Wissenschaft – Argonauta argo – Aquarium
Von der Weiblichkeit der Kopffüßler Argonauta argo
Zur Ausstellung Power Cage – Experimentalraum Aquarium im State Studio Berlin
Die Kuratorinnen Christina Ertl-Shirley und Dzeni Krajinovic vom Berliner Produktionsbüro Rix haben 15 Künstlerinnen eingeladen, bis zum 7. Dezember im State Studio Berlin die Naturforscherin Jeanne Villepreux-Power mit audio-visuellen Arbeiten zu würdigen. Als interdisziplinäres Projekt vom Hauptstadt Kulturfonds gefördert situiert sich die Ausstellung an der Grenze des Sichtbaren. Das State Studio wurde mit schwarz verhängten Fenstern selbst in ein geheimnisvolles Aquarium verwandelt. Denn die autodidaktische Naturforscherin Jeanne Villepreux-Power (1794-1871) erfand im frühen 19. Jahrhundert das moderne Aquarium zur Beobachtung von Meerestieren, vor allem Mollusken und Cephalopoden (Kopffüßler). Schon 1834 schlug Camilo Maravigna in der Literaturzeitschrift Giornale Letterario dell’Accademia Gioenia di Catania vor, Jeanne Villepreux-Power als Erfinderin des Aquariums anzuerkennen.
1860 erschien bei C. de Mourgues frères in Paris jenes Buch, welches ihr Hauptwerk in der Welt der Naturwissenschaften genannt werden kann: Observations et expériences physiques „an Bulla lignaria, Asterias, Octopus vulgaris und Pinna nobilis, die Reproduktion von Meerestieren Testaceen, Manieren von Krustentieren Powerii, Verhalten von gemeinen Mardern, merkwürdige Tatsachen einer Schildkröte, Argonauta argo, Studienplan für Meerestiere, merkwürdige Fakten einer Raupe“.[1] Das Buch über die vielfältigen Beobachtungen und physikalischen Experimente blieb ins Deutsche unübersetzt. Die Männerdomäne Wissenschaft und vor allem Naturwissenschaften rechnete in Deutschland nicht mit einer französischen Autodidaktin, die sich in Sizilien und London als erste Frau bis zum korrespondierenden Mitglied der Zoological Society London weiterentwickelt hatte. Nun nehmen die Künstlerinnen im State Studio direkt an der U-Bahnstation Kleistpark Bezug auf Jeanne Villepreux-Power.
Der Experimentalraum bot einen „Cyanotypie-Workshop“ mit Miriam Otte, einen „Zeichenworkshop »Krustentiere«“ mit Mira O’Brien und eine „visuelle Reise“ zur Geschichte des Aquariums mit Mareike Vennen und Silke Förschler an. Am Samstag wird ein „Biosphären-Workshop“ mit Monika Kalinowska stattfinden. Darstellungspraktiken und Wissensproduktion durch Experimente stehen insofern in engem Austausch mit dem ästhetischen Ausstellungserlebnis. Die Künstlerinnen werden zugleich zu Forscherinnen. Denn das Weibliche spielt nicht nur als Geschlecht der Forscherin, Erfinderin und Naturwissenschaftlerin Villepreux-Power eine entscheidende Rolle. Vielmehr konstelliert beispielsweise Claudia Reiche mit ihrer Arbeit ARGONAUT_A (Video, Foto, Collage, organisches Material) die Beschreibung und Darstellung der Argonata argo mit denen des „weiblichen Wollustorgans“.
Die Künstlerinnen kreisen mit ihren Arbeiten vor allem um das Aquarium. Für Jeanne Villepreux-Power stellte sich bei der Konstruktion des Aquariums 1832 in Messina die Frage, wie es gelingen könnte die Argonauta argo lebend zu beobachten, wie sie 1860 in Observations et expériences physique schreibt. Doch das Aquarium aus Glas erfüllte nicht ganz seinen Zweck. Es war sozusagen nicht nah genug am natürlichen Lebensraum der Argonauta argo. Besser funktionierten Käfige, die die Forscherin im Hafen von Messina einrichtete.
„Zu diesem Zweck erfand ich 1832 ein Glasaquarium, das ich in meinem Haus am Meer in Messina gebaut hatte. Nachdem ich mit dem Argonauta Argo in diesen Aquarien experimentiert hatte, erkannte ich, dass sie meinem Wunsch nach nicht erfolgreich waren. Obwohl die Argonauten die von ihren Schalen entfernten Teile in diesen Aquarien repariert hatten, war dies nicht der einzige Gegenstand meiner Pläne. Der Hafen von Messina, den ich täglich überquerte, um nach organischen Wesen zu suchen, bot mir Mittel, die man an keinem anderen Strand finden konnte. Um mein Ziel zu erreichen, stellte ich mir Käfige vor (1). Nachdem ich die Erlaubnis der Behörden erhalten hatte, pflanzte ich sie auf einem niedrigen Meeresgrund im Lazaretto von Messina an einem Ort, an dem ich ungestört meine Beobachtungen fortsetzen konnte. Dann gab ich eine Menge lebende Argonauta ein und achtete darauf, jeden Tag das notwendige Futter zuzubereiten, bestehend aus getesteten Mollusken, Venus, Cytherea, gebrochenem Loligo, das ich absichtlich mit einem Rechen gefangen hatte.“[2]
Die Käfige als quasi natürliche Unterwasseraquarien wurden nach der Forscherin mit Power Cage benannt. Der Titel der Ausstellung Power Cage spielt daher mit dem Doppelsinn des Eigennamens und der Kraft, die im Experimentalraum Aquarium generiert werden kann oder soll. Durch die Heirat mit dem englischen Geschäftsmann James Power nannte sich die Forscherin in ihrem Buch Jeanne Power, geborene Villepreux. Mit Power Cage geht es nicht nur darum, die in Deutschland kaum bekannte Forscherin und Erfinderin bekannt zu machen. Es geht auch um die Methoden und Praktiken, mit denen sie in England, Sizilien, Italien und dem Mittelmeerraum bekannt wurde. Das Aquarium aus Glas wurde von ihr nicht für das Wohn- und/oder Jugendzimmer erfunden. Vielmehr ging es Jeanne Villepreux-Power um eine frühe Form der Wissenschaft vom Leben nicht nur im Meer, sondern der Fauna, die seit dem Erdaltertum in den Ozeanen existiert. Denn Cephalopoden können als Überlebende einer Tiergruppe gelten, die noch 265 Millionnen Jahe vor dem Auftauchen der ersten Dinosaurier entstanden war.
Die Erfassung des Lebens durch Beobachtung wird für die Forscherin zunächst zu einem gewissen Problem. Sie beschreibt in einer Fußnote die Konstruktion der Käfige als Lebensbedingung zum Beobachten sehr genau. Villepreux-Power geht systematisch vor, um die größtmögliche Nähe zum Leben herzustellen. Dies reicht soweit, dass sie ihre Beobachtungen so formuliert, dass sie nicht gesehen werden wollte: „Über dem Käfig öffnete sich eine Tür; rechts und links waren zwei kleine Öffnungen angeordnet; von dort konnte ich, ohne gesehen zu werden, meine Tiere beobachten.“[3] Doch die Beobachtungen wollen in Worte gefasst werden. Das ist eine weitere lexikologische Operation. Sie beschreibt die „Struktur der Argonauta Argo“ wie folgt:
„Der Kopffüßer des Argonauta Argo ist mit acht Armen versehen, die eine Krone um den Mund bilden. Jeder Arm hat zwei Reihen Saugnäpfe. Die ersten beiden Arme sind robuster als die anderen, sie sind mit Membranen versehen, aus denen sie ihre Schale herstellen. Die Arme, die sich über den Augen befinden, sind viel mehr als bei anderen. Die Augen befinden sich rechts und links vom Kopf unter den Armen. Der Körper dieses Kopffüßers hat die Form eines gestutzten Eies von mehr als einem Viertel, ist jedoch zur Spitze hin länger. Der obere Teil des Verdauungsbeutels hat die Form eines kleinen runden Behälters, in den das Wasser eintritt. Entlang des Halses zwischen dem Kopf und der Öffnung des Beutels befindet sich eine Membran, die die Form eines Schlauchs oder Siphons hat und zu dem Teil hin, an dem sich die Öffnung des Beutels befindet, viel weiter ist. Dieser vom Tier in Bewegung gesetzte Siphon pumpt das Wasser, das in den oben genannten Behälter eindringt, und schwimmt so das Tier (wie alle anderen Kopffüßer durch die Wirkung der anziehenden und abstoßenden Kraft des Siphons) und führte sein kleines Boot…“[4]
Das (wahre) Leben zeigt sich nach Villepreux-Power erst und nur, wenn die Cephalopoden mit ihren Augen die Forscherin nicht sehen können. Das Wechselspiel des Beobachtens mit dem eigenen Verstecken generiert ein (wahres) Wissen. Dabei erhalten die Kopffüßler durch die Beschreibung eine fast anthropomorphe Gliederung und Bezeichnung ihrer Gestalt in Arme, Mund und Augen. Wie die Augen funktionieren, beschreibt die Forscherin nicht. Doch könnten sie zweifelsohne die Wissenschaftlerin sehen, was von dieser nicht erwünscht ist. Die Forscherin wünscht alles zu sehen, so dass mit einem Mikroskop die Augen selbst von ihr beobachtet werden und sie mit einem siebentausendfach vergrößernden Mikroskop den Kopffüßler-Nachwuchs sehen kann.[5] Unterschiedlich Beobachtungspraktiken werden zu einer Art „Gesamtbild“ montiert. Der Wunsch nach einer panoramatischen Ansicht korrespondiert mit dem Sehen des zuvor Unsichtbaren durch das Mikroskop. Aquarien funktionieren als Unterwasser-Panoramen wie Städte-Panorama auf Marktplätzen. Das ultimative Wissen von der Natur der Argonauta Argo generiert sich durch ein Zählen, Messen, Benennen und sogar testendem Fühlen der Schale.
Das Aquarium wurde in der jüngeren Zeit als Wissensraum vom Leben ins Interesse der Kulturwissenschaft gerückt. Die Kulturwissenschaftlerin und Aquariumexpertin Mareike Vennen hatte 2018 Das Aquarium – Praktiken, Techniken und Medien der Wissensproduktion (1840-1910) veröffentlicht. Sie befasst sich vor allem mit den Anfängen des Aquariums als „Wardian Cases“ des Arztes und Pflanzenliebhabers Nathaniel Bagshaw Ward.[6] Offenbar war in der Forschungsliteratur Jeanne Villepreux-Power aus dem Fokus geraten. Bei ihr lassen sich wie später bei Ward die Anfänge des Wissens vom Aquarium und Argonatauta argo anders beobachten. Vennen untersucht die „Wissensumwelten im Glas“. Denn nach ihr, setzten Aquarien „die Einrichtung zumindest einer minimalen Umwelt voraus“.
„Dadurch machte die Aquarienhaltung von Anfang an ein Wissen über die Beziehung zwischen Lebewesen und ihrer Umwelt zur praktischen Notwendigkeit, und eben das hatte tiefgreifende Auswirkungen auf den Blick in die submarine Welt, das Wissen über sie und den Umgang mit ihr. Als somit um 1850 Amateurforscher, vornehmlich in Großbritannien im Kontext der praktischen Naturkunde erstmals begannen, mit Aquarien im eigenen Heim zu experimentieren, brachten ihre praktischen Versuche ein gänzlich neues Wissen über die Bedingungen des Lebens im Wasser hervor.“[7]
Die besondere Zartheit und Elastizität der Schale des Kopffüßlers fasziniert die Forscherin Villepreux-Power ebenso wie dessen Fortbewegung. Wird die Schale getrocknet, ist sie dünn wie Papier und zerbrechlich. Wird sie nach einer Trockendauer wieder in Wasser eingeweicht, bekommt sie ihre Elastizität zurück. Die Künstlerinnen in Power Cage reagieren auf unterschiedliche Weise auf diese Beschreibungen und das positive Wissen vor allem von Argonauta Argo. So gehen Christina Ertl-Shirley und Ruth Waldeyer mit ihrer Installation Papier. Falten aus 150m² Papier auf den Namen wie der Beschreibung des Kopffüßlers ein, indem sie sie in eine weibliche Poetologie transformieren.
„Vor rund 105 Millionen Jahren beginnen die weiblichen Papierboote, eine feine Hülle herzustellen, die sie mit ihren Armen festhalten. Sie lassen Höhlen und Felsspalten hinter sich und begeben sich Richtung Wasseroberfläche. Um als Treibgut nicht aufzufallen, haben sie sich eine Tarnung zugelegt: Die dünne Membranhaut, die sie über die Schale spannen, kann ihre Farbe ändern.“[8]
Die Papierinstallation Papier. Falten ist begehbar und wird mit 16 Kissenlautsprechern und 3 Ultraschallsensoren akustisch quasi zum Leben erweckt. Nachdem frau/man vorsichtig in das Papiergehäuse eingetreten ist, gelangt frau/man in der Mitte zu einem Kissen, auf dem sie/er sich einrichten kann. Die Installation funktioniert wie ein Experiment, in dem die Besucher*innen eine Erfahrung machen können. Erfahrungswissen wird durch Praxis und ihre Wiederholbarkeit generiert. Experiment und Erfahrung überschneiden sich im französischen expérience. Die aufwendige Papierinstallation mit 1000 Magneten und 300 Foldback-Klammern reflektiert insofern das Experiment und seine Künstlichkeit selbst. Die Erfahrung wird immer schon durch die Konstruktion des Experimentes vorformatiert. Für das Aquarium spricht Vennen gar von „>Reinigungsarbeiten<„, mit denen sie nicht nur „das Putzen von Fensterscheiben“ anspricht, sondern auch „Techniken des Rahmens und Filterns, der Regulierung und Visualisierung“ erforscht.[9]
Die Künstlerinnen gehen ebenfalls häufig auf die Sichtbarkeit ein. Wie wird wann was sichtbar? Mira O’Brien lädt mit Muveine Tide (Ölfarbe, Doppelverglasung Holz, UV-Folie) ein, in ein „umgekehrtes Aquarium“ mit „Unterwasser-Landschaftstableau“ einzutreten. „Eine imaginäre Traumlandschaft, direkt auf Glas gemalt, einer jungen Frau beim Übergang von Couturier zur Naturforscherin. Mauveine Tide bezieht sich auf die Farbe verrottender Seeschnecken, die durch den ersten synthetischen Farbstoff ersetzt werden, was Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem lila Rausch in der Mode führt.“ (Mira O’Brien) Die Künstlerin bezieht sich damit auf die Biographie von Jeanne Villepreux-Power, die, bevor sie John Power heiratete und mit ihm nach Sizilien übersiedelte, als erfolgreiche Schneiderin in Paris gearbeitet hatte. Wenig erforscht ist offenbar, wie die Forscherin Praktiken aus dem Schneiderinhandwerk in ihre Naturwissenschaft übertrug.
Als Schneiderin musste sich Jeanne Villepreux-Power wohl eine ganz Reihe von Praktiken erworben haben, die in ihrer Naturwissenschaft zum Zuge kommen sollten. Das Vermessen des Körpers für die Anfertigung eines Kleides ließ sich ebenso übertragen, wie dass Erfühlen der Textur, „Struktur“ oder Stofflichkeit der Schale von Argonauta Agro. Sie konnte den Umgang mit Stoffen und Textilien in der Wissenschaft nutzen. Was zunächst als ein typisch weiblicher Beruf mit seinen Praktiken aufgefasst wurde, lässt sich in den Bereich der Wissenschaftspraxis und Beschreibung von Körpern transferieren. Gerade die scheinbar nebensächliche Beobachtung der Schale generiert ein neues Wissen, das (männlichen) Naturforschern bislang entgangen war. Dadurch gelingt es ihr ein neuartiges, singuläres Wissen zu formulieren: „Was die Struktur der Molluske der Argonauta betrifft, niemand kann ignorieren, was die Naturforscher gesagt haben. Ich (aber) will erzählen, was ich im Singular beobachtet habe oder nicht von anderen über dieses Tier erwähnt wurde.“[10]
Billy Roisz fragt in ihrem Video Aquatic Aberration danach, wie ein Tintenfisch seine Umgebung sieht. Wie funktionieren sinnliche Wissensprozesse? Können die Arme den Tintenfisches wie der Argonauta Argo beim Sehen helfen? Für einen Menschen ist es durchaus schwierig zu sagen, was sie oder er im Video von Billy Roisz sieht oder gar erkennt. Es erinnert eher an einen Rorschachtest. Das technisch außerordentlich hoch aufgelöste Sehen mit einem Mikroskop, das siebentausendfach vergrößert, ermöglicht es, Jeanne Villepreux-Power mit der Frage nach der „Reproduktion“ die Brut der Kopffüßler zu sehen. Eine gute Schneiderin sollte nicht nur genau sehen können, sie hat es mehr oder weniger bewusst gelernt, Muster zu erkennen. Muster lassen sich wiederholen, werden um 1830 schon von mechanischen Webstühlen insbesondere in Paris produziert und lassen sich zur Sichtbarkeit von Wohlstand, Klasse und Geschlecht einsetzen.
Claudia Reiches Installation ARGONAUT_A stellt mit vier Plastikstäben ein virtuelles Aquarium als Rahmen des Sichtbaren her. Das Aquarium soll auch als Ausschnitt und Rahmen von Leben funktionieren. Gleichzeitig wird eine Installation auf einem altertümlich Bilderrahmen mit vergoldeten Leisten eingerichtet. Im Aquarium wird das (verborgene) Leben der Meere allererst gerahmt und sichtbar. Es lässt sich zu neuartigen Tableau vivants transformieren und in einen nicht nur häuslichen, sondern heimlichen Lebensbereich integrieren. Denn das Leben im Aquarium wird auch abhängig vom Hausherrn oder der Hausfrau und sei sie ein/e Jugendliche/r. Man lernt auf das Leben zu achten und es mit Fütterungen und Sauerstoffversorgung etc. zu regulieren und zu kontrollieren. Die Visualisierung des Meereslebens unter der der Wasseroberfläche ist im höchsten Maße von den Medien abhängig. Was aber sieht man im Aquarium vom Leben?
Schnell kann die Biosphäre im Aquarium in ein Drama der Zerstörung durch Algenbefall, Schnecken- bzw. Moluskenbefall etc. umschlagen. Bäuchlings an der Wasseroberfläche schwimmende Zierfische sind der Horror des Aquariums. In dem Video in Claudia Reiches Installation unter einer Darstellung des „Sphincter ani extrenus“ und „crus clitoridis“ etc. als „Fig. 430“ auf Glas wird am Strand mit den Wellen ein Argonauta Argo angeschwemmt. Die Arme hängen wie ein einzelner rötlich heraus. Was bei Villepreux-Power als „Mund“ mit einer „Krone“ aus „acht Arme(n)“ beschrieben wird, überschneidet sich mit einer Darstellung des Schließmuskels und der Klitoris. In einer sich wie auf einem Schallplattenteller drehenden Scheibe mit einer detaillierten, photographischen Darstellung von Argonauta Argo spiegelt sich noch einmal die „Fig. 430“. Das weibliche Wollustorgan und die weibliche Molluske Argonauta Argo generieren eine seinerzeit neuartige Sichtbarkeit des Weiblichen. Sie vermessen und zeichnen um die Mitte des 19. Jahrhunderts das Weibliche neu.
Die Überschneidung des Künstlichen und Künstlerischen mit den Darstellungspraktiken der Naturwissenschaften wird von Claudia Reiche in ihrer Installation mit einem Cocktailglas auf einer Petrischale, in dem sich eine rote Flüssigkeit unter einer Glashaube mit einer kleinen Ausbuchtung befindet, inszeniert. Wann wird ein Aperitif sichtbar? Und durch welche Verknüpfungen Blut oder gar Menstruationsblut? Wann bekommt die Glashaube das Aussehen einer weiblichen Brust? Zwischen Freizeitgetränk und Laborgefäßen pendelt die Sichtbarkeit hin und her. Das Laborgefäß der Petrischale, das um 1900 zufällig von einem Schüler Robert Kochs in Berlin erfunden wurde, wird heute bisweilen auch humorvoll in der Spitzengastronomie eingesetzt.[11] Was ist die grüne Flüssigkeit in dem Fläschchen? – Wir wissen es nicht.
Torsten Flüh
POWER CAGE
Experimentalraum Aquarium
bis 7. Dezember 2019
State Studio Berlin
Hauptstr. 3
10827 Berlin
[1] Übersetzung des erweiterten Titels von Torsten Flüh nach Jeanette Power: Observations et expériences physiques sur la bulla lignaria, l’asterias, l’octopus vulgaris et la pinna nobilis, la reproduction des testacés univalves marins, mœurs du crustacé powerii, mœurs de la martre commune, faits curieux d’une tortue, l’argonauta argo, plan d’étude pour les animaux marins, faits curieux d’une chenille. Paris: C. de Mourgues fréres, 1860. (Gallica)
[2] Ebenda S. 32. (Übersetzung T.F.)
[3] Ebenda. (Übersetzung T.F.)
[4] Ebenda S. 33-34.
[5] Ebenda S. 31.
[6] Marieike Vennen: Das Aquarium. Praktiken, Techniken und Medien der Wissensproduktion (1840-1910). Göttingen: Wallstein, 2018, S. 35.
[7] Ebenda S. 11.
[8] Zitiert nach Ausstellungstext.
[9] Mareike Vennen: Das Aquarium … [wie Anm. 6] S. 21.
[10] Jeannette Power: Observations … [wie Anm. 1] S. 33.
[11] Vgl. dazu Torsten Flüh: Der Magen, das Gesetz und die Sprache. reinstoff in den Edison Höfen. In: NIGHT OUT @ BERLIN August 24, 2012 20:21. (Leider gibt es das reinstoff nicht mehr.)
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