Bilderatlas – Wissenschaft – Zettelkasten
Zur Intelligibilität des Bilderatlas Mnemosyne
Über die Ausstellung und das Buch „Aby Waburg: Bilderatlas Mnemosyne – Das Original“ im Haus der Kulturen der Welt
Am 3. September 2020 war es soweit: Auf der Pressekonferenz zur Ausstellung „Aby Warburg: Bilderatlas Mnemosyne – The Original“ im Foyer des HKW wurde erstmals der Bilderatlas als Folio-Band aus dem Verlag Hatje Cantz aufgeschlagen. Zugleich wurden alle 63 rekonstruierbaren Bildertafeln im großen Ausstellungssaal in sechs halbkreisförmigen Installationen zum ersten Mal überhaupt gleichzeitig aufgehängt. Die Hängung orientiert sich an der Form einer Ellipse und der Größe des Lesesaals in der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg (KBW) in Hamburg, über deren Eingangstür noch heute ΜΝΗΜΟΣΥΝΗ eingemeißelt ist. Aby Warburg hatte Ende der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts dort nacheinander die Bildertafeln aufgehängt. Roberto Ohrt erzählte auf der Pressekonferenz freimütig, dass er noch gar nicht wusste, was er im Warburg Institute in London finden sollte, als Bernd Scherer ihm 2018 zusagte, das Projekt zu unterstützen.
Nun existiert der legendäre, unabgeschlossene Bilderatlas medial zweimal: als Buch und als Ausstellung. In der Welt der Kunsthistoriker*innen, Kulturwissenschaftler*innen und Bildforscher*innen handelt es sich um ein epochales Ereignis, das Roberto Ohrt und Axel Heil medien- und institutionenübergreifend mit dem Warburg Institute London unter der Leitung von Bill Sherman, HKW und dem Verlag zustande gebracht haben. Alle Bildtafeln jemals an einem Ort zur gleichen Zeit in brillanter Bildqualität sehen oder gar in einem großformatigen Bildband in allerneuster Hochauflösung mit der Lupe studieren zu können, muss selbst Aby Warburg und seinen Mitarbeiter*innen utopisch erschienen sein. Der Bilderatlas als Utopie hat sich nun (fast) plötzlich materialisiert. Bernd Scherer sieht in ihm „eine(n) wichtige(n) methodische(n) Bezugspunkt für die Generierung von Wissen in unserer Zeit“.[1] In der Ausstellung lässt sich auf einem großen Bildschirm im digitalen Folio-Band blättern.
Ein originaler Zettelkasten aus dem Warburg Institute darf gleich zu Beginn der Ausstellung bestaunt werden. Der ganze Karteikasten „als raumgreifendes Möbel, das die Schrift material-medial neu konditioniert“[2], wird in Originalgröße als Fotografie gezeigt. Axel Heil sagt auf der Pressekonferenz, er sei „das Gehirn der Ausstellung“. Zettel- und Karteikästen archivieren, speichern und generieren Wissen. Auf bedenkenswerte Weise verändern sich mit dem Zettelkasten die Schrift und das Wissen um 1900, wie es nicht zuletzt Walter Benjamin in seinem Buch Einbahnstraße 1928 formuliert hat. Benjamin benutzt den Begriff der „Kartothek“, vergleicht sie mit der „Rune oder Knochenschrift“ und kontextualisiert sie mit der „Bilderschrift“. Für die Frage des Wissens Ende der Zwanziger Jahre gibt dieser Kontext einen Wink auf die Intelligibilität des Bilderatlas’.
„Aber es ist ganz außer Zweifel, daß die Entwicklung der Schrift nicht ins Unabsehbare an die Machtansprüche eines chaotischen Betriebes in Wissenschaft und Wirtschaft gebunden bleibt, vielmehr der Augenblick kommt, da Quantität in Qualität umschlägt und die Schrift, die immer tiefer in das graphische Bereich ihrer neuen exzentrischen Bildlichkeit vorstößt, mit einem Male ihrer adäquaten Sachgehalte habhaft wird. An dieser Bilderschrift werden Poeten, die dann wie in Urzeiten vorerst und vor allem Schriftkundige sein werden, nur mitarbeiten können, wenn sie sich die Gebiete erschließen, in denen (ohne viel Aufhebens von sich zu machen) deren Konstruktion sich vollzieht: die des statistischen und technischen Diagramms. Mit der Begründung einer internationalen Wandelschrift werden sie ihre Autorität im Leben der Völker erneuern und eine Rolle vorfinden, im Vergleich zu der alle Aspirationen auf Erneuerung der Rhetorik sich als altfränkische Träumereien erweisen werden.“[3]
Walter Benjamin schreibt in seinem ebenso wissenschaftlichen wie belletristischen Montagebuch[4] Einbahnstraße von einer „Eroberung der Dreidimensionalität der Schrift“ durch Zettelkasten, Karteikasten oder Kartothek in Bezug auf „Wissenschaft“ und „Poeten“. In der Kartothek lässt sich u.a. die Karte und Landkarte als Atlas mitlesen. Die „Dreidimensionalität der Schrift“ wird als eine Befreiung von der Linearität oder Zweidimensionalität formuliert. Deshalb bezieht sich die Dreidimensionalität nicht nur auf eine Verräumlichung hinsichtlich eines Möbels oder einer visuellen 3-D-Konstruktion wie etwa die Darstellung des menschlichen Gehirns mit seinen „Knotenpunkten als neuronale Netze“ im Kontext der Debatte um Künstliche Intelligenz, vielmehr wird die Schrift vervielfacht und mehrdeutig. Natürlich können in Zettelkästen alphabetische oder nummerische Ordnungen eingezogen werden, doch „(j)ede Karte steht mit jeder anderen in einer potenziellen Beziehung, die vom Benutzer aktualisiert werden“ muss.[5] Karin Krauthausen weist zugleich auf den Gebrauch der Karteikästen im 20. Jahrhundert in der Verwaltung als „Benutzeroberfläche“ hin, „insofern sie die archivierten Bücher und andere Quellen über Verfassername, Titel, Signatur oder Schlagworte (auf-)findbar machen“.[6] Doch die Analogie Verwaltung und Karteikasten unterschlägt die Ambiguität der Schrift, wie sie von Benjamin angeschrieben wird.
Die Dreidimensionalität der Schrift wird von Benjamin am Zettelkasten als Schnittstelle von Wirtschaft, Wissenschaft, Rhetorik und Poetik über die „Wandelschrift“ mit dem Träumen in Verbindung gebracht. Das Gehirn kennt nicht nur das Wachen, vielmehr noch das Träumen. Doch das Träumen ist von vornherein vieldeutig aufgeladen. Insofern wird der Zettelkasten hinsichtlich des Bilderatlasses Mnemosyne zu einem Möbel zum Träumen. Das Projekt der „Wiederherstellung“ von Roberto Ohrt und Axel Heil, wie es als „Original“ mit „Klemmhaken“ in der Ausstellungshalle des HKW re-materialisiert worden ist, erschlägt zunächst in seiner Komplexität und Diversität von „971 Objekte(n)“ bzw. Fotografien von „fotografische(n) Reproduktionen, Zeitungsausschnitte(n), Ansichtskarten, Reklamen, Briefmarken, Broschüren, einzelne(n) Buchseiten, von Warburgs Ehefrau Mary angefertige(n) Skizzen und zwei Originaldrucke(n)“.[7] Der Bilderatlas machte und macht mit dem Medium der Fotografie und neuartigen Druckverfahren wie den „Halbtondrucken nach dem Rasterverfahren“[8] Bilder für die Wissenschaft und eine breitere Öffentlichkeit zugänglich.
Im Folio-Band ist neben dem Text von Claudia Wedepohl nicht nur eine Seite aus dem Kunsthistorischen Bilderbogen für den Gebrauch bei öffentlichen Vorlesungen … von Ernst Arthur Seemann aus dem Jahr 1881 als Beispiel für die Verbreitung und Geschichte des Bilderatlas‘ abgedruckt, vielmehr wird auch ein Foto vom Fotostudio mit dem von Aby Warburg verwendeten Rectigraph der Marke „Photo Clark“ in der KBW von 1926 gezeigt.[9] Wedepohls Ausführungen zum „Making of“ des Bilderatlasses werden insoweit mit Fotos aus dem Warburg Institute London als Dokumente belegt, was eine deiktische Praxis des Gebrauchs von Fotografien in Bildbänden wäre.[10] Ohrt und Heil weichen von diesem Ansatz ab und gehen der Verwendung der „Begriffe „Bilderatlas“ und „Tafel“ … seinerzeit im Verlagswesen“ nach. Doch die Erklärung, dass „Bilderatlas […] den Abbildungsband, der als Ergänzung zum Textband noch in einer anderen Technik und auf anderem Papier gedruckt werden musste, [bezeichnete]“[11], kann mit dem Sexualwissenschaftliche(n) Bilderatlas der Geschlechtskunde[12] von Magnus Hirschfeld aus dem Jahr 1930 faktisch widerlegt werden. Der Begriff Bilderatlas wird um 1930 auf verschiedene Weise im Feld der Wissenschaft verwendet.
Magnus Hirschfeld prägt seinen Bilderatlas-Begriff als eine Wissenschaft durch Bilder mit dem vorangestellten Motto „Bilder sollen bilden“.[13] Das Motto kündigt mit den Initialen „M. H.“ als Hirschfelds (eigene) Methode an. Wenn es heutzutage um die Sichtbarkeit von LGBTI* geht, dann knüpft dieser Anspruch auf eine Sichtbarkeit und Repräsentanz in gewisser Weise an Hirschfeld an. Der Sexualwissenschaftliche() Bilderatlas der Geschlechtskunde verwendet wie bei Aby Warburg diverses Bildmaterial von ethnologischen Bildern, Portraits aus der Kunstgeschichte wie von Friedrich II. und seinem Bruder Heinrich, Privatfotos von König Ludwig II. von Bayern mit seiner Mutter[14], medizinisch beschrifteten Zeichnungen der Klitoris[15], Fotos aus der Boulevardpresse, Filmstills, Zeichnungen von der „Sexualnot der Gefangenen“[16], Fotos von Kongressen mit Magnus Hirschfeld etc.. Der Bilderatlas hat über 830 Seiten, auf denen Text und entweder einzelne oder mehrere Bilder abgedruckt werden. Friedrich II., Prinz Heinrich und König Ludwig II. werden trotz unterschiedlicher Medialität (Reproduktionen von Gemälden und ein Foto) auf einer Seite im Kapitel Neunzehn mit dem Titel „Vererbungsgesetze“ gedruckt.[17] Die Homosexualität der drei historischen Adeligen wird somit in den Wissensbereich eines generationellen Übertragungsprozessen gestellt, obwohl Friedrich II. und Heinrich Brüder waren und somit die Homosexualität nicht untereinander vererben konnten.
Der Bilderatlas befreit sich zumindest bei Hirschfeld Ende der fraglichen Zwanziger Jahre aus einem stringenten Wissenschaftsverständnis, um an politischen Debatten teilzuhaben. Denn Magnus Hirschfeld ging es um eine weitreichende und vielfältige Reform des Sexualstrafrechts zwischen Abtreibung, Homosexualität, Prostitution und Sexualität im Justizvollzug. Die Wissenschaftspolitik des Bilderatlasses löst Bilder aus ihren Wissenschaften wie Ethnologie, Kunstgeschichte, Geschichte, Medizin, Vererbungslehre und Kriminalistik heraus, um sie anders zu montieren, so dass die historische Figur des Großen mit Friedrich dem Großen zum Zeugen für die Rechtmäßigkeit homosexueller Praktiken angeordnet wird. Zwischen dem ersten Kapitel „Das Menschenpaar“ und dem zweiunddreißigsten „Sexualreform auf sexualwissenschaftlicher Grundlage“ entfaltet sich zwar ein chronologischer Bogen, aber dieser funktioniert in seiner Diversität des Bildmaterials längst nicht mehr als Geschichtswissenschaft.
Der Wunsch nach bwz. das Problem der Vollständigkeit führt bei Aby Warburg zu Lücken und Ergänzungen, die die Fassung des „Originals“ nach einer „dritten Version“ von 1929 weiterhin als „Fragment, noch unfertig im Prozess der Entwicklung“[18] vorführen.[19] Doch das methodologische Problem der Ordnung und Vollständigkeit könnte mit dem Bild statt Text selbst zu tun haben. Denn Magnus Hirschfeld formuliert das Problem der Vollständigkeit für seinen Bilderatlas ebenfalls. „Der Umfang dieses Werkes“ sei „bedeutend größer geworden, als ursprünglich beabsichtigt“, schreibt er in seiner Einleitung, und er sei „(v)on dem Wunsche getragen, möglichst vollständig zu sein,“ gewesen.[20] Das Medium Bilderatlas siedelt sich bei Hirschfeld zwischen Lexikon, Bilderbuch, wissenschaftlichem Kompendium und Streitschrift an. Dabei funktioniert der Bilderatlas nicht zuletzt als eine Montage aus Text und Bild. Obwohl er eingangs davon schreibt, dass „(d)as Bild […] den Text in den Hintergrund gedrängt, vielleicht sogar vernichtet“ habe, wünscht er sich von seinen Leser*innen, dass die „Bilder nur eine Begleiterscheinung des Textes“ genutzt werden mögen.[21] Ende der 1920er wird insofern mit dem Bilderatlas eine Krise des Textes formuliert und ihr begegnet, die heute als aktuell empfunden wird. Oder geht es um eine generelle Wissenskrise?
Claudia Wedepohl macht in ihrem „Making of“ auf verschiedene Methoden aufmerksam, die Aby Warburg für sein Wissen von den Bildern zwischen Engrammen, „die ins Nervensystem eingeschrieben und dort weder einer Entwicklung ausgesetzt noch durch historische Umstände veränderbar seien“,[22] und dem „Typus“ als „eine stofflich konkretisierte Abstraktion“[23], ausprobierte. Insofern die Rede von den Engrammen einen neurowissenschaftlichen Ansatz formuliert, wird mit ihm nicht nur die Frage nach einem Denkmodell angeschrieben, vielmehr wird der Bilderatlas zur Frage der Intelligenz und ihrer Konzeptualisierung. Der zwischenzeitlich „Typenatlas“ genannte Bilderatlas gibt einen Wink auf den Diskurs der Fotografie und der Wissenschaft wie sie z.B. der Fotograf August Sander in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickeln wollte. Sander wollte seine Portraitfotos von Deutschen nach „Archetypen“ und einer „Typologie“ ordnen.[24] Auch bei Sander geht es um ein Anlegen von „Mappen“[25], allerdings in einer hierarchischen Ordnung. Der Bilderatlas soll aus sich selbst heraus intelligibel werden. Doch wie bei Warburg so wird das Versprechen der Fotografie auch bei August Sander zum Problem, so dass das „Mappenwerk“[26] erst postum als Foliant re-konstruiert veröffentlicht wird.
Das physiologische Engramm, das Aby Warburg aus Richard Semons Schrift Mneme in die Kunst- und Kulturwissenschaft überträgt, bildet sich an der Schnittstelle von Gedächtnis- und Gehirnforschung heraus. Nach Wedepohl war Warburg davon überzeugt, „dass sich der Gebrauch dieser Pathosformeln mit unterbewussten Erinnerungen, genauer mit Eindrücken aus dem kollektiven Reservoir leiblicher und emotionaler Erfahrungen, […], erklären ließ“.[27] Richard Sermon hat 1904 dafür eine Physiologie des Gedächtnisses konzipiert, die sich aus einem neuartigen „Reizbegriff“ als „eine energetische Einwirkung auf den Organismus von der Beschaffenheit, daß sie Reihen komplizierter Veränderungen in der reizbaren Substanz des Organismus hervorruft“,[28] entwickelte. Semon verknüpft die Gedächtnisforschung mit der Evolutiontheorie über Engramme und beschreibt das Gehirn als „Organismus“. Anders gesagt, Engramme werden vererbt, woran Warburg mit seiner „Pathosformel“ zumindest im europäischen Kulturraum andocken konnte. Engramme sind selbst „historisch“:
„Bei den uns jetzt beschäftigenden historisch gegebenen Engrammen fällt das Eintreten des engraphischen Reizes in die Vergangenheit, der Organismus, wie wir ihn zur Untersuchung erhalten, befindet sich bereits im sekundären Indifferenzzustand. Nur die Latenzphase und die Manifestationsphase sind also unserer Untersuchung zugänglich. Der Schluß, daß hier auch wirklich ein Engramm vorliegt, kann sich demgemäß bei dieser Art der Beweisführung nur auf zwei Momente stützen: Erstens auf den Umstand, daß es sich um Eigenschaften der organischen Substanz handelt, die bald latent, bald manifest sind. Zweitens auf die Art und Weise, wie der Übergang aus der Latenzphase in die Manifestationsphase ausgelöst wird, d. h. auf den Nachweis, daß diese Auslösung den Charakter einer Ekphorie trägt.“[29]
Die Engramme werden auf diese Weise zu einem Problem der Semiologie. Bleiben die Engramme immer gleich oder verändern sie sich? Aby Warburg befindet sich in seinen kulturhistorischen Studien nicht zuletzt über Mnemotechniken in einer methodologisch schwierigen Situation. Nach seinen Erfahrungen in der Psychiatrie steht sowohl das Individuum auf dem Spiel wie das Leiden unter Engrammen durch „Ekphorie(n)“. Anders gesagt: es kehren aus dem Gedächtnis Einschreibungen immer wieder hervor, die unerwünscht sind. Der Bilderatlas reflektiert insofern ein Problem der Reproduktion und Wiederholung insbesondere der Antike oder antiker Formen, das zur Identifikation einlädt, indem es in ein Wissen transformiert wird, doch zugleich wie mit dem „Hosenkampf“ zur Satire eines historischen Wissens unter den Geschlechtern werden kann.[30] Die assyrischen Tonlebern auf Tafel 1 des Bilderatlasses präsentieren nicht zuletzt Engramme. Sie enthalten eine ganze Engraphie, um diese auf Lebern der Opferschafe applizieren zu können. Wenn die Engramme in der Opfertierleber vorzufinden sind, dann lässt sich um die Zukunft wissen.[31]
Auf der Tafel 1 werden vor allen Bildern der Antike materielle Wissenspraktiken miteinander konstelliert. Assyrische Opfertierlebern werden durch die Tonlebern genauso intelligibel wie einige tausend Jahre später der Himmel mit Sonne und Mond auf dem babylonischen Kudurru, einem Grenzstein des Königs Meli-Sipak II.[32] Bernd Scherer stellt die Ausstellung dezidiert in den Kontext von „Wissenssyteme(n)“: „Vor dem Hintergrund heutiger gesellschaftlicher Krisen und Transformationsprozesse, die durch die Kategorien der bestehenden Wissenssysteme nicht mehr erfasst werden, ist die Erinnerung an die im Mnemosyne-Projekt vorgeführte kulturelle Technik von größter Bedeutung.“[33] Dabei lässt sich bedenken, dass diese Formulierung vor dem Eintritt der Covid-19-Pandemie geschrieben worden ist. Denn im Frühjahr 2020 haben wir mit der Existenz und der epidemiologischen Dynamik des Sars-Cov-2-Viruses eine Wissenserschütterung erlebt, die tiefgreifender als der Anthropozän-Diskurs zur Umweltbelastung und Ressourcenausbeutung nicht nur „bestehende() Wissenssysteme“ angegriffen hat, sondern in Deutschland für wenige Woche gleichsam in Schreckstarre eingefroren hat.[34]
Der Bilderatlas Mnemosyne von Abi Warburg entsteht zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einer Zeit größter Wissenserschütterungen z.B,. von Weltkrieg und Weltwirtschaftskrise. Eine „Umwertung aller Werte“ (Nietzsche) ereignete sich ohne Zutun eines Philosophen nicht nur in der Kultur von Literatur, Malerei, Musik und Moral, vielmehr brachte der Erste Weltkrieg bereits eine deutsche und europäische Vorherrschaft der kulturellen Werte in der Welt ins Wanken. Roberto Orth und Axel Heil argumentieren mit ihrer „Wiederherstellung“ vor allem gegen Ernst Gombrich, der „Warburg als einen Wissenschaftler“ charakterisiert habe, der nicht das notwendige organisatorische Geschick und die methodische Stringenz besaß, um sein letztes Werk zum Abschluss zu bringen“.[35] Seit der Erstveröffentlichung von Ernst Gombrichs Biographie zu Aby Warburg 1983 erregt seine Sichtweise heftigen Widerspruch. Dagegen wollen Orth und Heil nun die „Ebene der Montage“ näher rücken und den „Reiz, in Quellen etwas neues herauszustellen,“ zugestehen.[36]
Um nur einige wenige gegensätzliche Haltungen zur Lektüre des Bilderatlas‘ zu nennen, seien George Didi-Huberman mit Atlas ou le gai savoir inquiet, L’œil de l’histoire (2001) und Sigrid Weigel mit ihrer Grammatologie der Bilder (2015) genannt. Didi-Huberman schreibt, dass der „Atlas […] seit Aby Warburg nicht nur die Formen – und also die Inhalte – sämtlicher »Kulturwissenschaften« oder Humanwissenschaften von Grund auf verändert“ habe, „sondern er hat auch zahlreiche Künstler angeregt, die Art und Weise, wie in den visuellen Künsten heute gearbeitet wird und wie sie präsentiert werden, in Form der Sammlung oder der Remontage völlig neu zu denken“.[37] Sigrid Weigel sieht Warburgs „Beitrag und Anregung (…) für die gegenwärtige Bildwissenschaft (…) weniger in der Klärung bildtheoretischer Fragen, wie sie in einer Grammatologie der Bilder interessieren, als in der Analyse der psychisch-intellektuellen Leistung symbolischen und bildnerischen Verhaltens in unterschiedlichen kulturellen Praktiken, die er als Möglichkeiten der Auseinandersetzung im Spannungsfeld zwischen Mythos und Logik, Bild und Zahl, Magie und Mathematik etc. interpretiert“.[38]
Der Bilderatlas Mnemosyne bleibt selbst als „Original“ ein Abenteuer der Wissensproduktion durch Formen und Gesten, Wiederholung und Transformation, Geschichtswissen und Einschreibungen, „Dreidimensionalität der Schrift“ und Konstellationen. Die Forschung am „Original“, wie es nun materiell zugänglich geworden ist, beginnt gerade erst. Methodologisch ist allerdings sehr zu wünschen, dass der kunsthistorisch-rekonstruierende Ansatz nur im Auftakt vorherrscht. Ernst Gombrichs diskreditierende Biografie bleibt nicht zuletzt einem positivistischen, angelsächsischen Wissenschaftsdiskurs geschuldet. Forschen aber heißt lernen und immer wieder das Wissen zu hinterfragen. Es bilden sich dann jene Praktiken als Konsens heraus, die sich zumindest vorübergehend als die besten erweisen. So wie sich das Virus Sars-Cov-2 mehr oder weniger permanent wandeln und nicht einfach aus der Welt schaffen lassen wird, werden auch immer wieder Praktiken an den Umgang mit ihm justiert werden müssen. Es wird nie einen bis ins Detail entschlüsselten Bilderatlas Mnemosyne geben.
Torsten Flüh
Aby Warburg: Bilderatlas Mnemosyne
Das Original
bis 30.11.2020
Haus der Kulturen der Welt
Ticket mit Zeitfenster
Aby Warburg: Bilderatlas Mnemosyne
The Original
Hrsg. Haus der Kulturen der Welt, Berlin und The Warburg Institute; Roberto Ohrt, Axel Heil, Text(e) von Roberto Ohrt, Axel Heil, Bernd M. Scherer, Bill Sherman, Claudia Wedepohl, Gestaltung von Axel Heil, Christian Ertel, fluid editions
Englisch
2020. 184 Seiten, 83 Abb.
gebunden mit Schutzkarton
44,00 x 60,00 cm
ISBN 978-3-7757-4693-9
200,00 €
ZWISCHEN KOSMOS UND PATHOS
Berliner Werke aus Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne
bis 1. November 2020
Gemäldegalerie, Kulturforum
Ticket mit Zeitfenster
NEU: VIRTUELLE TOUREN
Virtual Tour – Aby Warburg: Bilderatlas Mnemosyne exhibition at Haus der Kulturen der Welt
[1] Bernd Scherer: Der Bilderatlas im 21. Jahrhundert. In: Aby Warburg: Bilderatlas Mnemosyne – The Original. Hg. v. Haus der Kulturen der Welt, Berlin und The Warburg Institute; Roberto Ohrt, Axel Heil. Berlin: Hatje Cantz, 2020. (Zitiert nach Pressemitteilung ohne Seitenzahl)
[2] Karin Krauthausen: Zettelkasten. In: Susanne Scholz, Ulrike Vedder (Hg.): Handbuch Literatur & Materielle Kultur. Berlin/Boston: De Gruyter, 2018, S. 454.
[3] Walter Benjamin: Einbahnstraße [1928]. In: Gesammelte Schriften. Band IV.1. Hrsg. von Tillman Rexroth. Frankfurt am Main 1991: 83−148.
[4] Vgl. zum Buch „Einbahnstraße“ Torsten Flüh: Zeitung – Walter Benjamin. In: ders.: Flugblatt – Zeitung – Blog. Materialität und Medialität als Literaturen. Wien: Passagen, 2017, S. 155-168.
[5] Auf Krauthausens Formulierung ist zu entgegnen, dass die „Beziehung“ nicht nur „aktualisiert werden kann“, vielmehr muss sie allererst vom „Benutzer“ werden. Karin Krauthausen: Zettelkasten … [wie Anm. 2].
[6] Ebenda.
[7] Claudia Wedepohl: Über die Entstehung von Warburgs Bilderatlas Mnemosyne. In: Aby Warburg: Bilderatlas … [wie Anm. 1]. Original in Englisch: The Making of Warburg’s Bilderatlas Mnemosyne. S. 14.
[8] Ebenda.
[9] Ebenda.
[10] Vgl. dazu auch die „pur langage déïctique“ in Roland Barthes: La chambre claire. Note sur la photographie. Paris: Gallimard, 1980, 16.
[11] Roberto Ohrt und Axel Heil: Zum Nachleben der Mnemosyne. In: Ebenda S. 11.
[12] Magnus Hirschfeld: Sexualwissenschaftlicher Bilderatlas der Geschlechtskunde. Stuttgart: Julius Püttmann, 1930.
[13] Siehe dazu: Torsten Flüh: Gefeierte Enden der Sexualwissenschaft. Zum Festakt für Magnus Hirschfelds 150. Geburtstag im Haus der Kulturen der Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN Mai 18, 2018 16:46.
[14] Magnus Hirschfeld: Sexualwissenschaftlicher … [wie Anm. 11] S. 328.
[15] Ebenda S. 138.
[16] Ebenda S. 724.
[17] Ebenda S. 319-338.
[18] Roberto Ohrt und Axel Heil: Zum … [wie Anm. 10] S. 13.
[19] Zum Unfertigen als Semesterthema der Mosse Lectures vgl. Torsten Flüh: Das Versprechen der Geschichte. Barbara Naumann und Peter Geimer zum Semesterthema non finito … der Mosse-Lectures. In: NIGHT OUT @ BERLIN November 27, 2017 22:18.
[20] Magnus Hirschfeld: Sexualwissenschaftlicher … [wie Anm. 11] S. 2.
[21] Ebenda.
[22] Claudia Wedepohl: Über … [wie Anm. 7] S. 15.
[23] Ebenda.
[24] Vgl. dazu Torsten Flüh: Photographie als Schrift. Literaturwissenschaftliche Anmerkungen zu einem vielfältigen Medium. Saarbrücken: VDM, 2007, S. 45-65.
[25] Ebenda S. 63-64.
[26] Ebenda S. 65.
[27] Claudia Wedepohl: Über … [wie Anm. 7] S. 15.
[28] Richard Semon: Mneme. Leipzig: Wilhelm Engelmann, 1904, S. 12.
[29] Ebenda S. 88-89.
[30] Zum Hosenkampf vgl. Torsten Flüh: Von Melancholie und Hosenkampf zum Algorithmus. Zur Ausstellung Zwischen Kosmos und Pathos – Berliner Werke aus Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne in der Gemäldegalerie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 26. August 2020.
[31] Vgl. zum Zukunftswissen der Tonlebern: Torsten Flüh: Big Data aus dem Zweistromland. Drei Vorträge über das Zukunftswissen im Rahmen der Mosse-Lectures. In: NIGHT OUT @ BERLIN Mai 23, 2016 20:16.
[32] Aby Warburg: Bilderatlas … [wie Anm. 1] S. 30 und 31.
[33] Bernd Scherer: Der … [wie Anm. 1].
[34] Zur Wissenserschütterung siehe: Torsten Flüh: Wissenserschütterung. Zur Theaterpremiere Theater geht von Nils Foerster in der Brotfabrik. In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. Juni 2020.
[35] Roberto Ohrt und Axel Heil: Zum … [wie Anm. 10] S. 13.
[36] Ebenda.
[37] George Didi-Huberman: Atlas oder die unruhige Fröhliche Wissenschaft. Paderborn: Wilhelm Fink, 2016, S. 17.
[38] Sigrid Weigel: Grammatologie der Bilder. Berlin: suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 2015, S. 399.
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