Wissen – Kosmos – Musik
Vom Zauber der Jugend und der Musik
Zur fulminanten Eröffnung des Musikfestes 2022 mit dem Concertgebouworkest Amsterdam unter der Leitung von Klaus Mäkelä
Selten, sehr selten wurde der Berichterstatter auf so vorbehaltlose Weise von einer Dirigent*in überrascht und begeistert. Ein generationeller Einschnitt. Klaus Mäkelä hat das Concertgebouworkest verwandelt. So intensiv und inspiriert habe ich überhaupt selten ein philharmonisches Orchester musizieren gehört. Es muss am 6. September 2017 gewesen sein, dass ich beim Musikfest das Amsterdamer Spitzenorchester unter Daniele Gatti hörte – und es als solide, uninspiriert empfand. Ich schrieb nichts. Am 4. September 2012 hatte mich das Orchester unter seinem damaligen Chefdirigenten Mariss Jansons mit Edgar Varèses Amérique begeistert. Gatti blieb nicht lange Chefdirigent. 2018 wurde der Vertrag aufgelöst. Seit der gerade angebrochenen Saison 2022/2023 ist der blutjunge, sechsundzwanzigjährige Klaus Mäkelä künstlerischer Partner und wird ab 2027 offiziell 8. Chefdirigent des traditionsreichen Orchesters.
Klaus Mäkelä ist die aktuelle Sensation im globalen, philharmonischen Musikbetrieb. Während auf Berliner U-Bahnhöfen mit dem Musikfest-Plakat vor allem junge Männer mit Hoodies des Lables Live Fast Die Young bzw. LFDY rumlaufen, lebt Klaus Mäkelä seine Dirigentenkarriere in einer Art Über-Schall-Geschwindigkeit. Am Sonntagabend dirigierte er Kaija Saariahos kosmologisch-spektrale Komposition Orion und Gustav Mahlers 6. Symphonie. Das Programm wird er am Mittwoch ebenso in Amsterdam zur Saisoneröffnung dirigieren. Zum Zauber der Jugend gehört bei Maestro Mäkelä, dass er sich völlig unbefangen bis ins Groteske, hochkonzentriert, feingliedrig am Pult bewegt. Beim Schlussapplaus und den Ovationen wirkt er fast schüchtern. Das wirft die Frage auf, wieviel er von der Musik weiß, die er so virtuos zum Klingen bringt. Möglicherweise entspinnt sich nicht zufällig gerade an Gustav Mahlers 6. Symphonie immer wieder die Frage nach dem Wissen in der Musik. – In der Mediathek der Berliner Festspiel steht das Eröffnungskonzert bis 3. September zu Verfügung.
Zur Eröffnung trat der Intendant des Musikfestes Berlin, Winrich Hopp, ans Mikrofon vor der gänzlich ausverkauften und vollbesetzten Philharmonie. 2020 und 2021 fand das Musikfest unter strengen Regeln zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie statt. Nur jede zweite Reihe wurde mit Maskenschutz besetzt. Im August 2020 reichte noch eine Stoffmaske.[1] September 2021 waren FFP2-Masken Pflicht geworden.[2] Gelegentlich wurde damals extra provokant gehustet. Am Sonntagabend war dergleichen Störendes nicht zu hören. FFP2-Masken wurden zwar empfohlen, doch mehr als die Hälfte trug keine mehr. Man kann nur hoffen, dass der Corona-Horror nicht zurückkehrt. Dafür rüttelt Wladimir Wladimirowitsch Putins Kriegshorror Europa und die Welt, nicht zuletzt die Kulturwelt durch. Deshalb war Winrich Hopp auf die Bühne gekommen, um an den russischen Angriffskrieg und das Schicksal der Musikkultur in den bombardierten Kriegsgebieten in der Ukraine zu erinnern. Für Dienstag, den 6. September, wurde zusätzlich das Konzert des Odessa Philharmonic Orchestra unter der Leitung seines Chefdirigenten Hobart Earle mit Werken ukrainischer Komponisten und der 2. Symphonie von Jean Sibelius ins Programm genommen. Tamara Stefanovich wird als Pianistin mitwirken. Sie spielte im letzten Jahr mit dem Mahler Chamber Orchestra unter der Leitung von George Benjamin Igor Strawinskys späte Komposition Movements.
In der neueren Musik der Gegenwart gibt es gerade für das Symphonieorchester eine Vorliebe für, sagen wir, den Kosmos und die Sterne. Kaija Saariahos dreiteiliges Stück Orion für Orchester mit den Teilen Memento Mori, Winter Sky, Hunter von 2002 ist ein Beispiel dafür.[3] Am 26. Mai 2022 war an gleichem Ort die Uraufführung von Erkki-Sven Tüürs Lux Stellarum mit den vier Sätzen „Fading Stardust. Calmo e brillante, Dancing Asteroids, Scherzando, con brio, Litany of the Dying Stars. Misterioso e doloroso und Floating Galaxies. Con fluidità“ als Auftragswerk der Stiftung Berliner Philharmoniker gemeinsam mit der Tonhalle Zürich zu hören. Paavo Järvi dirigierte die Berliner Philharmoniker, die das Musikfest zusammen mit den Berliner Festspielen ausrichten. Lux Stellarum wie Orion weisen eine ähnlich große Instrumentation auf. Kaija Saariaho legt wert auf ein großes Schlagwerk mit Crotales, Glockenspiel, Vibrafon, Marimba, Xylofon, Glocken, Glockenspiel, Triangel, Shell Chimes, Glass Chimes, Bass Drum, Klangschalen etc. Crotales und Vibrafon werden nach den Praktiken der französischen Spektralisten nicht nur geschlagen, sondern mit dem Bogen zum Klingen im Obertonbereich gebracht.
Erweiterte Spielpraktiken und der Einsatz des Schlagwerks für Klangfarben statt exakte Rhythmen sind für die Spektralisten der 1970er Jahre wie Hugues Dufourt, Gérard Grisey, Tristan Murail und Michaël Lévinas prägend.[4] Man könnte sagen Kaija Saariahos Odeon beginnt mit einem wenig rhythmischen, dafür klangfarbigen Memento mori und endet mit einem rhythmischen Hunter. Die 8 Pauken werden allerdings eher traditionell zur Akzentuierung eingesetzt. Muss man Orion also auf die griechische Mythologie des Jägers Orion beziehen, der von der griechischen Göttin der Jagd, Artemis, getötet wird und als ein „Memento mori“ zu einem Sternenbild am Himmel verdichtet, komponiert wird? Wie narrativ ist die Musik von Kaija Saariahos? Olaf Wilhelmer legt die mythologische Erzählung durch das „Sternbild (…) zum Sinnbild einer Musik über den Kontrast himmlischer Statik und irdischer Motorik“ nahe.[5] Doch das Sternbild bewegt sich am Himmel ebenso. Peter Laki hatte zur Uraufführung auf die Überschneidung von „Images of the Night, dreams, myths, and distant mysteries“ in Saariahos Arbeiten hingewiesen.[6] Oder zerlegt Kaija Saariahos die Musiktradition, indem sie die Klangfarben in die Obertöne hinauftreibt und den Rhythmus dagegen führt?
Die Spektralmusik will nichts erzählen, allenfalls die Musik in ihren Grenzen und über ihre Grenzen hinaus thematisieren. Im Teil Winter Sky gibt es Passagen, die weniger an ein Naturbild erinnern als vielmehr an rhythmische Maschinen. Klaus Mäkelä macht das hörbar. Der besonders hell leuchtende Sternenhimmel im Winter kehrt ständig wieder und verschwindet. Der Sternenhimmel, an dem erst einmal Bilder von Punkt zu Punkt eingezeichnet werden müssen, an dem Bilder aus einem Nebel, dem Orionnebel entstehen, kann auch als Paradigma für die ständige Wiederholung und Wissenseinschreibung gedacht werden. Montiert und verschiebt Kaija Saariaho in Orion also Kompositionselemente, die verschiedene Praktiken in der Musik nachforschen und nachhören lassen? Intensiv wird diese Musik vor allem, durch die symphonische Vielfalt im, sagen wir ruhig, Orchesterapparat. Eine Geschichte wird kaum in Memento mori, Winter Sky und Hunter erzählt, selbst dann nicht, wenn man die Mythologie auf die Komposition appliziert. Aber vielleicht haben wir etwas mehr hören gelernt.
Dagegen schlägt Erkki-Sven Tüür mit Lux Stellarum einen entschieden stärkeren narrativen Modus an. Kehrt das Erzählen mit „Fading Stardust. Calmo e brillante“ etc. in die zeitgenössische Musik zurück? Einerseits hat Tüür das Konzert als nahezu klassisches Solo-Konzert mit großem Orchester für den Flötisten Emmanuel Pahud komponiert, andererseits werden kosmische Ereignisse mit nach klassischen Modi formulierten Tempoangaben intoniert. Die sinnliche Verknüpfung von visuellen Ereignissen mit akustischen über die Titel der Sätze wirkt stärker als bei Saariaho. Das Klangspektrum und die erweiterten Spielweisen werden vor allem mit der Flöte in äußerste praktische und akustische Bereiche geführt. Allerdings fehlen bei Tüür mythologische Anspielungen gänzlich. Trotzdem gibt es einen stärkeren Erzählgestus in seiner Komposition. Zur Werkeinführung schreibt Volker Tarnow im Programm:
„Kosmische Klangbilder faszinieren Tüür seit jeher. Sein heute uraufgeführtes und Emmanuel Pahud gewidmetes Flötenkonzert Lux Stellarum verwandelt unterschiedliche astrale Ereignisse in Töne, wobei vorwiegend raffinierte Schlagzeugeffekte, aber auch der Einsatz von Glockenspiel, Vibrafon und Zimbeln die Lux stellarum, die Lichtspiele des Universums, akustisch abbilden. Auch Flüstergeräusche des Solisten und auf mehreren Tönen gleichzeitig auszuführende Triller werden als Effekte eingesetzt.“[7]
Anders als Kaija Saariaho aus Helsinki stellt Erkki-Sven Tüür von der estnischen Insel Hiiumaa keine Fragen an die Musik und ihre Fähigkeit „akustisch ab(zu)bilden“. Tüür konstruiert eine Repräsentationslogik in seiner Komposition. Er ist damit recht erfolgreich geworden und wird international von großen Orchestern nicht zuletzt mit der Unterstützung des in Tallinn geborenen und mit Tüür befreundeten Stardirigenten Paavo Järvi aufgeführt. Tüür erweitert das akustische Zeichenmaterial im Dienste des „klassische(n) Tonsystem(s)“, wie Tarnow es nennt. Es zielt auf eine Verständlichkeit der Musik. Besonders hohe Töne machen besonders helles Sternenlicht hörbar. Mit Lux Stellarum, das als Auftragswerk der Berliner Philharmoniker Obertöne astrale Lichteffekte hörbar und quasi synergetisch sichtbar macht, schreibt er eine Semiologie fort, die in der Moderne in Frage gestellt wird. Die Uraufführung wurde frenetisch aufgenommen. Doch für mich war diese Art der Musik, in dem jedem Ton eine Bedeutung gegeben wird, eher unbefriedigend. Schöne Musik. als gäbe es keine Mehrdeutigkeiten und Widersprüche, alles, ja, jeder Ton lässt sich verstehen.
Der Exkurs auf Lux Stellarum war in dieser Besprechung wichtig, weil Gustav Mahler in seiner 6. Symphonie die Musik in ihrer akustischen Zeichenlogik befragt und, wie ich sagen möchte, auflöst, ja, sie befreit. Mit äußerster Intensität und einem vielleicht traumwandlerischen Musikverständnis dirigiert Klaus Mäkelä das Concertgebouworkest. Der Hammerschlag, Holz auf Holzblock klang für mich noch stumpfer, tonloser(!) als bei Andris Nelsons mit dem Boston Symphony Orchestra am 5. September 2015. An diesem tonlosen Hammerschlag auf dem Konzertpodium scheidet sich die Musikgeschichte. Gustav Mahler macht die 6. Symphonie selbst zum Rätsel, in dem die Musik nicht mehr nach einer musikologischen Zeichenlogik funktioniert. Er hatte das 1904 ausdrücklich an den Musikologen Richard Specht formuliert:
„Meine VI. wird Rätsel aufgeben, an die sich nur eine Generation heranwagen darf, die meine ersten fünf in sich aufgenommen und verdaut hat.“[8]
Lassen sich die Rätsel lösen, die die Musik aufgibt?[9] Und vor allem: Lassen sie sich in den Kategorien von biographischer Erzählung als Sinn der Musik lösen, wie es zur Praxis der Musikologie gehört? Ein Novum in der 6. Symphonie sind 3 Hammerschläge, die nach Mahler ausdrücklich nicht metallisch klingen sollen. Was passiert mit dem Schlag und seiner einmaligen oder zweimaligen Wiederholung? Wie oft soll der tonlose Hammerschlag zu hören sein? Mahler hat das während seines Komponierens mehrfach überdacht. Einmal? Zweimal? Dreimal? Viermal? Die berühmten Hammerschläge sind wichtig für die Musik und ihre Geschichte. In der Musikgeschichte sind die metallischen Hammer der kreiselnden Maschinenmusik bei Richard Wagner in der Ouvertüre des Siegfried aus dem Ring des Nibelungen wichtig. Sie instrumentieren leitmotivisch die Kraft und Produktivität nicht nur des mythologischen Helden, vielmehr noch der Industrialisierung. Sie funktionieren als mehrdeutige akustische Zeichen. Allerdings hat erst Pierre Boulez mit hundertjähriger Verspätung die Maschinenhammer der Industrialisierung und industriellen Revolution 1976 im Bayreuther Festspielhaus hörbar werden lassen. Bei Mahler soll der Hammerschlag rätselhaft dumpf bleiben.
Der wiederholte Hammerschlag im 4. Satz der 6. Symphonie wird für Gustav Mahler selbst bei der Revision zu einem Punkt des Zweifels. Soll er ihn zweimal oder dreimal hören lassen? Bei der Revision 1907 wird der dritte Schlag auf Takt 783 gestrichen, gelöscht, was sogleich bei mehreren Musikologen eine biographisch-schicksalhafte Erzählung angestoßen hat. Möglicherweise ging es Mahler indessen genau darum, die nach Sinn rufende Dreimaligkeit zu unterbinden. Der Hammerschlag soll vor allem nicht klingen und gehört doch zur Komposition wie zur Musik. Nachdem sich zuvor durch die Streicher in höchsten Tonlagen „alpine() Klanglandschaften“ (Olaf Wilhelmer) aufgetürmt haben. An dem wiederholten und gleichwohl in der Musik einzigartigen Hammerschlag, für den das Concertgebouworkest einen großen Holzblock mit einem Holzhammer einsetzte, entscheidet sich die Frage nach der Musik und ihrer Bedeutung. Der Schlag soll hohl, leer klingen. Er erweitert das Klangspektrum und ist doch kein Ton mehr. Jedes Orchester von Rang muss sich für den musikhistorischen Hammerschlag ein eigenes Instrument konstruieren!
Was ist Musik? Und was ist ihr Material? Klaus Mäkelä treibt sie im ersten Satz bis zur Groteske. In der 6. Symphonie wird ein extremes Verhältnis von Ordnung und Unordnung durchgespielt. Die Ordnung der klassischen Kompositionsweisen steht auf dem Spiel. Denn „zur Auflösung jeglicher Ordnung tendierende() Felder (beanspruchen) viel Raum“, um die Musik allererst hervorzubringen. Die „Welt des Marsches“, wie er in der Symphonie immer wieder anklingt, lässt sich als eine der extremen, aber ebenso fatalen Ordnung hören. Sie ist eine vermeintliche Ordnung des Krieges. Der Krieg, der in aller jüngster Zeit, ja, genau in diesem Augenblick als geordnete, generalstabsmäßige „Operation“(!) stattfinden soll, bringt nicht nur Unordnung und Zerstörung, er wird selbst zum Feld der Unordnung auf dem um Ordnung gerungen wird. Um die Musik in ihren Extremen auszuforschen, schneidet Mahler, die „Auflösung jeglicher Ordnung“ gegen die des Marsches oder umgekehrt. Mahler lässt den Marsch nur noch als zu erinnerndes Ordnungsprinzip im Schlussteil nachklingen, um abrupt abzubrechen. Vielleicht war der Ordnung verheißende Takt des Marsches immer schon eine Lüge, die nun im Zeitalter des Internets als Fiktion aufbricht. Die große Lüge von Putins Angriffskrieg besteht darin, dass er im Sinne des Moskauer Patriarchats Ordnung bringe.
Mahlers 6. Symphonie lässt sich als eine Materialschlacht der Instrumente und des Klanges formulieren, durch die er ein nie zuvor gehörtes Spektrum an Klang hervorgebracht hat. Doch das Material ist nicht einfach nur eine Quantität oder ein Ursprüngliches aus dem Musik gemacht wird. Historisch stand der 1. Weltkrieg erst noch bevor. Dennoch entfacht Mahler einen Krieg im Orchester. Vielmehr wird von Mahler das Material in der Produktion von Klang und Musik allererst in Grenzbereichen hervorgebracht. Dem Holzhammer oder „Axthieb“, wie es einmal von Mahler heißt, stehen die Glocken gegenüber, die nicht mehr und nicht weniger als Glocken im Klangspektrum sein sollen. Sie können sich nicht mehr als Ruf zum Gottesdienst durchsetzen. Kein Trost, stattdessen ein tonloser Hammerschlag. Auf diese Weise wird das Material nur zu einem solchen, indem es praktisch eingesetzt wird. Im Verhältnis zu den Klangerzählungen von Richard Wagner, bei dem jeder Ton sich semiologisch einordnen lässt, und die Hammerschläge Mimes im Siegfried ebenso die Maschinenhammer in den Eisengießereien und Maschinenbauanstalten aufrufen, entrümpelt Mahler mit der Sechsten die Musik und ihr Material von Erzählungen und Zeichen- bzw. Tonlogik.
Der zweite Satz Andante moderato gelingt Klaus Mäkelä mit dem Concertgebouworkest besonders harmonisch und intensiv nach dem grotesken Unordnungsgewitter des ersten Satzes. Woher kommt Mäkeläs Musikwissen? Einerseits ist er in einer Musikerfamilie aufgewachsen. Andererseits fällt beim Dirigieren auf, dass er nicht vom Blatt dirigiert. Er muss sich die Sechste mit ihrem gewaltigen Notenvolumen eingeprägt haben. Wenn zwei Seiten dirigiert sind, blättert er wie im Traum oder in Trance um. Er gibt die Einsätze äußerst präzise und scheut sich vor keiner ungewohnten Geste. Wirkte Andris Nelsons 2015 „sportlich“, so dirigiert Mäkele tänzerisch. Doch es ist keine tänzerische Leichtigkeit, eher eine ungekannte Ernsthaftigkeit im Ringen um die Komposition. Dass das Publikum die Musik durch die Körperlichkeit des Dirigats verstünde, glaube ich nicht. Aber beim Marschthema nimmt sein ganzer Körper stramme Haltung an. Fast knallen die Hacken zusammen. Beherrscht er die Musik? Oder beherrscht sie ihn? Außergewöhnliche kognitive Fähigkeiten? Daniel Barenboim dirigiert aus einem profunden Musikwissen heraus. Simon Rattle durchdenkt jede Note. Klaus Mäkelä verausgabt sich völlig zumindest, wenn er die Sechste von Mahler dirigiert. Es bleibt ein Rätsel wie er es macht, aber er macht es mit einer Spur jugendlicher Unbefangenheit.
Der Angriffskrieg des „Herr(n) Putin“, wie Claudia Roth, Staatsministerin für Kultur und Medien, ihn in ihrer Rede auf dem Empfang des Botschafters der Niederlande in Deutschland emotional nennt, hat nicht nur die Zerstörung einer kulturellen und bildungspolitischen Infrastruktur – Theater, Konzerthäuser, Schulen etc. – in der Ukraine zum Ziel, er soll die aktuelle ukrainische Kulturszene und Kultur in ihrer Pluralität stellvertretend und vorausschauend für ganz Europa auslöschen. Männliche Orchestermusiker müssen für die Ukraine gegen Putin zur Waffe greifen. Orchester werden zerrissen. Das Odessa Philharmonic Orchestra muss in Moldavien proben. Nach mehr als 6 Monaten, mehr als 180 Tagen, mehr als 4320 Stunden Angriffskrieg auf den souveränen Staat Ukraine erinnerte Claudia Roth daran, dass Kultur und philharmonische Orchester nicht irgendein Beiwerk, sondern nach dem Willen und der Kriegserklärung, dem Krieg der Rhetorik Wladimir Putins ein strategisches Kriegsziel geworden sind. Wir wissen nicht, ob und wie für Klaus Mäkelä, der neben Helsinki, Oslo, Amsterdam, Paris und Berlin durch Europa zu Spitzenorchestern reist, um mit ihnen zu arbeiten, der russische Angriffskrieg eine Rolle spielt. Ganz wird es ihn nicht unberührt lassen, denn er hörte Claudia Roth, die ihm zuvor überschwänglich gratuliert hatte, aufmerksam zu.
PS: Abgesehen von der enormen Begeisterungsfähigkeit und Dirigierkunst Klaus Mäkeläs gibt er der Kultur der philharmonischen Orchester einen belebenden Schub. Mit Mäkelä, so die Hoffnung der internationalen Orchestermanager und des Musikbetriebs, wird auf einmal klassische Musik für Zwanzigjährige Instagramuser und Influencer sexy. Könnte man ja mal reinhören. LFDY. Möge Maestro Mäkele eine ganze Generation wachrütteln und in die Konzerthäuser dieser Welt locken. Der Altersdurchschnitt ist da nämlich ziemlich hoch – bei Ü60 sicherlich.
Torsten Flüh
Musikfest Berlin 2022
bis 19. September 2022
Concertgebouworkest Amsterdam
Eröffnungskonzert Musikfest Berlin 2022
Klaus Mäkelä, Leitung
Saariaho | Mahler
Video bis 3. September 2022
Odessa Philharmonic Orchestra
Hobart Earle, Leitung
Skoryk | Lysenko | Karamanov | Sibelius
Dienstag 6.9.2022 20:00 Uhr
[1] Siehe Torsten Flüh: Allegro con brio, doch auch ein wenig traurig. Igor Levit spielt Ludwig van Beethovens 32 Klaviersonaten beim Musikfest Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 31. August 2020.
[2] Siehe Torsten Flüh: Le bonheur du concert. Zur Uraufführung von Heiner Goebbels‘ A House of Call. My Imaginary Notebook mit dem Ensemble Modern Orchestra beim Musikfest Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 2. September 2021.
[3] Berliner Festspiele: Concertgebouworkest Amsterdam – Klaus Mäkelä – Saariaho | Mahler 28.8.2022. Berlin: Berliner Festspiele, 2022, S. 6.(als PDF)
[4] Siehe Torsten Flüh: Über sinnliche Spektren. Ensemble BERLIN PIANOPERCUSSION spielt Spektralmusik im Konzerthaus. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juni 21, 2013 22:36.
[5] Berliner Festspiele: Concertgebouworkrest … [wie Anm. 3] S. 10.
[6] Peter Laki: Orion (2002) https://saariaho.org/works/orion/
[7] Volker Tarnow: Werkeinführung Erkki-Sven Tüür: Lux Stellarum. In: Berliner Philharmoniker (Hg.): Paavo Järvi | Emmanuel Pahud. Berlin: Berliner Philharmoniker. 2022, S. 9.
[8] Olaf Wilhelmer: Hammer und Glocke. Gustav Mahler und die Musikkultur Amerikas. In: Abendprogramm Boston Symphony Orchestra 05.09.2015. Berlin: Berliner Festspiele 2015, S. 8.
[9] Siehe auch Torsten Flüh: Rätsel der Musik. Zum Boston Symphony Orchestra mit Andris Nelsons und zum Israel Philharmonic Orchestra mit Zubin Mehta beim Musikfest 2015. In: NIGHT OUT @ BERLIN September 9, 2015 23:37.
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