Liebe – Maschine – Musik
Von der Liebe zur Maschine
Zu La Roue von Abel Gance mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter der Leitung von Frank Strobel
Zum 130. Geburtstag von Abel Gance am 25. Oktober wird in zwei Teilen am 28. Oktober und 4. November ab 23:55 bzw. 0:05 auf ARTE die rekonstruierte Fassung von La Roue gesendet werden. Die siebenstündige filmmusikalische Großerzählung wird dann für 14 Tage in der Mediathek vorgehalten werden. Am 14. September erlebte der Berichterstatter zwischen 14:00 und 23:00 Uhr mit drei längeren Pausen die Weltpremiere mit Live-Musik im Konzerthaus Berlin. Es war ein einzigartiges Erlebnis. Stunde um Stunde verging wie im Fluge. Die Klang- und Bildkompositionen steigerten zeitweise die Konzentration ins Extrem. Von einem Lokomotivführerhäuschen auf einer Insel zwischen den Bahngleisen ging es in eine Hütte im Hochgebirge des Mont Blanc. Nach 420 Minuten Musik und Stummfilm brach das Publikum kurz nach 23:00 Uhr in Jubel für die Musiker*innen, den Rekonstrukteur*innen und ihren Film aus. Die leidenschaftliche Redakteurin für Stummfilmrekonstruktionen bei ARTE, Nina Goslar, durfte sich gefeiert fühlen.
Die sieben Stunden Film mit Live-Musik waren und sollen wohl schon bei der Uraufführung am 16. Februar 1923 im weltgrößten Kino Gaumont-Palace in Paris immersiv gewesen sein. Zu jener Zeit bot „le plus grand cinema du monde“ seit dem 11. Oktober 1911 Platz für 3.400 Zuschauer. Eine große Musikbibliothek des Kinos beherbergte, wie der Musikrekonstrukteur Bernd Thewes in einem kurzen Pausengespräch verriet, eine große Sammlung Noten für die Begleitung von Stummfilmen, die Arthur Honegger und Paul Fosse für die Uraufführung in einer Liste zusammenstellten. Unter einer riesigen Leinwand spielte ein großes Sinfonieorchester, wie es nun Frank Strobel mit 4 Kontrabässen, 8 Violen, 6 Violoncelli und insgesamt 22 Violinen, Harfe, Bläsern und 4 Schlagzeuger*innen leitete. Der volle Orchesterapparat, um die Stummfilmerzählmaschine in Schwung und zum Sprechen zu bringen. Der Stummfilm wird durchaus nach den Wünschen von Abel Gance zur „Musik des Lichts“ – und das in erstaunlich bahnbrechender Weise.
La Roue ist, wie bereits in der Besprechung vom 10. Juni 2019 angeschnitten wurde, mit dem Rad als ganz große Erzählmaschine angelegt, ja, komponiert. Das vermag ungeheuer zu faszinieren, weil mit der Lebensgeschichte des Lokomotivführers Sisif nicht nur eine aus dem sozialen Milieu, sondern eine von der Maschine im Zeitalter der Spätindustrialisierung und der Filmmaschine selbst erzählt wird. Bereits in J’accuse (1919) hatte Abel Gance unterschiedliches Filmmaterial kombiniert, um eine Geschichte über den 1. Weltkrieg hochdramatisch als Anti-Kriegsfilm zu erzählen, was bei der Uraufführung der rekonstruierten Fassung mit neuer Musik von Philippe Schoeller 2018 deutlich wurde. Mit La Roue werden zu einem guten Teil die Produktionsbedingungen selbst zum Spielfilm. Einerseits werden dokumentarische Aufnahmen eines Zugunglücks offenbar mit fiktiven Aufnahmen im ersten Teil montiert, andererseits entwickelt der Film im zweiten Teil mit den Epochen 3 und 4 eine eigene Dynamik durch die Bergwelt des Mont Blanc. Die historische Tramway du Mont Blanc wird zur fiktionalen Lokomotive Norma III.
Ich beginne zunächst mit den narrativ-visuellen Transformationen im ersten Teil, werde dann die Kombination mit der Musik berücksichtigen und schließlich auf den zweiten Teil als Transformation zum Bergfilm eingehen. Die Geschichte mit ihren mythologischen Anklängen und Referenzen an Ödipus, Ödipus Rex und Sisyphus habe ich bereits in der vorausgegangenen Besprechung angeschnitten. Es gibt weitere interessante Überschneidungen und Transformationen, die erst bei Sichtung und Anhörung des gesamten Films deutlich geworden bzw. in Augenblicken herausgesprungen sind. Die Dampflokomotiven werden von Anfang an als entscheidendes Motiv eingeführt. Sie werden im Prolog mit einem Männergesicht überblendet, das sich zunächst nicht genau zuordnen lässt. Die Scheinwerfer und Dampfwolken von Lokomotiven werden sichtbar. Mehrere Überschneidungen von Schienensträngen werden durch Überblendungen vorgeführt. Der Mann sieht nicht nur die Lokomotive, sie, so lässt sich formulieren, bestimmt als Maschinenmodell und Wissensanordnung seine Wahrnehmung.
Doch wie lässt sich die Dampflokomotive als Maschinenmodell der Wahrnehmung lesen? Die Dampflokomotive generiert von Anfang an Katastrophen, weil sie sich trotz Eisenbahnsignale nicht oder nur knapp durch beherztes Eingreifen und Verstellen der Weichen kontrollieren lässt. Das Schienennetz ist vorgegeben und gehört somit wesentlich zum Funktionieren oder Kollabieren der großen Maschine. Die Eisenbahnkatastrophe wird somit zum Moment einer neuen Erzählung. Abel Gance setzt die Schienenführungen wiederholt und rhythmisch in Szene. Er schneidet sie gegen Nahaufnahmen von Gesichtern und Lokomotiven durch die Räder mit Pleuelstangen, Dampfwolken, Schornsteine etc. Die Schienenführung bekommt eine nicht nur mechanische, sondern emotionale Unausweichlichkeit, wenn Sisif (Séverin Mars) am Schluss der Epoche 2 seine Lokomotive gegen einen Prellbock fährt, um sie zu zerstören, damit kein anderer sie fahren kann. Die Dampflokomotive funktioniert insofern weit über sie selbst hinaus als Maschine.
Vor allem für die Epoche 1 hat Abel Gance ein ebenso pittoreskes wie beziehungsreiches Setting geschaffen. Der verwitwete Lokführer Sisif lebt mit seinem Sohn Elie (Gabriel de Gravonne) und seiner bei einer Eisenbahnkatastrophe geretteten und angenommenen Tochter Norma (Ivy Close) auf einer Insel inmitten der Schienenstränge und rangierenden Lokomotiven. Dieses Setting ist ebenso märchenhaft mit einem kleinen Brunnen und einer Schaukel wie einem kleinen, doch innen sehr geräumigen Häuschen ausgestattet. Es hat fast einen surrealen Charakter. Sobald ein Fenster geöffnet wird oder Aufnahmen von Haus oder Garten gezeigt werden, fährt eine Lokomotive häufig rückwärts durchs Bild. Sie rangieren offenbar. Das Häuschen, in dem die beiden herangewachsenen Kinder mit ihrem Vater leben, zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass es ein ans Mittelalter erinnerndes Fenster mit Bleiverglasung hat. Es ist als winkten Richard Wagners Meistersinger herüber. Und Elie hat sich offenbar selbst ausgerechnet zum Geigenbauer ausgebildet. Für ein Familienheim auf einem Rangierbahnhof ist das beachtlich.
In La Roue führt uns Abel Gance gleich mehrere Schichten von Mythologien vor. Unschwer wird das Pariser Publikum die mittelalterliche Idylle des Handwerkers als Geigenbauer inmitten einer unkontrollierbaren Industrialisierung gesehen haben. Gegenüber dem Arbeiter Sisif als Lokführer verkörpert der geigenbauende Sohn Elie geradezu einen sozialen Aufstieg als Handwerker, der sich später gar in einen erfolgreichen Künstler verwandeln wird, weil er einen besonderen Lack erfindet, der seine Geigen wie eine Stradivari klingen lässt.[1] Man muss sich einmal vorstellen, dass Elie mitten unter dampfenden, pfeifenden, quietschenden, rumpelnden Lokomotiven und Eisenbahnwagons Geigen baut, die er nach seinem Gehör stimmt. Sie sollen durch den Lack einen einzigartigen Klang bekommen. Einzig und allein der Stummfilm vermag es, die industrielle Geräuschkulisse auszublenden. Sie kommt auch in der zeitgenössischen Orchestermusik nicht vor. Die Industrialisierung war nicht nur von Ruß verklebt wie das Gesicht Sisifs, sondern vor allem durch Hammer und Dampfmaschinen etc. mörderisch laut. Gance kolportiert gewissermaßen den Mythos des Handwerkers als Utopie des Arbeiters und der Industrialisierung, während allenthalben die menschliche Arbeit von z. B. Arbeitsschauuhren durchorganisiert wird.[2]
Die Lokomotiven sind in La Roue nicht einfach Metaphern. Das wird spätestens dann klar, wenn Sisif als Maschinist seine Lokomotive Norma nennt. Es geht um Übertragungen. Denn die herangewachsene, doch nicht leibliche Tochter wird zu seinem Objekt des Begehrens. Ebenso mytho- wie psychologisch kommt es zu einer Wissenskollision, die schon in eine Katastrophe zu münden droht, als der verliebte und eifersüchtige Eisenbahner seine Tochter zur Hochzeit mit einem Industriellen und Spekulanten in „die große Stadt“ fahren will und soll. Sein Begehren hatte er bereits auf seine Lokomotive übertragen, indem er sie ganz nach dem Muster der Namensgebung bei den frühen Lokomotiven Norma genannt hatte. Die Lokomotive ist im Französischen wie Deutschen vom grammatischen Geschlecht weiblich wie beispielsweise ein Schiff oder im Englischen auch das Auto.[3] Am Ende der Episode 2 wird die Lokomotive quasi nach der Zwangslogik der Schienenführung und der männlichen Eifersucht zu Schrott gefahren. Abel Gance inszeniert visuell genau diese Überschneidung von Maschine und Begehrensobjekt, wenn er die zerstörte Lok mit Blüten belegt.
Geradezu psychoanalytisch legt Abel Gance das Verhältnis von vor allem Mann und Maschine frei, selbst dann wenn er es gar nicht beabsichtigt haben sollte. Die Beherrschungs- und Besitzphantasie des Mannes über die Frau wird gleichsam mythologisch auf die Maschine als Dampflokomotive übertragen. Zerstört wird beim Aufprall vor allem der Langkessel, dessen Rauchkammertür aufspringt. Sisif liebt seine Lokomotive, den Maschinenkörper, wie den Körper der Frau, die er unter dem vermeintlichen Inzestverbot nicht lieben darf. Das setzt Abel Gance auf ebenso sensible wie zerstörerische Weise in Szene. Die Benennung der Lokomotive wird zur Übertragung des Begehrens. Zugleich liebt sein Sohn die selbe Frau. Doch das Inzestverbot funktioniert nur als Konstruktion, weil Norma weder die leibliche Schwester noch die leibliche Tochter ist. Doch diese Enthüllung bleibt versagt. Norma wird zur Unglücksbringerin wider Willen. Insofern funktioniert die Stummfilmtragödie fast automatisch oder nach dem Schema der Aristotelischen Tragödie.
Bernd Thewes‘ Rekonstruktion der Stummfilmmusik nach der von Honegger und Fosse von der Uraufführung überlieferten Liste funktioniert grandios. Frank Strobel dirigierte das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin genau auf den Punkt. Dabei sind die Musikstücke z.B. von Arthur Honneggers Ouverture oder Xaver Scharwenkas Dramatische Fantasie, 1. Satz, so genau an den Film- und Schnittrhythmus angelegt, dass die fast in einen Selbst- und Massenmord mündende Fahrt in die große Stadt sich für die Zuschauer*innen im Crescendo der Musik und Wechsel der Schnitte wirklich atemberaubend steigert. Der Filmschnitt und die Dramatische Fantasie drücken das Publikum derart in die Sitze, dass es schon gar nicht mehr hinschauen mag, was als nächstes passiert. Das ist große, immersive Dramaturgie durch Orchestermusik. Die Musik wird so mit dem Film verkoppelt, dass sich nicht unterscheiden lässt, ob sie zur perfekten Orchestrierung der Maschine oder der Gefühle wird. Das hatte der Berichterstatter so nie zuvor erlebt. Bernd Thewes hält die „Kompilationsmusik“ von Honegger und Fosse denn auch für „einmalig“ und „energetisch“.
Einmalig ist für mich, dass diese Kompilationsmusik so gut wie eine Originalmusik funktioniert, vielleicht sogar besser, denn welcher einzelne Komponist könnte diese betörende kompositorische Meisterschaft in einer solchen Vielfalt bieten, wie sie in dieser Kompilation quasi als Kollektivwerk gegeben ist. Eine Steigerung könnte ich lediglich dann mir vorstellen, wenn Honegger und Fosse zu Abel Gance doch sehr männlichen Sichtweisen der Frau auch Werke von Komponistinnen hinzugezogen hätten. Bemerkenswerterweise illustriert diese Musik trotz der Geigensoli nicht Orte und Zeitläufe und liefert auch keine psychologisierende Ausdeutung der handelnden Figuren. Sie funktioniert anders, nämlich energetisch.[4]
Das, wie es Thewes nennt, Energetische lässt sich vielleicht auch immersiv nennen, wie es Hans-Christian von Herrmann für die Planetarien im fast gleichen Zeitraum ins Spiel gebracht hat. Die sinnliche, audio-visuelle Verschaltung versetzt das Publikum in den Film. Die einzelnen Kompositionen werden durchaus auf längere Filmsequenzen montiert und erzeugen so nicht zuletzt durch einen permanenten Wechsel z.B. zwischen George Sporeks Prélude Symphonique zu Beginn der Epoche 2 Jules Massenets Grisèlidis Fantasie und Albéric Magnards Chant funèbre am Schluss nach Zerstörung der Lokomotive am Prellbock eine eigene Dynamik. Der Chant funèbre, das Beerdigungslied, passt eben nicht nur auf eine Lokomotive, vielmehr erinnert er an einen verstorbenen Menschen, eine Frau. – Der Eigensinn der Dampflokomotive wird nach der Abreise Normas und Elis emotionalem Abschied von ihr auf dem Rangierbahnhof scheinbar zufällig mit einer batteriegetriebenen Kranlokomotive kontrastiert, als sei eine neue Zeit angebrochen.
Über die Produktionsbedingungen von La Roue wissen wir wenig. Der Rangierbahnhof bleibt sicher auch aus Kalkül namenlos. Wahrscheinlich wurde er aus mehreren konstruiert. Es ist kaum das Rangiergelände von Chammonix, Haute-Savoie. Erst im zweiten Teil für die Epochen 3 und 4 lässt sich der Drehort genau mit Chammonix und der Tramway du Mont Blanc identifizieren. Wird es ein bis ins Detail ausgearbeitetes Drehbuch gegeben haben? Oder drehte Abel Gance seine Großerzählung quasi von Tag zu Tag, indem sich quasi die Handlung aus dem Filmen selbst ergab? Wir wissen es nicht. Bevor Gance begann zu drehen, wird er kaum soviel über Dampflokomotiven gewusst haben, wie es mit dem Film visualisiert wird. Doch der Detailreichtum verrät eben nicht nur etwas über die sogenannte Handlung, vielmehr gibt sie einen Wink auf die Faszination der Eisenbahnen, der Signaltechnik und Schienennetze, die eigene filmische Bildlösungen erforderten und generierten. Abel Gance wusste gewiss nicht alles von der Dampflokomotive im Voraus. Eher wurde er mit „seiner“ Kamera zum Pionier der großen Maschine, die mythologische Verknüpfungen erlaubte. Wenn man die Drehzeit zwischen 1919 und 1922 ansetzt, dann dürfte Gance fast täglich eine Einstellung gedreht haben, die erst nachträglich zum Film montiert wurde. Daraus komponiert er seine „Musik des Lichts“.
Mit der Maschine aus Schienennetz, Signalsystem und Dampflokomotiven schlägt Abel Gance Darstellungsmodi des Konstruktivismus an, die dem Sowjetischen Konstruktivismus von Sergej Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin (1925) oder Oktober (1928), dessen von Bernd Thewes rekonstruierte Musik 2012 mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester unter der Leitung von Frank Strobel aufgeführt wurde, vorausgehen. Zugleich überschneidet sich sein Konstruktivismus mit dem fast surrealen Setting des Lokomotivführerhäuschens. Mit der Strafversetzung Sisifs nach Chammonix verschieben sich zugleich die Maschinen- wie die Schicksalserzählung. Das Licht wechselt ebenfalls. Obwohl die kleine Dampflokomotive auf der 3,920 Kilometer langen Tramway du Mont Blanc seit 1910 eine frühe Technik- und Touristenattraktion darstellte, war ihr Betrieb 1920 defizitär. Sisif schimpft auf die langsame Lokomotive, benennt sie dennoch mit Norma III, umsorgt sie wie eine alte Gefährtin und erblindet.
Seinen Maschinenfilm transformiert Abel Gance nun in einen der weltweit ersten Bergfilme. Vor Arnold Franck, Louis Trenker und Leni Rieffenstahl transformiert das schicksalhafte Erzählrad den Film in eine ebenso übermächtige wie mythologische Bergwelt, in der die Maschine als Dampflokomotive und der Mensch ihre Grenzen finden. Die Bergwelt im Sommer und im Winter generiert einzigartige Filmaufnahmen, Bilder, die das Publikum im Kino noch nie gesehen hat. Der Mensch als Orientierungspunkt verliert sich in der Größe der Bergwelt, der Berggewitter, des Lichts, der Schneemassen und Gletscher. Das Wissen vom Gletscher, der einen abgestürzten Menschen erst nach 4 Jahren freigibt, wird mühelos, doch nicht ganz schlüssig in die Handlung montiert. Die Gefahren der Technik und Maschinen gelten in diesem Setting nicht. Hier wird der Mensch sozusagen auf sich selbst und die Natur zurückgeworfen. Abel Gance hat die Bergwelt des Mont Blanc und ihr Licht zunächst einmal mit der Kamera ungemein fasziniert. Es werden ständig neue Einstellungen ausprobiert und Normas (Ivy Close) Gesicht im Schneefall mit vermutlich echten, dicken Schneeflocken wird schon im Vorspann als ikonisches Bild der Frau eingesetzt.
Doch das Rad der Erzählung dreht sich weiter. Erstaunlicherweise oder gerade auch nicht lösen sich in der Bergwelt zwar nicht die Widersprüche der Moderne, der Technik, der Maschine, der Industrialisierung und modernen Gesellschaft restlos auf, aber Norma nimmt schließlich am Rundtanz der Einheimischen mit einer Art Osterfeuer auf der Bergwiese teil. Der unglückliche Fremd- und Frauenkörper Norma, um es einmal so zu formulieren, wird in das tanzende Rad der (natürlichen) Gesellschaft mit Julien Tiersots Danses populaires francaises eingeschlossen, während der erblindete Sisif Ödipus stirbt und seine Seel zu Claude Debussys „Dernier mouvement da la suite: Le Bon Pasteur“ aus Le martyre de Saint Sébastien Suite entweicht. Die Kompilationsmusik passt hier durchaus zur Wendung der Erzählung. Die Bergwelt versöhnt trotz aller dramatischen Ereignisse die Menschen mit der Maschine. Das Maschinenrad verwandelt sich in ein Rad aus Menschen. Bei aller Problematik dieser Lösung für eine eigentlich fragmentarische und zerfetzte Erzählmaschine ist dieser Schluss dennoch ziemlich grandios. – Die Rekonstruktion, eine Meisterleistung leidenschaftlicher Cineasten!
Torsten Flüh
ARTE
La Roue
Abel Gance
28. Oktober und 4. November 2019
verfügbar bis 10. November 2019
[1] Vgl. zum Mythos des Handwerkers in der Kunst während der Industrialisierung auch Hector Berlioz‘ Benvenuto Cellini in Torsten Flüh: Pariser Industrialisierung glüht durch Hector Berlioz‘ Benvenuto Cellini. Sir John Eliot Gardiner beschenkt das Musikfest Berlin mit einer Ophicleide, Saxhörnern und einem Streikchor. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. September 2019.
[2] Zu Walther Poppelreuthers „Arbeitsschauuhr“ siehe: Torsten Flüh: Kafkas Schreibmaschine. Die Oliver 5-Schreibmaschine und Franz Kafkas In der Strafkolonie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 15. August 2019.
[3] Vgl. zum Geschlecht des Auto im Englischen: Torsten Flüh: Zeit der Gespenster. Zum 24. 007-James-Bond-Film Spectre in der Originalversion im CineStar. In: NIGHT OUT @ BERLIN November 7, 2015 18:51.
[4] Bernd Thewes: Energetische Aufladung. 32 Fragen an Bernd Thewes zur Filmusik von La Roue. In: Berliner Festspiele: Musikfest 2019: Abendprogramm 19. 9.2019, S. 19.