten Mal anlässlich der Flüchtlingsbewegungen mit dem Problem massiver ausländischer Desinformation konfrontiert worden sei. Eine „Neubestimmung als Bereich der Strategischen Kommunikation innerhalb der Abteilung für Kultur und Kommunikation war die Erkenntnis des sogenannten Review-Prozesses 2015“. Denn dieser hatte deutlich gemacht, „dass in der Außenpolitik die Grenzen zwischen Innen und Außen verschwimmen“ und die Bundesregierung deshalb ihre „Politik besser kommunizieren“ müsse.[7] Die Digitalisierung von Wissen durch Algorithmen hat zu einer größeren, schnelleren und grenzenlosen Verbreitung von Information wie auch von Desinformation geführt. Anders gesagt: die Ambiguität des Wissens ist gesteigert worden. Das muss eine Informationsgesellschaft entweder aushalten oder aktiv regulieren.
Desinformationen bedrohen und gefährden natürlich „das freie Wissen“ von Wikipedia – „Wir befreien Wissen“. Nichts muss Verschwörungstheoretikern und Desinformanten verlockender erscheinen, als ihre Narrative in den Lexikon-Artikeln von „Wikipedia – Die freie Enzyklopädie“ einzuspeisen.[8] Auf der Hauptseite steht unter „Themenportale“ und „Zufälliger Artikel“ gleich „Mitmachen“ in der Navigation. Wikipedia existiert durch das Mitmachen ehrenamtlicher Lexikon-Autor*innen – weltweit. Die Online-Enzyklopädie – „Wissen. Von Vielen. Für Alle.“ (Slogan auf dem Podium der Mitgliederversammlung) – generiert auf auch unsichere Weise das Wissen über die Welt von heute. Hochaktuell. Wissenschaftlich. Transparent. Wikipedia wird geglaubt. Mit dem Budget aus Beiträgen von mehr als 500.000 Mitgliedern und Spendern von Wikimedia Deutschland stärkt und ermöglicht der Verein weniger finanzstarke Wikipedia-Plattformen. Wikimedia funktioniert als ein Global Player im zirkulierenden Wissen der Welt. Die Suchmaschinen wie Google listen Wikimedia meistens an erster Stelle der Ergebnisse, wenn keine WERBUNG oder Eigenseite davor kommt. Der Google-Algorithmus weiß alles, kann es aber nicht immer einordnen.
Wikipedia ist eine durch und durch erstaunliche Wissensbewegung von ehrenamtlichen Autor*innen. Doch von den mehr als eine halbe Million Mitglieder in Deutschland ist nur ein Bruchteil als Autor*innen aktiv. Zugleich versteht sich die „Wikimedia-Bewegung“ als Sammlung von Werten, Projekten, Aktivitäten und Organisationen. Mit der Formulierung von Begriffen – wie Wikimedia-Bewegung – wird Wissen kompiliert, generiert und publiziert. Als umso erstaunlicher muss der Umstand bedacht werden, dass Wikipedia als Wissensinstanz durch die zunehmend verbreiteten Verschwörungstheorien und Desinformationen während der abflachenden Covid-19-Pandemie unbeschädigt blieb. Der Rahmen aus Werten wie Redefreiheit, Wissen für jeden, gemeinschaftliche Teilung und Equity als Steigerung von Equality, indem nämlich Menschen mit Einschränkungen bei der Überwindung von Barrieren geholfen wird, etc. und einem hohen Grad professioneller Institutionalisierung durch die Wikimedia Foundation und ihre „chapters“ schützt sich die Bewegung und ihr Wissen vor einsickernde Desinformation.
Im ABC des Freien Wissens, das am 19. März 2021 mitten im Lockdown mit dem Buchstaben Z „Zwanzig Jahre Wikipedia – Wohin steuert das 8. Weltwunder?“ unter Beteiligung des prominenten Bloggers Sascha Lobo und mit Grußwort des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier feierte, stand am 2. Oktober 2014 mit dem D nicht etwa die Desinformation zur Debatte im Salon, sondern der „Datenberg. Big Data – Datenschutz oder Datenschatz?“.[9] Der „Datenberg“ ist heute weitaus besser zu bewältigen als die Desinformation. Denn die Desinformation geht schneller Verbindungen mit dem Wissen des Subjekts ein, wozu Pia Lamberty als Sozialpsychologin am Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS) forscht. Sie gilt als Expertin für Verschwörungstheorien in einer empirisch ausgerichteten Sozialpsychologie und promoviert als externe Doktorandin an der Johannes Gutenberg Universität Mainz. Bereits in seiner Begrüßung verwies der Geschäftsführende Vorstand von Wikimedia Deutschland e.V., Christian Humborg, auf die Emotionalität als Faktor der Digitalität. Die Rationalität und Berechenbarkeit der Digitalität schließt Gefühle nicht aus, vielmehr werden sie hervorgerufen und verstärkt.
Die Emotionalität spielt nach Pia Lamberty eine wichtige, wenn nicht entscheidende Rolle bei der Akzeptanz von Verschwörungstheorien und Desinformationen, indem „der Verschwörungsglaube ein Bedürfnis nach Einzigartigkeit“ befriedige. „Das heißt, man kann sich darüber überhöhen und das Gefühl vermitteln, besonders zu sein, weil man über Geheimwissen verfügt, von dem der „naive“ Rest der Menschheit nichts weiß. Dieses Phänomen ist gut in den Sozialen Medien zu beobachten, wenn Verschwörungsideologen dort sehr lautstark und selbstbewusst ihre Thesen präsentieren.“[10] Die digitalen Sozialen Medien generierten insofern über die Sprache der Verschwörungstheorien ein emotionalisiertes Wissen, das sich als ein besseres aus der Passivität des allgemeinen Wissens heraus- und darüber emporhebt. Es ginge deshalb um eine Form von Wissensdruck, der sich einer digitalen Informationsflut entgegen zu stellen beansprucht, um eine „eigene“ Deutungsmacht zu gewinnen.
In welchem Verhältnis steht ein emotionaler Glaube an Verschwörungsnarrative zur Wahrnehmung des Angriffskriegs auf die Ukraine? Am 6. April 2022 verwies Pia Lamberty auf eine Studie von Cosmo, in der gefragt wurde, „inwiefern Menschen denn zum Beispiel glauben würden, dass der Krieg in der Ukraine nur der Ablenkung der Corona-Pandemie dienen würde.“[11] In dieser Studie wurde eine Korrelation zwischen Impfverweigerung und dem Krieg in der Ukraine aufgedeckt. „Bei Menschen, die mindestens einmal geimpft sind, waren das elf Prozent. Bei Menschen, die noch nicht geimpft sind, waren es 43 Prozent. Das ist schon ja fast die Hälfte eben derer, die nicht geimpft sind und damit auch eine größere Gruppe der Mobilisierung.“[12] Der eigene Körper als „Feld des Imaginären“, wie es Jacques Lacan einmal formuliert hat[13], spielte insofern für die Leugnung des Krieges eine prominente Rolle. Die Akzeptanz von Desinformation und ihre (digitale) Verkörperung in Sozialen Medien, die zugleich als Selbstperformanz gepostet wird, macht insofern kaum einen Unterschied beim Inhalt der Desinformation.
Lukas Mezger betonte im Gespräch mehrfach die Wissenschaftlichkeit als Standard von Wikipedia und den regulierenden Schwarm. Wie wird die Wissenschaftlichkeit als Form in den lexikographischen Artikeln von Wikipedia angewendet? Wie wird der Faktencheck praktiziert? Die Verfahren der Lexikographie haben eine gewisse Bandbreite und Elastizität, die sich insbesondere für das Wissen von Wikipedia in der Covid-19-Pandemie bewährt hat. Schnell wurde die Wissenserschütterung der Pandemie durch das Zitieren wissenschaftlicher Quellen und insbesondere durch die Statistiken und Erfahrungswissen stabilisiert. Die Generierung von Zahlen durch z.B. Umfragen lässt wie bei der Frage nach der Wirksamkeit von Desinformation in der Bevölkerung schnell Verhältnisse entstehen – ein Drittel der Befragten -, die strategisch bewertet werden können. Zahlenwerte generieren Fakten. Wenn sie dann von einer seriösen Quelle mit Orts- und Zeitangabe zitiert werden können, werden sie als wissenschaftlich akzeptiert. Die Wissenschaftlichkeit funktioniert wie es Friedrich Nietzsche einmal formuliert „sammelnd, ökonomisch, machinal“.[14]
Was macht der Schwarm mit der Lexikographie? Lukas Mezger als Vorsitzender des Präsidiums von Wikimedia Deutschland gebrauchte mehrfach den Begriff Schwarm als regulierende Kraft des Wissens auf Wikipedia. Damit knüpft er an die Rede und das Wissen von der Schwarmintelligenz an.[15] „Je größer der Schwarm, desto schneller wird Desinformation auf Wikipedia identifiziert und korrigiert“, sagte Mezger in etwa. Die Lexikographie von Wikimedia generiert sich insofern aus einem permanenten Schreib-Lese-Prozess vieler ehrenamtlicher Autor*innen, die vielleicht nicht immer mehr wissen, aber zusammen genauer und schneller, sagen wir, Wissenssprünge aufspüren und stufenweise korrigieren. Laut Wikimedia Deutschland „editieren (weltweit) mehr als 125.000 Freiwillige regelmäßig Wikipedia und ihre Schwesterprojekte“. Das unterscheidet Wikimedia dann doch vom RAS des Auswärtigen Amtes auf Europa-Ebene als Strategie gegen Desinformation. Während RAS Informationen der Bundesregierung strategisch verbreitet und verstärkt, generiert Wikimedia das Wissen auf Wikipedia durch einen permanenten Schreib-Lese-Prozess vieler Freiwilliger, der Schwarmintelligenz genannt wird.
Torsten Flüh
[1] Torsten Flüh: Fledermäuse, Pangoline, Labore und die Gattung Homo sapiens sapiens. Wie Verschwörungstheorien Sinn stiften und Narrative vom Patient Zero bis zur Artengrenze übertragen werden. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. April 2020.
[10] Zitiert nach: Hertie Stiftung: „Vorsicht, Verschwörungsglaube. Sozialpsychologin Pia Lamberty über Verschwörungstheorien und ihren Einfluss auf unsere Gesellschaft. Ohne Datum. (vermutlich vor dem 24. Februar 2022)
[11] Lea Utz: Warum Deutschlands Verschwörungsideologen Putin supporten – und wieso wir das nicht hinnehmen dürfen. In: BR Bayern 2 vom 06.04.2022.
[13] Jacques Lacan: Die Psychosen. In: ders.: Das Seminar von Jacques Lacan Buch III (1955-1956). Weinheim: Quadriga, 1997, S. 18. Siehe auch: Torsten Flüh: Das Phallus-Paradox der Homophobie. Zur Premiere von P for Pischevsky des HUNCHtheatre Belarus im HAU2. In: NIGHT OUT @ BERLIN 24. April 2022.
[14] Siehe zur Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit: Torsten Flüh: Nietzsches „intelligente Maschinen“. Zur Intelligenz und Maschine bei Nietzsche, dem Technikmuseum Berlin und dem Riesen-Dampfhammer. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. Juli 2019.
[15] Zur Schwarmintelligenz siehe: Torsten Flüh: BärCODE für die Berliner Luft. Zum Saisonabschlusskonzert der Berliner Philharmoniker in der Waldbühne. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. Juli 2021. Und: Schwärme und das Waldbühnen-Konzert, das nicht stattfand. Berliner Philharmoniker sagen ihr Waldbühnen-Konzert 2011 in letzter Minute ab. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juli 4, 2011 20:54.
Zu Mona Winters Hörspiel Tot im Leben in der Ursendung vom 29. April 2022
Was passiert, wenn der Krieg real wird? Mona Winters Hörspiel Tot im Leben hatte gestern Abend, Freitag, den 29. April 2022 auf RBB Kultur seine Ursendung. Es wird nun in der Mediathek für ein Jahr verfügbar sein. Zwei Kriege werden von Mona Winter in ihrem Hörspiel besprochen: der Zweite Weltkrieg und der Syrienkrieg. Die Figur Gisi weiß vom Zweiten Weltkrieg nur durch die Erzählungen und Übertragungen der Mamá, deshalb kennt sie die Angst des Krieges, die Kriegsangst und möchte, dass sie vorbei ist. Die Figur Maya berichtet von ihren Kriegserlebnissen in Syrien seit 2011. Der Krieg in Syrien wird als Bürgerkrieg/Civil War verortet, obwohl Russland und die USA zutiefst involviert waren und sind. Am 25. April 2022 warnte der russische Außenminister Sergej Lawrow vor einem dritten Weltkrieg und den Einsatz von Atomwaffen.
Die Sirenen in Deutschland und besonders in Berlin wurden nach dem Ende des Kalten Krieges in den 90er Jahren abgebaut. Sirenen locken und töten in Homers Odyssee. Doch bereits am 21. März 2022 berichtete rbb24, dass in Berlin für den Katastrophenschutz als Lehre aus der Flutkatastrophe im Ahrtal 2021 und hinsichtlich der „Ukraine-Krise“ bis zu 400 Sirenen auf Verwaltungsgebäuden installiert werden sollen. In Mona Winters Hörspiel jaulen die Sirenen auf. Sie warnen eröffnend: „Es passiert – Was soll man sagen? Glaub ja nicht, dass es vorbei ist – Ich komm über dich – Wann immer wo immer“. Die Rückkehr der Sirenen, die im Hörspiel nie wirklich weg waren, verletzen ein Sicherheitsgefühl der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Im Ahrtal hat ihre Abwesenheit zu Toten geführt. Sogleich wurde Tot im Leben wegen seiner unzeitigen Zeitlichkeit zum Hörspiel des Monats gewählt.
Als Bildmaterial werden in dieser Besprechung, das muss vorausgeschickt werden, Fotos vom Plötzensee mit der Freibad-Architektur aus den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts eingefügt. Denn im Hörspiel spielt ein frühmorgentliches Schwimmtraining, zu dem Gisi von ihrer Mamá gezwungen wird, eine wichtige Rolle. Weiterhin werden Fotos von den Kriegsgräbern des Friedhofs Plötzensee eingefügt. Sie sind eine Recherche über die Eigentümlichkeit deutscher Kriegsgräber auf deutschen Kirchhöfen. Denn anders als bei privaten Grabstellen auf städtischen und konfessionellen Friedhöfen laufen die Nutzungsrechte nicht nach einer bestimmten Zeit ab. Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft unterliegen einem dauerhaften Ruherecht laut Gräbergesetz. „Die heutige Opfergräberanlage befindet sich auf dem Gelände des (ehemaligen, T.F.) Neuen St. Paul-Kirchhofs. Sie besteht aus den alten historischen Feldern der Abteilung N und P, welche in den Jahren 1945 bis 1948 mit etwa 2.500 Toten in Einzel- und Sammelgräbern belegt wurden. Die Hälfte der Toten ist bis heute unbekannt.“[1]
Die Sirenen dringen in die Körper ein. Sie gehören seit langem zum Körper der Menschen. Jacques Lacan hat es einmal so formuliert: „Die Beziehung zum eigenen Körper charakterisiert beim Menschen das letztlich reduzierte, aber wahrhaft irreduzible Feld des Imaginären.“[2] Die auditive Verlockung, das Hörspiel, das schon die Sirenen Homers aufführen, dringt stärker noch in Odysseus‘ Körper ein als das, was er sieht. Der „süße Gesang“ der Sirenen dringt Odysseus so sehr in den Körper, beherrscht ihn, dass er „heißes Verlangen fühlt“ und seinen „Freunden Befehle“ gibt, ihn vom Mast loszubinden.[3] Was die Sirenen singen, wird von Homer nicht erzählt. Es geht einzig und allein um die auditive Wahrnehmung des Gesangs als süßen. Odysseus‘ Freunde haben sich zur Sicherheit indessen Wachs in die Ohren gestopft, reagieren nicht auf den „Gesang“ und die „Befehle“. Stattdessen rudern sie nur umso schneller an den gefährlich lockenden Sirenen vorbei.
Für Mona Winters Hörspiel empfiehlt es sich, die – warum nicht: homerische – Kluft zwischen dem Auditiven und dem Visuellen im Voraus zu bedenken. Visuell werden die Sirenen Mischwesen aus Tier und Mensch. Auf Vasenmalereien seit dem 5. Jahrhundert vor unserer europäischen Zeitrechnung werden die namenlosen Sirenen zu Vögeln mit Krallen und einem weiblichen bzw. bartlosen Profil.[4] Deshalb lässt sich sagen, dass sie Mischwesen aus Tier und Mensch, aus Mann und Frau sind. Die Figur der Mischwesen macht die Tiere menschlich und vice versa, ebenso wie Männer weiblicher werden und umgekehrt. Sirenen lassen sich geschlechtlich zunächst schwer fassen und einordnen. Im 19. Jahrhundert erhalten ihre Körper weiblichere Züge. Der verzweifelte, eröffnende Ausruf der Sirene – „Es passiert – Was soll man sagen? Glaub ja nicht, dass es vorbei ist – Ich komm über dich – Wann immer wo immer“. – lässt sich denn auch nicht so genau als männlich oder weiblich von der Stimme her einordnen. Vielleicht am ehesten eine helle, jüngere Männerstimme. Und dann das Aufheulen der Sirenenmaschine. Mein Nachbar Hasan kennt die Sirenen aus dem Irakkrieg. „Dann kamen die Flugzeuge am Himmel.“
Sirenen sind Maschinen, die akustische Signale produzieren, die bei Mona Winter allerdings ebenfalls sprechen. Sie sind mit einem anderen Wort: Konfliktmaschinen. Sie warnen vor einem Konflikt und dienen Konflikten. Denn sie funktionieren im Hörspiel als eine Art Streitobjekt der Tochter mit der Mutter. Unterschiedliche Formen des Wissens treffen aufeinander. Gisi will sich aus dem Wissen von Krieg und Geschichte befreien. Wozu braucht man noch Sirenen? Wollten sich die Nachkriegsgenerationen nicht immer von den Kriegsgeschichten trennen? Haben die Geschichten von den Russen, die auf Katzen schossen und nach „Urke, Urke“ fragten oder so … und Uhren meinten, nicht enden wollen? Müssen Geschichten nicht irgendwann einmal – Verdammt noch mal! – enden? Es entsteht ein Wissenskonflikt. Oder kehren die Kriegserzählungen immer wieder? Mamá Früh genug, Gisi, wirst du dich daran gewöhnen. GISI An die Sirene?! Seh ich nicht ein. Ist das nicht alles schon mal passiert? Also unsere Geschichte. (Pause) Frage mich: Was kann die denn schon ausrichten? MAMÁ Sei ehrlich, wir brauchen sie! Immer wieder. Eine Kassandra … GISI (verwirrt, aggressiv) Damit unser Leben wieder perfekt ist? Ehrlich…? Ach was… bitte, ich kapier nicht…also … das ist kalter Kaffee …Vielleicht könnte mir irgendeiner mal erklären …Unsinn…Total-Unsinn… Sag: wozu? …gerade eine Sirene?“[5]
Natürlich hat Mona Winter Tot im Leben nicht punktgenau für den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen geschrieben. Vielmehr setzt das Hörspiel mit dem Syrienkrieg ein, der schon wieder aus den – „Pling!“ – News, Eilmeldungen von YouTube und Tagesschau – verschwunden war. Sogar die Flüchtlingskrise von 2015 war aus den Breaking News verschwunden. Nicht einmal die AfD interessierten 2021 Flüchtlinge besonders. „Corona“ bot ein größeres Erregungspotential. Aber auch das spielte dann zur Bundestagswahl im September 2021 fast keine Rolle mehr. Ebenso interessiert Putins Rede vom 24. März 2022 schon fast niemanden mehr.[6] „Pling!“ Stattdessen werfen sich die Meuten lieber auf einen Bundeskanzler, weil er nicht oft genug sabbelt. „Pling!“ Friedrich Merz, die Opposition sucht sich ihr Mütchen zu kühlen, schon lockt machtpolitisch „Pling!“ die nächste Landtagswahl in Schleswig-Holstein. Newsfeed! So geht das Diskursgeschäft – „Pling!“. Schwere Waffen und zu allem Überfluss – „Pling!“ – Alice Schwarzer, sozusagen die Anti-Scholz, Frieden schaffen ohne Waffen. Die Sirenen machen heute „Pling!“.
Das Hörspiel passt in der Weise, wie das „Pling!“-Gewitter heute keine Reflektion mehr zulässt, um die Angst selbst zu reflektieren. Woher kommen Ängste? Wann werden Ängste besonders wirksam? Müssen wir vor den Drohungen mit dem dritten Weltkrieg Angst haben? Die Reaktionen sind sehr verschieden, viele Menschen beginnen wegen der Nachrichten Lebensmittel, z. B. Sonnenblumenöl in Wohnzimmer- und Kleiderschränken zu bunkern. Wann löst die „Pling!“-Taktung eine lähmende Angst aus, fesselt? Hat sie das schon? Drohungen sollen Angst auslösen, damit sich die Verängstigten unterwerfen! Hilft denn dagegen gar nichts? „Gibt man sich zu sehr ihren Tönen hin, droht man sich in seinen Ängsten zu verlieren“, sagt Mona Winter. Töne sind noch keine Geschichte. Töne sind eher das maschinelle Jaulen der Sirenen und das „Pling!“-Gewitter, die Newsmaschine. Es geht um die ständige Wiederholung der Töne, des immer gleichen Tons: „Pling!“ Jeder Ton wird ein Befehl. Die geflüchtete Syrerin Maya berichtet indessen in O-Tönen davon, wie man die Angst gegen den Autokraten und Patriarchen Assad umdreht: „Es ist wahr: In Syrien gab es eine Revolution. Eine echte. Ich meine… so eine ohne Propaganda. Menschen sind friedvoll auf die Straße gegangen. Wie in Belarus … wie im Libanon. Diese friedliche Gesinnung machte Assad mehr Angst als alles andere. Also schleuste er Agents Provocateure in die Demos. Natürlich um die Situation aufzuheizen, zu kriminalisieren.“
Der mütterliche Zwang zum Schwimmen nervt Gisi. Mona Winter spielt den Zwang zum Schwimmen in seiner faschistischen Dimension durch. Das Schwimmen selbst könnte Gisi vielleicht gar Freude bereiten. Doch es sind die Übertragungen der Zwänge der Mutter aus dem faschistischen Regime, die Gisis Widerstand einsetzen lassen. Mamá ist außer Stande, ihre eigene Zwanghaftigkeit zu überdenken. Die Zwänge beherrschen Mamá und ihre Generation. Sie finden sich sogar noch in viel jüngeren Generationen wie den 1933-Geborenen, die bis heute andauern und sogar noch gegenüber dem Verhalten der Enkel artikuliert werden. Die Autorin legt diese Zwanghaftigkeit frei. „MAMÁ Mach bitte kein Popanz draus! Wen wundert‘s, dass tausend Leute dann vor dir ins Becken springen… tauchen (Pause) naja,sich ertüchtigen…und stählen … GISI Kaltwasser-Selbstertüchtigung? N‘en rosiger Gedanke… MAMÁ Tut mir leid, was soll jetzt schaden? Na, komm schon! Mach hin! Nichts simpler als einfach mal zu schwimmen … (lacht) In kompletter Selbstertüchtigung … haha! Schwimmen… schwimmen … GISI Wenn du meinst: …gegen den Strom.“
Die dramaturgische Montage, Formulierungen, Schlüsselworte als Auslöser in der Dialogregie, deckt nicht nur die Zwänge der Kriegsgeneration aus dem Zweiten Weltkrieg auf. Vielmehr gelingt es der Autorin und Regisseurin so, die faschistische Struktur des Patriachats als Tyrannei des Assad-Regimes freizulegen. Maya erzählt Gisi quasi von ihrer Mutter. Faschismus heiße, „zum Sagen zwingen“, hat Roland Barthes einmal gesagt.[7] Er heißt, das Vorgeschriebene und Vorgesprochene zu sagen, zu wiederholen, damit es inkorporiert wird, zur eigenen Wahrheit des Körpers wird. Die Körperlichkeit des Schwimmens überschneidet sich an diesem Punkt. „MAYA (lacht/ Syrien-Sounds) Gegen den Strom schwimmen … das klingt gefährlich in meinen Ohren … Als ich fünfzehn war, entschied sich ja mein Vater zurück nach Syrien zu gehen. Seit den 70er Jahren herrschte hier immer eine Diktatur. Wir erlebten die als Alltagstyrannei! SIRENE Schrei – Ich Zeder und Mordio In jeder Sache, die man macht. Das fühlt man in der Schule. Man fühlt, dass der Diktator überall ist. Auch in der Familie. Ehrlich gesagt, so etwas wie Freiheit … kannte ich nicht. SIRENE Schrei – Ich – Um dein Leben – Gehör zu finden – Für ein Leben – Ist keine Verführung – Kein fauler Zauber“
Das Hörspiel Tot im Leben recherchiert und inszeniert Geschichten, die Deutsche hätten hören können, wenn sie den Geflüchteten aus Syrien und dem Irak z.B. Gehör geschenkt hätten. Mona Winter gibt nicht nur den Geflüchteten eine Stimme, sie weckt die inneren Stimmen, die nur zum Schweigen gebracht worden waren. Wie wird in Deutschland geschwiegen? Es wird im Garten gesoffen, damit sich das Leben und die Sirenen nicht melden. Tot im Leben gibt einen Wink auf die Fremdenfeindlichkeit gar in Ostdeutschland. Vielleicht ging es dabei nie so sehr um das Fremde und Andere, als vielmehr um das Eigene mit seinen Sirenen. Denn die Zwänge und Reglementierungen in der DDR haben sich in die Körper eingegraben. Die Ambiguität des Eigenen wie z.B. in der DDR und die permanenten Sirenen machen es so schwierig, sich gegen das Jaulen zu wehren. Es kommt – ja – von Innen.
Maya lehnt Hoffnung auf den Kollaps des Assad Regimes in Syrien ab. Gisi weiß nicht, was sie tun soll. Hoffnung ist trügerisch. Die Sirenen werden im Hoffen auf Ruhe nicht schweigen. Gisi lässt sich durch Mayas Erzählungen inspirieren. Denn es gibt eine Gemeinsamkeit der Regime auf der arabischen Halbinsel und in Russland. Diese Gemeinsamkeit lässt sich identifizieren jenseits der Propaganda als Sprachmaschine im Krieg. Ob es ein religiös verbrämtes oder laizistisches Regime ist, die Figur des Patriarchen wird von Assad wie Putin aufgeführt. Sie lässt sich in den durch Angst herrschenden Tyrannen oder Diktator transformieren. Sie sind beide zutiefst in ihre eigenen Zwänge verstrickt. Doch das ist keine Legitimation dafür, dass wir uns ihnen unterwerfen. „MAYA Ich lebe jetzt nicht in Syrien. So kann ich nicht sagen: Ich habe keine Hoffnung für Syrien. Die Menschen, die in Syrien leben, haben Hoffnung. Das ist self-defence mechanism … Ich glaube, es geht nicht über Hoffnung – für mich. Es geht über: WAS EIGENTLICH SEIN MUSS. Und sein muss: dass diese Regierung raus aus der Macht geht. Jede Diktatur. Jede sexistische, patriarchalische – RAUS! Und nur mit justice, die wir definieren. Und erreichen wollen … Und dafür lebe ich … HOFFNUNG BRINGT MIR NICHTS“
Das Eigentümliche der Sirenen als Mischwesen erregt nicht zuletzt den Zorn der Patriachen. Sie brauchen eine dichotomische Struktur von Mann oder Frau, von Mensch oder Tier, von Russe oder Ukrainer, um ihrer Macht Geltung zu verschaffen. Sie formulieren die Dichotomisierung gar als Natur. Das gilt für Kyrill I., Patriarch von Moskau und aller Rus, Baschar al-Assad wie für Wladimir Wladimirowitsch Putin. Kyrill I. hat die menschliche Vielfalt als Sünde und Abweichung vom „menschlichen Verhalten“ markiert.[8] Dabei geht es nicht zuletzt um eine geschlechtliche Hierarchie des Mannes über die Frau. Sexismus ist immer patriarchalisch. Wenn Männer sich auf der 56. Biennale von Venedig beschweren, dass die Urinale abgedeckelt wurden, dann gibt es einen Wink auf eine peniszentrierte Welt. Auf einmal werden Praktiken des Mannes und des Mannseins spürbar, weil sie vereitelt werden. Die Kunstbiennale ist sicher nicht der schlechteste Ort, um Praktiken zu hinterfragen. Mona Winter jedenfalls hat mit Tot im Leben genau hingehört, um hörbar zu machen, was nicht in die Geschichten vom Krieg passte.
Torsten Flüh
Mona Winter Ursendung Tot im Leben mit Patrycia Ziolkowska, Kristof van Boven, Oda Thormeyer, Jörg Pose, Mariana Karkoutly u.v.a. Regie: Mona Winter Musik: Bülent Kullukcu Nächste Sendung auf rbbkultur 01.05.2022 14:00 Uhr Mediathek/Archiv
[1] Infotafel: Friedhof am Plötzensee – Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft. Berlin 2014.
[2] Jacques Lacan: Die Psychosen. In: ders.: Das Seminar von Jacques Lacan Buch III (1955-1956). Weinheim: Quadriga, 1997, S. 18.
[3] Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 236. (Deutsches Textarchiv)
[6] Siehe zum Angriffskrieg und Präambel der UN-Charta: Torsten Flüh: Fragen der Intelligenz. Zu Our Space to Help in der Neuen Nationalgalerie und Putins Intelligenz als Streitfall. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. März 2022.
[7] Roland Barthes: Leçon/Lektion. Frankfurt am Main, edition suhrkamp, 1980, S. 19.
[8] Siehe: Torsten Flüh: Das Phallus-Paradox der Homophobie. Zur Premiere von P for Pischevsky des HUNCHtheatre Belarus im HAU2. In: NIGHT OUT @ BERLIN 24. April 2022.
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