„Wer Leidet der Schneidet/Wer Schneidet der Leidet“ oder John Heartfields visuelle Kombinatorik

Trauma – Material – Kombination

„Wer Leidet der Schneidet/
Wer Schneidet der Leidet“
oder John Heartfields visuelle Kombinatorik

Zur bahnbrechenden Ausstellung John Heartfield – Fotografie plus Dynamit in der Akademie der Künste

Bereits am Abend des 4. März[1] kündigte ein Ausschnitt der komplexen Montage einer zähnefletschenden Hyäne mit Zylinder die Ausstellung John Heartfield – Fotografie Plus Dynamit an der Glasfassade der Akademie der Künste am Pariser Platz vom „21.3.-21.6.20“ an. Es kam anders. Am Morgen des 2. Juni wurde die Ausstellung nun tatsächlich sang- und klanglos für den Publikumsverkehr nach Zeitfenster-Ticket geöffnet. Das ist schmerzhaft. Ein Einschnitt. Planmäßig wird die Ausstellung in modifizierter Weise ab 17. Januar 2021 im Museum de Fundatie in Zwolle, Niederlande, und ab 14. Juli 2021 in der Royal Academy of Arts, London, zu sehen sein. In Berlin werden sie immerhin bis 23. August wegen der anhaltenden Kontaktbeschränkungen weniger Besucher*innen sehen können. Ein Verlust. Denn diese Ausstellung verdiente Besucherströme. Gleichwohl überschneiden sich mit der Ausstellung von vorne herein digitale mit analogen Formaten, die ad hoc noch einmal digital verstärkt worden sind.

Die Deutschen – vielleicht besonders – waren noch nie besonders gut in der Bearbeitung eines Traumas. Der aktuelle Normalisierungswunsch während der andauernden COVID-19-Pandemie gibt einen Wink, dass frau/man sich wieder einmal dem Trauma nicht stellen können oder wollen. Die Ausstellung am Pariser Platz hält dafür gleich im ersten Raum mit einer multimedialen Inszenierung – Foto, Film, Sound – unter dem Titel „Wer Leidet der Schneidet/Wer Schneidet der Leidet“ von Marcel Odenbach, einer Auftragsarbeit der Akademie der Künste, eine andere Sichtweise bereit, die zugleich als Interaktive 360°-Panorama-Tour im Internet bereitgestellt worden ist. Die rhetorische Figur des Chiasmus als Titel gibt weiterhin einen Wink auf John Heartfields erste Fotomontage aus dem Weltkriegsjahr 1917/1918 mit dem handschriftlichen Motto „So sieht der Heldentod aus“ zwischen zwei Fotos von Hermann Vieth.[2] Zwischen den beiden übereinander montierten Fotos vom Weltkriegsschlachtfeld hält die Inschrift von Hand eine Wunde offen, um allererst auf sie hinzuweisen und sie zu verstärken.

Das nennt man eine Koinzidenz: Die John Heartfield-Ausstellung wendet sich mit dem „Foto als Waffe“[3] gegen Nationalismus wie den Nationalsozialismus, gegen Rassismus, gegen Faschismus, gegen Kapitalismus und gegen Militarismus. Themen, die John Heartfield vor 100 Jahren mit der Praxis der Fotomontage bearbeitet und visualisiert, kehren während der Pandemie wie unter einem Brennglas wieder. Populismus transformiert sich zu offen nationalistischen, faschistischen, rassistischen und militaristischen Drohungen und Befehlen vor der „Kirche der Präsidenten“ mit der Bibel in der Hand eines Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika. Das lässt sich nur Propagandafoto nennen oder zumindest ein irgendwie auch gründlich missglückter Versuch, mit der Bibel in der rechten Hand vor der episkopalen Kirche mächtig und wie bei den Evangelikalen vom Gott der Christen autorisiert zu erscheinen. Es lässt sich leicht als eine visuelle Praxis der Evangelikalen entschlüsseln, die um so mehr die amerikanische Ausprägung der englischen Staatskirche, der anglikanischen, verletzt und missachtet. Derartige (Selbst-)Darstellungen z.B. Adolf Hitlers hat John Heartfield nahezu systematisch aufgegriffen, dekonstruierend zerschnitten und entlarvend neu kombiniert.

Die Politik der Bilder und die Politik mit Fotografien hat in diesen Tagen Hochkonjunktur. Deshalb sind Fotografien nicht zuletzt Donald Trump so wichtig, dass er den Weg zur Kirche mit Staatsgewalt räumen lässt und Demonstranten ihr Recht auf freie Meinungsäußerung entreißt. Die John Heartfield-Ausstellung und der Katalog werden gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes. Das nun weitestgehend digital realisierte Veranstaltungsprogramm zur Ausstellung wird durch die Bundeszentrale für politische Bildung gefördert. Im Geleitwort stellen Werner Heegewaldt (Archiv der Akademie der Künste), Ralph Keuning (Museum de Fundatie) und Rebecca Salter (Royal Academy of Arts) Fragen, die sich zwischenzeitlich wie von selbst zu beantworten scheinen:
„Hat sich Heartfields Kunst der politischen Fotomontage überlebt? Oder sind andere visuelle Ausdrucksformen entstanden, die sein Prinzip der (De-)Konstruktion von Bildern künstlerisch weiterentwickeln? Bereits in der Weimarer Republik war die Fragmentierung der politischen Öffentlichkeit ein Kennzeichen. Politsatire bediente vor allem das eigene Lager. Wie sieht das heute aus? Sind durch die sozialen Medien Teilöffentlichkeiten entstanden, die überwiegend als Echoräume Gleichgesinnter und vorrangig der politischen Affirmation dienen? Ist der Dialog über Fakten nicht vielfach dem Dialog über Meinungen gewichen?“[4]   

Wie sähe eine Fotomontage von John Heartfield auf Donald Trumps Machtdemonstration aus? Die Covid-19-Pandemie hat den Kuratorinnen der Ausstellung Angela Lammert, Rosa von der Schulenburg und Anna Schultz für Berlin die gebührende Aufmerksamkeit verdorben. Angesichts der jüngsten Bild- und Sprach-Politik aus dem Weißen Haus, die bislang nicht auf dem Niveau von John Heartfield bearbeitet worden ist, wirken ihre methodologischen, wissenschaftlich fundierten Aufsätze im Katalog fast ein wenig harmlos, was sicherlich daran liegt, dass sie sich nicht vorstellen konnten, was sich Anfang Juni 2020 visuell und verbal in Washington abspielen sollte. „President Trump Delivers Remarks“ vom 2. Juni 2020, in denen er das Gesetz beschwört, um gleichzeitig mit dem Einsatz tausender Soldaten des Militärs zu drohen[5], wären für Heartfield Bildmaterial für Fotomontagen gewesen. Die Szene vor der episkopalen ST John’s Church in Washington, die historisch als „Kirche der Präsidenten“ gilt, vom 1. Juni hat das Weiße Haus als Video nicht veröffentlicht. Auch der Fototermin am 2. Juni vor dem Nationalschrein für Papst Johannes Paul II. in Washington, der Ekel und heftige Proteste der Katholischen Kirche in Amerika auslöste[6], bleibt eher semi-offiziell. Aber die Fotos existieren und kursieren im Internet und in den Printmedien.

Für John Heartfield wären die Fotos der Fototermine gerade unumgängliches Bildmaterial, weil sie im Rahmen des Termins immer die Selbstdarstellungen des Politikers als Präsidenten aufführen. Fototermine sind symbolische Handlungen, insofern Trump seinen massigen Körper vor die Kirche oder neben eine überlebensgroße Statue von Johannes Paul II. stellt. Es sollen Kontextualisierungen und Analogisierung zweifelsohne im Modus der Verkennung und Verfälschung vorgenommen werden. Insofern muss man sagen, dass Trump seinen Körper und sein Grinsen in das Foto mit Kirche oder Papst montiert, als sage er „Ich, Donald Trump, Präsident der USA, spreche im Namen der Kirche und Gottes“. Rosa von der Schulenburg schreibt dementsprechend zu Heartfields Fotomontagen:
„Der Einsatz visueller Rhetorik (wozu auch die Montagetechnik gerechnet werden kann) interessiert heute Forschende und Lehrende im Bereich der Bildsemiotik, der Medienwissenschaften, des Kommunikationsdesigns und des Produkt- und Marketingmanagements gleichermaßen. Die Montagetechnik spielt eine wichtige Rolle beim Einsatz rhetorischer Figuren wie Zitat, Kommentar, Hyperbel, Repetitia, Klimax, Antiklimax, Variation, Chiasmus, Konvergenz bzw. Kongruenz, Divergenz, Analogie, Mensch-Tier-Vergleich, Parabel, Antithese, Paradoxon, Ironie – um nur einige aus Heartfields Repertoire aufzuzählen.“[7]

Fotos oder kurz Pics werden bei Facebook oder Twitter heutzutage kaum auf ihre Konstruktion und Rhetorik befragt. Pics sind die Währung der Aufmerksamkeit in sozialen Medien, die mit „Gefällt mir“, „Love“, (neuerdings) „Umarmung“, „Haha“, „Wow“, „Traurig“ oder „Wütend“ per Klick entgolten wird. Auf der Fotoplattform Instagram werden die Fotos mit Herz, Kommentar und Schwalbe bewertet. Das schnell erfasste Pic für picture/Bild wird noch schneller durchgeklickt. Welche Rhetorik im Pic verwendet wird, sieht kaum jemand. Welche Wiederholungen und Standards der Selbst-Darstellung eingesetzt werden, interessiert nur nach der Anschlussfähigkeit und damit der Analogie. In „Trump mit Bibel vor ST John’s Church“ sehen all jene die Macht verkörpert, die in die visuellen Praktiken der evangelikalen Kirchen eingeübt sind. Das Bild ist stimmig für sie. Sie werden sich gar in ihrem Begehren, die göttliche Macht verkörpert zu sehen, bestätigt finden. Die evangelikale Macht des Göttlichen ist selbstredend total bzw. totalitär.[8] Dass es Trump dabei einzig und allein um eine weitere Lüge seiner Macht geht, wie John Heartfield sie in der Fotomontage Adolf, der Übermensch: Schluckt Gold und redet Blech 1932[9] dekonstruiert, erscheint nicht einmal als Montage in Fernsehnachrichten oder -magazinen.

Fotomontagen können insofern durch Figuren der „visuellen Rhetorik“ allererst die Konstruktion des scheinbar natürlichen oder wahren Ausgangsmaterials aufdecken, denn der Kopf der Montage stammt aus einem Foto von einem Auftritt Adolf Hitlers auf einer Kundgebung im Lustgarten in Berlin am 4. April 1932.[10] Rosa von der Schulenburg hat für die Fotomontage Hakenkreuzottern die komplexe visuelle Rhetorik analysiert und kontextualisiert.    
„Eine Fotomontage, die definitiv nur die Handschrift Heartfields trägt, erschien am 19. Oktober 1933 in der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung (AIZ). Zwischen der erläuternden Überschrift Zum Brandstifter-Prozess in Leipzig und dem kommentierenden Untertitel Sie winden sich und drehen sich und nennen sich deutsche Richter (Polysyndeton, Metapher) bilden zwei ineinander gewundene Schlangenleiber in formvollendeter Symmetrie Paragrafenkörper (Mensch-Tier-Vergleich, visualisierte Metapher) mit jeweils einem Kopf am oberen und am unteren Ende. Als Richter werden sie durch die zur Amtstracht gehörenden Baretts (Synekdoche) kenntlich. (…) Mit der Überschrift Hakenkreuzottern (Wortmontage, Neologismus durch „Kontamination“), dem gleichen Bildmotiv und der gleichen Untertitelung wie in der AIZ wurde Heartfields Fotomontage – nun in klassisch emblematischer Form – als Postkarte in Deutsch im tschechischen Exil gedruckt.“[11]

ohne Titel (um 1928)

Das Foto ist immer ein Aufriss der Zeit, den Roland Barthes in der Temporalität des «ça-a-été» beschrieben hat.[12] Es ist eine Wunde oder ein Schock, ein Schnitt, der dennoch den Praktiken des Fotografierens und im Porträt denen der Selbst-Inszenierungen unterliegt. Erst in einer komplexen Rahmung des Fotos durch Text-Bild-Montagen, wie sie Rosa von der Schulenburg für die Postkarte aus dem tschechischen Exil mit Überschrift und Untertitel analysiert hat, werden aus den fotorealistischen Schlangenkörpern der beiden Kreuzottern in ihrer Verschlingung mit piktographischen Elementen der Hakenkreuze und anthropomorphen Baretten entlarvende „Hakenkreuzottern“. Wie wurden nun die Fotomontagen generiert? Unterscheiden sich die sprachlichen von den bildlichen Montagen, die als Postkarte, wie von der Schulenburg es sieht, zum „Emblem“ tendiert?[13] Hat sich bei Heartfield die Renaissance-Praxis der Emblematik in die Moderne zur Fotomontage-Postkarte transformiert?   

Die Ausstellung und der Katalog John Heartfield – Fotografie plus Dynamit bieten eine methodologische Vielfalt, die nicht zuletzt wiederholt durch Archivfunde angestoßen worden ist. Angela Lammert widmet insbesondere zwei Aspekten der Archivfunde eine gesonderte Aufmerksamkeit. In ihrem Aufsatz Material Prozess Archiv kommt Heartfields „Sammlung von unregelmäßig beschnittenem Fotomaterial“ zum Zuge.[14] Ebenso befasst sie sich in ihrem Katalogbeitrag Bilder vom Gräuel als (nicht) benutztes Material mit dem durchaus verstörenden Fund eines „Konvolut(s) von Gräuelbildern“.[15] Beide Artikel bearbeiten insofern nicht nur neue Aspekte aus dem Nachlass, vielmehr forcieren sie die Frage nach dem Material der Fotomontagen, das entweder zur Montage bereits zugeschnitten und archiviert worden ist oder als Fotografie mit rückseitiger Beschriftung – „Komsomolzin Partisanin Tanja, von Faschisten zu Tode gequält im Dorf Petrischtschewo, Landkreis Vereisk, Bezirk Moskau“[16] – unbeschnitten beiseitegelegt worden ist. In einem größeren Kontext von Materialität, Material und Praktiken ihrer Be- und Verarbeitung in Literaturen und bildenden Künsten werden die Archivfunde zu einer methodologischen Herausforderung.[17]

Das gefundene Montagematerial, das in der Ausstellung z.B. mit Gewehren und Händen[18] besonders berücksichtigt wird, stößt eine neue Diskussion um John Heartfield als visuellen Künstler an. Lässt sich einerseits eine visuelle Rhetorik als politische Arbeitsweise ausmachen, so rückt mit den Archivfunden anderseits die Praxeologie der Fotomontage in die Aufmerksamkeit. Fotomontagen werden nicht zuletzt zu einem eigensinnigen Schauplatz des Wissens und der Wissenschaft. Das lässt sich bereits mit Adolf, der Übermensch: Schluckt Gold und redet Blech bedenken. Denn die rhetorische Figur wird damit visualisiert, dass Heartfield für den Oberkörper ein Röntgenbild als Wissensform benutzt. Das Röntgenbild legt ein verborgenes Wissen über den Körper mittels der wissenschaftlichen Methode der Röntgenstrahlen frei. Es funktioniert insofern als eine technologische Übertragung des Wissens vom menschlichen Körper auf den politischen Körper Adolf Hitler. Geröntgt und visualisiert wird ein korrupter Politik(er)körper. Lammert hat für das Material mehrere Fragen formuliert:
„Verortet man Heartfield heute nicht nur im politischen, sondern auch im die Grenzen der bildenden Kunst überschreitenden künstlerischen Milieu, stellen sich Fragen wie: Unterscheidet sich seine Materialsammlung von der anderer „Monteure“? Ist das in den Archiven Erhaltene ein Tagebuch ungenutzter Möglichkeiten? Werden „Gespenster aus der Vergangenheit“ sichtbar, die mit ihrer Auffindung gewissermaßen „aus der Zukunft“ unseren Blick auf das Thema neu justieren? Schließlich ist das „Werk als Verlauf“ und die Darstellung seiner Entstehung nicht mit dem Archiv und seiner Erfassung gleichzusetzen.“[19]     

Lammert stellt die Frage nach der Materialsammlung. Es gibt unterschiedliche Praktiken des Sammelns, die verschiedene Sammlungen generieren.[20] Sie zieht für ihren Vergleich „eine erst 2004 wieder aufgetauchte Mappe mit 82 Blättern“ zu Bertolt Brechts Kriegsfibel heran.[21] Diese wird auch in der Ausstellung präsentiert. Er „sammelte anders“, wie Lammert feststellt. „Bei den Fotografien und Zeitungsausschnitten, die Brecht während seines amerikanischen Exils auf einzelnen montierten Seiten in eine Buchabfolge brachte, handelt es sich um Recherchen zu Typen und Rollen in seinen Stücken.“ Besondere Aufmerksamkeit weckt eine Art Typologie von Küssen bzw. Lippenstiftabdrücken von Frauen, „soldier girls“, die durchaus sexistische und rassistische Züge aufweisen, wenn es etwa zur farbigen Lucile Steward heißt:
The rosebud design used by Lucile Steward is small but effective. It is made by pursing the lips to a point, then pressing them steadily against the back of the envelope until the lipstick is transformed. Care must be taken not move during the transfer, else design will be blurred. Lucile’s soldier is Private A. Harper whom she met five years ago when she took a with his family in Harlem. She works in a beauty parlor and writes Harper frequently.“[22]  

Die intimen Lippenstiftabdrücke für die Rückseite des Umschlags von Briefen an amerikanische Soldaten im Kriegsdienst sind ebenso erotisch bis durch die Benennung als „rosebud design“ an die Grenze zur Pornographie wie „designed“, also funktional, auf den Gebrauch hin hergestellt. Das Design der Lippen erlaubt eine semiologische Einordnung und Wiedererkennbarkeit. Der Kuss wird nicht nur zum Zeichen der Liebe. Vielmehr wird der er wie heute mit dem Design Research von Gesche Joost zum Ding im Semantic Web, das sich finden lässt. Doch dieses zeichenhafte Ding rosebud design ist durch seine Benennung mehrdeutig. Rosebud ist im Amerikanischen nicht nur die Rosenknospe, vielmehr noch eine auf den Punkt gebrachte Anspielung auf den Anus als Fetisch.[23] Nicht anders verhält es sich mit „Blossom Chan’s brother“ oder „Full lip design“ als soldatenbetreuende Maßnahmen. Im Krieg dürfen gar die ausgetauschten Lippenstiftabdrücke inzestuöse Züge wie bei Chan annehmen. Lammert schreibt:
„Es ist die Abfolge von Bildern, nicht die Montage auf einem Blatt, die Brechts Aufmerksamkeit weckt. Eine der nächsten Seiten zeigt denn auch ein Fototableau mit im Regal aufgereihten Männerhüten, deren Einkerbungen wie Umkehrungen der vorangestellten Kussmünder wirken. „Angewandtes Theater“ – so der Titel eines von ihm verfassten und zwischen die Blätter gelegten Textes – nennt Brecht diese Form des Sammelns …“[24]

Brechts Sammlung fasziniert nicht zuletzt durch Erotik, in die sie als Soldatenbetreuung jenseits der offiziellen Moralstandards verwickelt ist. Die Kussmünder der Soldatenbräute sollen medial als Design in die Köpfe der Soldaten passen, weshalb die Männerhüte entsprechen eingekerbt sind. Brecht hat den Begleittext ebenfalls ausgeschnitten, der das Kriegsdesign der Kussmünder offen formuliert: „There are many ways of building and maintaining the morale of a fighting man. No way is better, though, than the simplest of these: mail from home. And no mail from home is more eagerly received than mail from a soldier’s girl.“ Im Design – „rosebud design“, „full lip design“ – überschneiden sich „Bildsemiotik“ und psychologisch-sexuelle Manipulation im Dienste der Kriegsmaschinerie. Bei aller praxeologischen Anlage der Sammlung für ein „Angewandtes Theater“ dürfte Bertolt Brecht nicht ganz unempfindlich für Passgenauigkeit von Kussmündern und Männerhüten gewesen sein. Dagegen ist John Heartfields Sammlung nach Lammert weit funktionaler angelegt.
„Sie waren Material für Buchumschläge und nicht zuletzt für Motive der Fotomontagen, Und: Der Monteur selbst stellt sich in den gemeinschaftlichen Projekten als Material zur Verfügung.“[25]  

So sieht der Heldentod aus

Welche Rolle spielt das Material, das in der Praxis der Fotomontage von Heartfield nicht verwendet wird? In ihren Überlegungen zu den „Gräuelbildern“ kommt Lammert auch auf So sieht der Heldentod aus zu sprechen. Von Heartfield wurde diese Montage selbst als Urszene der Fotomontage als „Widerspruch“ 1967 in einem Gespräch mit Bengt Dahlbäck verortet.[26] Der Propagandabegriff „Heldentod“ wird rhetorisch mit „den Aufnahmen der verwesenden Körper“ kontrastiert[27]. Der „Heldentod“ auf den Fotos widerspricht vor allem den Denkmälern und Narrativen, in denen er als glorios, als schöner Tod dargestellt wird. Doch wenn Heartfield die beiden Fotos übereinander montiert hat und der handschriftliche Eintrag als Untertitel sowie als Titel dazwischen gesetzt wird, dann erscheint er dort auch als Reaktion auf ein Trauma wie Wunde im Griechischen τραύμα. Das Trauma ist noch keine Gräuelbild und schon gar keine Fotomontage. Heartfield selbst war offenbar nicht auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs. Doch das Trauma wird von ihm zum Material transformiert. Der „Widerspruch“ kam nachträglich hinzu, was für einen „deutschen Mann“ recht üblich sein dürfte.
„Das ergab natürlich schon wieder einen Kontrapunkt, einen Widerspruch, und es sagte etwas anderes aus. Das war dort die Idee. Das war mir noch nicht so klar, wo das hinführte und dass es bei mir zur Fotomontage führte.“[28]   

Krieg und Leichen – Die letzte Hoffnung der Reichen (1932)
„Hyäne mit Zylinder und „Pour le mérite“. Der „Pour le mérite“ war der höchste preußische Kriegsorden, Heartfield macht ihn zum „Pour le profit“! Diese AIZ-Ausgabe wurde 1932 beschlagnahmt und auf Protest namhafter Schriftsteller und Künstler wieder freigegeben.“ Heartfield Online

Aus der ungeheuerlichen Materialfülle der Ausstellung und des digital erschlossenen Nachlasses von John Heartfield entspinnt sich ein Netzwerk künstlerischer Praxis mit anderen Künstler*innen, politischen Aktivitäten, biographischen Verwerfungen, Materialien und Fotomontagen die medial zwischen Theaterinszenierungen, Buchumschlägen, Illustrationen für Illustrierten, Postkarten und Plakaten etc. wandern. Es spricht einiges dafür, dass die Digitalisierung, die Ausstellung und der Katalog nicht einfach ein Abschluss sind, vielmehr eröffnen sie eine Anzahl neuer Anfänge und Forschungsansätze im Bereich der visuellen Medien. Es gibt bei Heartfield Fotomontagen, die durch theatralisch, akrobatische Aktionen vielleicht sogar aktivistische Performances wie Was geht hier vor? Bildmaterial generiert wurden, um das Material in So macht man Dollars anders zu kombinieren. Aus der Kombinatorik der Elemente einer Fotomontage entspringt plötzlich ein Widerstand gegen Bilderfluten und Datenströme.

Torsten Flüh

Postscriptum: Die Ausstellungen im Museum de Fundatie und in der Royal Academy of Arts in London werden andere Schwerpunkte setzen. In Zwolle wird John Heartfields Zeit in der DDR und in London das Exil stärker berücksichtigt werden. Die Struktur der Ausstellung bleibt bestehen. Der Katalog wird in weiteren Sprachversionen erscheinen. Rosa von der Schulenburg hat als Leiterin des Archivs und Kuratorin 900 Arbeiten für die Ausstellungen gesichtet. Aus konservatorischen Gründen können nicht an allen Orten die gleichen, meist äußerst fragilen Arbeiten gezeigt werden. Insofern wird jede der drei Ausstellungen einmalig gewesen sein.

John Heartfield
Fotografie plus Dynamit
Akademie der Künste
Pariser Platz
bis 23. August 2020
mit Online-Ticket
Di – So 11–19 Uhr, letzter Einlass: 18 Uhr

Kosmos Heartfield
Virtuelle Ausstellung

Interaktive 360°-Panorama-Tour

Heartfield Online
Neubearbeitung und Digitalisierung des Nachlasses

Katalog:
John Heartfield.
Fotografie plus Dynamit
Angela Lammert, Rosa von der Schulenburg und Anna Schultz im Auftrag der Akademie der Künste, Berlin (Hg.)
Akademie der Künste, Berlin / Hirmer Verlag 2020
312 Seiten, 250 Abbildungen
ISBN 978-3-7774-3442-1
€ 39,90
€ 29,90 (Angebot limitiert bis zum 23.8.2020)


[1] Zum 4. März in der Akademie der Künste siehe: Torsten Flüh: Von der Liebe zu Büchern und dem Hass. Zur Buchpremiere von Ingo Schulzes Roman Die rechtschaffenen Mörder und dem Buchhandel in Zeiten der COVID-19-Pandemie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 31. März 2020.

[2] Heartfield online: So sieht der Heldentod aus. (online)

[3] „BENÜTZE FOTO ALS WAFFE!“ ist der Titel einer Seite „(z)ur Ausstellung der Arbeiten von John Heartfield auf der Großen Berliner Kunstausstellung“ von 1929 in der AIZ (Arbeiter Illustrierte Zeitung). Siehe: Angela Lammert, Rosa von der Schulenburg, Anna Schultz (Hrsg.): John Heartfield – Fotografie Plus Dynamit. München: Hirmer, 2020, S. 39.

[4] Werner Heegewaldt, Ralph Keuning, Rebecca Salter: Geleitwort. In: Ebenda S. 8.

[5] The White House: President Trump Delivers Remarks 02.06.2020.

[6] Erzdiözese Washington: USA: Erzbischof von Washington kritisiert Trumps Besuche bei Kirchen. In: Vatican News 03 Juni 2020, 11:37.

[7] Rosa von der Schulenburg: Hakenkreuzottern. Zur visuell-verbalen Rhetorik von Heartfields Fotomontagen. In: Angela Lammert, Rosa von der Schulenburg, Anna Schultz (Hrsg.): John … [wie Anm. 3] S. 54.

[8] Erstaunlich ist allerdings, dass die Pressestrategen die Verfänglichkeit dieser Fototermin-Inszenierung selbst erkannt haben. Denn auf Instagram wird vom White House am 2. Juni lediglich ein vermeintlich entschlossen zur St. John’s Church marschierender Präsident mit dem Text bzw. der irreführenden Bildbeschriftung „@realDonaldTrump walks from the White House to the Historic St. John’s Church that was damaged during a night of unrest.“ gepostet. (Instagram)

[9] Heartfield online: Adolf, der Übermensch: Schluckt Gold und redet Blech (online)

[10] Vgl. Angela Lammert, Rosa von der Schulenburg, Anna Schultz (Hrsg.): John … [wie Anm. 3] S. 44.

[11] Rosa von der Schulenburg: Hakenkreuzottern… [wie Anm. 7] S. 57-58.

[12] Roland Barthes: La chambre claire. Note sur la photographie. Paris: Gallimard, 1980, S. 120.

[13] Rosa von der Schulenburg: Hakenkreuzottern… [wie Anm. 7] S. 58.

[14] Angela Lammert: Material Prozess Archiv. In: Angela Lammert, Rosa von der Schulenburg, Anna Schultz (Hrsg.): John … [wie Anm. 3] S. 69.

[15] Angela Lammert: Bilder vom Gräuel als (nicht) benutztes Material. In: Ebenda S. 97.

[16] Ebenda.

[17] Vgl. zur Materialität und dem Material auch: Torsten Flüh: Flugblatt – Zeitung – Blog. Materialität und Medialität als Literaturen. Wien: Passagen, 2017.

[18] Siehe: Heartfield online: ohne Titel [Gewehre, Bajonette, Dolche, Kanone und Hand] (online)

[19] Angela Lammert: Material … [wie Anm. 14] S. 70.

[20] Vgl. zum Sammeln: Von den Energien und dem Zwischen des 禮/Lǐ. Eine Fortsetzung zu Lee Mingweis 禮/Lǐ Geschenke und Rituale. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. Mai 2020

[21] Angela Lammert: Material … [wie Anm. 14] S. 70.

[22] Transkription nach Foto aus der Ausstellung.

[23] Siehe Wiktionary rosebud.

[24] Angela Lammert: Material … [wie Anm. 14] S. 71.

[25] Ebenda S. 73.

[26] Ebenda S. 102 und Fußnote 19.

[27] Ebenda S. 102

[28] Ebenda.

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