Herrlich verdrehte Agitprop-Revue

Kommunismus – Konstruktion – Krankenschwester

Herrlich verdrehte Agitprop-Revue

Zur Uraufführung von Ronald M. Schernikaus legende in der Inszenierung von Stefan Pucher an der Volksbühne

Die ältere Frau in Reihe 15 sagt nach dem ersten Akt von legende in etwa, dass es doch schade sei, wie der Sozialismus zu Ende gegangen und dass sie die Schauspielerin der Krankenschwester schlecht verstehen könne, weil sie einen Akzent habe. Beides kann der Berichterstatter so nach der Uraufführung des Montageromans legende von Ronald M. Schernikau als verdrehte Agitprop-Revue nicht bestätigen. Ja, das Plakat spielt mit Skizzomat von Marie Emmermann stilistisch auf den sowjetischen Konstruktivismus an, aber anders. Postkartenmotiv: Gedächtniskirche, Patentante Karola nannte sie „Fauler Zahn“, mit Eiermann-Nachkriegskirchenbau. Blick über den Zoo und Tiergarten Richtung Osten, Eisenträger, ein Ohr, eine Wolke, eine Linie wie ein Faden mit Kugeln.

Zuviel sollte das Theaterpublikum nicht verstehen wollen. Das führt weder „in der Schreibmaschinenfassung (mit) 1.451 Seiten“ des Romans zu mehr Verständnis, noch wird die gut dreistündige Theateraufführung mit viel Textperformance und Songs wie dem „Klartext-Song“ dadurch klarer. Die Bühne (Barbara Ehnes) erlaubt nicht nur schnelle Wechsel zwischen Schultheis- „DRUE“ und „EBEN“ Wernesgrüner-Kneipenszene, Flugfeldern, Straßenecken und Krankenhauszimmern etc., sie dreht sich auch ziemlich oft vor und zurück. Die „Buch“ genannten Szenen sind bereits im Roman auf unterschiedlichen Sprachebenen und Redeweisen kurz montiert. Man könnte fast sagen: hier wird Text zwischen Selbstgespräch der Krankenschwester (Sólveig Arnarsdóttir) und Auftritt der „Götter“ vom Schnürboden vor einem projizierten brutzelnden Spiegelei in der Pfanne verwirbelt. Die Gött*innen wissen dann auch nicht weiter und helfen gar nichts.

Roland M. Schernikau hat den Text legende zwischen 1985 und 1991 aus Märchenmotiven, Zeitungs- und Bibelzitaten, Fake-Dokus, Protokollen und einigem Sprachmaterial mehr montiert. Zuvor war er als Schüler mit Kleinstadtnovelle (1980) durchaus berühmt geworden. Doch 1985 war für einen schwulen, jungen Mann plötzlich eine merkwürdige und gefährliche Zeit mit vier Buchstaben geworden: AIDS. Ficken mit oder ohne Kondom? Safe Sex war noch keinesfalls gängige Praxis, geschweige denn gesundheitspolitisch empfohlen. Reflexartig wurden vielmehr Isolations- und Internierungsfantasien von vor allem bayrischen Politikern formuliert. Das gibt den Hintergrund des Roman-Projekts legende. Die Diagnose AIDS wurde als Todesurteil verstanden. Überleben war nicht vorgesehen. Am Ende von „Buch 9 | Die Erlösung“ sterben alle insbesondere auf der „insel“ West-Berlin im Eiweiß der DDR.
„19 die insel wird am sonnabend offiziell zum friedhof erklärt. von den bisherigen einwohnern starben bisher alle; der tod der noch lebenden wird stündlich erwartet. nach mitteilung der götter hat es sich als unmöglich erwiesen, die opfer unter der dicken schicht von leichen zu bergen. ein kardinal weiht das ehemalige inselgebiet von einem flugzeug aus und erklärt es zu einer heiligen stätte, auf der nicht mehr gebaut werden darf.“[1]  

legende von Ronald M. Schernikau lässt sich mit dem Trauma der AIDS-Krise seit Mitte der achtziger Jahre als ein verzweifelter Abgesang nicht nur auf die DDR, mehr noch auf den Kommunismus und den Kapitalismus lesen. Vielmehr nimmt es die Form des Requiems eines jungen, queeren Schriftstellers an, der davon ausgehen musste, bald an den Folgen der Immunschwäche zu sterben. Das verändert alles. Sprachlich wurde für AIDS auf biblische Motive wie die Strafe Gottes, Apokalypse oder rassistische wie der Entartung zurück gegriffen. Gleichzeitig wurde Schernikau zum queeren Gast in Talkshows, fand als Schriftsteller aber keine Publikumsverlage für existenzsichernde Buchverträge. Ohne Aussicht auf eine sexualpraktische, medizinische wie gesellschaftliche Normalisierung schrieb und montierte Schernikau sein Opus Magnum als Kritik an Ordnung und Wissen seiner Zeit. Denn es ging 1987 vor allem in Bayern mit dem Staatssekretär Peter Gauweiler im Kabinett von Franz Josef Strauß hoch her. Der Bundestagsabgeordnete Horst Seehofer, später selbst kein Kind von Traurigkeit, sprach davon, dass vor allem homosexuelle AIDS-Infizierte und Kranke künftig „in speziellen Heimen“ untergebracht werden sollten. Der SPIEGEL berichtete unter dem Titel Entartung ausdünnen am 16. März 1987.     

Der Konstruktivismus kommt weder auf dem Plakat noch im Roman und auch nicht auf der Bühne als utopische Konstruktion vor. Er wird vielmehr verwirbelt, lädt allerdings zu Missverständnissen und Ambiguität ein. Es wird in der Inszenierung von Stefan Pucher wie im Roman viel Text abgeliefert, so dass die Erzählung der Krankenschwester Irene Binz zu einem einzigen Missverständnis von Flucht und Liebe wird. Die Flucht aus der DDR im Kofferraum eines Autos klappt und klappt dann doch gar nicht, weil „in dem kleinen Haushalt im Schwesternwohnheim (…) DDR-Bücher (waren), der Fernseher war auf DDR eingestellt“.[2] Die ersehnte Liebesbeziehung, die den Anstoß zur Flucht gegeben hatte, ließ sich ebenfalls nicht in Realität verwandeln. Der konstruktivistische Ansatz wird zu einem Formwillen, um der Literatur als Roman eine Form zu verpassen, die in zehn „Teil(en)“ mit zum Beispiel vierundzwanzig „B(ü)ch(er)“ im „Teil 8“ die Konstruktion ad absurdum führt.[3]

© Thomas Aurin

Wie subtil Ronald M. Schernikau mit seiner Textverarbeitung der Literaturen im Roman verfuhr, lässt sich beispielsweise in der apokalyptischen Schlusspassage damit bedenken, dass „du tochter der bayrischen bäuerin frohlocke“ angesprochen wird. Denn die bayrische Herkunft überschneidet sich, mit den exponierten Äußerungen bayrischer Politiker in der AIDS-Krise. Tatsächlich herrschte unter den Schwulen in West-Berlin ein großes Sterben. Doch um diesen Schrecken literarisch zu verarbeiten, zitiert Schernikau im neunzehnten Abschnitt von „Buch 9“ aus Emile Zolas Der Zusammenbruch (La Débâcle), wenn es dort „mit einer so dicken Schicht von Leichen“ heißt.[4] Die Literarizität der Textverarbeitung speist sich aus Literaturen als Zitate, die auf andere Weise montiert werden.[5] Sie werden aus dem Kontext herausgeschnitten und anders zusammengesetzt.

© Thomas Aurin

Das Montageverfahren hat auch Folgen für die Inszenierung auf der Theaterbühne. Die Montage von Zitaten wie einem von Emile Zola aus dem zwanzigbändigen Roman-Zyklus Les Rougon-Macquart. Histoire naturelle et sociale d’une famille sous le Second Empire, kann einerseits auf den Horizont des eigenen Romans anspielen, anderseits wird die zitierte Formulierung so montiert, dass ihre Herkunft jenseits der Philologie unbekannt bleiben muss. Erst die textkritische Edition von legende – in Kleinschreibung – durch Lukas Mielke, Helen Thein und Thomas Keck erlaubt die Leseweise. Indessen gibt es auch die Wissensebene, dass der gesamte Roman-Zyklus zunächst in der DDR erschienen war. Eine bestimmte Sinnebene oder Zentrierung auf eine Aussage lässt sich allerdings nicht herausarbeiten. Dies betrifft eben auch den Kommunismus in seiner Ausformung eines Sozialismus in der DDR. Helmut Peitsch hat für seinen Aufsatz zu „Schernikaus Poetologie“ ausführlich den „Dokumentarismus“ und die „programmatischen Begriffe() der Literaturdiskussion“ im Umfeld der DKP der 1980er Jahre in Erinnerung gerufen. Doch Schernikau habe sie aufgegeben.[6]  

© Thomas Aurin

Der Literaturbegriff bei Schernikau hat insbesondere in den Rezensionen zur Uraufführung von legende an der Volksbühne eine wenigstens unterschwellige Rolle gespielt. Denn der Literaturbegriff gibt einen Wink auf die Vorstellung von Theater, wenn kein als Drama gerahmter Text aufgeführt wird. Die Texte aus legende, die unterschiedliche Formen wie Erzählung und Dialog, Satire und Traktat, Gedicht und Rede, aber auch Songs wie Schlager von Marianne Rosenberg als „mariane komenski stewardeß vormals verwaltungsangestellte des krankenhauses später schlagersängerin“[7]  und Chöre annehmen können, werden nahezu unbearbeitet auf dem Theater performt. Man könnte das auch ein postdramatisches Theater nennen. Helmut Peitsch findet Schernikaus Literaturbegriff in einer Randnotiz oder Glosse von legende. Es geht dabei nämlich darum, was Autor und Leser als „wir“ daraus machen. Kommunismus wird als communis, gemeinsam(es) Machen eine Produktionsweise von Theater und Literatur.
„Und so erscheint auf S. 533 im Text der »Legende« eine Spalte »anmerkungen« zu Personen und Sachen für die 85 nummerierten, »chronologisch geordnet[en]« »gedichte«, »geschrieben 1979 bis 1986«: »[…] lobet. Nichts andres ist, als was wir daraus machen.«“[8]  

© Thomas Aurin

legende gibt als Titel für einen Roman und eine Theateraufführung einen Wink auf das Lesen, lat. legere, und Wiederlesen. Schernikau schreibt nicht nur eine Legende als Erzählung und Geschichte, vielmehr macht er das Lesen zum Thema als Drama und Legendenbildung vom Autor zugleich. Bertold Brecht und Dante Alighieri ebenso wie Honoré Balsacs Comédie humaine winken mit den ersten Sätzen herüber. Wieviel Sprachmaterial enthält legende beispielsweise aus Brechts Der Gute Mensch von Sezuan? Und am Schluss, der möglicherweise gar nicht zuletzt geschrieben, sondern nur als solcher montiert wurde, Emile Zolas La Débâcle, wobei débâcle im Französischen erst seit Zola die literarische Bedeutung von Zusammenbruch angenommen hat. Auf dem Theater wird das Lesen zu einer multimedialen Praxis der Sinnlichkeit von Sehenlesen und Hören, Audio und Video im Live. Die Musik macht Christopher Uhe mit Chikara Aoshima, Réka Csiszér und Michael Mühlhaus. Rebecca Riedel sorgt für das Video zeitweise mit Live-Kamera für Stefan Puchers Inszenierung. Es lässt sich auf ganz unterschiedlichen Ebenen hören und sehen.

© Thomas Aurin

Stefan Pucher und sein Dramaturg Malte Ubenauf legen Wert darauf, die Aktualität von legende mit ihrer Montage herzustellen. Die Themen, die Schernikau vor dreißig Jahren anschnitt wie die Frage nach dem Kommunismus, werden auf aktuelle Diskussionen wie Mieten, Kapitalismuskritik, Pflege und Krankenhausschließungen etc. bezogen. Die Hauptfigur „janfilipp geldsack“ (Sebastian Grünewald) ist eine harte Satire auf Jan Philipp Reemtsma, der heute weit weniger als vor 30 Jahren in Presse und Boulevardmedien erscheint. Das kritische, linke Engagement des Erben aus einer Zigarettenkonzernfamilie wurde in den 80er Jahren weit stärker auch mit Häme von der Presse begleitet. Schernikau hat durchaus in diese Kerbe gehauen, wenn er in Die Tage in L. (1989) Reemtsma in eine allzu einfache marxistisch-leninistische Formel presst: „einem der reichsten männer der brd, der die gute alte tradition des sozial engagierten verursachers des elends in ungeahnte höhen führt. was heute ein kapitalist ist, das hat marx gelesen und weiß, daß er recht hat, weil er aber ein kapitalist ist, hat er seine angestellten, die brav seine geschäfte für ihn weiterführen, während er die welt erkennt“.[9]

© Thomas Aurin

„12 mariane komenski beschließt, in ein besetztes haus zu ziehen. ab jetzt gebe ich nur noch friedenskonzerte.“[10] Die Hausbesetzungen der 80er Jahre sind nicht ganz dasselbe wie der Mietendeckel 2019. Ubenauf und Pucher montieren hier etwas frei. Denn bei den Hausbesetzungen der Anfang der 1980er ging es um Flächensanierungen, die zu einer stärkeren Kontrolle der Wohn- und Lebenssituation führten. Die unsanierten Häuser – „BESETZT“ – sollten als Freiräume erhalten bleiben. Durch den apokalyptischen Schluss der Insel wird sie als „heilige stätte“ der Bebauung und Spekulation entzogen. Dabei ist die Insel als das Gelbe vom Ei eine Fiktion und paradox, weil sich AIDS oder kapitalistische Bodenspekulation überhaupt nicht auf diese eingrenzen ließen. In der Volksbühne tritt „mariane komenski“ auf und singt den Schlager Er gehört zu mir. Der Marianne Rosenberg-Schlager gehört heute zur Queer Culture wie Schlager und der Eurovision Song Contest überhaupt, während Schernikau die Rolle der Schlagersängerin „mariane komenski“ durchaus satirisch anlegt. Schlager gelten als sinnfrei, um – „Er gehört zu mir, wie mein Name an der Tür (…) Denn ich fühlte gleich, das er mich mag/Na ne na na na na“ – mit Gefühlen aufgeladen zu werden. Obwohl die Boxen in der Volksbühne voll ausgesteuert werden, will sich allerdings keine queere Schlager-Konzert-Euphorie wie beim Eurovision Song Contest einstellen. Womöglich müsste das Publikum ein wenig gequeert werden. – Zumal, wenn es vermeintlich wissend hüstelt, als Stino (Dieter Rita Scholl) etwas von Heirat sagt. – Hier wartet es etwas bräsig auf Botschaft Richtung Kommunismus als Abgrenzung und Unterscheidung.

© Thomas Aurin

Der Kommunismus ist, wie Ronald M. Schernikau diesen selbst formuliert in seinem Brief vom 5. März 1989, der im Programmheft abgedruckt wird, gebrochen. Die Adressaten, der „Parteivorstand der SEW“, also die Sozialistische Einheitspartei Westberlins und gerade nicht die SED in Ost-Berlin, dürften über einige Formulierungen zumindest verblüfft gewesen sein. Um das Problem der Existenz als Schriftsteller mit einem gesicherten Einkommen zu leben, will er quasi industrieller „Lohnarbeiter“ werden: „Auch in der DDR könnte ich natürlich vorerst nicht als freiberuflicher Autor leben; aber möglich wäre dort eben eine Lohnarbeit, die meine spezifischen Möglichkeiten überhaupt braucht.“[11]  Auch die Antragsbegründung dürfte nicht ganz dem Schema der SED entsprochen haben, wenn er schreibt: „Meinen Antrag kann ich nur insofern politisch begründen, als auch in der DDR Kommunisten gebraucht werden.“[12] Waren dort nicht alle Kommunisten? Oder wurde das Gemeinsame durch Parteihierarchien und Erich Honnecker alias „herr lange vertreter der zukunft, später pleite“ (Robert Kuchenbuch) verraten? Nach der Parteidoktrin waren gewiss alle Kommunisten, weil schon Christen als Dissidenten galten. Barbara Ehnes stattet die Bühne für den letzten Abschnitt denn auch ironisch mit knabenhaften Engeln fast in der Manier des sozialistischen Realismus aus.

Die Bildüberschneidungen, Sounds und Textinterferenzen lassen sich nie auf eine Aussage festlegen. Sie faszinieren als Fetzen und rauschen revueartig vorbei. Das macht das Literarische oder eben Theatrale von legende aus. In gewisser Weise hat es Stefan Pucher bilderreich mit Videos gar nicht erst versucht, die Gesamtheit der Teile nach Büchern auf die Bühne zu bringen. Das ist gut so. Die Montage der Texte und Szenen ist nah am Roman mit seinen vielfältigen Zitaten. Rausgelassen haben Ubenauf und Pucher etwa „Richard. Gespräch mit Elmar Kraushaar“[13], in dem der einst elfjährige „Richard“ von seiner Liebesbeziehung zu seinem Arzt im Krankenhaus und darüber hinaus erzählt. Elmar Kraushaar ging es mit dem Interview aus den 80er Jahren wohl darum, die Verlogenheit bürgerlicher Liebespraktiken jenseits der heteronormativen Ehe mit Ausflügen in die Pädophilie aufzudecken. Der Text lässt sich indessen heute kaum anders als ein schwerer Missbrauch lesen. Auch nur eine ansatzweise Darstellung des Textes auf dem Theater hätte zu einem handfesten Theaterskandal geführt.  

Dramaturg und Regisseur beziehen sich auf eine Würdigung von legende durch Bernd Heimberger, in der sie als „schier endlos episodische(r), beziehungsreiche(r) Bericht von einer Lebens-Lüge-Insel, die vorgab, alle Wahrheit und Freiheit der Welt gepachtet zu haben, und als selbständige politische Einheit Westberlin existieren sollte und nicht konnte“, beschrieben wird.[14] „Bericht“ wäre gerade ein schwieriger Modus für das Romanhafte und Theatrale. Zumal Helmut Peitsch die Abkehr vom „Dokumentarismus“ hervorhebt. Doch auch das wäre für den schwulen Schernikau noch ein wenig zu einfach gewesen. Denn West-Berlin war ein Sehnsuchtsort der sexuellen Befreiung in gleichzeitiger Unfreiheit durch die Mauer. West-Berlin war die Inkarnation des Paradox, das in legende eine strukturierende Wirkung entfaltet. Dieses Paradox war ständig von den zum Teil ideologischen Kämpfen der Schwulen und Lesben wie auch heute noch zu Fragen des Sternchens* in vielfältigen Interpretationsweisen untereinander durchzogen. Dafür hatte Schernikau ein feines Gespür.
„48 die schwulen machen keine stände mehr. die schwulen haben alles erledigt. die schwulen haben vielleicht kleider an oder jemand trägt ein schild: bewegen sie sich möglichst unnatürlich. die partei versucht auch, die sachen zu erledigen. Die partei hat auch ein kleines schild. Von denen, die sich schön gemacht haben, hat vielleicht einer ein schild: arme romy, und einer: armer rainer werner. Oder gera und knut haben trenchcoats an und hüte und fotografieren die teilnehmer einer genehmigten demonstration, oder helmut ruft: heteros raus aus westberlin! …“[15]  

Stefan Pucher geht es offenbar weder darum, Charaktere herauszuarbeiten – die Performer*innen werden im Programmheft ohne Rollen genannt – noch eine Dramenhandlung aufzuführen. Vielmehr geht es um das kommunistische Machen oder auch was das mit einem macht. Katharsis funktioniert plötzlich oder gar nicht. Am Schluss singt auf der Bühne die hübsche, dünne „Tunte“ (Nicolaas van Diepen), wie man in den Achtzigern abwertend und ebenso mit Stolz sagte, mit den langen Haaren und dem langen schwarzen Kleid ein Lied von James Krüss, wie Ronald M. Schernikau es in einem Video angekündigt hat – dem Berichterstatter schießen plötzlich die Tränen aus den Augen. Warum weiß er nicht. Wenig später wird Irene Binz oder all die anderen Krankenschwestern oder eben Frau Schernikau aufspringen und begeistert Applaus klatschen. Die Schwulen und Lesben* operieren seit Zeiten mit der Mehrdeutigkeit und Umwertung von Begriffen und vermeintlich kulturellen Gewissheiten. Eben das berechtigt eine verdrehte Agitprop-Revue mit hoch engagierten, regelrecht queeren Performer*innen.

Torsten Flüh

legende
von Ronald M. Schernikau
in der Inszenierung von Stefan Pucher
Volksbühne Berlin
nächste Vorstellung am 20. Dezember 2019
12. und 25. Januar 2020  


[1] Ronald M. Schernikau: LEGENDE. Herausgegeben von Lucas Mielke. Helen Thein und Thomas Keck. Berlin: Verbrecher Verlag, 2019, S. 907.

[2] Georg Fülberth: Uhrmacherblick und Götterblick. Ronald M. Schernikau und die DDR. In: Helmut Peitsch und Helen Thein (Hg.): Lieben, was es nicht gibt? Literatur, Pop und Politik bei Ronald M. Schernikau. Berlin: Verbrecher Verlag, 2017, S. 27.

[3] Vgl. Inhalt. In: Ronald M. Schernikau: LEGENDE … [wie Anm. 1] S. 5-7.

[4] Ebenda S. 1034 Anm. 163.

[5] Zur Praxis der Montage bei Schernikau vgl. Torsten Flüh: Tippen – Montage. In: ders.: Flugblatt – Zeitung – Blog. Materialität und Medialität als Literaturen. Wien: Passagen, 2017, S. 183-188.   

[6]  Helmut Peitsch: »Dass schlechte kleine Zeiten bloss Dokumente hervorbringen, keine Literatur« Ronald M. Schernikau und der Dokumentarismus. In: ders. und Helen Thein (Hg.): Lieben … [wie Anm. 2] S. 52.

[7] Ronald M. Schernikau: LEGENDE … [wie Anm. 1] S.10.

[8] Helmut Peitsch: »Dass … [wie Anm. 6] S. 65.

[9] Zitiert nach Anmerkungen. In: Ronald M. Schernikau: LEGENDE … [wie Anm. 1] S. 949.

[10] Ebenda Buch 6 | Abfahrt Friedenssängerin Mariane Komenski, S. 491.

[11] Volksbühne Berlin: legende von Ronald M. Schernikau Stefan Pucher. Berlin: Siegessäule, 2019, S. o.N.

[12] Ebenda.

[13] Ronald M. Schernikau: LEGENDE … [wie Anm. 1] S. 468-475.

[14] In: Volksbühne Berlin: legende … [wie Anm. 11], S. o. N.

[15] Ronald M. Schernikau: LEGENDE … [wie Anm. 1] S. 398.

Die Schwebe und die „Grenzen des Sagbaren“

Lyrik – Prosa – Briefe

Die Schwebe und die „Grenzen des Sagbaren“

Zur Herausgabe des Briefwechsels von Sarah Kirsch und Christa Wolf mit dem Titel »Wir haben uns wirklich an allerhand gewöhnt«

Am 19. November fand im Plenarsaal der Akademie der Künste am Pariser Platz die Buchpremiere eines beeindruckenden Briefwechsels zwischen der Lyrikerin Sarah Kirsch und der Schriftstellerin Christa Wolf statt. Ein durchaus illustrer Abend in der Akademie. Geradezu ikonographisch wird ein Foto der beiden Schriftstellerinnen von Helga Paris auf die Stirnwand des Saales projiziert, das sich im Fenster zum Brandenburger Tor spiegelt. Christa Wolf mit einer Strähne über dem linken Auge lächelt ihre Freundin Sarah Kirsch von der Seite an. Es ist mehr als ein Lächeln, fast schon Freude über und Stolz auf die jüngere Freundin. Auf einem Tisch Weingläser, ein paar Wiesenblumen. Als Hintergrund eine Art Fachwerkwand. „Sarah Kirsch und Christa Wolf im Sommer 1975 in Meteln/Mecklenburg“, wo Gerhard und Christa Wolf ihren ländlichen Rückzugsort hatten.  

Das Foto mit der leichten Untersicht von Helga Paris auf die Brieffreundinnen ziert auch den Schutzumschlag des Buches. Es wird ikonographisch. Eine Frauenfreundschaft. In den Sälen im Erdgeschoss des Akademie-Gebäudes wird bis 12. Januar 2020 die Ausstellung Helga Paris, Fotografin mit 275 Fotografien gezeigt. Sabine Wolf vom Archiv der Akademie der Künste am Robert-Koch-Platz, wo sich der Nachlass von Christa Wolf befindet, hat den Briefwechsel geordnet und herausgegeben sowie mit einem Nachwort kenntnisreich, aber behutsam kommentiert. Zur Buchpremiere spricht der Direktor des Archivs Werner Heegewaldt ein Grußwort. Sabine Wolf unterhält sich mit Gerhard Wolf über sein erstes Zusammentreffen mit Sarah Kirsch und den Briefwechsel seiner Frau mit ihr. Anna Thalbach liest dann ein wenig energisch die Briefe von Sarah Kirsch und Maren Eggert mit warmen Timbre die von Christa Wolf. Die näheren und weiteren Freund*innen und Familienmitglieder der Briefeschreibenden sind zahlreich erschienen.

Wie beginnt ein Briefwechsel? Und wie endet er? Wann und wo bekommt er seine größte Nähe? Wahrscheinlich findet sie im Briefwechsel genau zu jener Zeit statt, als sich die Freundinnen im sommerlichen Meteln zwischen Cramoner See und Rugensee unfern von Schwerin fotografieren lassen. Gespräche, Blicke und Handlungen am sommerlich gedeckten Tisch zum Beispiel werden Nähe hergestellt haben. Die drei letzten Briefe vom Dezember 1990 und August 1992 enden in den Verwerfungen der „Wendezeit“. Insofern war zehn Tage nach den Feierlichkeiten zu 30 Jahre Deutsche Einheit am 9. November 1989 am Brandenburger Tor der Schauplatz für die Buchpremiere zufällig oder nicht beziehungsreich. Es spielt sich im Hintergrund auch eine, wenn nicht ideologische, so doch politische Geschichte von Freiheit und Reglementierung, ja, Zensur ab.

Das Jahr 1989 wurde anstelle einer Vereinigung eine Art Bruchstelle im Briefwechsel der Freundinnen. Nach 30 Jahren Briefwechsel zwischen 1962 und 1992 konnten sich die beiden Freundinnen nicht mehr austauschen. Das ist bestürzend, ja schmerzlich und mikrologische, deutsche Geschichte. Gerüchte, Verdächtigungen, „Stille Post“, Vorwürfe offen oder verdeckt: „Hoffentlich kannste die Politik auch mal wieder dahin rücken wo sie hingehört, diesz wünsche ich sehr doch von Herzen, sonst ist es kaum möglich zu schreiben.“ (Sarah Kirsch an Christa Wolf, Tielenhemme 19. Dezember 1990)[1] Christa Wolf stirbt am 1. Dezember 2011 in Berlin, Sarah Kirsch am 5. Mai 2013 in Heide, Dithmarschen. Der Briefwechsel zwischen Sarah Kirsch und Christa Wolf ist sozusagen der zweite Band der Briefe von Christa Wolf, die „abgerundet … circa 15000 Briefe()“ geschrieben und archiviert hat.[2]

Die Herausgeberin Sabine Wolf ist nicht verwandt oder verschwägert mit Christa Wolf. Gleichwohl kannte sie als jetzige stellvertretende Leiterin des Archivs und frühere Leiterin des Literaturarchivs Helga Wolf persönlich, was sie in ihrem Nachwort offen formuliert, wenn es um Sarah Kirsch und Christa Wolf als Erstunterzeichnerinnen der Petition gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns aus der DDR am 17.11.1976 geht. „(»Ladies first«, habe ein Kollege vorgeschlagen – so berichtete Christa Wolf später einmal gegenüber der Herausgeberin)“.[3] 1975 im Sommer in Meteln gab es einen Moment der ländlichen Idylle. Mit der Petition gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns verdichtete sich auch der Konflikt, ob und wie das Leben und Überleben in der DDR möglich sei. Der Briefwechsel wird zutiefst von politischen Verwerfungen, man kann es Zeitgeschichte nennen, strukturiert. Die Frage nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann heißt nun drängender: Ausreisen oder bleiben?

Christa Wolf bleibt im Zwiespalt mit den Privilegien als anerkannte Schriftstellerin in der DDR. Sarah Kirsch entscheidet sich 2 Jahre nach der Idylle für die Ausreise. Am 21. August 1977 stellte Sarah Kirsch ihren offiziellen Ausreiseantrag bei Erich Honecker, sieben Tage später erfolgte ihre Ausreise nach West-Berlin. Das war auch ein Bruch, aber die Brieffreundschaft der Schriftstellerinnen hält. 1977 treffen sich die Freundinnen offenbar gelegentlich in West-Berlin. Es gibt kein Privates ohne das Politische. Es spielt immer hinein. Am 2. Januar 1978 schreibt Christa Wolf aus der neuen Wohnung in der Friedrichstraße 133 in Ost-Berlin eröffnend.
„(…) na, es sieht ja nicht gerade aus, als ob wir dieses Jahr besonders viel Ruhe kriegen sollen …
Du, ich schreib Dir bloß, damit Du weißt, wir kommen im Januar kaum noch mal rüber, wir fahren in den nächsten Tagen gen Mecklenburg, ich bin schon halb verrückt, weil ich nicht arbeiten kann in diesem irren Berlin-Mitte…“![4]   

Was wird hier geschrieben und auch nicht gesagt? Es gibt dann im Brief von Christa Wolf einige Überlegungen über „Produktionswärme“, um schreiben zu können, und allerhand Neuigkeiten über Freunde und die Silvesterfeier auf der sich „unsere sehr ruhige Gesellschaft mit der ziemlich lauten von Ekke Schall vermischt“. Das dürften dann Schauspieler*innen aus dem Berliner Ensemble um Brechts Schwiegersohn Ekkehard Schall und seine Frau Barbara, geb. Brecht, gewesen sein, die nicht erwähnt wird. Hat sie nicht mitgefeiert? „…, alles kaputt und beichtbedürftig, du hättest aus fast jedem alles rausholen können, doch bin ich nicht mehr so neugierig drauf“.[5] Neben diesen Einblicken in die Friedrichstraße könnte allerdings die Frage nach den drei Auslassungspunkten von Interesse sein. Gewiss hatten Christa und Gerhard Wolf das Privileg, nach West-Berlin und West-Deutschland reisen zu dürfen. Doch werden die Behörden im Ostteil den Reisenden wohl kaum „besonders viel Ruhe kriegen“ lassen, wenn sich Christa Wolf mit ihrer „ausgereisten“ Freundin traf. Was konnte Sarah Kirsch lesen? Konnte sie die drei Auslassungspunkte lesen? Und wer las einen solchen Brief mit?

Im ersten Band der Briefe wird beispielsweise über das hochpolitische Thema „Literaturbegriff“ in der DDR mit Rosemarie Zeplin am 22. Mai 1985 geschrieben. Allerdings erfolgt diese Auseinandersetzung anlässlich der Veranstaltung »Gespräch über Georg Lukács aus Anlass seines 100. Geburtstages« in der Akademie der Künste der DDR am 22. April 1985 mit einer durch Fieber recht deliranten Eröffnungssequenz.[6] Christa Wolf sah in ihren Briefen einen Beitrag zur Briefliteratur. Man könnte also erstens formulieren, dass sie immer auch als Autorin ihre Briefe an Sarah Kirsch las und schrieb. Dem Brief vom 2. Januar 1978 fehlen nicht nur die Worte, wenn drei Auslassungspunkte in der Eröffnungssequenz gesetzt werden. Vielmehr markieren sie, was nicht gesagt, nicht geschrieben werden kann, weil der politische Zensor mitlesen könnte. Sie geben auch einen Wink. Für Christa Wolf geht es nicht nur darum, an den „Grenzen des Sagbaren“, wie sie es 1982 in Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra, ihren Frankfurter Poetikvorlesungen an der Johann Wolfgang Goethe-Universität formulierte, zu schreiben.[7]

In den Briefen taucht quasi nach den Regeln der Orthographie wiederholt typographisch z.B. als Auslassungspunkte das Unsagbare als Wink und eine Art Versagen von Sprache auf. Das wird beispielsweise dann besonders wichtig, wenn die Schauspielerin Maren Eggert Briefe von Christa Wolf liest. Es wird selbst für sie äußerst schwierig, die Auslassungspunkte als mehr und anderes als eine Pause hörbar zu machen. Im Briefwechsel von Sarah Kirsch und Christa Wolf geht es beispielsweise am 9. August 1974 selbst um ein Zitat aus einem Brief, das Kirsch in das Gedicht Der Milan montiert und verarbeitet. Kirsch weist ausdrücklich auf ihre literarische Operation hin: „Das großgedruckte Zitat in dem Milan ist aus 1 Brief Brentanos an Arnim.“[8] Die semantische Schwebe im Gedicht wird von ihr, die Gerhard Wolf im Gespräch mit Sabine Wolf „die größte deutsche Lyrikerin neben Ingeborg Bachmann“ nennt, mit einem Briefzitat hergestellt, wenn es heißt:
„D e r  M i l a n
Donner; die roten Flammen
Machen viel Schönheit. Die nadlichten Bäume
Fliegen am ganzen Körper. Ein wüster Vogel
Ausgebreitet im Wind und noch arglos
Segelt in den Lüften. Hat er dich
Im südlichen Auge, im nördlichen mich?
Wie wir zerrissen sind, und ganz
Nur in des Vogels Kopf. WARUM
BIN ICH DEIN DIENER NICHT ICH KÖNNTE
DANN BEI DIR SEIN. In diesem elektrischen Sommer
Denkt keiner an sich und die Sonne
In tausend Spiegeln ist ein fürchterlicher Anblick allein.“[9]    

Erstaunlicher Weise (oder nicht) geht Christa Wolf in ihrem Antwortbrief aus Kleinmachnow schon am 13. August nicht auf das Zitat aus dem Brief als solches ein, sondern greift für die Frage, was ein Milan sei, zu „Meyers Neuem Lexikone, Band 5“.[10] Es geht ums Wissen und Wissensverarbeitung im Gedicht. Was weiß Meyers Neues Lexikon vom Milan? Der Milan: „Raubvogel? Schmarotzer?“[11] Bei einem Glas Sekt bekommt Christa Wolf einen „Schwips“. Das Zitat wird als unzeitgemäß kritisiert, obschon die Briefschreiberin an der Schreibmaschine selbst ihr literarisches Spiel mit Übersprüngen weitertreibt. Denn „Schwips“ und Fieber kommen in den Briefen als Rahmung des Schreibens und Wissens wiederholt vor. Dann lässt sich vielleicht lockerer oder vertraulicher an die „(v)ielliebe Sarah“ schreiben. Und das Wissen wird weniger brisant.
„Jetzt hab ich einen Schwips und esse schnell Gemüsesuppe dazu. Stelle mir die einzige mögliche Ganzheit von Menschen, die lieben (achgott, würde Jana sagen, Mensch Meier) in des Raubvogels Kopf vor, aber in Tränen bricht über solche Kleinigkeiten ja niemand mehr aus. Auch giebt es, hierorts, keine Diener mehr. Das ist ein oder der Fortschritt. Lavendel in Briefen – ich weiß nicht: Fortschritt oder Rückschritt? Komm mir nicht mit einfach Liebe …“[12]

Der Briefwechsel bekommt in jener Zeit selbst etwas Beschwipstes quasi als Gegenposition zur institutionalisierten, sozialistischen Ernsthaftigkeit des Schriftstellerverbandes. Denn nachdem die ältere Freundin in dem Gedicht ein Liebesgedicht für Christoph Meckel gelesen hat, schlägt sie – „Ende der Gemüsesuppe (Schwips noch wirksam)“ vor „MILAN ohne weitere Begründung an (den) Antrag für die Frankreich-Reise“ anzuheften. „Oder doch: Weitere Begründung: Studium der MILANE.“ Anders gesagt: Das Liebesgedicht wird für die Antragstellung zu einer Begründung, mit Christoph Meckel nach Frankreich zu reisen. Natürlich lässt sich das nur im „Schwips“ schreiben, weil es sonst als Wissen gefährlich werden könnte. Die Schriftstellerin-Existenz in der DDR wird von den Institutionen hoch reglementiert. Und manchmal gibt es „Sondergenehmigung(en)“, die man nicht erwartet hat.
„Heute bekam ich per Eilboten via Schriftstellerverband vom Ministerium für Kultur eine Sondergenehmigung zum Bezug kulturpolitischer und schöngeistiger Literatur, die ich niemals beantragt hatte.“[13]  

Das Briefschreiben und nicht zuletzt der Briefwechsel mit Sarah Kirsch hat für Christa Wolf seine eigene Dynamik. Obschon man bei der Lesung aus dem Briefwechsel im Plenarsaal der Akademie der Künste den Eindruck gewinnen konnte, dass hier zwei Frauen einen vertraulichen wie vertrauten und gefühlsbetonten Briefwechsel über Familie und Freund*innen führen, springen immer wieder seine (politischen) Verstrickungen hervor. Denn die Herausgeberin hat recherchiert, dass Christa Wolf sehr wohl, und zwar schon am 10.6.1970 einen Brief an Bruno Haid mit der Bitte „um eine »Sondergenehmigung für den Empfang von Druckerzeugnissen aus dem Ausland«“ gestellt hatte.[14] Über zwei Jahre später wird auf geheimnisvolle oder willkürliche Weise dem Antrag stattgegeben, was sich möglicherweise nur im „Schwips“ vergessen lässt, wenn frau sich nicht ärgern will.

Der Briefwechsel ist mehr als das Panorama einer Frauenfreundschaft. Er ist vielschichtig und lässt späterhin Verletzlichkeiten und Verletzungen mitlesen. Doch diese sind nicht rein privater Natur oder privaten Ursprungs, vielmehr spielen das Politische und unterschiedliche politische Haltungen eine Rolle. Trotzdem gibt es weiterhin ein Mitteilungsbedürfnis, das wahrscheinlich die Freundschaft ausmacht. Dieses Bedürfnis, sich mitzuteilen, nimmt unterschiedliche Formen an. Nach 1977 gibt es einen subtilen Unterton vielleicht der Enttäuschung, trotz welcher weiter erzählt wird von Familie und gemeinsamen Freund*innen. Die Auslassungspunkte werden z.B. am 25.1.79 von Christa Wolf weiterhin mit mehr als einer Pausenfunktion eingesetzt.
„Fielliebe Signora,
Du, es sind schon ganz andere im Süden hängengeblieben und in Sonne und Liebe und Faulheit verdorben und vergangen … Na, Du wirst schon wissen, was Dir gut tut, aber in diesem kalten Winter denken wird doch manchmal, ob nun die Sarah nicht friert ohne ihren Wintermantel. Wenn Du aber kommst, wollen wir uns bald sehen und unsere früheren Menschen, an die wir uns erinnern, mit den heutigen vergleichen, ja?“[15]

Christa Wolfs Briefe sind nicht zuletzt wegen der sprachlichen Elastizität Briefliteratur. Es geht niemals nur um eine Informationsvermittlung. Vielleicht geht es der eifrigen Briefeschreiberin Wolf gar darum, überhaupt ein „Du“ zu finden. Das „Du“ soll eine Art Referenzraum bilden, damit „wir uns bald sehen und unsere früheren Menschen, an die wir uns erinnern, mit den heutigen vergleichen“. Das „Du“ wird hier von Christa Wolf vermutlich so direkt angeschrieben wie sonst kaum in ihren Briefen. Man könnte diesen Briefwechsel auch als einen Wunsch nach dem „Du“ beschreiben, bei dem sie allerdings durchaus eine Position der wissenden Älteren einzunehmen begehrt. Nicht zuletzt das Lebensmodell der mehrgenerationellen Familie unterscheidet sie auch von den Liebeswechsel der jüngeren. – Ein Briefwechsel, der viele Lesehaltungen ermöglicht.

Torsten Flüh

Sarah Kirsch, Christa Wolf
»Wir haben uns wirklich an allerhand gewöhnt«
Der Briefwechsel
Herausgegeben von Sabine Wolf unter Mitarbeit von Heiner Wolf
D: 32,00 €
A: 32,90 €
CH: 42,90 sFr
Erschienen: 11.11.2019
Gebunden, 456 Seiten
ISBN: 978-3-518-42886-3
Auch als eBook erhältlich.

Helga Paris, Fotografin
8.11.2019 — 12.1.2020
Pariser Platz
Säle
Di – So 11 – 19 Uhr
Am 24.12. und 31.12. geschlossen
Führungen: Mi 17 Uhr, So 12 Uhr, € 3 zzgl. Ausstellungsticket
€ 6/4
Bis 18 Jahre und dienstags ab 15 Uhr Eintritt frei


[1] Sarah Kirsch, Christa Wolf: »Wir haben uns wirklich an allerhand gewöhnt« Der Briefwechsel. Herausgegeben von Sabine Wolf unter Mitarbeit von Heiner Wolf. Berlin: Suhrkamp, 2019, S. 321.

[2] Siehe zum ersten Band: Torsten Flüh: Nicht „aushalten, zu leben ohne zu schreiben“. Zu Christa Wolfs Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten. Briefe 1952-2011. In: NIGHT OUT @ BERLIN Februar 28, 2017 20:47.

[3] Sabine Wolf: Nachwort. In: Sarah Kirsch, Christa Wolf: »Wir … [wie Anm. 1] S. 352.

[4] Sarah Kirsch, Christa Wolf: Ebenda S. 135.

[5] Ebenda.

[6] Siehe: Torsten Flüh: Nicht … [wie Anm. 2].

[7] Sabine Wolf: Nachwort… [wie Anm. 3] S. 350.

[8] Sarah Kirsch, Christa Wolf: »Wir … [wie Anm. 1] S. 122.

[9] Ebenda.

[10] Ebenda S. 123.

[11] Ebenda S. 124.

[12] Ebenda.

[13] Ebenda.

[14] Fußnote 1, ebenda S. 125.

[15] Ebenda S. 140.

Purer Theaterwahnsinn mit Pension Schöller (In the Box)

Witz – Theater – Wahnsinn

Purer Theaterwahnsinn mit Pension Schöller (In the Box)

Zur Uraufführung von Bridge Marklands Pension Schöller (In the Box) im Delphi und in der Brotfabrik

Um den Caligariplatz in Weißensee entsteht mit der Brotfabrik – „Kunst ist Lebensmittel“ – und dem Theater im Delphi schräg gegenüber in der Gustav-Adolf-Straße 2 gerade so etwas wie ein neues Theaterviertel. Bridge Markland nutzt mit ihrem Co-Regisseur Nils Foerster für ihre Version des Jahrhundertschwanks Pension Schöller beide Theaterbühnen, um ein wahres Feuerwerk an Witz abzubrennen. Sie packt den Schwank-Klassiker von Carl Laufs und Wilhelm Jacoby aus dem Berlin von 1890 als One-Woman-Montage in einen Karton (box) verstärkt, aktualisiert und kommentiert den Theatertext mit James Bond-Soundschnipseln und Popmusik von ABBA bis Zappa, wechselt gefühlte 100 Mal die Rollen und Geschlechter zwischen Kellner, Philipp Klapproth, Ulrike Sprosser, Ida, Franziska, Alfred Klapproth, Fritz Bernhardy, Eugen Rümpel, Major Gröber, Direktor Schöller, Amalie Pfeiffer, Friederike und Maler Kissling und zündet unzählige Pointen.   

Der Witz in Bridge Marklands einzigartigem Theaterformat ist ebenso schnell wie hintergründig. Die Theatermaschinerie aus Rollenwechseln mit vorproduzierten Text- und Sound-Track dazu faszinierenden Handpuppen von Eva Garland und entsprechenden Perücken oder Hüten für die Performerin rast zwischen einem Café, einer Pension in Berlin und einem Landgut im Brandenburgischen so schnell, dass sich das Publikum vom Kichern, Glucksen, Prusten und sekündlichen Nachdenkenwollen kaum erholen kann. Bridge Markland übertrifft sich mit ihrer sechsten Classic-in-the-Box-Produktion nach Faust 1, Räuber, Zerbrochner Krug, Leonce + Lena, Ratten mit Pension Schöller selbst. Sie wird mit ihrer Produktion zu einer Witzforscherin des Unmöglichen und Publikumstesterin. Der Witz lässt sich bei ihr nicht einholen oder feststellen. Er passiert akrobatisch durch permanente Sinnsaltos.

Das original erhaltene Stummfilmkino Delphi von 1929 verwandelt sich für Bridge Marklands Pension Schöller in ein Lokal zwischen Kneipe und Café. An den Tischen das Publikum. Am Tresen, wo schon Szenen für die Serie Babylon Berlin mit Lars Eidinger etc. gedreht wurden, steht ein namenloser Kellner und trocknet ein Glas, während der Barkeeper für einen Gast aus dem Publikum einen, sagen wir, Negroni mit Gin, Campari, Roten Wermut und Orangenscheibe mixt. Das Publikum spielt als Lokalgäste mit, obwohl es das noch gar nicht weiß. Das nennt man heute Immersion. 1890 und Florenz 1919 (Negroni) überschneiden sich mit 1929, als das Stummfilmkino Delphi eröffnet wurde, und Babylon Berlin sowie dem Jetzt. Witz generiert sich immer plötzlich im Jetzt. Manchmal ist er kaum spürbar. Das Lokal als Witz wird von Bridge Markland und Nils Foerster höchst genau inszeniert. Sie haben dafür recherchiert. – Darauf wird zurückzukommen sein.   

Warum Pension Schöller? Das Komödiengenre Schwank, für das Pension Schöller als eine Art Prototyp gelten darf, galt schon bei seiner Uraufführung am 7. Oktober 1890 im Wallner-Theater parallel zur Holzmarktstraße Nähe Jannowitzbrücke als witzig, aber sinnfrei. Das führte dazu, dass die Vossische Zeitung vom 8. Oktober nicht einmal die Uraufführung, sondern nur die „Vorstellung im Wallner-Theater“ am Vorabend erwähnte, der „der Herzog und die Herzogin von Connaught … mit der Frau Prinzessin Friedrich Carl (beigewohnt)“ habe.[1] Dank Wikipedia kann man heute wissen, dass der im Buckingham Palast als Sohn Queen Victorias 1850 geborene Arthur, 1. Duke of Connaught and Strathern, mit seiner in Potsdam geborenen Ehefrau Prinzessin Luise Margareta von Preußen und seiner Schwiegermutter Prinzessin Maria Anna von Anhalt-Dessau, eben der „Prinzessin Friedrich Carl“ die Uraufführung besuchte.[2] Soviel Renommee hatte das Wallner-Theater dann doch.

Der Theaterkritiker G. E.-I. des Berliner Tageblatts nahm seinen Besuch ein wenig ernster und ordnete die „Posse“ in der Rubrik „Theater, Kunst, Wissenschaft“ als „Verrücktheit“ ein. Zwar hält der Theaterkritiker nicht allzu viel von der Qualität des Stücks, aber er trifft dann doch recht genau dessen Thema. Selbst fühlt er sich ermuntert zu sprachspielerischem Humor. 
„Herr Carl Laufs hat die Muse ziehen lassen und ist dem Kobold gefolgt, ja er hat seiner „Pension Schöller“, die gestern Abend im Wallner-Theater etablirt war, den teuflischen Rath noch überteufelt. Nicht nur um einen „tollen Einfall“ baut sich diesmal sein Stück auf, sondern die Mutter seiner Posse ist diesmal die „Verrücktheit“.[3]

Waren der Herzog und die Herzogin von Connaught „amused or not amused“? Wir wissen es nicht. Doch aus der Perspektive der nicht nur Berliner Kulturforschung sind die „Verrücktheit“ und der Wahnsinn der Pension Schöller äußerst interessant. Mit dem Genre „Posse“ oder „Schwank“ verarbeiten Carl Laufs und Wilhelm Jacoby nämlich kulturelle Praktiken der bereits zum Industriestandort und Millionenmetropole transformierten Stadt Berlin. Um 1890 geraten die Stadt Berlin und ihre Bevölkerung durch ihr Wachstum unter Druck. Etliche neue städtische Krankenhäuser müssen gebaut werden. Die sich seit 1810 an der Charité mit Ernst Horn zunächst als Criminalgeschichte des Sackes (Deutsches Ärzteblatt) herausbildende Psychiatrie generiert neuartige Krankheitsbilder wie das Forschungsprojekt Kulturen des Wahnsinns für die Zeit zwischen 1870 und 1930 herausgearbeitet hat.[4] 1890 veröffentlicht Hans Laehr erstmals eine Übersicht der zahlreichen Anstalten für Geisteskranke, Nervenkranke, Schwachsinnige, Epileptische, Trunksüchtige usw. in Deutschland, Österreich und der Schweiz: einschließlich der psychiatrischen und neurologischen wissenschaftlichen Institute.

Einerseits werden neue Anstalten und Kliniken z.B. an der Universität gegründet, andererseits formulieren Ärzte und Professoren neuartige Krankheitsbilder. 1865 war „als besondere Klinik“ die Psychiatrische und Nervenklinik der Universität an der Charité gegründet worden. Für die Wittenauer Heilstätten der Stadt Berlin war Dalldorf 1879 gegründet worden und 1881 das Erziehungsheim hinzugekommen. Wuhlgarten sollte 1893 gegründet werden.[5] Als am 27. Januar 1890 der Berliner Arzt und Professor für Psychiatrie Carl Westphal stirbt, veranstaltet die Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenkrankheiten am 20. April 1890 in der Aula der Königlichen Universität, heute Humboldt-Universität zu Berlin, eine Gedächtnisfeier, auf der Carl Moeli eine umfangreiche Rede auf den Verstorbenen und dessen Verdienste in der Herausbildung der Psychiatrie hält. Die Beobachtung der Kranken spielt fast wie bei Philipp Klapproth im Schwank dabei eine entscheidende Rolle, wie Moeli Westphals „Verdienst“ beschreibt.
„Diese Vorarbeit der Sonderung und Abgrenzung, glaubte er, müsse dem Herantreten an die so complicirten Vorgänge, wie wir sie in den meisten Krankheitsformen vor uns sehen, vorausgehen.
Von diesem Gesichtspunkte aus ist wohl die Thätigkeit zu erklären, welche Westphal zunächst der Erforschung solcher geistiger Abweichungen zuwandte, die ihm einer gründlichen Bearbeitung vom rein klinischen Standpunkte aus eher zugänglich erschienen.
Es waren wie bekanntlich die Agoraphobie (Platzangst, T. F.) und die Zwangsvorstellungen.
Diese z. Th. von einzelnen Beobachtern schon erwähnten Zustände als leicht erkennbare Krankheitsbilder gelehrt zu haben, ist Westphal’s grosses Verdienst.“ [6]

Witz und Wahnsinn werden mit Bridge Marklands und Nils Foesters Inszenierung von Pension Schöller noch einmal mit über 100 Musikzitaten zugespitzt. 100 Audiozitate plus Schwanktext mit 13 Rollen in ca. 120 Minuten ohne Pause! Das ist: Wahnsinn! Außerordentlich. Der Wahnsinn ist sehens- und hörenswert. Denn schon der Gutsbesitzer Philipp Klapproth kommt als Tourist extra nach Berlin, um in einer Überbietung der Geschichten von Sehenswürdigkeiten der Großstadt „eine Irrenanstalt“ zu besuchen. Der zeitgenössische Theaterkritiker formuliert es wie folgt:
„Diese Tugend kultivirt ein sonst ganz passabler spießbürgerlicher Gutsbesitzer, der sich einredet, er müsse in Berlin durchaus einmal eine Irrenanstalt besuchen, damit er seinen Freunden zu Hause erzählen könnte: „Seht, Kinder, der Klapphorn ist ein kapitaler Kerl -, und ist es auch Wahnsinn, liegt doch Methode darin.“ Ein unglücklicher Neffe dieses angenehmen Schwärmers soll ihm zu jenem unbeschreiblichen Vergnügen verhelfen, und der Aermste weiß sich keinen anderen Rath, als daß er den lieben Onkel in eine ganz harmlose Pension führt und ihm die ebenso harmlosen Gäste des Privathauses als unheilbare Geisteskranke vorstellt.“[7]

Pension Schöller wird als Schwank deshalb so interessant, weil er frühe populäre Wissenspraktiken des Reisens und Schauens als Tourismus, Wissen der Großstadt und die Einrichtung von „Irrenanstalten“ als Neuigkeit und Sehenswürdigkeit formuliert. –„ALFRED. Ach, deshalb bist du auch hier so herumgejagt von einer Sehenswürdigkeit zur anderen.“ (1. Akt, 5. Auftritt) – Die touristische Wissenspraxis des Anschauens misslingt auf ebenso witzige wie beunruhigende Weise. Die Sehenswürdigkeiten müssen nach einer Art Abenteuer-Ranking bewertet werden. Je origineller, gefährlicher und bedeutender die Sehenswürdigkeit ist, desto größer wird der erzählerische Mehrwert in der Wohnstube auf dem ländlichen Gut. Klapproth will sich Wissen über die Großstadt aneignen.
„Wo werde ich geblieben sein? Umgesehen habe ich mich und zwar gründlich. Zu was bin ich denn in einer Großstadt, wie Berlin, wenn ich mir nichts ansehen soll? Zu was soll ich mich denn immer mit den Schilderungen anderer begnügen? Selbst sehen, das ist unterhaltend und belehrend…“[8]

Das Potential der Beunruhigung des schon damals als „sonst ganz passable(n) spießbürgerliche(n) Gutsbesitzer“ zu identifizierenden „Klapphorn“, wie der Theaterkritiker schreibt, wird immerhin im dritten Akt des Schwanks so groß, dass er beginnt, sich ernsthaft um sein Leben zu sorgen. Er fühlt sich in Lebensgefahr. Die Todesangst vor der Unbeherrschbarkeit der „unheilbar() Geisterkranke(n)“ wird im Schwank ins Lächerliche und selbst in eine aberwitzige Täuschung gewendet. Was von der bürgerlich-konservativen Vossischen Zeitung geradezu peinlich beschwiegen wird, um stabilisierend den Besuch der königlichen und kaiserlichen Hoheiten zu erwähnen, betrifft konkrete kulturelle Praktiken der Rubrik „Theater, Kunst, Wissenschaft“. Oder mit den Worten Klapproths:
„… Da habe ich nämlich vor einiger Zeit einen außerordentlich fesselnden Artikel über Heilanstalten für Geisteskranke gelesen. Und da bei mir zu Hause ein solches Institut gebaut werden soll, ist natürlich sofort in mir der Gedanke rege geworden, einmal eine solche Anstalt zu besuchen. Namentlich ein Ball oder eine Soirée in einem solchen Etablissement soll das Interessanteste sein, was man sich denken kann. Hier sind nun eine ganze Reihe solcher Privatinstitute – du bist mit aller Welt bekannt, und ich rechne deshalb fest darauf, daß du mir zu der Gelegenheit verhelfen wirst, einmal einem solchen merkwürdigen Abend beizuwohnen.“[9]   

Die Beunruhigung durch das neuartige Wissen von den „Heilanstalten für Geisteskranke“ formuliert der Theaterkritiker des Berliner Tageblatts en passant als Schwäche der Dramaturgie des Stücks. Die Grenzen zwischen „spießbürgerlicher“ Abenteuerlust, einer exzentrischen Schriftstellerin, einem kolonialen Löwenjäger und einem Kriegsveteran etc. zu „Geisteskranke(n)“ sind keinesfalls so klar definiert, wie es Klapproth hofft, sich anschauen zu können. Die „Geisteskranke(n)“, die in einer Vielzahl von neuen „Anstalten“ in Deutschland, Österreich und der Schweiz untergebracht werden, sind eine andere Art von „Sehenswürdigkeit“. Selbst im Schwank vermögen sie noch zu beunruhigen. Deshalb fasst es der Theaterkritiker als „enorme(n) Lacherfolg“ zusammen. Er konnte noch nicht ahnen, dass Pension Schöller bis auf den heutigen Tag als Abwehr von Wahnsinn zum wohl meistgespielten und meistverlachten Erfolg werden sollte.
„… Natürlich hält er sie sammt und sonders für geistig gestört, und als sie ihn im letzten Akt gar noch Alle auf seinem Gute besuchen, da erreicht die Tollheit, aber mit ihr auch der enorme Lacherfolg den Höhepunkt. Am Schlusse stehen selbstverständlich zwei Brautpaare in Reih und Glied, und dem Zuschauer wird wenigstens noch die Beruhigung, daß nur das Stück ein bischen wirr, bei den lieben Leuten aber Alles in Ordnung ist. – Ja, das Stück selbst ist wirr! Kommt es aber auf den Lacherfolg an – dann hat Herr Laufs einen erfolgreichen Tag hinter sich, den er allerdings in erster Reihe dem vortrefflichen Zusammenspiel …“[10]

Es ist eigentlich erstaunlich, dass Pension Schöller meines Wissens nicht vom Forschungsprojekt Kulturen des Wahnsinns im Bereich Medizingeschichte berücksichtigt worden ist.[11] Die Auswertung der Krankenakten seit 1870 führte nicht zur Frage nach einer gesellschaftlichen Verarbeitung des neuen Wissens von Wahnsinn und seiner weiträumigen Hospitalisierung in Anstalten, die wie beispielsweise ab 1900 durch Ludwig Hoffmann in einer architektonischen und landschaftsgärtnerischen Idylle in Buch bei Berlin errichtet wurden. Das Team des Projekts betrachtete „„Wahnsinn“ als Feld einer Neubestimmung von Subjektivität und Individuation, die sich in den Jahren zwischen der Gründung des Deutschen Reiches und dem Vorabend des Faschismus vollzog und den Beginn einer „urbanen Moderne“ markiert.“ Mit Pension Schöller inszenieren Laufs und Jacoby einen geradezu exemplarischen „Schwellenraum“, wie es das Projekt nannte.
„Wir untersuchen „Wahnsinn“ unter dem epistemologischen Ansatz eines Schwellenraumes, der sich für einen interdisziplinären Zugriff anbietet, da er es erlaubt, Ausdrucks-, Regulierungs- und Diskursivierungsformen im urbanen Setting zu analysieren. Übergangs- oder Schwellenphänomene markieren die Aushandlungsbereiche sehr unterschiedlicher Wissensräume und soziokultureller Lebens- und Erfahrungsbereiche…“[12]

Philipp Klapproth wird in einen Schwindel versetzt, den er glauben muss, weil er ihn glauben und erzählen will. Das ist keine Nebensächlichkeit. Denn der Schwindel ist nicht nur einfach eine Täuschung, vielmehr machen Bridge Markland und Nils Foerster diesen Schwindel durch die Schnelligkeit und Vielzahl der Rollenwechsel und Musikzitate zur Performance-Praxis. Während noch im Bühnenschwank der Schwindel durchschaut werden kann und lediglich über den beschwindelten Spießbürger Klapproth gelacht wird, lässt sich im In-the-Box-Format kaum noch ein Halt finden. Der Wahnsinn als Überforderung und Schnelligkeitsrausch bekommt Methode. Dafür hat Bridge Markland mit Nils Foerster visuelle Feldstudie beispielsweise an den Kellnern des Café Einstein Unter den Linden betrieben.
„KISSLING zum Kellner. Kellner, noch ein Pilsener! – Aber Freundchen, sei doch nicht so schwerfällig. Bedenke doch, wie günstig für dich die Chancen liegen. Wenn du schon sagst, es ist eine verschrobene, merkwürdige Gesellschaft dort zusammen, wie sollte da dein Onkel, der alsdann fest überzeugt ist, es mit geistig gestörten Patienten zu tun zu haben, den Schwindel merken? Er geht in diesem Gedanken hin und sieht folglich durch die Brille des Vorurteils. Und wie schwer ist es doch schon meistens im gewöhnlichen Leben, zu unterscheiden, wer verrückt ist und wer nicht. Du siehst also, daß mein Vorschlag lange nicht so gewagt ist, wie es anfänglich scheint.“

Die Ausschmückung und umständliche Begründung des Schwindels darf man getrost vergessen. Mit dem Ausruf „Wahnsinn!“ wird heutzutage eine kaum noch verständliche, herausragende, künstlerische Leistung bedacht. Am Schluss trampelt das Publikum bei der Uraufführung von Pension Schöller in the box Applaus mit den Füßen. Dieser Beifall gilt auch den wunderbaren Handpuppen von Eva Garland. Sie deutet die Rollen fast schon als Charaktere aus recycelten Materialien wie goldenen Vorhangquasten, die wunderbar blondes Kopfhaar abgeben. Die Andeutungen machen die Puppen viel lebendiger, als wenn sie völlig ausgestaltet wären. Bridge Markland entfacht mit den Handpuppen diesen Wahnsinn über den Wahnsinn der Großstadt. Nach Krug in the box im Stadtbad Steglitz 2011, Räuber in the box ebenfalls im Stadtbad Steglitz 2012 und Leonce + Lena in the box in der Brotfabrik 2014 hat der Berichterstatter nun sicher einen Gipfel der Aufführungskunst von Bridge Markland mit 13 von Schauspieler*innen eingesprochenen Rollen gesehen. Es sind unterschiedliche Stücke im In-the-Box-Format, doch die nicht zuletzt queere Verwandlungskunst der Performerin hat mit Pension Schöller einen kaum erwarteten Höhepunkt erreicht. – Must see!

Torsten Flüh

Bridge Markland
Pension Schöller
In the Box
Brotfabrik
5.12. – 7.12.19 | 20 Uhr
19.12. – 21.12.19 | 20 Uhr
Caligariplatz 1
13086 Berlin


[1] Vossische Zeitung vom 8. 10. 1890, S. 3. Siehe dazu die digitalisierte Ausgabe auf zefys (Zeitungsinformationssystem der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz).  

[2] Arthur, 1. Duke of Connaught and Strathearn (Wikipedia)

[3] G. E.-I. in Theater, Kunst, Wissenschaft In Berliner Zeitung vom 8. 10. 1890, S. 2. Siehe dazu digitalisierte Ausgabe auf zefys.

[4] Siehe zu Kulturen des Wahnsinns: Torsten Flüh: Wahnsinn mit Methode. Zur Abschlussveranstaltung Kulturen des Wahnsinns im Ambulatorium. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juli 14, 2015 21:31.

[5] Hans Laehr: Anstalten für Geisteskranke, Nervenkranke, Schwachsinnige, Epileptische, Trunksüchtige usw. in Deutschland, Österreich und der Schweiz: einschließlich der psychiatrischen und neurologischen wissenschaftlichen Institute. Berlin, 1890. (Zitiert nach Neunte Auflage, Berlin und Leipzig: Walter de Gruyter, 1937, S. 8-11.

[6] C. (Carl) Moeli: Zur Erinnerung an Carl Westphal. Berlin: August Hirschwald, 1890, S. 29.

[7] G. E.-I. in Theater … [wie Anm. 3] S. 2-3.

[8] Carl Laufs, Walther Jacoby: Pension Schöller. Berlin (o.J.) (Zeno) Zitiert nach 11. Auflage. Berlin: Theaterverlag Eduard Bloch, 1927, S. 17.

[9] Ebenda S. 22-23.

[10] G. E.-I. in Theater … [wie Anm. 3] S. 3.

[11] Vgl. „Publikationen der beteiligten Forschungsgruppe“ In: Kulturen des Wahnsinns. Publikationen.

[12] Zitiert nach ebenda Seite Forschergruppe.

Von der Weiblichkeit der Kopffüßler Argonauta argo

Wissenschaft – Argonauta argo – Aquarium

Von der Weiblichkeit der Kopffüßler Argonauta argo

Zur Ausstellung Power Cage – Experimentalraum Aquarium im State Studio Berlin

Die Kuratorinnen Christina Ertl-Shirley und Dzeni Krajinovic vom Berliner Produktionsbüro Rix haben 15 Künstlerinnen eingeladen, bis zum 7. Dezember im State Studio Berlin die Naturforscherin Jeanne Villepreux-Power mit audio-visuellen Arbeiten zu würdigen. Als interdisziplinäres Projekt vom Hauptstadt Kulturfonds gefördert situiert sich die Ausstellung an der Grenze des Sichtbaren. Das State Studio wurde mit schwarz verhängten Fenstern selbst in ein geheimnisvolles Aquarium verwandelt. Denn die autodidaktische Naturforscherin Jeanne Villepreux-Power (1794-1871) erfand im frühen 19. Jahrhundert das moderne Aquarium zur Beobachtung von Meerestieren, vor allem Mollusken und Cephalopoden (Kopffüßler). Schon 1834 schlug Camilo Maravigna in der Literaturzeitschrift Giornale Letterario dell’Accademia Gioenia di Catania vor, Jeanne Villepreux-Power als Erfinderin des Aquariums anzuerkennen.

1860 erschien bei C. de Mourgues frères in Paris jenes Buch, welches ihr Hauptwerk in der Welt der Naturwissenschaften genannt werden kann: Observations et expériences physiques „an Bulla lignaria, Asterias, Octopus vulgaris und Pinna nobilis, die Reproduktion von Meerestieren Testaceen, Manieren von Krustentieren Powerii, Verhalten von gemeinen Mardern, merkwürdige Tatsachen einer Schildkröte, Argonauta argo, Studienplan für Meerestiere, merkwürdige Fakten einer Raupe“.[1] Das Buch über die vielfältigen Beobachtungen und physikalischen Experimente blieb ins Deutsche unübersetzt. Die Männerdomäne Wissenschaft und vor allem Naturwissenschaften rechnete in Deutschland nicht mit einer französischen Autodidaktin, die sich in Sizilien und London als erste Frau bis zum korrespondierenden Mitglied der Zoological Society London weiterentwickelt hatte. Nun nehmen die Künstlerinnen im State Studio direkt an der U-Bahnstation Kleistpark Bezug auf Jeanne Villepreux-Power.

Mauveine Tide (2019) Mira O’Brien

Der Experimentalraum bot einen „Cyanotypie-Workshop“ mit Miriam Otte, einen „Zeichenworkshop »Krustentiere«“ mit Mira O’Brien und eine „visuelle Reise“ zur Geschichte des Aquariums mit Mareike Vennen und Silke Förschler an. Am Samstag wird ein „Biosphären-Workshop“ mit Monika Kalinowska stattfinden. Darstellungspraktiken und Wissensproduktion durch Experimente stehen insofern in engem Austausch mit dem ästhetischen Ausstellungserlebnis. Die Künstlerinnen werden zugleich zu Forscherinnen. Denn das Weibliche spielt nicht nur als Geschlecht der Forscherin, Erfinderin und Naturwissenschaftlerin Villepreux-Power eine entscheidende Rolle. Vielmehr konstelliert beispielsweise Claudia Reiche mit ihrer Arbeit ARGONAUT_A (Video, Foto, Collage, organisches Material) die Beschreibung und Darstellung der Argonata argo mit denen des „weiblichen Wollustorgans“.

Pierres Animées (Singing Bubble Observatory) (2019), Tomoko Sauvage

Die Künstlerinnen kreisen mit ihren Arbeiten vor allem um das Aquarium. Für Jeanne Villepreux-Power stellte sich bei der Konstruktion des Aquariums 1832 in Messina die Frage, wie es gelingen könnte die Argonauta argo lebend zu beobachten, wie sie 1860 in Observations et expériences physique schreibt. Doch das Aquarium aus Glas erfüllte nicht ganz seinen Zweck. Es war sozusagen nicht nah genug am natürlichen Lebensraum der Argonauta argo. Besser funktionierten Käfige, die die Forscherin im Hafen von Messina einrichtete.
„Zu diesem Zweck erfand ich 1832 ein Glasaquarium, das ich in meinem Haus am Meer in Messina gebaut hatte. Nachdem ich mit dem Argonauta Argo in diesen Aquarien experimentiert hatte, erkannte ich, dass sie meinem Wunsch nach nicht erfolgreich waren. Obwohl die Argonauten die von ihren Schalen entfernten Teile in diesen Aquarien repariert hatten, war dies nicht der einzige Gegenstand meiner Pläne. Der Hafen von Messina, den ich täglich überquerte, um nach organischen Wesen zu suchen, bot mir Mittel, die man an keinem anderen Strand finden konnte. Um mein Ziel zu erreichen, stellte ich mir Käfige vor (1). Nachdem ich die Erlaubnis der Behörden erhalten hatte, pflanzte ich sie auf einem niedrigen Meeresgrund im Lazaretto von Messina an einem Ort, an dem ich ungestört meine Beobachtungen fortsetzen konnte. Dann gab ich eine Menge lebende Argonauta ein und achtete darauf, jeden Tag das notwendige Futter zuzubereiten, bestehend aus getesteten Mollusken, Venus, Cytherea, gebrochenem Loligo, das ich absichtlich mit einem Rechen gefangen hatte.“[2]

I am Water (2019) Mara Wagenführ

Die Käfige als quasi natürliche Unterwasseraquarien wurden nach der Forscherin mit Power Cage benannt. Der Titel der Ausstellung Power Cage spielt daher mit dem Doppelsinn des Eigennamens und der Kraft, die im Experimentalraum Aquarium generiert werden kann oder soll. Durch die Heirat mit dem englischen Geschäftsmann James Power nannte sich die Forscherin in ihrem Buch Jeanne Power, geborene Villepreux. Mit Power Cage geht es nicht nur darum, die in Deutschland kaum bekannte Forscherin und Erfinderin bekannt zu machen. Es geht auch um die Methoden und Praktiken, mit denen sie in England, Sizilien, Italien und dem Mittelmeerraum bekannt wurde. Das Aquarium aus Glas wurde von ihr nicht für das Wohn- und/oder Jugendzimmer erfunden. Vielmehr ging es Jeanne Villepreux-Power um eine frühe Form der Wissenschaft vom Leben nicht nur im Meer, sondern der Fauna, die seit dem Erdaltertum in den Ozeanen existiert. Denn Cephalopoden können als Überlebende einer Tiergruppe gelten, die  noch 265 Millionnen Jahe vor dem Auftauchen der ersten Dinosaurier entstanden war.     

Ciel Purrificada (2019) Anouschka Trocker

Die Erfassung des Lebens durch Beobachtung wird für die Forscherin zunächst zu einem gewissen Problem. Sie beschreibt in einer Fußnote die Konstruktion der Käfige als Lebensbedingung zum Beobachten sehr genau. Villepreux-Power geht systematisch vor, um die größtmögliche Nähe zum Leben herzustellen. Dies reicht soweit, dass sie ihre Beobachtungen so formuliert, dass sie nicht gesehen werden wollte: „Über dem Käfig öffnete sich eine Tür; rechts und links waren zwei kleine Öffnungen angeordnet; von dort konnte ich, ohne gesehen zu werden, meine Tiere beobachten.“[3] Doch die Beobachtungen wollen in Worte gefasst werden. Das ist eine weitere lexikologische Operation. Sie beschreibt die „Struktur der Argonauta Argo“ wie folgt:
„Der Kopffüßer des Argonauta Argo ist mit acht Armen versehen, die eine Krone um den Mund bilden. Jeder Arm hat zwei Reihen Saugnäpfe. Die ersten beiden Arme sind robuster als die anderen, sie sind mit Membranen versehen, aus denen sie ihre Schale herstellen. Die Arme, die sich über den Augen befinden, sind viel mehr als bei anderen. Die Augen befinden sich rechts und links vom Kopf unter den Armen. Der Körper dieses Kopffüßers hat die Form eines gestutzten Eies von mehr als einem Viertel, ist jedoch zur Spitze hin länger. Der obere Teil des Verdauungsbeutels hat die Form eines kleinen runden Behälters, in den das Wasser eintritt. Entlang des Halses zwischen dem Kopf und der Öffnung des Beutels befindet sich eine Membran, die die Form eines Schlauchs oder Siphons hat und zu dem Teil hin, an dem sich die Öffnung des Beutels befindet, viel weiter ist. Dieser vom Tier in Bewegung gesetzte Siphon pumpt das Wasser, das in den oben genannten Behälter eindringt, und schwimmt so das Tier (wie alle anderen Kopffüßer durch die Wirkung der anziehenden und abstoßenden Kraft des Siphons) und führte sein kleines Boot…“[4]

Fluidic Memory (2019), Ioanna Vreme Moser (Detail)

Das (wahre) Leben zeigt sich nach Villepreux-Power erst und nur, wenn die Cephalopoden mit ihren Augen die Forscherin nicht sehen können. Das Wechselspiel des Beobachtens mit dem eigenen Verstecken generiert ein (wahres) Wissen. Dabei erhalten die Kopffüßler durch die Beschreibung eine fast anthropomorphe Gliederung und Bezeichnung ihrer Gestalt in Arme, Mund und Augen. Wie die Augen funktionieren, beschreibt die Forscherin nicht. Doch könnten sie zweifelsohne die Wissenschaftlerin sehen, was von dieser nicht erwünscht ist. Die Forscherin wünscht alles zu sehen, so dass mit einem Mikroskop die Augen selbst von ihr beobachtet werden und sie mit einem siebentausendfach vergrößernden Mikroskop den Kopffüßler-Nachwuchs sehen kann.[5] Unterschiedlich Beobachtungspraktiken werden zu einer Art „Gesamtbild“ montiert. Der Wunsch nach einer panoramatischen Ansicht korrespondiert mit dem Sehen des zuvor Unsichtbaren durch das Mikroskop. Aquarien funktionieren als Unterwasser-Panoramen wie Städte-Panorama auf Marktplätzen. Das ultimative Wissen von der Natur der Argonauta Argo generiert sich durch ein Zählen, Messen, Benennen und sogar testendem Fühlen der Schale.

Papier. Falten. (2019) Christina Ertl-Shirley und Ruth Waldeyer

Das Aquarium wurde in der jüngeren Zeit als Wissensraum vom Leben ins Interesse der Kulturwissenschaft gerückt. Die Kulturwissenschaftlerin und Aquariumexpertin Mareike Vennen hatte 2018 Das Aquarium – Praktiken, Techniken und Medien der Wissensproduktion (1840-1910) veröffentlicht. Sie befasst sich vor allem mit den Anfängen des Aquariums als „Wardian Cases“ des Arztes und Pflanzenliebhabers Nathaniel Bagshaw Ward.[6] Offenbar war in der Forschungsliteratur Jeanne Villepreux-Power aus dem Fokus geraten. Bei ihr lassen sich wie später bei Ward die Anfänge des Wissens vom Aquarium und Argonatauta argo anders beobachten. Vennen untersucht die „Wissensumwelten im Glas“. Denn nach ihr, setzten Aquarien „die Einrichtung zumindest einer minimalen Umwelt voraus“.
„Dadurch machte die Aquarienhaltung von Anfang an ein Wissen über die Beziehung zwischen Lebewesen und ihrer Umwelt zur praktischen Notwendigkeit, und eben das hatte tiefgreifende Auswirkungen auf den Blick in die submarine Welt, das Wissen über sie und den Umgang mit ihr. Als somit um 1850 Amateurforscher, vornehmlich in Großbritannien im Kontext der praktischen Naturkunde erstmals begannen, mit Aquarien im eigenen Heim zu experimentieren, brachten ihre praktischen Versuche ein gänzlich neues Wissen über die Bedingungen des Lebens im Wasser hervor.“[7]

Papier. Falten. (2019) Christina Ertl-Shirley und Ruth Waldeyer

Die besondere Zartheit und Elastizität der Schale des Kopffüßlers fasziniert die Forscherin Villepreux-Power ebenso wie dessen Fortbewegung. Wird die Schale getrocknet, ist sie dünn wie Papier und zerbrechlich. Wird sie nach einer Trockendauer wieder in Wasser eingeweicht, bekommt sie ihre Elastizität zurück. Die Künstlerinnen in Power Cage reagieren auf unterschiedliche Weise auf diese Beschreibungen und das positive Wissen vor allem von Argonauta Argo. So gehen Christina Ertl-Shirley und Ruth Waldeyer mit ihrer Installation Papier. Falten aus 150m² Papier auf den Namen wie der Beschreibung des Kopffüßlers ein, indem sie sie in eine weibliche Poetologie transformieren.
„Vor rund 105 Millionen Jahren beginnen die weiblichen Papierboote, eine feine Hülle herzustellen, die sie mit ihren Armen festhalten. Sie lassen Höhlen und Felsspalten hinter sich und begeben sich Richtung Wasseroberfläche. Um als Treibgut nicht aufzufallen, haben sie sich eine Tarnung zugelegt: Die dünne Membranhaut, die sie über die Schale spannen, kann ihre Farbe ändern.“[8]

Papier. Falten. (2019) Christina Ertl-Shirley und Ruth Waldeyer

Die Papierinstallation Papier. Falten ist begehbar und wird mit 16 Kissenlautsprechern und 3 Ultraschallsensoren akustisch quasi zum Leben erweckt. Nachdem frau/man vorsichtig in das Papiergehäuse eingetreten ist, gelangt frau/man in der Mitte zu einem Kissen, auf dem sie/er sich einrichten kann. Die Installation funktioniert wie ein Experiment, in dem die Besucher*innen eine Erfahrung machen können. Erfahrungswissen wird durch Praxis und ihre Wiederholbarkeit generiert. Experiment und Erfahrung überschneiden sich im französischen expérience. Die aufwendige Papierinstallation mit 1000 Magneten und 300 Foldback-Klammern reflektiert insofern das Experiment und seine Künstlichkeit selbst. Die Erfahrung wird immer schon durch die Konstruktion des Experimentes vorformatiert. Für das Aquarium spricht Vennen gar von „>Reinigungsarbeiten<„, mit denen sie nicht nur „das Putzen von Fensterscheiben“ anspricht, sondern auch „Techniken des Rahmens und Filterns, der Regulierung und Visualisierung“ erforscht.[9]

Tintenuniversum und die erstaunlichen Phänomene des Einfachen
nuniversum und die erstaunlichen Phänomene des Einfachen
(2019) Uta Neumann

Die Künstlerinnen gehen ebenfalls häufig auf die Sichtbarkeit ein. Wie wird wann was sichtbar? Mira O’Brien lädt mit Muveine Tide (Ölfarbe, Doppelverglasung Holz, UV-Folie) ein, in ein „umgekehrtes Aquarium“ mit „Unterwasser-Landschaftstableau“ einzutreten. „Eine imaginäre Traumlandschaft, direkt auf Glas gemalt, einer jungen Frau beim Übergang von Couturier zur Naturforscherin. Mauveine Tide bezieht sich auf die Farbe verrottender Seeschnecken, die durch den ersten synthetischen Farbstoff ersetzt werden, was Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem lila Rausch in der Mode führt.“ (Mira O’Brien) Die Künstlerin bezieht sich damit auf die Biographie von Jeanne Villepreux-Power, die, bevor sie John Power heiratete und mit ihm nach Sizilien übersiedelte, als erfolgreiche Schneiderin in Paris gearbeitet hatte. Wenig erforscht ist offenbar, wie die Forscherin Praktiken aus dem Schneiderinhandwerk in ihre Naturwissenschaft übertrug.

I am Water (2019) Mara Wagenführ

Als Schneiderin musste sich Jeanne Villepreux-Power wohl eine ganz Reihe von Praktiken erworben haben, die in ihrer Naturwissenschaft zum Zuge kommen sollten. Das Vermessen des Körpers für die Anfertigung eines Kleides ließ sich ebenso übertragen, wie dass Erfühlen der Textur, „Struktur“ oder Stofflichkeit der Schale von Argonauta Agro. Sie konnte den Umgang mit Stoffen und Textilien in der Wissenschaft nutzen. Was zunächst als ein typisch weiblicher Beruf mit seinen Praktiken aufgefasst wurde, lässt sich in den Bereich der Wissenschaftspraxis und Beschreibung von Körpern transferieren. Gerade die scheinbar nebensächliche Beobachtung der Schale generiert ein neues Wissen, das (männlichen) Naturforschern bislang entgangen war. Dadurch gelingt es ihr ein neuartiges, singuläres Wissen zu formulieren: „Was die Struktur der Molluske der Argonauta betrifft, niemand kann ignorieren, was die Naturforscher gesagt haben. Ich (aber) will erzählen, was ich im Singular beobachtet habe oder nicht von anderen über dieses Tier erwähnt wurde.“[10]    

Argonaut_A (2019) Claudia Reiche

Billy Roisz fragt in ihrem Video Aquatic Aberration danach, wie ein Tintenfisch seine Umgebung sieht. Wie funktionieren sinnliche Wissensprozesse? Können die Arme den Tintenfisches wie der Argonauta Argo beim Sehen helfen? Für einen Menschen ist es durchaus schwierig zu sagen, was sie oder er im Video von Billy Roisz sieht oder gar erkennt. Es erinnert eher an einen Rorschachtest. Das technisch außerordentlich hoch aufgelöste Sehen mit einem Mikroskop, das siebentausendfach vergrößert, ermöglicht es, Jeanne Villepreux-Power mit der Frage nach der „Reproduktion“ die Brut der Kopffüßler zu sehen. Eine gute Schneiderin sollte nicht nur genau sehen können, sie hat es mehr oder weniger bewusst gelernt, Muster zu erkennen. Muster lassen sich wiederholen, werden um 1830 schon von mechanischen Webstühlen insbesondere in Paris produziert und lassen sich zur Sichtbarkeit von Wohlstand, Klasse und Geschlecht einsetzen.

Argonaut_A (2019) Claudia Reiche

Claudia Reiches Installation ARGONAUT_A stellt mit vier Plastikstäben ein virtuelles Aquarium als Rahmen des Sichtbaren her. Das Aquarium soll auch als Ausschnitt und Rahmen von Leben funktionieren. Gleichzeitig wird eine Installation auf einem altertümlich Bilderrahmen mit vergoldeten Leisten eingerichtet. Im Aquarium wird das (verborgene) Leben der Meere allererst gerahmt und sichtbar. Es lässt sich zu neuartigen Tableau vivants transformieren und in einen nicht nur häuslichen, sondern heimlichen Lebensbereich integrieren. Denn das Leben im Aquarium wird auch abhängig vom Hausherrn oder der Hausfrau und sei sie ein/e Jugendliche/r. Man lernt auf das Leben zu achten und es mit Fütterungen und Sauerstoffversorgung etc. zu regulieren und zu kontrollieren. Die Visualisierung des Meereslebens unter der der Wasseroberfläche ist im höchsten Maße von den Medien abhängig. Was aber sieht man im Aquarium vom Leben?

Argonaut_A (2019) Claudia Reiche

Schnell kann die Biosphäre im Aquarium in ein Drama der Zerstörung durch Algenbefall, Schnecken- bzw. Moluskenbefall etc. umschlagen. Bäuchlings an der Wasseroberfläche schwimmende Zierfische sind der Horror des Aquariums. In dem Video in Claudia Reiches Installation unter einer Darstellung des „Sphincter ani extrenus“ und „crus clitoridis“ etc. als „Fig. 430“ auf Glas wird am Strand mit den Wellen ein Argonauta Argo angeschwemmt. Die Arme hängen wie ein einzelner rötlich heraus. Was bei Villepreux-Power als „Mund“ mit einer „Krone“ aus „acht Arme(n)“ beschrieben wird, überschneidet sich mit einer Darstellung des Schließmuskels und der Klitoris. In einer sich wie auf einem Schallplattenteller drehenden Scheibe mit einer detaillierten, photographischen Darstellung von Argonauta Argo spiegelt sich noch einmal die „Fig. 430“. Das weibliche Wollustorgan und die weibliche Molluske Argonauta Argo generieren eine seinerzeit neuartige Sichtbarkeit des Weiblichen. Sie vermessen und zeichnen um die Mitte des 19. Jahrhunderts das Weibliche neu.

Argonaut_A (2019) Claudia Reiche

Die Überschneidung des Künstlichen und Künstlerischen mit den Darstellungspraktiken der Naturwissenschaften wird von Claudia Reiche in ihrer Installation mit einem Cocktailglas auf einer Petrischale, in dem sich eine rote Flüssigkeit unter einer Glashaube mit einer kleinen Ausbuchtung befindet, inszeniert. Wann wird ein Aperitif sichtbar? Und durch welche Verknüpfungen Blut oder gar Menstruationsblut? Wann bekommt die Glashaube das Aussehen einer weiblichen Brust? Zwischen Freizeitgetränk und Laborgefäßen pendelt die Sichtbarkeit hin und her. Das Laborgefäß der Petrischale, das um 1900 zufällig von einem Schüler Robert Kochs in Berlin erfunden wurde, wird heute bisweilen auch humorvoll in der Spitzengastronomie eingesetzt.[11] Was ist die grüne Flüssigkeit in dem Fläschchen? – Wir wissen es nicht.

Torsten Flüh

POWER CAGE
Experimentalraum Aquarium
bis 7. Dezember 2019
State Studio Berlin
Hauptstr. 3
10827 Berlin 


[1] Übersetzung des erweiterten Titels von Torsten Flüh nach Jeanette Power: Observations et expériences physiques sur la bulla lignaria, l’asterias, l’octopus vulgaris et la pinna nobilis, la reproduction des testacés univalves marins, mœurs du crustacé powerii, mœurs de la martre commune, faits curieux d’une tortue, l’argonauta argo, plan d’étude pour les animaux marins, faits curieux d’une chenille. Paris: C. de Mourgues fréres, 1860. (Gallica)

[2] Ebenda S. 32. (Übersetzung T.F.)

[3] Ebenda. (Übersetzung T.F.)

[4] Ebenda S. 33-34.

[5] Ebenda S. 31.

[6] Marieike Vennen: Das Aquarium. Praktiken, Techniken und Medien der Wissensproduktion (1840-1910). Göttingen: Wallstein, 2018, S. 35.

[7] Ebenda S. 11.

[8] Zitiert nach Ausstellungstext.

[9] Mareike Vennen: Das Aquarium … [wie Anm. 6] S. 21.

[10] Jeannette Power: Observations … [wie Anm. 1] S. 33.

[11] Vgl. dazu Torsten Flüh: Der Magen, das Gesetz und die Sprache. reinstoff in den Edison Höfen. In: NIGHT OUT @ BERLIN August 24, 2012 20:21. (Leider gibt es das reinstoff nicht mehr.)

Die Geister-Maschine – Zu 特急三百哩/ Express 300 Meilen

Maschine – Geist – Sicherheit

Die Geister-Maschine

Zu 特急三百哩/Express 300 Meilen von Saegusa Genjirō als Stummfilmkonzert im Japanisch-Deutschen Zentrum Berlin

Tokkyu sambyaku-ri/Express 300 Meilen (Japan 1928) wurde am 14. November als Berlin Premiere mit der Stummfilmmusik von Günter A. Buchwald & Silent Movie Music Company im großen Saal des JDZB in Dahlem vorgeführt. Es war, als knüpfe das Team um Kiyota Tokiko damit an die Welturaufführung der rekonstruierten Fassung von Abel Gances La Roue beim Musikfest im September an. Die beiden Filme spielen im Milieu der Eisenbahner in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts in Frankreich und Japan. Lokomotiven und ein Lokomotivführer nehmen in beiden Filmen die bedenkenswerten Hauptrollen ein. Das Verhältnis von Maschine und Mensch steht damit im Fokus der Filme. La Roue erzählt die Lebensgeschichte des Lokführers Sysif in epischer Länge.特急三百哩/Express 300 Meilen setzt zwei Heldentaten des Lokführers Mori Shigeru in Szene, der von Koji Shima, einem japanischen Stummfilmstar, gespielt wurde.[1]

Der japanische Stummfilm war verschollen und wurde 2004 an der Universität der Künste Osaka als erster „Eisenbahnfilm“ in Japan aufwendig restauriert.[2] Express 300 Meilen wurde mit deutschen Unter-Zwischentiteln vorgeführt. Wie in La Roue gibt es eine Überschneidung von Spiel- und Dokumentarfilm, zumal der Film in Kooperation mit dem Eisenbahnministerium Japans und der staatlichen Japan Railway Group (JR) gedreht wurde. In der Eröffnungssequenz wird eine regelrechte Eisenbahn-Choreographie aus einer Obersicht gefilmt. Sechs Personenzüge mit Dampflokomotiven fahren auf einer bahnhofsnahen Gleisanlage aus zwei Richtungen aufeinander zu und kreuzen sich. Durch die unterschiedlichen Schienenstränge und Weichenstellungen kollidieren sie nicht, sondern rauschen in höherem Tempo aneinander vorbei.

Die nur mit einer kurzen Sequenz überlieferte Eisenbahn-Choreographie setzt nicht nur die sekundenschnelle Technologie mit schnellen Schnitten in Szene, vielmehr erhält sie eine gespenstische Dimension. Das Gespenstische wird im Stummfilm mit der Eisenbahntechnologie eine prominente Rolle in mehrfacher Hinsicht spielen. Es wird mit der Eisenbahn selbst verkoppelt. Die eröffnende künstlerische Choreographie darf durchaus als technische und visuelle Innovation verstanden werden, weil sie eine zunächst undurchschaubare Macht der Maschine zu Kinematographie werden lässt. Doch diese Innovation in filmischer wie eisenbahntechnischer Hinsicht wurde bislang kaum beachtet.

In der internationalen, westlichen Filmforschung ist über Express 300 Meilen fast nichts publiziert worden. Einige wenige Artikel sind in Japan erschienen.[3] Immerhin hat die Internet Movie Database (IMDB) einen Großteil der Mitwirkenden zusammengestellt, obwohl der Film nicht 1929, sondern 1928 uraufgeführt wurde.[4] IMDb kennt nur ein 20-minütiges Fragment des Films. Die Rekonstruktion von 2004, die gezeigt wurde, ist 84 Minuten lang. In englischer Übersetzung lassen sich ausführlichere Texte zum Film nicht finden, obwohl er einzigartig ist. Es ist keinesfalls nur ein Film für Eisenbahn- oder Modeleisenbahnliebhaber. Einige Einstellungen wie zum Beispiel das Abfilmen der Gleise während der Fahrt als Visualisierung von Geschwindigkeit und Schienennetz als System erinnern auffällig an Abel Gance‘ La Roue von 1924.[5] Doch stärker als dort wird hier mit dem japanischen Eisenbahnministerium kooperiert, um spektakuläre, großangelegte Filmszenen wie die Eisenbahn-Choreographie zu produzieren.  

Die Eisenbahn-Choreographie, so kurz die restaurierte Sequenz sein mag, ließe sich als Schlüsselszene und Setting formulieren. Einerseits wird die Maschinerie der Eisenbahn durch Schienennetz und Lokomotiven mit Personenwaggons ganz offensichtlich in beeindruckender Größe vorgeführt. So funktioniert die Maschinerie reibungslos. Es kann nichts passieren. Es kommt zu keiner Kollision, als wolle der Eisenbahnminister sagen: So sicher ist unsere Eisenbahn. Sie brauchen keine Angst haben. Andererseits bleiben die Mechanismen der Maschinerie unsichtbar, obwohl wie in La Roue Signale gezeigt werden. Die mechanische Choreographie zeigt und verbirgt die Maschinerie zugleich. Dieses Verhältnis von totaler Sichtbarkeit durch eine Totale mit Aufsicht als Kameraeinstellung, gleichsam eine göttliche Perspektive, und unerklärlicher Funktionsweise der Maschinerie generiert das Gespenstische. Das Filmpublikum sieht alles, kann sich aber nicht erklären, was es sieht. Nach Kinema Junpo (Ausgabe vom 21. Februar 1929) verlief die Kooperation mit Herrn Minoru Murao, der vom Eisenbahnministerium beauftragt wurde, offenbar nicht reibungslos. Vor allem die Geister-Lok missfiel.[6]

Für die narrative Formation von Express 300 Meilen, der die Distanz von ca. 1.014 km zwischen Moji und Tokio bestimmt, wird das Gespenstische strukturierend. Das funktioniert völlig anders als in La Roue. Nachdem der japanische Eisenbahnminister in einer Sequenz wahrscheinlich höchst persönlich in einem westlichen Unternehmermantel mit Persianerkragen die Eisenbahn in der JR Wests Umekoji Locomotive Garage (heute Umekoji Steam Locomotive Museum, Kioto) inspiziert hat[7], kommt es zu einem aufschlussreichen Zwischenfall. Eine Lokomotive setzt sich ohne Lokführer in Bewegung. Die Maschine verselbständigt sich, sie gerät außer Kontrolle und wird so zur Verkörperung des Gespenstischen. Das ist eine grandiose narrative Innovation der Drehbuchautoren Kan Kikuchi und Kimura Chigio sowie des Filmregisseurs Saegusa Genjirō.

Die Verselbständigung der Lokomotive innerhalb der Maschinerie Eisenbahn wird zur ultimativen Katastrophendrohung. Denn die Geister-Lokomotive rast auf Kollisionskurs mit dem Expresspersonenzug zu. In dieser Situation kommt der heldenhafte Einsatz des Lokführers Mori Shigeru (Koji Shima) mit der allerneuesten und schnellsten Lok zum Zuge. Während die Geister-Lokomotive unaufhaltsam über die Strecke und durch Bahnhöfe rast, telefonieren unterschiedliche Eisenbahnmitarbeiter mit einander. Das Telefon ist schneller als die rasende Lokomotive. Dadurch erhält der Lokführer Nachricht von der drohenden Katastrophe und beschließt, sie zu stoppen, indem er quasi auf sie springt wie auf ein durchgebranntes Pferd und die Lokomotive kurz vor der Kollision zum Halten bringt. Bemerkenswert ist dabei, dass sich insbesondere eine Dampflokomotive, die ständig beheizt werden musste, nicht ohne weiteres verselbständigen konnte. Doch der Schrecken der Maschine liegt in ihrer geisterhaften, unkontrollierten Verselbständigung, die nur durch einen heldenhaften Lokführer-Maschinisten und Menschen beendet werden kann.      

Durch schnelle Schnitte und Gegenschnitte mit wechselndem Bildmaterial wird im Stummfilm die erwünschte Dramatik generiert. Günter A. Buchwald & Silent Movie Music Company steigern die Dramatik mit schnellem Rhythmus und in vieler Weise eingesetzten Instrumenten von Klavier (Gunter A. Buchwald), Schlagzeug (Frank Bockius) und Posaune (Marc Roo), während die Geige (Günter A. Buchwald) eher für ruhigere, melodramatische Sequenzen eingesetzt wird. Das Stoppen der Maschine bzw. Lokomotive wird dem Mut und der, sagen wir, Geistesgegenwart des Lokführers zugeschrieben. Visuell wird der menschliche Steuermann der Maschine zu ihrem Kontrolleur. Obwohl die Aktion zunächst als aussichtslos imaginiert wird, sind die Ängste vor dem Verlust von Menschenleben durch die Maschine größer. Die Maschine als Lokomotive bedroht insofern Menschenleben, was von Abel Gance mit einer quasi ursprünglichen Katastrophe völlig anders in Szene gesetzt worden war.

特急三百哩/Express 300 Meilen setzt nicht nur Eisenbahn, Lokomotive und Maschinist in Szene, vielmehr wird hier eine Geister- wie Geisteswissenschaft mit den Mittel der 電影 Diànyǐng, deutsch StromSchatten, generiert. Anders als die westlichen oder europäischen Bewegungen der Kinematographie gehört der japanische Film mit den ursprünglich chinesischen Schriftzeichen bzw. Kanji für Blitz bzw. seit dem späten 19. Jahrhundert Elektrizität 電 und Schatten 影 einem ebenso unheimlichen wie erhellenden Bereich der Kunst an. Der Film wird im sino-japanischen Sprachraum eine Geister- und Beschwörungskunst. 電影 lässt sich mit dem modernen Wissen wie den japanischen Mythen z.B. des Nō verknüpfen.[8] Die Eisenbahn, die im Film bereits mit dem elektrischen Medium des Telefons verbunden und visualisiert wird, eignet sich geradezu perfekt für eine Geisteswissenschaft von der Maschine. Denn es geht um den Geist der Maschine. Ihre Funktionsweise lässt sich durch moderne Operationen ebenso beeinflussen wie mit älteren Wissensformationen von Geistern verknüpfen. Nicht zuletzt spielen unterschiedliche „Einzelwissenschaften des Geistes“[9] eine entscheidende Rolle für Wilhelm Dilthey in seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften 1883.
Die Analysis dieser Thatsachen ist das Centrum der Geisteswissenschaften, und so verbleibt, dem Geiste der historischen Schule entsprechend, die Erkenntniß der Prinzipien der geistigen Welt in dem Bereich dieser selber, und die Geisteswissenschaften bilden ein in sich selbständiges System.[10]

Das moderne Wissen der Dampfmaschinen und der längst angebrochenen Elektrizität führt zu 特急三百哩/Express 300 Meilen, indem in der Maschine quasi die Geister und keinesfalls nur die Naturwissenschaften fortleben. Doch – so das Eisenbahnministerium aus dem Hintergrund – die Geister, insbesondere Geister-Lokomotiven werden durch das menschliche Personal und einen mutigen Helden kontrolliert. Nachdem der heldenhafte Lokführer die Reisenden gerettet hat, wird er sogleich, auf den ersten Blick mit der Liebe einer Zirkusartistin Orie (Natsukawa Shizue) belohnt. Die Beherrschung der Geister-Maschine wird nach dem mythischen Modell der Heldenbelohnung durch die Liebe einer Frau vergolten. Der darauffolgende Erzählstrang des Films im Zirkusmilieu kann ein wenig vernachlässigt werden, obwohl es mit dem Todeswunsch der Artistin und der rettenden Liebe des Lokführers um eine ähnliche Struktur geht. Die Erzählung von der Maschine und ihrer Beherrschung lässt sich offenbar vorzugsweise mit einer Liebesgeschichte zu einer Frau verknüpfen.

Von stärkerem Interesse wird dann wieder die längere Schlusssequenz. Der Lokführer soll nun im Unwetter den nächtlichen Schnellzug nach Tokio befehligen. Mori Shigeru (Koji Shima) formuliert ausdrücklich in einem Zwischentitel, dass er der Lokomotive ganz gehöre, wenn er seinen Dienst tut. Er unterwirft sich in gewisser Weise damit der Maschine. Obwohl seine Frau Orie vom brutalen Zirkusdirektor (Hiroshi Mita) bedrängt wird, entscheidet sich der Lokführer für den Schnellzug. Es ist nicht nur eine Frage der quasi soldatischen Pflicht, vielmehr wird sie mit Schnitt und Gegenschnitt als eine Entscheidung zwischen individueller Liebe und Fürsorge gegen die Kontrolle der Maschine und die für die Gesellschaft inszeniert. Mori Shigeru entscheidet sich für die Gesellschaft und den Expresszug. Auf der schnellen Fahrt im Unwetter begegnet ihm nun allerdings Orie als Gespenst auf den Bahnschienen, was Mori den Zug anhalten lässt, woraufhin er die Strecke inspiziert und feststellt, dass sie durch einen Erdrutsch verschüttet worden ist. Er hätte den Zug zum Entgleisen gebracht. Das Gespenst im 電影 wie 電影 als Wissen verkörpern insofern ein prognostisches Wissen und verhindern eine Katastrophe.

Die Sicherheit der Eisenbahn in Japan wird nach 特急三百哩/Express 300 Meilen durch ein erstaunlich vielschichtiges Wissen gewährleistet, lässt sich sagen. Wenn die Schrecken der Eisenbahn als paradigmatische Maschine nicht bereits kursierten, hätte es des Films mit seiner Erzählung vom Eisenbahnwissen kaum bedurft. 1872 war die erste Eisenbahnstrecke in Japan zwischen Tokio und Yokohama eröffnet worden. Frappierend an Saegusa Genjirōs beredten Stummfilm ist vor allem, wie er unterschiedliches Wissen zu einer wie Jacques Derrida es einmal genannt hat, Hauntologie montiert.[11] Zwischen Eisenbahn-Choreographie und Gespenst auf der Schnellzugstrecke wird ein für westliche Zuschauer zunächst einmal allein unterhaltendes Wissen visualisiert, das geheimnisvoll bleibt. Schaut man allerdings einmal genauer hin, wie unterschiedliches Wissen mit dem Gespenstischen in elektrische Schatten transformiert und montiert wird, dann bietet der Film sehr vielmehr als eine Liebesgeschichte fast schon in der Spätphase des Eisenbahnzeitalters.

Die ultimative Sicherheit bietet die Familie, wie sie am Schluss mit Mori Shigeru und seiner Kleinfamilie für Japan in Szene gesetzt wird. Der Lohn des mutigen und zuverlässigen Eisenbahners, nachdem er mit dem Geist der Lokomotive gekämpft hat, wird so als Familienidylle vorgestellt. Die Verwerfungen, die der Arbeiterberuf seit den 1840er Jahren in der Eisenbahnindustrie zwischen Produktion, Instandhaltung und Kontrolle bewirkt hat[12], finden in der Idylle einer Kleinfamilie und der geistigen Verbundenheit von Lokführer und seiner Ehefrau eine Glättung. Die große Maschinerie der Eisenbahn wird längst von den Leben der Arbeiter gespeist, die i.d.R. keinesfalls Helden werden sollten, sondern beispielsweise als Mechaniker namenlos blieben.

Torsten Flüh  

Japanisch-Deutsches Zentrum Berlin
Veranstaltungen
Ausstellungseröffnung „Morgenwolken“
HIGASHIYAMA Kaii – Lithografien von Nihonga (neo-traditionelle japanische Malerei) aus den Archivbeständen des JDZB zum 20. Todesjahr des Künstlers
Donnerstag, 28. November 2019, um 19 Uhr
Saargemünder Str. 2
14195 Berlin
U-Oskar-Helene-Heim


[1] Die japanischen Namen werden nach der japanischen Reihenfolge von Familienname an erster und Vorname an zweiter Stelle genannt.

[2] 映画保存協会(Film Preservation Society): Tokyo[復元報告]特急三百哩 よみがえった幻の鉄道映画. 2004年9月16日 http://filmpres.org/preservation/tokkyu/

[3] Siehe z.B. 映画「特急三百哩」(1928)の復元  übersetzt: Ota Reismann (太田米男): Restaurierung des Films „Limited Express 300“ (1928). S. 132-136. (PDF)

[4] Tokkyu sambyaku-ri (1929) (IMDb)

[5] Vgl. dazu Torsten Flüh: Von der Liebe zur Maschine. Zu La Roue von Abel Gance mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter der Leitung von Frank Strobel. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. Oktober 2019.

[6] 太田米男: 映画 … [wie Anm. 3]

[7] Ebenda.

[8] Zum und dem Spiel der Geister siehe auch: Torsten Flüh: Musik als Klangkunst für offene Ohren. Zum Nō-Ensemble der Umewaka Kennokai Foundation Tokio und dem Ensemble Musikfabrik mit Peter Eötvös beim Musikfest Berlin 2019. In: NIGHT OUT @ BERLIN 10. September 2019.

[9] Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. XIX. In: Deutsches Textarchiv.

[10] Ebenda S. XVII.

[11] Jacques Derrida: Spectres de Marx: l’état de la dette, le travail du deuil et la nouvelle Internationale. Paris: Éditions Galileé, 1993.

[12] Vgl. hierzu auch Torsten Flüh: Pariser Industrialisierung glüht durch Hector Berlioz‘ Benvenuto Cellini. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. September 2019.

Queering the Classics – The Bassarids

Oper – queer – Libretto

Queering the Classics

Zu Wystan Hugh Audens, Chester Kallmans und Hans Werner Henzes moderner Antiken-Oper The Bassarids in der Komischen Oper

Den fulminanten Coup, den Barrie Kosky als Intendant wie Regisseur und Vladimir Jurowski als Dirigent mit The Bassarids in der Komischen Oper gelandet haben, werden Sie erst wieder am 26. Juni 2020 hören und sehen können. Safe the Date! Im Livestream allerdings ist die Inszenierung mit Sean Panikkar in der Rolle des Dionysus als Gast bis 14. April 2020 verfügbar. Sean Panikkar hatte im August 2018 mit Kent Nagano und den Wiener Philharmonikern bei den Salzburger Festspielen in der Rolle debütiert. In Berlin sticht er neben Günter Papendell als Pentheus, König von Theben, hervor. Barrie Kosky hat seine Inszenierung in englischer Sprache mit einem Zitat aus dem Libretto unter das Motto „There’s no way to hide!“ gestellt. Du kannst mir nicht entkommen.

Die Verführungskünste des „boy-god“ Dionysus sind nach den Bakkchen des Euripides ebenso groß wie seine Machtgelüste tödlich. Wystan Hugh Auden und Chester Kallman waren sich 1963 als Librettisten mit Hans Werner Henze einig, dass der Komponist der Transformation des Librettos nach der griechischen Tragödie um Dionysos und Pentheus zu folgen habe. Und so nahmen sie mit der Umbenennung der Bakkchen in die Bassariden eine entscheidende Verschiebung vor. Sie queerten das antike Drama als Opernlibretto, das Die Bakkchen hätte heißen können. Denn während in der antiken Tragödie nur Frauen dem Gott Dionysos in ekstatischer Lust zulaufen und verfallen, folgen ihm in The Bassarids Frauen und Männer. Dionysos wurde textlich und stimmlich zu einem lyrischen Tenor komponiert.

Sean Panikkar besticht insbesondere in den lyrischen Passagen, wenn Dionysus nach dem Libretto lediglich als Voice zu hören ist. Die englisch, distinguierte Aussprache des R führt er geradezu lustvoll vor. So war es eine gute Entscheidung von Barrie Kosky, die Oper nicht in der deutschen Übersetzung, sondern im Englischen Original von Wystan Hugh Auden und Chester Kallman aufzuführen. Das Libretto hat eine überragende lyrische Qualität und darf als pure queer history gelten. Schon „the boy-god“, wie ihn Pentheus‘ Mutter Agave (Tanja Ariane Baumgartner) nennt, ist in seiner kalkulierten Mehrdeutigkeit unübersetzbar. Denn Dionysus ist nicht nur der junge Gott, den Zeus sich im Oberschenkel zur Rettung einnäht und austrägt, nachdem er ihn mit der Menschenfrau Semele gezeugt hatte und diese in Eifersucht von Hera getötet worden war. Vielmehr lassen sich im „boy-god“ all jene jungen Männer imaginieren, die von Männern wie Frauen angehimmelt werden. Dionysus verführt als Voice auf fast naiv-lyrische Weise:
VOICE: Birds hold a tunefull parliament
         And the honey-bee loudly hums,
         Here the fawn and the wolf-cub
         Sport and play in an amity:
         Men and maids also dance.[1]   

Auden und Kallman adaptieren den Dionysos-Mythos und haben ihrem Libretto ein beziehungsreiches Zitat von Gottfried Benn als Motto vorangestellt: „The Myth lies …“[2] Der Mythos lügt? Worin lügt der Mythos? In Gottfried Benns Gedicht Verlorenes Ich bezieht sich die Formulierung auf eben jene „die einst auch das verlorene Ich umschloß“. Mythen sind in ihrer elastischen Formulierungskunst ungenau und mehrdeutig. Doch bezogen auf die Verschiebung der Gefolgschaft des Gottes von Bakkchen zu Bassariden ließe sich die Übermittlung des Mythos nach Euripides als bereits heteronormativ korrigiert lesen. Für ihre Umwandlung nahmen Wystan Hugh Auden und Chester Kallman ein klassisches Bildungswissen wie ein Erfahrungswissen in Anspruch. Denn Christopher Isherwoods Freund Auden, der sich als Oxford-Absolvent das Wort „schwul“ selbstbewusst in Berlin 1928 angeeignet hatte und es als Entschuldigung für einen Flirt in der Straßenbahn einsetzte – „Entschuldigen Sie Madam, aber ich bin schwul“ –, wie Robert Beachy zitiert hat[3], hatte sich als Zweiunddreißigjähriger 1939 in New York in den 18jährigen Brooklyn College Schüler und Opernfan Chester Kallman verliebt. Schon in Berlin hatte er zahlreiche Begegnungen mit jungen Männern, die in Gedichte auf fast fehlerfreiem Deutsch verwandelt wurden.

Man redet hier von Kunst am Wochenende
Bin jezt zu Hause, nicht mehr in Berlin
So kommt es immer vor in diesen Sachen
Wir sehen uns nie wieder, hab‘ dein Ruh:
Du hast kein Schuld und es ist nichts zu machen
Sieh‘ immer besser aus, und nur wenn Du
Am Bahnhof mit Bekannten triffst, O dann
Als Sonntagsbummelzuge fertig stehen
Und Du einsteigen willst, kuk einmal an
Den Eisenbahnen die dazwischen gehen.
Sonst, wenn ein olle Herr hat Dich gekusst
Geh mit; ich habe nichts bezalt; Du must.[4]

Das Genre Oper ermöglichte Auden eine (nicht zuletzt sinnlich reimende) Poetik, mit der er nach Edward Mendelson in eine Krise geraten war. –  „And where should we find shelter/For joy or mere content/When little was left standing/But the suburb of dissent.“ (Und wo sollen wir Schutz finden?/Aus Freude oder nur zur Zufriedenheit/Als noch wenig mehr übrig war/Als der Vorort des Dissens.)[5] – Der gemeinsame Opernbesuch wurde 1940 schon deshalb zur Leidenschaft des Schriftstellers und Poeten, weil auf der Opernbühne die Poetik und Rhetorik des „grand style“, der antiken Dichtung, überlebte, wie Edward Mendelson in seiner Einführung zu den Libretti berichtet. Im „grand style“ werden Dionysus‚ Verführungskünste um so größer, als die Voice rein verbal auf fast hypnotische Weise Raum zur Imagination gibt. [6]
VOICE. O what a pleasant hermitage,
         Far from Nemesis, the overjust.
         Come. Come. Yourselves associate
         With our glad unanimity:
         Join the dance. Come away.

Wo Rehkitz (fawn) und Wolfwelpe (wolf-cub) tollen und spielen, verspricht die Dionysus‘ Stimme eine geradezu paradiesisch-glückliche Einstimmigkeit (unanimity). Diese Einstimmigkeit wird sich zur Tragödie verkehren, weil in ihr kein Widerspruch oder eine Dissonanz geduldet werden darf. Vladimir Jurowski und Barrie Kosky haben zwar in einem Interview für die Produktion mit klugen Formulierungen erklärt, warum Hans Werner Henze sich mit 40 Jahren zur Komposition von The Bassarids entschied. – „Vladimir Jurowski: … The Bassarids waren in vielerlei Hinsicht ein Wendepunkt in Henzes Leben. Es ist der Punkt in seinem Schaffen, an dem er vielleicht zum ersten Mal ganz bei sich ist und sagen kann: Ich bin Hans Werner Henze, ich bin der, der ich bin…“ „Barrie Kosky: Letztlich sind alle Theaterschaffenden in der westlichen Tradition in irgendeiner Form vom antiken griechischen Theater beeinflusst…“[7] – Doch bereits Mendelson hat in seiner Einführung zur Werkausgabe der Libretti darauf hingewiesen, dass „Auden and Kallman had since 1948 summered in Ischia, where in 1953 they met Hans Werner Henze“.[8]   

© Monika Rittershaus

Hans Werner Henze war gleichfalls an dem selten glücklichen Begehrensmodel „boy-god“ interessiert. Unter der Folie der antiken Tragödie, die bei Euripides fast misogyn konnotiert wird, verhandeln Auden, Kallman und Henze nicht nur ihr sexuelles Begehren, vielmehr überhaupt die Sexualität als Begehren und Geschlechterordnung im „grand style“. Dadurch lässt sich vorführen, was in den Secret Boys Poems eher fürs Tagebuch gedacht war. Barrie Kosky inszeniert denn auch das Intermezzo, stärker und deutlicher als von Auden in den Regieanweisungen vorgesehen, als Travestie, aus der der allzu männlich, gesetzgebende König von Theben, Pentheus, in Frauenkleidern seiner Mutter Agave hervorgeht. Auden haderte offenbar mehrfach mit den Inszenierungen seiner Libretti und besonders bei der Uraufführung von The Bassarids am 6. August 1966 in Salzburg. Das könnte einen Wink geben auf das imaginäre Potential des Librettos. Es ist der alte blinde Seher Tiresias (Ivan Turšić), in der Inszenierung mit Sonnenbrille und im Hauskleid mit markanten Brüsten, als Medium des Wissens, der Dionysus einführt.
TIRESIAS.
         Who? Dionysus?
         He is the youngest of the Gods; soon Hera
         Also will befriend his might. On Olympus
         Now and Delphi his place waists amongst Gods, the
         God Dionysus!

© Monika Rittershaus

Wie sind die Mythen und die griechische Götterwelt mit ihren komplizierten Genealogien entstanden? Im klassischen Bildungswissen lassen sich die Abstammungen zwar labyrinthisch, doch relativ klar nachverfolgen. Sie lassen sich in enzyklopädisches Wissen im Sinne einer Grundbildung verwandeln. Doch dieses Wissen ist ein nachträgliches, das aus der antiken Literatur kompiliert wird. Die Dichter der Antike stellten in ihren Tragödien, Komödie und Gedichten diese allererst in der Dramaturgie ihrer Literaturen her. Dort sind allerdings die Genealogien literarisch weit verschachtelter, als sie sich im enzyklopädischen Wissen merken lassen. Das Bildungswissen des 19. Jahrhundert wird nach dem Dichter, Kulturkritiker und Schulinspektor Matthew Arnold durch „the grand style“ der antiken Rhetorik vermittelt, der schon von der zeitgenössischen Kritik karikiert wurde. Was aber heißt es dann, dass Dionysos genealogisch als der Jüngste vorgestellt wird? Die Macht des Tötens (kill) und Erneuerns (renew) haben durchaus andere Gött*innen auch. Aber wie ist es mit dem Freigeben (release) oder gar Befreien als dritter Praxis nach Teiresisas? Lässt er nur jemanden frei? Oder ermöglicht er die Freigabe von kulturell nicht normierten Praktiken? In der Poetik des Librettos bleibt das offen.
TIRESIAS. Dionysus
         Kills and renews and can release you. Where is
         Pentheus our King? Bring Pentheus with you
         Quickly . . .

© Monika Rittershaus

Die ständigen und oft kämpferischen Regulierungen des Weltenlaufs mit einem Gott, Zeus, als Göttervater, der ständig seine Macht durch Affären mit Menschenfrauen überschreitet, missbraucht und auch vor Inzest nicht zurückschreckt, um so seine Macht zu mehren, braucht ein Ventil, in der der fast schon überregulierte Mensch der antiken Welt sich als befreit fühlen darf. Diese Funktion könnte den späten bzw. jungen Mythos des Dionysos herausgefordert haben. Die Deregulierung wird im Rausch durch Wein, Drogen und sexuelle Enthemmung praktiziert und versprochen. Dionysos verbreitet keinesfalls nur Chaos, vielmehr dereguliert er die Göttermacht, indem er sich quasi selbstermächtigt, diese Macht allerdings ebenso brutal nutzt und an Agave vorführt. Teiresias formuliert es anders. Bei Auden und Kallman wird diese Funktion als Praxis der Sexualität aufgeführt. Dem psychologischen und psychoanalytischen Trieb ist nicht zu entkommen. Er wird zum Wahrheitsmodus des Geschlechtlichen, vor dem man sich nicht verstecken kann. 
AGAVE.  Let him go: the blindest of all women
         Thrust upon by Eros, and limpest man. Go.
         Blank Dionysus of girls, the boy-god.
         Hop to him, both your love-gods in a fever.
         Go.

© Monika Rittershaus

Der „grand style“ als Poetik zeichnet sich durch eine besondere Elastizität und Verschachtelung im fast schon deliranten Sprechen z. B. der Agave aus. Das Nahen Dionysus verschiebt die Syntax der Rede und Benennung. „Blank Dionysus of girls, the boy-god“ ließe sich übersetzen als „Nackter Dionysus der Mädchen, der Jungen-Gott“. Aber was heißt das, wenn nicht damit seine sexuelle Attraktivität beschrieben wird? Pentheus kämpft als Herrscher von Theben so sehr gegen diese Attraktivität und sein sexuelles Begehren an, dass er nicht nur von seinem Großvater Cadmus (Jens Larsen) nicht mehr an Dionysos als Gott zu glauben, sondern sich selbst zu Abstinenz und Zölibat zwingt. Er versucht alles, um dem zu entkommen, woran sein Großvater nicht aufhören kann zu glauben.
PENTHEUS …
         You have been heard. Heard bowed, I have listened. But
         One thing, one that I long waited to hear, you most.
         Carefully shunned: Do you in your wisdom think
         Dionysus a God or no?
CADMUS. I believe him a God, the son
         Semele bore Zeus miraculously, a God
         Glorious, fearful, new to the Gods and, new
         To himself and his strength, proving them both on man.

© Monika Rittershaus

Doch es ist nicht nur die Frage nach der Sexualität oder dem Anderen, die Pentheus als König des Stadtstaates Theben mit Dionysus als „Anathema“ verknüpft. Vielmehr begründet er seine Verfluchung mit der Frage nach dem Guten für die Stadt. Die Frage nach dem Guten (good) anstelle der nach dem Gott (god) lässt sich zumindest bei Auden/Kallman als eine rhetorische Figur beobachten und bedenken. Sie widmen dieser Frage ein Gedicht bzw. eine Arie in drei Strophen. Nicht nur das poetische Spiel mit god und good wird hier aufgeführt. Zugleich bekommt Pentheus‘ Position eine nachvollziehbare Berechtigung. Das scheinbar willkürliche Verbot des Gottes Dionysus erhält nun eine monotheistisch-säkulare Rechtfertigung, indem „the grand style“ paradigmatisch aufgeführt wird. 
PENTHEUS. Faithful Beroe!
         Whom else can I trust
         Not to betray me?
         To you alone
         Can I open my heart.
         Listen, Beroe!
         For speak I must:
         The best in Thebes
         Do but worship shadows
         Of the True Good.

         They honor Its excellence
         Under many a name
         Of God and Goddess:
         But the Good is One,
         Not male or female,
         They acknowledge Its glory
         With statues and temples
         Fair to behold:
         But the Good is invisible
         And dwells nowhere.

         Well, let it be so,
         For so it must be
         With little children
         Until they have come
         To understanding.
         Truth and righteousness
         Glimmer through
         The ancient rites:
         But they shall not worship
         The Ungood!

Günter Papendell brilliert mit diesem philosophischen Diskurs. Die Unsichtbarkeit des Guten wird als Gegenargument für die vielgestaltig sichtbaren Götter formuliert. Man kann das gar eine mediale Frage der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit nennen. Im Unterschied zu Euripides‘ Bakkchen verstärken Auden/Kallman die Position des Pentheus entschieden. Die Dramaturgie wird zugespitzt und zur Frage einer christlich konnotierten Transzendenz. – „But the Good is invisible/And dwells nowhere.“ – Das Gute ist unsichtbar und lässt sich nicht an einen Ort binden. Pentheus‘ Rede für das monotheistisch oder transzendental Gute – „But the Good is One“ – lässt sich so nicht bei Euripides finden. Da die Sichtbarkeit ein positives Wissen voraussetzt, geht es mit der Unsichtbarkeit des Guten um einen grundverschiedenen Wissensmodus. Es führt nicht nur Pentheus vor oder charakterisiert ihn, vielmehr wird hier ein philosophisches Problem in poetischer Form aufgeführt, wie es sich selbst auf der Opernbühne nur schwer vermitteln lässt. Barrie Koskys Inszenierung und Personenführung verzichtet auf allzu starke philosophische Aspekte. Er macht mehr Oper und Darstellung allerdings mit dem Bühnenbild und Kostümen von Katrin Lea Tag als geradezu amphitheatrales soziales Ereignis. Der Zuschauerraum bleibt erleuchtet. Jede/r sieht jede/n und die Sänger*innen wie Chor, Tänzer*innen und Teile des Orchesters spielen auf der großen Freitreppe. Theater als soziales Ereignis mit Wink auf antike Praktiken.

Wystan Hugh Auden war als Operngänger mit der Uraufführung von The Bassarids in Salzburg hinsichtlich der Musik sehr zufrieden. Vladimir Jurowski weist allerdings darauf hin, dass das Publikum die Musik „einfach geil“ fand, „weil sie es an die ihm vertraute Welt eines Richard Strauss erinnerte“.[9] Und man kann hinzufügen, dass es wohl genau das war, was sich Auden und Kallman quasi als Hugo Hoffmansthal-Epigonen, Richard Strauss‘ Librettisten, erträumt hatten. Dazu passt auch, dass ein Freund vor der Vorstellung The Bassarids als die größte Oper der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ankündigte. Bei Agaves Wahnsinnsarie, nachdem sie Pentheus, ihren Sohn, im bassaridischen Rausch zerfleischt hat, schimmert denn auch Elektra von Hugo von Hoffmannsthal und Richard Strauss durch. Hans Werner Henze ging zumindest darin andere und neue Wege, dass er die Oper wie eine Sinfonie in vier Sätzen komponierte. The Bassarides befinden sich musikalisch an der Schnittstelle von Oper, Musikdrama und Musiktheater. Henzes Musik für Dionysus  wird in vielen aufeinanderfolgenden Dur-Dreiklängen und Septakkorden komponiert, die Jurowski als „eine() Art übertriebene() Romantik“ auffasst.[10] Man könnte sie allerdings ebenso als eine Queerness beschreiben, die Sean Panikkar auf berückende Weise stimmlich und darstellerisch zu verkörpern weiß.

Nach Elegy for Young Lovers (1961) und The Bassarids (1966) endete die Zusammenarbeit von Wystan Hugh Auden und Chester Kallman mit Hans Werner Henze. Insofern bleibt die verspätete Oper The Bassarids, die musikalisch schon keine Oper mehr ist, ein Solitär. Vielleicht ist die Oper Edward II. von Andrea Lorenzo Scartazzini mit dem Libretto von Thomas Jonigk, die 2017 in der Deutschen Oper aufgeführt wurde, ein spätes Echo von The Bassarids.[11] Benjamin Brittens Oper Tod in Venedig kam erst 1973 in einer völlig anderen Sprache und Musik obgleich mit ähnlichem Sujet zur Uraufführung.[12] Denn Gustav von Aschenbach/Thomas Mann himmelt in Tadzio einen „boy-god“ an. Audens und Kallmans sowie Henzes gewissermaßen behutsames Queering der antiken Tragödienliteratur blieb ein Einzelfall. Der kann allerdings noch einmal in der Komischen Oper in herausragender Qualität mit Sean Panikkar gesehen und gehört werden. Die allzu wenigen Aufführungen von The Bassarids geben indessen auch einen Wink auf die zwanghaften Wiederholungsgewohnheiten von Operngängern, die nicht sehen und hören wollen, was sie nicht kennen.

Torsten Flüh

PS: Unter- oder Übertitel in Deutsch wären gewiss nicht die Lösung gewesen. Doch für diese wirklich sehr textbasierte Oper wäre eine Projektion des englischen Textes hilfreich gewesen.  

Komische Oper
The Bassarids
Musikdrama in einem Akt
Hans Werner Henze
Libretto Wystan Hugh Auden und Chester Kallman
Fr., 26. Juni 2020, 19:00 Uhr
Livestream bis 14.04.2020


[1] Wystan Hugh Auden/Chester Kallman: The Bassarids. In: Wystan Hugh Auden: The complete works of W. H. Auden : poems, plays (with Christopher Isherwood), libretti (with Chester Kallman), prose / [ed. by Edward Mendelson]. Princeton: Princeton University Press, 1993.

[2] „Die Mythe log … Gottfried Benn“ (Libretti, S. 249) steht nach der Gesamtausgabe untereinander auf der Titelseite. Auden und Kallman zitieren hier aus Benns Gedicht Verlorenes Ich. (1943) In seiner Einführung übersetzt Edward Mendelson das Zitat mit „The Myth lies“. Edward Mendelson: Introduction. In: Ebenda S. xxviii.

[3] Robert Beachy: Gay Berlin. Birthplace of a Modern Identity. New York: Knopf, 2014, S. xi. Siehe auch: Torsten Flüh: „Entschuldigen Sie, Madam, aber ich bin schwul.“ Zu Robert Beachys Gay Berlin: Birthplace of a Modern Identity in der American Academy. In: NIGHT OUT @ BERLIN Oktober 29, 2015 20:20.

[4] Zitiert nach: Katherine Bucknell: The Boys in Berlin: Auden’s Secret Poems. In: The New York Times Nov. 4 1990 Section 7, Page 1. In der Ausgabe der Collected Poems von Edward Mendelson von 1976 fehlen derartige Gedichte. Richard R. Bozorth hat 2004 erstens darauf hingewiesen, dass Auden sich ausführlich mit der Psychoanalyse Sigmund Freuds befasst habe (S. 175) und zweitens während seines zweiten Berlin-Aufenthalt ein „remarkable“ Tagebuch geführt habe. (S. 180) „The remarkable journal he kept in Berlin in early 1929 records, on facing pages, a diary of his love life and sexual relations with various young men he met in Germany, and a complex theoretical engagement with the work of Freud (…)“ Gleichwohl ist Auden erst spät in das Interesse der Queer Studies geraten. (S. 176) Richard R. Bozorth: Auden: love, sexuality, desire. In: Stan Smith (Ed,): The Cambridge Companion to W. H. Auden. Cambridge/New York: Cambridge University Press, 2004, S. 175-187.

[5]  Zitiert nach Edward Mendelson: Introduction. Wystan Hugh Auden: The … [wie Anm. 1] S. xvi.

[6] Ebenda.

[7] »Wie ein Echo des antiken Theaters …« Regisseur Barrie Kosky und Dirigent Vladimir Jurowski über Sinfonien, Satyrspiele und die Suche nach sich selbst. In: Komische Oper (Hg.): The Bassarids. Hans Werner Henze. Berlin 2019, S. 20.

[8] Edward Mendelson: Introduction. Wystan Hugh Auden: The … [wie Anm. 1] S. xxvi.

[9] »Wie ein Echo … [wie Anm. 6] S. 10.

[10] Ebenda.

[11] Siehe u.a. Torsten Flüh: Die Rückkehr der Oper nach der Anti-Oper. Edward II. als schwule Oper an der Deutschen Oper Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN März 6, 2017 21:38.

[12] Siehe u.a. Torsten Flüh: Spuren der Kunst im Gesicht. Graham Vick inszeniert Benjamin Brittens Tod in Venedig an der Deutschen Oper. In: NIGHT OUT @ BERLIN  März 23, 2017 18:07.

Vertrauliche Begegnung mit Fuchs: Sonnenallee

Einheit – Begegnung – Vielfalt  

Vertrauliche Begegnung mit Fuchs: Sonnenallee

30 Jahre Mauerfall am Brandenburger Tor, in The Ballery, in der Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche und im Berliner Dom

Andreas Fux ist als Fotograf ein einzigartiger Zeuge des 9. November 1989. Er vergaß, vor lauter Euphorie zu fotografieren. Er musste erst einmal rüber nach West-Berlin. Und blieb dort 4 Tage bei Freunden, weil man sich ja nicht sicher sein konnte, wann die Mauer wieder geschlossen wird. So erzählt er seinen Mauerfall dreißig Jahre später. Der in Ost-Berlin geborene und aufgewachsene Fotograf Andreas Fux zeigt in The Ballery in der Nollendorf Straße seine Serie Witness. Seine Schwarzweiß-Fotografien sind mit einer gewissen Verzögerung entstanden. Bei ihm liegt die Meierei von Carl Gotthardt Langhans im Neuen Garten in Potsdam noch hinter der Mauer mitten auf dem Todesstreifen am Jungfernsee, was er überhaupt erst nach dem 9. November fotografieren durfte.

Das zentrale Kunstprojekt am Brandenburger Tor konzipierte und kuratierte in diesem Jahr Patrick Shearn unter dem Titel Visions in Motion. Patrick Shearn und Poetic Kinetics aus Los Angeles arbeiten international. Er ist weltbekannt für seine Skynets, die sich im Wind bewegen. Doch nicht nur der ästhetische Eindruck des Skynets fasziniert, das zwischen der Plastik Der Rufer von Gerhard Marcks aus dem Jahr 1966 und dem Vorplatz des Brandenburger Tors hängt. Das Skynet Visions in Motion bewegt sich je nach Wind mal stärker, mal schwächer. Vielmehr besticht auch die Größe auf einer Länge von 450 Fuß mit einer Fläche von 20.000 Quadratfuß über der Straße des 17. Juni. Aus einem bestimmten Winkel stellt sich durchaus der Ruf am Schluss von Francesco Petrarcas Canzone 16 als Korrespondenz mit den 30.000 Botschaften des Skynets ein: „Ich geh‘ und rufe: Friede, Friede, Friede!“

Auf den mit der Bronzeplastik Der Rufer verknüpften Vers wurde in der landläufigen Berichterstattung nicht näher eingegangen. Die große Zahl der 120.000 Stoffstreifen aus einem reflektierenden Nylonstoff in Gelb-, Blau-, Rosa- und Violetttönen sowie die 140 Zeichen für die 30.000 Botschaften zählen heute mehr als das Bildungswissen der Petrarca-Canzone. Dabei formulieren die 30.000 Botschaften, die von oft jungen Leuten gar vor der East Side Gallery an der Mühlenstraße, im Wende Museum in L. A. in der Woche vom 25. September, in anderen Projekten oder auf https://mauerfall30.berlin/en/# eingereicht werden konnten, vielleicht nicht sehr große Abweichungen vom humanistischen Friedenswunsch Petrarcas.[1]
Ich rathe dir, Canzone,
Sag‘ höflich deine Meinung; denn zu Leuten,
Die stolz und übermüthig, geht die Reise,
Die sich nach alter Weise
Und bösem Brauche immerfort bereiten,
Die Wahrheit zu bestreiten.
Doch besser wirst du fahren
Bei wen’gen Edeln, die des Bösen müde. –
„Wer wird,“ sprich da, „mich wahren? –
Ich geh‘ und rufe: Friede, Friede, Friede!“[2]

Mit Poetic Kinetics geht es programmatisch um Poesie in Bewegung. Da Petrarca in der Canzone 16 das durch Kriege zerrissene Italien im 14. Jahrhundert – „O mein Italien, ob kein Wort auch heile/Die Wunden, die ich offen/An deinem schönen Leib in Menge sehe, …“[3] – besingt, war 1966 die Wahl des Zitats durchaus treffend und beziehungsreich. Denn seit dem Mauerbau durchzog Deutschland eine „Wunde()“, wie sie beispielsweise Burkhard von Harder und FM Einheit 2015 mit dem Video mit Live Sound Narbe Berlin (2009) im Kraftwerk Mitte performt haben.[4] Petrarca spricht die Canzone sozusagen allegorisch als poetische Rede und „Meinung“ an, wenn es heißt: „Ich rathe dir, Canzone,/Sag‘ höflich deine Meinung; …“ Durch diese rhetorische Figur gelingt ihm einerseits eine Verstärkung der „Meinung“, andererseits schützt sich das Dichter-Ich vor Verfolgung durch die Zensur.

Patrick Shearn generierte eine ebenso leichte wie bewegende Vielfalt der Meinungen und Wünsche mit Visions in Motion. Die Vielfalt wird auf den beschrifteten Nylonstreifen sichtbar und verschwindet doch in der großen Zahl der Stoffstreifen. Man muss die Schriftstreifen schon heranzoomen, um sie im Skynet sehen zu können. Sie bleiben allerdings nahezu unlesbar. Mit dem Kunstprojekt findet eine leichte Verschiebung vom Geschichtenerzählen als Rückblick zur Botschaft für die Zukunft statt. Am Brandenburger Tor wurden zwar auch individuelle Erzählungen z.B. die von Georg Mascolo, der mit einem Kamerateam am 9. November 1989 von der Ostseite des Grenzübergangs Bornholmer Straße live berichtete, bereitgestellt, aber Patrick Shearns Kunstprojekt brachte einen starken anderen, internationalen Akzent in die Feierlichkeiten. Den Mauerfall zu feiern, sollte heute auch heißen, sich gegen die Installation imaginärer Mauern zu wehren.      

Die Zeugenschaft der Fotografie ist engagiert diskutiert worden. Das gilt ebenso für die Serie Witness von Andreas Fux. Denn es ist zunächst einmal gar nicht sicher, von was der Fotograf Zeugnis ablegen will. Er hat den sogenannten Mauerstreifen vor und im Verschwinden fotografiert. In der Ausstellung kombiniert er dieses besondere Genre der, so muss man es nennen, Landschaftsfotografie mit Fotos von mehr oder weniger nackten, jungen Männern in Innenräumen oder z. B. auf einem DDR-Motorrad unter der legendären Glienicker-Brücke an der Havel. Die Aufgeregtheit des 9. und 10. November 1989 in Berlin und anderswo ist einer fast melancholischen Ruhe gewichen. Fux fotografierte, was bald verschwinden sollte und heute tatsächlich fast gänzlich aus dem Stadtbild verschwunden ist. Der Mauerstreifen neben dem Axel-Springer-Verlagshaus in der Kochstraße ist in den letzten Jahren durch Bebauung vernarbt, wie man sagen könnte.

Vielleicht sollte man Andreas Fux‘ Serie Witness als ein Zeugnis des Verschwindens betrachten. Die Jugendlichkeit der jungen Männer wird ebenfalls bald verschwunden sein. Vermutlich fotografierte der ca. 25jährige Fux Freunde. Selbst 1964 geboren fotografierte er ungefähr gleichaltrige „Jungs“ nackt auf dem Sofa, im Tanktop vor einem Backsteinschuppen mit geschlossenen Fensterläden. Die melancholische Stimmung der Fotos liegt nicht im Schwarzweiß als Medium, eher schon in der Körperhaltung oder den geschlossenen Augenlidern unter den zerzausten blonden Haaren oder einer fast zur Faust geballten Hand. Die Landschaften wie die Jungs sind mit relativ harten Lichtkontrasten durchkomponiert. Das helle Licht im Rücken oder von der Fensterseite lässt an sommerliche Lichtkontraste denken. Auf Instagram oder Facebook gibt es solche Portraits heute nicht mehr.

Es gibt eine Signatur der Zeit, die die Fotos aus der Serie Witness zu Zeugnissen macht. Diese Signatur ist durchaus angereichert mit einem kulturellen Wissen. Diese 30er oder 40er Jahre Sofas aus Omas oder Opas Wohnstube mit einem geblümten oder geblätterten Muster aus strapazierfähigem Samtbezug gibt es nicht mehr. Oder nur noch als Vintage. Ruinen oder die Maueranlagen dienten schon deshalb besonders gut als Fotokulisse, weil sie verlassen und meist ungesichert waren. Das hat sich heute zumindest in Berlin oder Hamburg geändert. Ruinen sind geldwerte Anlagen geworden, die auf den nächsten Investor warten. Und dann gibt es diesen jungen Mann in der Modejacke der 80er Jahre. Alles ein wenig voluminös aufgepolstert. Anfang der 90er Jahre ließ sich noch viel aus den 80ern hinüberretten. Kleidungen und Haarschnitte verraten immer etwas über die Moden der Zeit.    

Simon Williams hat mit Andreas Fux und dem Humpelfuchs-Fotobuch von Bastian Thiery nicht nur eine sprachspielerische Ausstellung über Fuchs in The Ballery eingerichtet. Vielmehr geht es um eine durchaus generationelle Korrespondenz zwischen zwei Berliner Fotografen und mit Touch me – Samantha & the Fox hat er gar eine Musikperformance eingerichtet, die am 27. November wiederholt werden soll. Bastian Thiery wurde 1990 geboren, lebt und fotografiert an der ebenso legendären wie berüchtigten Sonnenallee in Neukölln. Legendär ist die Sonnenallee seit der gleichnamigen Filmkomödie von Leander Haußmann mit Alexander Scheer, Robert Stadelober, Katharina Thalbach und vielen Anderen von 1999. Berüchtigt ist sie auf über 4 Kilometern als Neuköllner Kiez mit hohem migrantischen Einwohneranteil. Sie war geteilt. 400 Meter liegen im Stadtteil Treptow-Köpenick, wo die Komödie unmittelbar an der Mauer in den 70er Jahren spielt. An der Sonnenallee traf Bastian Thiery eines nachts einen humpelnden Fuchs und machte ihn zum Star.

Über die Anwesenheit von Füchsen in Großstädten und Städten ist zumindest soviel bekannt, dass sie in der Nähe von Grünanlagen in jüngerer Zeit häufiger vorkommen. Bastian Thiery traf seinen Humpelfuchs, wie er ihn nennt, viermal und entwickelte geradezu eine Beziehung zu ihm. Auf einem Farbfoto schaut ihm der Fuchs fast neugierig in die Kamera. Abgesehen davon, dass ich selbst schon einen Fuchs nachts über den Nettelbeckplatz im Wedding habe schleichen sehen und sich mir in der Abenddämmerung im Sommer eine humpelnder Fuchs nahezu vertraulich beim Laufen im Volkspark Rehberge in den Weg stellte, vermittelt Thiery in seinem Buch eine bestimmte Stimmung in der Großstadt um die Sonnenallee mit seiner Fotografie. Für das Zeit Magazin hat er sie im Mai als „Straße der Glücksritter“ fotografiert.

Bastian Thiery gelingt mit seinen Fotos etwas Verwirrendes: sie wirken wie Schnappschüsse, bei denen die Perspektive fast ständig zwischen Auf-, Unter- und Quersicht sogar bis zur Unschärfe wechselt und sind trotzdem genau durchdacht. Auf einem anderen Foto von Humpelfuchs auf einer Fahrbahnmarkierung begibt sich die Kamera fast auf Augenhöhe mit dem Tier. Aus einem Straßenladen auf der Sonnenallee mit Granatäpfeln und Auberginen macht Thiery ein Stillleben. Er sieht die Kontraste und Widersprüche, beispielsweise wenn er in einem Schaufenster eine Puppe mit offener Haarmähne in einem roten, teilweise mit schwarzen Spitzen durchsichtigen Lycra-Anzug mit roter Federboa neben einer Schaufensterpuppe mit einem unter schwarzem Kopftuch verhülltem Haar in einem dunkelroten, bodenlangen Kaftankleid fotografiert. In Humpelfuchs raucht ein Mann eine Zigarette am Fenster. Beobachtet er jemanden? Die Perspektive von schräg unten inszeniert selbst ein Beobachten.

Humpelfuchs ist mit seinen 36 Fotografien als Fotobuch von einer vertraulichen Begegnung mit minimalistischem Text durchkomponiert. – „One night, in my neighborhood, I saw a limping fox. He was curious, waited for me to approach him, running away when our distance became too small – only to wait again. I took five pictures of the fox that night, until he disappeared behind a fence, leaving me with the urge to encounter him again.“ – Die minimale Beschreibung der Begegnung zwischen Nähe, Distanz und dem nachträglichen Verlangen, den Fuchs wiederzutreffen, lässt sich als Parabel auf die Fotografie von Bastian Thiery lesen. Das Buch selbst wechselt ständig zwischen Nähe und Distanz. Ein fetter Mann mit tätowiertem Oberkörper verheddert sich beim Aus- oder Anziehen eines Sweatshirts. Oder versteckt er sein Gesicht darin, um nicht erkannt zu werden? Man könnte sich fragen: Was passiert da gerade? Es ist, als knüpfe Bastian Thiery an Jacques Derridas philosophisches Buch Droits de regards (1983) an und wolle sagen: „… Du wirst niemals, Sie auch nicht, all die Geschichten kennen, die ich mir beim Anschauen dieser Bilder noch habe erzählen können.“ – Es gibt nicht nur eine Geschichte.

Die Pluralität von Geschichte kam auch mit der Predigt von K.D. Ehmke am 9. November in der Kunstkirche Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche im Hansaviertel zum Zuge. K.D. Ehmke erzählte seine sehr persönliche Mauerfall-Geschichte für die Gemeinde. Ihn fasst gelegentlich immer noch die Erinnerung an sein Leben in der DDR an, wenn er über den ehemaligen Mauerstreifen in Berlin die Bezirke und Kirchenkreise wechselt. K.D. Ehmke, der beruflich als Arzt praktiziert, engagiert sich ehrenamtlich im Kirchenkreis Berlin Stadtmitte. Die Gemeinde der Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche hat ihn als Zeitzeugen zur Themen-Predigt mit besonderer Kirchenmusik von Demetrios Karamintzas (Oboe) und Ralf Lützelschwab (Orgel) am Samstagabend eingeladen. Die Kirche wurde zur Interbau 1957 von Ludwig Lemmer am Rande des Tiergartens erbaut. Sie ist mit ihrer abstrakten Mosaikwand hinter dem schlichten Altar, der Kanzel bis zum Nierentisch links neben dem Portal ein Juwel der 50er-Jahre-Architektur. Die Kanzel mit dem Chrom- und Glasdach visualisiert ein einziges spirituelles Versprechen. Ehmke wurde 1958 in Anklam geboren, erzählt er. Seine Eltern waren Landwirte. Weil sie ihren evangelischen Glauben praktizierten, wurden seine Eltern und Großeltern sowie er selbst diskriminiert und drangsaliert. So stellte er dann seine Kanzelrede nach Psalm 50:15 unter das Motto „rufe mich an in der Not“.

Klaus-Dieter Ehmke hat seine private Bibel aus Zeiten der DDR mit auf die Kanzel genommen. Er erzählt, wie er während seines Wehrdienstes bei der NVA von seinem Politoffizier unter Druck gesetzt wurde, indem er dieser seine Bibel stahl, um ihn im Politunterricht lächerlich zu machen, indem er am Lesezeichen etwas aus dem Zusammenhang Gerissenes vorlas. Man kann seine Geschichte nicht einfach so aufschreiben, wie er sie von der Kanzel erzählt. Es ist eine Geschichte des Widerstands, weil er praktizierender Christ war. Die Pointe geht ungefähr so, dass sein Politoffizier aus der Bibel höhnisch zitiert. Daraufhin riß Ehmke dem Politoffizier mit dem Mut des Verzweifelten seine Bibel aus der Hand und begann die Stelle ausführlich zu lesen, woraufhin seine Kameraden ihn mehrfach mit „Weiter! Weiter!“ aufforderten, dem Politoffizier laut aus der Bibel lesend die Stirn zu bieten. Die gefährliche Episode endet nur mit einem „Wegtreten und Putz- und Flickstunde“. Später fand er auf Hiddensee seinen Mann fürs Leben und zum 9. November 1989 wollte er eigentlich zur restlos ausverkauften Welturaufführung des ersten Schwulenfilms der DDR, Coming out von Heiner Carow, ins Kino International. Doch dann entschied er sich, einen Tag später am Freitag, den 10. November um 19:30 Uhr für 3,00 Mark (der DDR) in den Film zu gehen. Den „Eintrittsausweis“ der „Bezirksfilmdirektion Berlin“ besitzt er noch heute.  

Der 9. November 1989 bleibt bisweilen ein Geheimnis. Ist K. D. Ehmke am 10. November überhaupt in den Film gegangen? Der „Eintrittsausweis“ ist durch Abriss nicht entwertet. Andreas Fux erzählt seine Coming out-Geschichte mit der Premiere, der anschließenden Premierenfeier in der Alt-Berliner Schwulenkneipe Burgfrieden. Dort waren halb-dokumentarisch Szenen des Films gedreht worden. Für andere Szenen hatte Lothar Bisky seine private Wohnung in Prenzlauer zur Verfügung gestellt. Am 9. November wurde der Film, der nur durch mutiges Engagement Einzelner zustande gekommen war und mehr oder weniger im Untergrund gedreht worden war, zur Staatsaktion im offiziellen Uraufführungskino der DDR. Am 9. November stürmten irgendwann während der Feier die ersten Leute ins Lokal, um zu sagen, der nahe Grenzübergang Bornholmer Straße sei offen. Dann allein oder einige zusammen zur Bornholmer Straße … und erst einmal bloß drüben bleiben… Die Geheimnisse in der bis ins letzte Detail und live im Fernsehen übertragenen Grenzöffnung gibt es trotzdem.

Der Kulturkirchen-Gottesdienst im Hansaviertel bleibt eine eher überschaubare Veranstaltung. Kein touristisches Highlight, aber sehr besonders. Nach der Mauerfall-Predigt von K.D. Ehmke lud Pfarrer Sascha Gebauer Gäste und Gemeinde zu einem kleinen Empfang in den Gemeindesaal gleich neben dem Kirchenraum ein. Es soll ein Raum für Begegnungen geschaffen werden. Was wird passieren? Wie kann man in ein Gespräch kommen? Es gibt Wasser und Wein. Mit einer kaum spürbaren Verzögerung setze ich mich an einen Tisch mit einer Frau. Wir kommen ins Gespräch. Sie kommt aus Schweden und hat die dezentralen Veranstaltungen in ganz Berlin in der Woche vor dem 30. Jahrestag des Mauerfalls besucht. Es wird ein angeregtes und anregendes Gespräch. Sie hatte an der Freien Universität Berlin in Dahlem Germanistik studiert, bevor sie Lehrerin in Uppsala wurde. K.D. Ehmke hatte in seiner Predigt erzählt, wie er 1985 nach Berlin in eine Wohnung im Prenzlauer Berg gegenüber jener von Franz Kafkas Verlobten Felice Bauer zog. Ein Mieter des Hauses verriet Ehmke, in welcher Wohnung sie genau gewohnt habe. Das Gespräch mit Helena, der zufälligen Bekanntschaft, mäandert. Sie hatte sich in den 80er Jahren in der Friedensbewegung in Schweden engagiert. Kafka wird zum an Forschung interessierten Stichwort. Für den nächsten Morgen verabreden wir uns locker für den Gottesdienst zum 30-jährigen Jubiläum des Falls der Mauer im Berliner Dom.

Krätschell hält die Predigt im Berliner Dom. Superintendent i. R. Dr. h. c. Werner Ernst Krätschell ist eher unter den Christen aus dem ehemaligen Ostteil der Stadt bekannt. Er war einer der führenden Köpfe der kirchlichen Friedensbewegung in der DDR. Eine durchaus legendäre Persönlichkeit. Der Berliner Dom ist am Sonntagmorgen so eng besetzt, dass Stuhlreihen zusätzlich aufgestellt werden. Die Predigt des Zeitzeugen Krätschell, der 1940 in Berlin geboren wurde, erhält eine historische Dimension, noch bevor der Historiker und Karlspreisträger Timothy Garton Ash eine Rede zum 30. Jahrestag halten wird. Werner Krätschell spricht vom 4. November 1989 so authentisch, dass es schauert. Er beschreibt, wie ca. 80 % der Ost-Berliner Bevölkerung schweigend über Unter-den-Linden zwischen Berliner Dom und Palast der Republik bis zur Spandauer Straße gingen. Es seien nur die leisen Schritte der Demonstrierenden zu hören gewesen. An der Spandauer Straße stellte sich den friedlich Demonstrierenden der Staat in Gestalt der Volkspolizei entgegen. Es hätte zu einer Konfrontation, gar zu einem Blutbad kommen können. Doch die Demonstrierenden bogen schweigend scharf nach rechts in die Straße, um dann nach wenigen 100 Metern vor dem Rathaus nach links in Richtung Alexanderplatz einzubiegen. Auf dem Alexanderplatz versammelten sich ca. 1 Million Menschen, Bürger der DDR im Protest. K. D. Ehmke hatte im St.-Hedwig-Krankenhaus, wo er eine Facharztausbildung machte, Laken mit „Freie Wahlen“, „Keine Gewalt“ und „Lasst Euch keinen Sand in die Augen streuen“ bemalt. Die katholischen Alexianer Ordensschwestern gaben Brote, Äpfel, Tee und gute Worte mit zur Demonstration.

Für den Kirchenmann Krätschell wurde die Demonstration am 4. November zur Parabel der friedlichen Revolution vor dem Mauerfall fünf Tage später. Der Schriftsteller Georg Heym habe später mitgeteilt, dass ein Funktionär des DDR-Fernsehens den bundesdeutschen Sendeanstalten angeboten hatte, die Demonstration direkt zu übertragen. Doch dieses habe nicht stattgefunden, weil ein Tennisspiel mit Boris Becker im Fernsehen Live gesendet wurde. Er sei mit Christen im Französischen Dom am Gendarmenmarkt gewesen, wo es zu einer provozierenden Störung gekommen sei. Doch er habe sich nicht provozieren lassen und mit der Gemeinde das Dona nobis pacem (Gib uns Frieden), Evangelisches Gesangbuch 435, aus dem Agnus Dei als Kanon angestimmt. Unter dem Motto „Wer singt, betet doppelt: Was uns bewegt und das Herz schwer macht, um wen wir uns sorgen und was wir erbitten befehlen wir Gott im Gesang“ stimmte nun der Domorganist Andreas Sieling mit der Domkantorei das Dona nobis pacem an, das sich in die Gemeinde übertrug.

Über die mündliche Überlieferung des 4. November 1989 gibt es eine Debatte unter Historikern. Es kursieren verschiedene Erzählungen. Waren es weniger als eine Million Menschen? Vielleicht nur ein Fünftel? Was hat den Ausschlag gegeben, dass die Menschen nach rechts abbogen, um nach Krätschell in ihrem friedlichen Protest auf Umwegen an ihr Ziel zu gelangen? War es sozusagen eine Erfüllung der Heiligen Schrift, wie sie für Sonntag mit dem Propheten Micha aus dem Alten Testament als Verkündigung vorgesehen war? Durch den morgentlichen Sonneneinfall strahlte das Kreuz auf der Kuppel der Kanzel im Berliner Dom besonders hell, als wolle er die Predigt und das Motto „Schwerter zu Pflugscharen“ der Friedensbewegung beglaubigen.
1 In den letzten Tagen aber wird der Berg, darauf des HERRN Haus ist, fest stehen, höher als alle Berge und über alle Hügel erhaben. Und die Völker werden herzulaufen
2 und viele Heiden werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns hinauf zum Berge des HERRN gehen und zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir in seinen Pfaden wandeln! Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des HERRN Wort von Jerusalem.
3 Er wird unter vielen Völkern richten und mächtige Nationen zurechtweisen in fernen Landen. Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen.
4 Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen, und niemand wird sie schrecken. Denn der Mund des HERRN Zebaoth hat’s geredet.
5 Ein jedes Volk wandelt im Namen seines Gottes, aber wir wandeln im Namen des HERRN, unseres Gottes, immer und ewiglich!
Micha 4, 1-5

Timothy Garton Ash, der auch einen Essay zu Dr. Werner Krätschells Buch Die Macht der Kerzen (2019) beigesteuert hat, rückte als europäischer Historiker an der Universität Oxford den Mauerfall in ein durchaus ambivalentes Licht. Unter dem Titel „Es geschah ein Wunder: 1989 und die Krise der Nachmauerwelt“ schlug er einen Bogen vom Mauerfall zu den nun dreißig Jahren danach. Er sprach davon, dass „wir“ u.a. die Geschichten der Bürger der DDR nicht genug berücksichtigt hätten. Der Mensch ist kein geschichtsloses Wesen, könnte man vielleicht formulieren, ohne gleich die Versäumnisse oder gar Schuld auf der einen oder anderen Seite zu suchen. Eine oft höchst individuelle Geschichtlichkeit gehört zur conditio humana. Gerade an dem Versuch einer Konsensbildung der Geschichten bei Timothy Arton Ash springt hervor, wie das Datum als Ereignis permanent differierende Geschichten generiert. Dabei kann nicht nur, sondern wird jede individuelle Geschichte in sich durchaus brüchig sein.

Insbesondere an einer Geschichtsschreibung der Einheit ließ sich am 9. und 10. November 2019 an verschiedenen Schauplätzen der Stadt Berlin beobachten und hören, dass es allein eine Einheit in der Vielfalt gibt. Selbst der Staat produziert und institutionalisiert heute die Einheit als Vielfalt. Dennoch oder gerade deshalb gibt es heute einen faschistischen Wunsch nach einer normalisierten und normierten Einheit in der Selbsterzählung der Bundesrepublik Deutschland. Für Timothy Garton Ash gilt das auch für Großbritannien und Europa. Doch das müssen ein demokratischer Staat und ein demokratischer Staatenbund aushalten und wenn nötig wehrhaft regulieren.

Torsten Flüh

The Ballery
Andreas Fux: Witness
Bastian Thiery: Humpelfuchs
bis 30. November 2019
Touch me – Samantha & the Fox
nächste Vorstellung am 27. November 2019, 19:00 Uhr
Nollendorfstraße 12
10777 Berlin

Bastian Thiery
Humpelfuchs
135 copies
20,8 x 25,8 cm, linen cover, thread bound
64 pages, 36 color photographs
Graphic Design by Tobias Textor

Evangelische Kirchengemeinde Tiergarten
Kunstkirche KFG
Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche
jeden 2. Samstag klassische Orgelmusik mit Vokal-/Instrumentalsolist*in
jeden 3. Samstag Jazzmusik
jeden 4. Samstag Evensong nach anglikanischem Modell
jeden 5. Samstag moderne Orgelmusik
Emporenkonzert Zukunft – Orgel und Elektronik
Tobias Tobit Hagedorn (Frankfurt)
13. November 2019
Händelallee 20
10557 Berlin

Werner Krätschell
Die Macht der Kerzen
Erinnerungen an die friedliche Revolution
Mit einem Essay von Timothy Garton Ash
Ausstattung: Broschur
Format: 19,5 x 21,0 cm
Seitenzahl: 96
Abbildungen s/w: 17
ISBN: 978-3-96289-046-9
15,- €


[1] Zum Konzept von „Vision in Motion“ siehe: http://www.poetickinetics.com/visions-in-motion/  

[2] Francesco Petrarca: Sämmtliche Canzonen, Sonette, Ballaten und Triumphe. (Übersetzt und mit erläuternden Anmerkungen begleitet von Karl Förster. Leipzig: Brockhaus, 1833, S. 62-63.

[3] Ebenda S. 59.

[4] Siehe Torsten Flüh: Jetzt als Zeitfrage. The long Now von MaerzMusik im Kraftwerk Mitte. In: NIGHT OUT @ BERLIN April 2, 2015 19:09.

Im Austausch mit Hubert Fichte

Lieben – Literaturen – Leiden

Im Austausch mit Hubert Fichte

Zur „Essay-Ausstellung“ Liebe und Ethnologie im Haus der Kulturen der Welt

Schreiben und Leben stehen in Hubert Fichtes Schaffen in einem permanenten Austausch. Das ethnographische Reisen wird durch Lektüren angestoßen, um in Literaturen verwandelt zu werden und vice versa. Dirck Linck spricht in seinem Beitrag von einem „durch wissenschaftliche und ästhetische Redeformen, durch Gattungsvermischung und multimediale Verfahren“ generiertem Werk der „Unreinheit“.[1] Es gibt viel zu sehen, zu hören und zu lesen, in der von Anselm Franke konzipierten „Essay-Ausstellung“[2] zu Hubert Fichte (1935-1986). Denn sie sucht vor allem den Austausch mit den Menschen in einigen jener Länder und Städte, die Hubert Fichte bereist und erforscht hat – Brasilien, Chile, Portugal, Senegal, USA bzw. Lissabon, Salvador da Bahia, Rio de Janeiro, Santiago de Chile, Dakar, New York.

Die Besucher*innen können in der großen Ausstellungshalle gleich in das Sound-, Bild- und Schrift-Universum eintauchen. Oder sie informieren sich zunächst einmal im Foyer auf großen Stelltafeln über das internationale Projekt Hubert Fichte: Liebe und Ethnologie des Hauses der Kulturen der Welt mit dem Goethe-Institut und der S. Fischer Stiftung sowie dem S. Fischer Verlag und dessen Ablauf zwischen 2017 und jetzt: Rio de Janeiro 25.11.2017-13.1.2018: Hubert Fichte inszeniert sich auf einem Foto als bärtiger Mann mit einer Busenmaske aus Benin. Die Selbstinszenierung wird zu einem komplexen Prozess aus Maskierung, Forschung wie Selbsterforschung, Poesie und Potenz. Die Künstler*innen und Kurator*innen von Implosão: Trans(re)lating Hubert Fichte reagieren auf die fotografische Inszenierung: „Hubert Fichte gostava de sexo…“

Das Projekt seinerseits geht als Übersetzungsarbeit im „Webjournal“ projectfichte.org auf Hubert Fichtes auf 19 bis 24 Bände veranschlagten Zyklus Geschichte der Empfindlichkeit aus Romanen und anderen Texten zurück. Das Textprojekt ist Fragment geblieben und mit dem frühen Tod des Autors im Hamburger Hafenkrankenhaus an AIDS abgebrochen. Die unterschiedlichen Textformate generieren ein ebenso einmaliges wie uneinholbares Wissen vom Autorenselbst und der Welt. Die von Diedrich Diederichsen und Anselm Franke kuratierte Ausstellung fasziniert und lässt ständig die schwulen Sexpraktiken der 60er bis 80er Jahre durchschimmern. In einer Nische am Eingang wird mit der Videoinstallation und dem Künstlerbuch Projektion auf die Krise (Gauweilereien in München) an den Abbruch des Projekts durch den AIDS-Tod erinnert.[3]

Schon in Die Palette werden Schreiben und schwuler Sex, gern auch als Liebe aufeinander bezogen, so dass die Leser*innen den Eindruck bekommen könnten, dass der Autor über schwule Sexpraktiken und Männerkörper schrieb, um eben diese zu bekommen. Der Leipziger Literaturwissenschaftler Jan-Frederik Bandel hat kürzlich quasi blogartig auf projectfichte das Verhältnis von Gerücht als literarischer Form und Leben bei Hubert Fichte bedacht.[4] Bei den Gerüchten, die über Hubert Fichte in die Welt gesetzt wurden und möglicherweise noch werden, die er allerdings auch selbst durch leicht dechiffrierbare Figurennamen in seinen Texten über rivalisierende Zeitgenossen in die Welt setzte, geht es nicht allein um Literaturfragen, sondern mehr oder weniger diskret um Sex und die Frage: Wer mit wem wann und wo und ob überhaupt Sex hatte.

In Die Palette (1968) wird fast direkt vom Sex gesprochen. Man könnte das als weitere Literaturform Jargon nennen. Gerücht und Jargon brechen durch Hubert Fichte um `68 in den Literaturkanon ein. Jäcki ist viel zu viel in der Palette, die mehr oder weniger eine Stricherkneipe ist, weil jüngere Männer Sex gegen Geld anbieten. Hubert Fichte als Jäcki könnte gar nicht so viel schreiben, wie er in der Palette sitzt. Aber als Autor kann er Jäcki soviel in der Palette rumsitzen lassen, mit Reimar Renaissancefürstchen „schlafen“, „rauchen und quatschen“ wie es gerade in den Roman passt. Das war für einen Literaturverlag wie Rowohlt Ende der sechziger Jahre ziemlich bahnbrechend. Jäcki ist immer unterwegs und „high“ oder „down“, was schon ziemlich dem Palette-Jargon abgelauscht sein könnte, doch zugleich literarisch transformiert wird. Das „High“ entfaltet eine eigene literarische Dynamik bei Fichte.
33.
SCHON WIEDER REIMAR RENAISSANCEFÜRSTCHEN: Immer noch im High?
-Nein, heute überhaupt nicht.
Er will mit nach Hause zu Jäcki.
-Neulich hattest du gar keine Lust.
-Klar.
-Du bist doch im High.
-Nein. Komm, ich will bei dir schlafen.
Jäcki, der doch wieder in der Palette sitzt, obwohl er gestern gerade Barbara und Halleluja gestört hat, will lieber hier bleiben und nicht gestört werden zwischen hoch und down.
-Oder können wir nicht rumfahren ein bißchen?[5]

Beiläufig geht es im Jargon um Sex gegen Geld. Das Buch im Original rauschartig in Goldfolie mit Mehrfarbentitelaufdruck ist ein Versprechen. Jan-Frederick Bandel fragt, „(w)elche Art von Buch Die Palette“ sei. „Ist es schlicht ein Kneipenroman? Der Versuch, einen deutschen Beatroman zu schreiben? […] Eine ethnografische Studie, die den späteren Berichten Fichtes über afroamerikanische Religion und Kultur, über Psychiatrie in Afrika methodisch eng verwandt ist?“[6] Das Buch lässt sich schwer einer Kategorie zuordnen. Es passt in keinen Kanon, weshalb damit eben dieser befragt werden kann. Im Jargon gibt es zunächst keinen Sex, weil Jäcki pleite ist. Wenn der Jargon als Form der Rede nicht bereits bekannt ist, bleibt er ein Gemurmel oder Vogelgezwitscher. Jargon setzt schwankendes Wissen voraus und plätschert als Rede dahin, obwohl er eine Verhandlung über Sex oder keinen vorführt, was Machtverhältnisse lesbar werden lässt. Jäcki bekommt dann doch den Sex, den er mit R. R. haben wollte, ohne dass er bezahlen muss. – „Dann kommt es genau so, wie Jäcki gesagt hat. Reimar sagt auch nicht nein.“[7] Aber ist das dann Liebe?
-Du weißt doch, was dabei herauskommt. Dann ist es dir unangenehm.
-Nein. Hinterher gehen wir wieder schön essen, wie damals, als du mich eingeladen hast, als ich gerade aus dem Knast kam.
Im Wagen:
-Komm, wir fahren zu dir nach Hause und ich schlaf bei dir, Elbchaussee.
-Ich bin pleite.
-So mein ich das nicht. Ich freu mich, wenn ich bei dir rumsitzen kann und rauchen und quatschen. Es ist nämlich sehr gemütlich bei dir.[8]   

Legendär sind die Gerüchte, die Fritz J. Raddatz und Hubert Fichte publizierend gegeneinander in die Welt setzten, damit sie gelesen wurden und bis auf den heutigen Tag als Lebensbeschreibungen aus der Hamburger Schwulenszene zwischen Star-Club auf der Reeperbahn in St. Pauli, Palette in der ABC-Straße am Gänsemarkt und Rowohlt-Verlagshaus in Reinbek bei Hamburg kursieren.[9] Das Gerücht, was Bandel unerwähnt lässt, ist auch eine literaturmarktgängige Währung, weil es so leicht und verdreht bleibt, dass es die Leser*innen dazu animiert, nach dessen Wahrheitsgehalt zu fragen, indem mehr gelesen wird. Als Autobiograph versprach der einstige Lektor und langjährige Literaturkritiker Raddatz, seine Lebensgeheimnisse zu lüften, indem er sich der Form des Gerüchts bediente. Bandel formuliert es ein wenig anders, wenn er schreibt:
Leben wird nicht zu Literatur, indem man versucht, es in seiner ganzen, meist traurigen Abfolge von Tagen, Wochen, Monaten wiederzugeben, nicht, indem man in sich bohrt und bohrt und bohrt, als sei das Schreiben autoanalytischer Tagebau, aber eben auch nicht in einer teleologischen Überhöhung oder plump-selbstgewissen Pointierung. Es braucht – und Fichte wusste das ganz genau – die Unbestimmtheit, das Changieren, das Schillern, die Brüchigkeit. Es braucht das Gerücht, das Fragwürdige, das Falsche, Schiefe, Schrille. Das dünne Eis. Die fragwürdige Oberfläche. Eine Literatur, die ihre Aufmerksamkeit – ihre “Empfindlichkeit”, um bei Fichtes Wort zu bleiben – für die Widersprüchlichkeiten der Wirklichkeit schulen will, um diese poetisch zu fassen, wird sich selbst in Widerspruch zu dieser Wirklichkeit begeben müssen. Sie darf sich einer Diktatur der Realität nicht unterwerfen.[10]

Das Gerücht ist als graduelles Merkmal von Literatur bzw. deren Literarizität nicht unumstritten. Als literarische Praxis lässt es sich wohl gut handhaben. Die Geschichte der Empfindlichkeit inklusive Die Palette lässt sich auf mehreren Ebenen lesen, wenn man das Verhältnis der Autoren Fichte und Raddatz bedenkt: Es sind auch ihre Empfindlichkeiten als Leser, die sie zu neuen Gerüchten anstacheln. Die Empfindlichkeit setzt einen Prozess der Überbietung in Gang. Dabei unterscheiden sich Gerüchte von schnöden Fake News à la Trump. Zimperlich waren der Ethno- wie Ledermann Fichte und der Porsche- und Pommerybrutroyalmann Raddatz mit ihrer Gerüchteproduktion allerdings nicht. Für Liebe und Ethnologie nimmt Hubert Fichte unterdessen eine weit sensiblere Funktion ein, die erst jetzt in die Aufmerksamkeit gerückt werden kann.
Führt Fichtes Werk, das in engem Austausch mit der Fotografin (und Lebensgefährtin) Leonore Mau entstand, vielleicht eher ein Scheitern vor Augen, aus dem sich aufgrund seiner Radikalität und Komplexität für die heutige Situation etwas lernen lässt? Um dieser Frage nachzugehen, war es der methodische Ansatz des gesamten Projektes Hubert Fichte: Liebe und Ethnologie (2017-2020), die Position des Autors an die Orte zurückzubringen, an denen sie entwickelt wurde, und die Akteur*innen dieser Orte einzuladen, sich aus ihrer Perspektive mit Fichtes Werk auseinanderzusetzen.[11]

Diedrich Diederichsen und Anselm Franke bringen neben Gerücht und Jargon mit dem Klatsch eine weitere eher abgewertete „Form des Redens“ für die Ausstellung ins Spiel. Denn Klatsch durchbreche „die Geheimnisse einer geschlossenen Welt, zugleich (sorge) er auch dafür, dass die Klatschenden selbst mit Sanktionen rechnen“ müssten.[12] Klatsch produziert und vor allem reproduziert Wissen. Sie formulieren die „Nationalliteratur“, der Fichtes Abneigung gegolten habe, als „eine Art Stammtisch, an dem sich die Sprechenden über den Rest der Welt verständigen, ohne eine Antwort, eine Korrektur zu erhalten, ja überhaupt nur das Ausmaß der Beleidigung zu kennen, das sie unmittelbar oder mittelbar verursachen, indem sie über Jahrzehnte und Jahrhunderte an Begriffen, Vorstellungen, Kategorien arbeiten, die den bestehenden Machtsymmetrien dienen sowie koloniale und andere Ungleichheiten legitimieren. Fichte war ein Feind dieser Funktion der Nationalliteratur einerseits, er war ein Feind der deutschen Nationalliteratur im Besonderen andererseits.“[13] Klatsch produziert ein wohlfeiles und mächtiges Wissen über den Anderen und das Andere. Insofern ist dem Konzept der Ausstellung ein deutlich antikolonialistischer Gestus eigen. Der Autor Hubert Fichte war mit seinen Schriften abseits der akademischen Disziplinen, wie sie bis `68 unhinterfragt existierten, darin engagiert, Wissensformen zu hinterfragen.

Die Einzigartigkeit von Hubert Fichtes Schreiben und Forschen, was in der Literatur immer auch Sprachforschung als Kritik beinhaltet, wird von den Kuratoren der Ausstellung für sein „Werk“ in „seiner Zeit“ herausgestellt: „Es denkt das Verhältnis von Fiktion und Bericht neu, von Poesie und Journalismus, entwirft eine Poetik der Sachlichkeit und – quasi komplementär bis antagonistisch – eine der Nähe, Liebe und Sexualität, thematisiert die materiellen und kulturellen Abhängigkeiten schriftstellerischer Subjektivität, entwirft frühe Fassungen dessen, was später artistic research heißen wird, versucht einen Gegenentwurf zum europäischen Universalismus, der selbst auf einen anderen (afro-diasporischen) Universalismus hinauslaufen soll, nur auf eine Aufwertung der/des Anderen, und möchte eine Visualität denken, die nicht aus dem Fortschritts- und Repräsentationsmodell der Zentralperspektive abgeleitet ist, sondern vom Palimpsest, bemalten Häuserwänden und Graffiti.“[14] Diedrich Diederichsen und Anselm Franke geht es darum, „das Verhältnis deutschsprachigen Schreibens und Beschreibens des globalen Südens dem nationalkulturellen Stammtisch radikal zu entziehen und die Wände dieser Kneipe zu schleifen“.[15]

Die Ausstellung und ihr Konzept verstehen sich als queer zwischen Hubert Fichtes Projekt einer „Verschwulung der Welt“ bis zu einer nicht allein sexuell-praktischen, vielmehr widerständigen und subversiven Erforschung des Tourismus und seiner kolonialen Praktiken wie Machtverhältnisse. Allerdings verhält sich nicht jeder Schwule queer. Stärker und anders noch als bis zu Beginn der 70er und 80er Jahre kolonialisieren heute Lonely Planet- und Backpacker-Reisende die letzten Nischen und Ecken des Planeten wie z.B. die kürzlich durch einen Touristin-Tod in die Weltpresse geratene Insel Koh Rong in Kambodscha mit allerfeinsten Sandstränden – und Entwicklungspotential. Leicht könnte die Ausstellung also in zweifelhaftes Best-of-Destination mit Hubert Fichte verrutschen. Ganz und gar nicht queere Gay Cruises und Gay Ressorts lassen sich heute fast überall auf der Welt in bester kolonialer Tradition finden und mit Bonuscard buchen. Anselm Franke setzt diesem das „spekulative() Ausstellungsformat()“ entgegen, „das am Haus der Kulturen der Welt unter dem Schlagwort der Essay-Ausstellung firmiert“. Ihm geht es „nicht (…) darum, ästhetische Erfahrung Themen unterzuordnen und Kunst in krudem Inhaltismus zur Illustration vorgeprägter Thesen einzusetzen. Vielmehr muss der Anspruch an selbstreflexive Ausstellungen sein, ihr Thema nicht nur als Diskursform abzuhandeln, sondern in der ästhetischen Erfahrung selbst zur Disposition zu stellen.“[16]     

Die Videoinstallation Projektion auf die Krise (Gauweilereien in München) von Philipp Gufler ist als „ästhetische Erfahrung“ vor allem erst einmal schwer auszuhalten. Sie aktualisiert 2014 anhand von Videoausschnitten aus Nachrichten, Talkshows und von Demonstrationen, von Fotos von Magazinen, Briefen, Notizen, Texten die Krise, während der Hubert Fichte erkrankte und im Hamburger Hafenkrankenhaus am 8. März 1986 starb. Er starb in keinem sterbebegleitendem Hospiz oder begleitet von ambulanter Palliativmedizin in der Familie oder unter Freunden. Er verstarb weitestgehend isoliert. Davon muss man ausgehen, weil es brutale Praxis war. Im Video erscheinen im Abschnitt „1969 Entschärfung des § 175“
007 ……. Hans Eppendorfer: Der Ledermann spricht mit Hubert Fichte, Goldmann Verlag, 1977
008 …….. Richard John Jones und Simon Leahy: Twink Life Issue 5: Twinks in Love, Fanzine, 2010
009 …… Roland M. Schernikau: Kleinstadtnovelle, Konkret Literatur Verlag 1980/2002
010 …… Philipp Gufler: Hanky Code, Siebdruck auf Papier, 2011

1982
019 …… Hubert Fichte: „Das Pech war, dass Jäcki in die Wechseljahre kam, als der Hauptbahnhof umgebaut wurde.“, aus Geschichte der Empfindlichkeit, Band XIV, Hamburger Hauptbahnhof = Register, Romanfragment, 1994

1986

038 …… Adrian Djunkic und Philipp Gufler: Quilt I (Hubert Fichte), Siebdruck auf Stoff, 2013
[17]

Die Unmöglichkeit oder gar das Leiden 1982 nicht von „AIDS“ und stattdessen über „die Wechseljahre“ zu sprechenschreiben, muss man auch als eine „ästhetische Erfahrung“ und Tabu sehen und lesen. Am Hamburger Hauptbahnhof gab es sogenannten Klappensex auf der Bahnhofstoilette und männliche Prostitution, was man als Guflers Lektüreebene einfügen muss. Doch weder Gerücht noch Jargon noch Klatsch reichen aus, um die virale Immunschwächeerkrankung zu umschreiben. Stattdessen wird die unaussprechliche Erkrankung als weibliche Hormonumstellung, „die Wechseljahre“, chiffriert. Um 1982 von einer Infektion mit AIDS zu wissen, hieß, sich auf einen nahen Tod einzustellen. In dieses Wissen brach schon 1985 Joseph Ratzinger, der heute als ehemaliger Papst Benedikt XVI. weltbekannt geworden ist, mit der öffentlichen Formulierung ein: „Man muss nicht von einer Strafe Gottes sprechen. Es ist die Natur, die sich wehrt.“[18] Der CSU-Politiker Peter Gauweiler setzte sich dann Anfang 1987 gegen jeden Respekt für das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland mit der Forderung nach Internierung von AIDS-Infizierten und -Kranken politisch in Szene. Er schwor damit insbesondere einen Verfassungsbruch gegen Artikel 3 Absatz 3 GG herauf:  
Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

Die Essay-Ausstellung entfaltet sich als außerordentlich materialreich und vielschichtig, was sich bereits mit der Inszenierung von Hubert Fichtes mehrfachen Arbeitsplänen für Die Geschichte der Empfindlichkeit bedenken lässt.[19] Wobei die Kuratoren voraussetzen, dass er „verschiedene Versionen eines Übertitels, darunter Die Geschichte der Empfindlichkeit, Die Geschichte der Zärtlichkeit oder Die Geschichte der Empfindungen Augusts von Platen (testete)“.[20] Die Arbeitspläne lassen sich indessen auch als Textcollagen und -grafiken lesen, die einen Schaffensprozess in unterschiedlichen Konstellationen zur Anschauung bringen. Diederichsen und Franke weisen darauf hin, dass das Projekt der Geschichte der Empfindlichkeiten eine konzeptuelle Korrespondenz mit Marcel Prousts À la recherche du temps perdu aufweist.[21] Der Modus der Geschichte und ihrer Geschichtlichkeit stellt sich vielleicht nicht zuletzt mit den Arbeitsplänen als schwierige Imagination heraus, wenn sich Hubert Fichte vor einer Wand, auf die beschriftete DINa 4 Seiten mit Nadeln geheftet sind, mit einer Schreibunterlage für die ordnenden Notizen in leichter Untersicht fotografieren lässt. Denn die Texte lassen sich offenbar wiederholt anders aufeinander beziehen, womit die Geschichte im Singular als Einheit zugleich unterlaufen wird.

Wie weit spielen Konzeptionen der Psyche in die Geschichte hinein? Der in Algier und Berlin lebende Künstler Kader Attia wird mit Reason’s Oxymorons (2015) von Anselm Franke auf das Buch Psyche von Hubert Fichte bezogen. Denn „Attia weiß um Fichtes Schriften, aber er entwarf seine Arbeit nicht in direktem Bezug auf den Schriftsteller. (…)  Selbst einige konkrete Personen tauchen in Attias Interviews auf, die Fichte vor gut dreißig Jahren ebenso befragte.“[22] So hat Attia Dr. Momar Gueye, Psychiater, Professor, Stationsleiter am Psychiatrischen Krankenhaus Moussa Diop am Centre Hospitalier National Universitäire de Fann im Senegal interviewt. Fichte hatte am 14. und 23. Februar 1985 ebenfalls mit Dr. Momar Gueye gesprochen, was am 18. Oktober 2018 von der Raw Material Company mit PARLONS SÉNÉGALAISERIES: SOCIETY AND MARGINALITY thematisiert wurde. In diesem Kontext werden Notizen zum Klatsch situiert:
Klatsch ist ganz sicher nicht die Wahrheit.
Klatsch ist auch keine Lüge.
Kein Psychologe kann leugnen: Klatsch ist ein Diskurs.
Klatsch ist falsch und wahr – Klatsch ist subjektive Wahrheit.
Gehört Klatsch zu den Geisteskrankheiten?
Ist Klatsch eine Therapie?
Ist Klatsch psychoanalytisch?
Dialektisch?
Revolutionär?
Nirgends gibt es mehr Klatsch als in der psychiatrischen Abteilung von Fann.
[23]

Hubert Fichte kommt durch seine Interviews in Fann, Dakar, auf den Klatsch zu sprechen. Er dekliniert den Klatsch als Redeform gleichsam durch, was die psychiatrische Anamnese und Diagnostik durchaus fragwürdig werden lässt. Offenbar verlief auch das Interview mit Dr. Gueye weit weniger geregelt als bei Kader Attila. Dieser stellt allerdings eingangs die grundsätzliche Frage nach der Konzeption der Psyche mit dem Freudschen Unbewussten, auf das Momar Gueye eröffnend antwortet:
Ich werde nicht so tun, als hätte ich eine Antwort auf diese Fragen. Was ich sagen kann, ist, wenn man über diese Dinge lange nachdenkt, ohne unbedingt das Wort „unterbewusst“ zu sagen, könnte man sagen: Wenn Afrikaner*innen sagen, „es war der Rap“, könnte das mit etwas komplett Unterbewusstem zu tun haben.[24]   

Der Künstler, Wissenschaftler und Kurator Ayrson Heráclito aus dem brasilianischen Bundesstaat Bahia bezieht sich beispielsweise mit seiner Fotoserie Sangue, Sêmen e Saliva [Blut, Sperma und Speiche] von 2016 auf Hubert Fichtes Erforschung der afroamerikanischen Religionen in Bahia. Wobei Heráclito nicht unerwähnt lässt, dass „(z)ahlreiche Weiße, französische Anthropologen (…) schon zuvor hervorgehoben (hatten), dass hier die größte Konzentration an Afro-Religiosität außerhalb von Afrika vorzufinden wäre“.[25] Er kontextualisiert Leonore Maus und Hubert Fichtes Reise zwischen 1970 und 1972 nach Salvador da Bahia mit den 373 Fotografien von Pierre Verger, die während der späten 1940er in verschiedenen Medien mit 25 Artikeln veröffentlicht worden waren. In der Ausstellung sind Fotografien des in Paris geborenen Fotografen Pierre Verger zu sehen. In Explosion. Roman der Ethnologie schreibt Hubert Fichte zwischen 1985 und 1986 von der Zeit in Salvador da Bahia, wo der Verger weiterhin „inmitten der Schwarzen Community von Vila América“ lebt[26] und 1996 93jährig verstarb. Heráclitos Lektüre des Romans betont vor allem Fichtes Bahia als großes Versprechen.
In anderen Passagen können wir bemerken, dass Fichte – in Gestalt seines Alter Ego – mit Elementen der populären Vorstellungen spielt und Stereotypen bekräftigt, die Brasilien und Südamerika mit hemmungsloser sexueller Ausschweifung assoziieren. Paradiese, die vor Amoral nur so glühen, Spielwiesen der Befreiung, grenzenlose Freizügigkeit, sexuelle Ausbeutung, Laszivität, rasende Lust, Prostitution, Nekrophilie und alle anderen Formen devianten Verhaltens werden beschworen. In Fichtes Vision ist in Bahia alles erlaubt, alle Formen devianten Verhaltens werden beschworen.[27]

Mehr als zehn Jahre nach dem Aufenthalt in Salvador da Bahia, wo er den Fotografen, Ethnologen und mittlerweile zum Candomblé-Priester Fatumbi initiierten Pierre Verger trifft, schreibt Hubert Fichte Explosion im mehr oder weniger präsenten Wissen um seine „Wechseljahre“ bzw. Infektion. Das Verhältnis von Leben, Lust, Sex und Tod spielt im Candomblé offenbar eine eigene, rituelle Rolle. Riten regeln wie auch im argentinischen Spiritismus, den Hubert Fichte 1971 ebenfalls erforschte, Verhältnisse nicht nur im Leben, vielmehr noch im Verhältnis zum Tod. Darauf hat Manuel Vicuña mit der Ausstellung Suprasenibilidades (Überempfindlichkeiten) in Santiago de Chile und seinem Text El retorno de los muertos (Die Rückkehr der Toten) hingewiesen: „In Chile entstand der Spiritualismus in einer Zeit des Liberalismus und intensiver Kontroversen über die Reichweite der katholischen Kirche in der sozialen Organisation und im öffentlichen Raum. In diesem Zusammenhang wurde der Spiritualismus als ein Angebot religiöser Sinnesformen und spiritueller Praktiken präsentiert, die mit der Logik der wissenschaftlichen Rationalität vereinbar sind und daher den Fortschritt des Unglaubens und des Materialismus als charakteristische Phänomene der modernen Welt besser eindämmen können.“[28] – Die Essay-Ausstellung Liebe und Ethnologie entzieht sich eines sogenannten Gesamteindrucks, indem sie eine Vielzahl unterschiedlicher Einstiegsmöglichkeiten bietet, durch die sich mit einem Mal alle anderen Bezugnahmen in der Ausstellung ändern können.

Torsten Flüh

HKW
Liebe und Ethnologie
Die koloniale Dialektik der Empfindlichkeit
(nach Hubert Fichte)
bis 6. Januar 2020


[1] Dirck Linck: „Die Reinheit fand Jäcki furchtbar“ Über die Nobilitierung der Vermischung bei Hubert Fichte. In: Diedrich Diederichsen, Anselm Franke, Haus der Kultur der Welt (Hg.): Liebe und Ethnologie. Die koloniale Dialektik der Empfindlichkeit (nach Hubert Fichte). Berlin: Sternberg Press, 2019, S. 24.

[2] Anselm Franke: Zu Fichtes Entgrenzung und den Grenzen selbstreflexiver Institutionen. In: Ebenda S. 13.

[3] Philipp Gufler, Hamann & von Mier: Projektion auf die Krise (Gauweilereien in München). München: Hamann & von Mier, 2014.

[4] Jan-Frederik Bandel: Hubert Fichte: Leben als Gerücht. In: Hubert Fichte: Love and Ethnology Berlin. 20/09/2019.

[5] Hubert Fichte: Die Palette. Hamburg: Rowohlt, 1968, S. 146.

[6] Jan-Frederik Bandel: Doppelte Fremdheit. Hubert Fichtes ethnografische Impulse. In:  Archiv².

[7] Hubert Fichte: Die … [wie Anm. 5] S. 147.

[8] Ebenda S. 146.

[9] Vgl. zum Gerücht auch Torsten Flüh: Das Unfassbare im Netz. Gerüchte – Eine Ausstellung im Museum für Kommunikation Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN März 31, 2011 21:41.

[10] Jan-Frederik Bandel: Hubert … [wie Anm. 4].

[11] Bernd Scherer, Johannes Ebert, Antje Contius, Roland Spahr: Liebe und Ethologie. Ein Vorwort. In: Diedrich Diederichsen, Anselm Franke, Haus der Kultur der Welt (Hg.): Liebe … [wie Anm. 1] S. 5.

[12] Diedrich Diederichsen, Anselm Franke: Extrahierte Empfindungen: Restituieren, Scheitern, Weiterschreiben. In: Ebenda S. 7.

[13] Ebenda S. 7-8.

[14] Ebenda S. 9.

[15] Ebenda S. 11.

[16] Anselm Franke: Zu Fichtes Entgrenzung und den Grenzen selbstreflexiver Institutionen. In: Diedrich Diederichsen, Anselm Franke, Haus der Kultur der Welt (Hg.): Liebe … [wie Anm. 1] S. 13.

[17] Philipp Gufler, Hamann & von Mier: Projektion … [wie Anm. 3] S. 003.

[18] Zitiert nach ebenda S. 004.

[19] Diedrich Diederichsen, Anselm Franke, Haus der Kultur der Welt (Hg.): Liebe … [wie Anm. 1] S.44 bis 50.

[20] Ebenda S. 46.

[21] Ebenda S. 7. Zu Prousts Recherche siehe auch: Torsten Flüh: Das Versprechen der Geschichte. Barbara Naumann und Peter Geimer zum Semesterthema non finito … der Mosse-Lectures. In: NIGHT OUT @ BERLIN November 27, 2017 22:18.

[22] Anselm Franke: Kader Attia – Auszüge aus Reason’s Oxymorons. In: Diedrich Diederichsen, Anselm Franke, Haus der Kultur der Welt (Hg.): Liebe … [wie Anm. 1] S. 69.

[23] Hubert Fichte: Psyche. Frankfurt am Main, 1990, S. 507.

[24] Kader Attia: Auszüge … [wie Anm. 22] S. 69.

[25] Ayrson Heráclito: Ethnopoetische Spannungen im Schwarzen Rom von Südamerika. In: Ebenda S. 78.

[26] Hubert Fichte: Explosion. Roman der Ethnologie. Zitiert nach ebenda S.82-83.

[27] Ayrson Heráclito: Ethonopoetische … Ebenda S. 82.

[28] Manuel Vicuña: El retorno de los muertos. (Übersetzung T. F.) In: fichteproject Santiago de Chile 04/09/2018

Heimat-Fetisch und queerer Sex

Integration – Heimat – Geschlecht

Heimat-Fetisch und queerer Sex

Zu Just Love und Eure Heimat ist unser Albtraum im Zentrum für Aktuelle Kunst der Zitadelle Spandau

Was haben Liebe und Sex mit Heimat zu tun? Am 1. Oktober fand in der Ausstellung Just Love eine Lesung aus der vieldiskutierten Anthologie Eure Heimat ist unser Albtraum (2019) mit Elisa Aseva, Fatma Aydemir, Hengameh Yaghoobifarah und Max Czollek statt. Niemand konnte ahnen, dass am 9. Oktober ein Albtraum wirklich werden sollte. Der Terrorist von Halle wollte nicht nur an einem der höchsten Feiertage der Judenheit, Yom Kippur (Versöhnungstag), im Gotteshaus der Synagoge unter feiernden Gemeindegliedern einen Massenmord verüben, er ermordete auch eine Passantin und einen jungen Gast in einem Döner Imbiss quasi als Ersatz. Der Antisemitismus des Terroristen speiste sich nicht zuletzt aus seiner Imagination von Heimat, dass er nicht geliebt werde und dass er zu wenig Sex habe.

Der Schock des Attentats wirkt nach, während das mediale Tagesgeschehen sich weiteren Themen und einem zwitschernden Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika zuwendet. Das vermeintlich harmlose Zwitschern auf Twitter bindet mehr Aufmerksamkeit als die Verwerfungen, die es bereits verursacht hat. Der Begriff der Heimat und seine imaginäre wie libidonöse Aufladung spielen in den USA wie Deutschland eine strukturierende Rolle. Der New Yorker Immobilienmogul und Reality-TV-Darsteller Donald Trump versprach 2016 seinen Wähler*innen Heimat in Zeiten der Globalisierung – „make america great again“. Horst Seehofer benannte nach der Bundestagswahl 2017 das Innenministerium Anfang 2018 in Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat um. Damit zog der Begriff der Heimat als Zuständigkeitsbereich in die Bundespolitik ein.

Die Zitadelle Spandau als Festungsbau im Landschaftsschutzgebiet aus dem 16. Jahrhundert, der Hochrenaissance, mit mittelalterlichem Gauklerfest vom 3. bis 6. Oktober 2019 und angrenzendem Oktoberfest sowie Torhaus, Juliusturm, Palas, Bastion Königin, Bastion König, Alter Kaserne, Italienischen Höfen, Proviantmagazin, Exerzierhalle und Zeughaus bietet ein gewisses Heimat-Potential. Die Gebäude sind alt. Die Geschichte reicht weit zurück. Seit Urzeiten mündet hier die Spree in die Havel. In der Alten Kaserne befindet sich seit 2018 auf 2500 qm das ZAK bzw. Zentrum für Aktuelle Kunst, die vielleicht nicht immer nur anheimelnd ist. Noch bis zum 15. Dezember werden in der Ausstellung Just Love Arbeiten von Max Diel, Kerstin Drechsel, Martina Minette Dreier, Christian Perdix, Dietrich Walther, Georg Weise gezeigt. Es sind queere Liebespraktiken, die in Malerei und Skulptur vorgeführt werden.

Die Jungs in den Bildkompositionen von Georg Weise wirken eher heimatlos, ein wenig verloren. Ein E-Werk von Kerstin Drechsel steht etwas verloren im Raum.[1] Eine Art Schlauch ist mit einem Haken an der Decke befestigt. Martina Minette Dreiers Portraits aus der queeren Szene wie z.B. von Dita Scholl sind farbintensiv und poppig. Die Szeneakteur*innen posen für die Malerin. Dietrich Walther zeigt knallrote Sex-Pics mit Fetisch-Handschuhen für Spiele. Zwischen dem sorgfältig renovierten Kasernenbau und den Bildern wie Skulpturen entstehen Spannungen, Transfers, vielleicht gar Korrespondenzen. Heimat wird eher gegengebürstet. Georg Weise arbeitet auch mit Holz, dann wachsen seinen Knaben Zweige aus der Brust oder wie zierliche Antennen aus den Schultern.

Kerstin Drechsel

In der ZAK Lounge zeigt Matthias Hamann sozusagen als Sidekick ebenfalls Portraits unter dem Titel We don’t care. Er portraitiert junge Persönlichkeiten der queeren Community, die oft mit dem einen oder anderen Fetisch wie langen Gummihandschuhen als Outfit spielen. Das ZAK in der Zitadelle zeigt also ein recht breit gefächertes Spektrum queerer Inszenierungen, die in der Imagination von Heimat erst einmal nicht vorgesehen sind. Natürlich lassen sich auch Trachten und Lederhosen wunderbar fetischisieren. Doch derartige Fetische werden hier erst einmal nicht vorgeführt.

Matthias Hamann

Der Inbegriff von Heimat sind ganz gewiss Trachten. Das ist zwar im Norden der Republik und Berlin nicht ganz so verbreitet. Aber wenn man einmal zufällig in ein süddeutsches Volksfest wie die Erlanger Bergkirchweih, kurz Berch, hineingerät, dann wird das Dirndl mit hochgeschnürten Brüsten und die kurze Lederhose bis zum abstrakten Logo für die „Rettungsinseln“ vor sexuellen Übergriffen – rosa Dirndl blaue Lederhose, in die schon die Hand greift – zum Fetisch.[2] Beim Dirndl und der Lederhose geht es um Heimatsex. „Spass haben! Keinen Ärger Keine sexuelle Gewalt am Berg!“ Wenn es die „Rettungsinseln“ aus Erfahrung gibt, dann wird es eben genau diese Gewalt in Trachten gegeben haben. In der Zitadelle gibt es nun bei Matthias Hamann Latexhandschuhe statt Hosenträger.      

Dietrich Walther

Heimatliebe bekommt bei Volksfesten wie der Berch eine ganz andere Bedeutungsbreite. Wahrscheinlich ist diese sexuelle Aufladung von Trachten auf Volksfesten, wo dann viel Bier fließt, keine neue Erfindung. Bekleidung wird auf die eine oder andere Weise immer fetischisiert. Man könnte sagen, dass sie in gewissen Naturvölkern kaum eine andere Funktion hat. Die Heimatliebe gilt selten nur der Eiche als Brauchtum, vielmehr geht es darum, was das Brauchtum zur Paarung beiträgt. Dank einer regelrechten Trachtenindustrie kann sich heute jede und jeder den Fetisch leisten. Dadurch wird er allerdings auch zu einer gewissen Massenware. Bevor nun ein genauerer Blick in Eure Heimat ist unser Albtraum geworfen werden soll, lässt sich ganz offen fragen, wie Horst Seehofer und seine Referenten denn nun – nach gut 18 Monaten der bundespolitischen Einführung von Heimat – den Begriff offiziell füllen.  

Georg Wiese

War die Rückkehr der Heimat als Ressort eine politische Fehleinschätzung, muss man sich fragen, wenn man sie im Webauftritt des Ministeriums sucht. Auf der Website des Bundesministeriums bleibt die Selbstdarstellung der „Abteilung H (Heimat)“ bedenkenswert elastisch. Zwar wird vollmundig eine „Gestaltung der Heimatpolitik“ versprochen, aber die „Grundlagen eines modernen, zukunftsgewandten Heimatverständnisses“ bleiben leer. Die ebenso sinnfällige wie schlichte „Abteilung H“ formuliert die „Integration“ als eine ihrer „Aufgaben“ lässt allerdings völlig offen, was das heißen soll und welche Wünsche nach einer Homogenisierung der bundesdeutschen Gesellschaft zur Heimat damit verknüpft werden.

Georg Wiese

Trachten und 600 Jahre alte Thüringer Bratwurst mit Senf und Brötchen? Schon 2004 wurde auf dem Erfurter Domplatz „600 Jahre Thüringer Bratwurst“ gefeiert. Heimat? Um bei regionalen Gerichten zu bleiben, die z.B. im Fall der Thüringer Bratwurst eine globale Karriere genießen, muss man fragen, wie viel Heimat marketingtechnisch drinsteckt, wenn sie vom Marktführer Wolf aus Schwandorf in der Oberpfalz (Bayern) kommt, der seit 1990 mit JFW, der Jenaer Fleisch- und Wurstwaren GmbH kooperiert. 
Die Abteilung H ist verantwortlich für die Gestaltung der Heimatpolitik der Bundesregierung. Zu den Aufgaben der Abteilung gehört es, auf der Grundlage eines modernen, zukunftsgewandten Heimatverständnisses den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken und gleichwertige Lebensverhältnisse zwischen städtischen und ländlichen Räumen im gesamten Bundesgebiet zu schaffen. Die Aufgaben umfassen die Gestaltung aller Fragen des Zusammenlebens von der Integration bis zum bürgerschaftlichem Engagement, die Arbeit der Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ unter unterschiedlichen thematischen Aspekten wie Daseinsvorsorge, Mobilität und Demografischer Wandel sowie die Raumordnung, Regionalpolitik und Landesplanung[3]

Wie wird denn nun die „Heimatpolitik“ etwas konkreter? Ganz heimatpolitisch verkündete Horst Seehofer am 16. März 2018 in einem Interview mit Ralf Schuler und Franz Solms-Laubach für die Bild: „Der Islam gehört nicht zu Deutschland!“[4] Fatmah Aydemir und Hengameh Yagoobifarah reagieren als Herausgeber*innen mit ihrem Buch auf die bundespolitische Rückkehr der Heimat und die damit begründete Ausgrenzung des Islam. Horst Seehofer offenbarte nun mit dieser Formulierung das, was ich neuerdings eine gewisse Verfassungsschwäche nenne. Obwohl das von ihm so dringend begehrte Bundesministerium des Innern allen anderen Ministerien voran mit der „Abteilung V“ für die „Vereinbarkeit (der Rechtsetzungsvorhaben) mit dem Grundgesetz“ zuständig ist, kennt er offenbar die Grundrechte der Bevölkerung gegenüber dem Staat nicht gut genug. Denn in Artikel 4 des Grundgesetzes heißt es zur Religionsausübung als Grundrecht:
(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.
(2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.

„Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet“, heißt auch, dass wenigstens die drei Religionen des Alten Testaments Judentum, Islam und Christentum vom Staat in ihrer Ausübung zu schützen sind. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes sprechen nicht allein vom Christentum. Vielmehr schlossen sie vor 70 Jahren am 23. Mai 1949 mit dem allgemeinen Begriff Religion auch und besonders das Judentum ein. Anders wäre es nicht denkbar. Deshalb gehört es zu den Grundrechten der Bürger in Deutschland, dass auch die Ausübung des Islam vom Staat, insbesondere dem Bundesministerium des Innern zu gewährleisten ist bzw. bei einem Angriff wäre. Verfassungsfeind wird man Seehofer sicher nicht nennen können, aber eine gewisse, schwerwiegende Schwäche in der Kenntnis des Grundgesetzes hat er schon offenbart. Falls notwendig, müssen nicht nur christliche Kirchen, katholische, evangelische, evangelisch-reformierte, methodistische, baptistische etc., vielmehr und besonders auch Synagogen und Moscheen wie die Ibn-Rushd-Goethe-Moschee selbst Hindutempel in Deutschland vom Staat, also der Polizei geschützt werden!

Fatma Aydemir, Hengameh Yaghoobifarah und Max Czollek lasen in der Ausstellung vor einem recht jungen, diversen Publikum ihre Texte. Sie behandeln die Homogenitätsfantasien, die mit dem Begriff verknüpft werden. Das Grundgesetz als Reaktion auf die demokratische Entrechtung der Bürger durch die Nationalsozialisten war immer ein wenig weiter in der Formulierung der Grundrechte als die Gesellschaft oder das Bild der Deutschen von sich selbst. In ihrem Vorwort schreiben die Herausgeberinnen:
»Heimat« hat in Deutschland nie einen realen Ort, sondern schon immer die Sehnsucht nach einem  bestimmten Ideal beschrieben: einer homogenen, christlichen weißen Gesellschaft, in der Männer das Sagen haben, Frauen sich vor allem ums Kinderkriegen kümmern und andere Lebensrealitäten schlicht nicht vorkommen.[5]

Den Herausgeberinnen ist mit Eure Heimat ist unser Albtraum nicht nur ein wichtiger, durchaus substantieller Beitrag zur Heimat-Diskussion gelungen, vielmehr ist beispielsweise der Artikel von Max Czollek unter dem Titel Gegenwartsbewältigung solide analytisch und innovativ hinsichtlich des Begriffs Integration. Denn Czollek fordert zur seit seiner Doktorarbeit zur „Desintegration“ auf, weil er als Jude eine bestimmte Funktion einzunehmen habe.
Was ich gewöhnt bin, ist, als jüdischer Autor angesprochen zu werden. Oder, wie ich es lieber nenne: als Judenautor. Und damit bin ich mitten im Thema. Denn in diesem Text möchte ich mich mit der Frage befassen, wie »normale« Vorstellungen von Zugehörigkeit und die Rückkehr rechten Denkens zusammenhängen.[6]

Dietrich Walther

Weder Integration noch Inklusion werden im Grundgesetz gefordert. Vielmehr gilt das Grundrecht, dass nach Artikel 3 Absatz 3 „(n)iemand (…) wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden (darf)“. Das Benachteiligungsverbot gilt für alle Menschen in der Bundesrepublik Deutschland. Nach dem Grundgesetz gibt es keinen Zwang zur Integration. Czollek sieht vielmehr einen ganz anderen Grund für die Forderung nach Integration.
Das Integrationsparadigma beruht auf einer bestimmten Vorstellung von Zugehörigkeit, das über die Forderung nach Verfassungstreue und Spracherwerb hinausgeht. Seine Quellen liegen in einem Denken, das sich ab dem 17. Jahrhundert in Deutschland entwickelt hat – das völkische Denken. Dazu gehört ein bestimmtes verinnerlichtes Ideal der Homogenität.[7]

Die Erfindung des Deutschen als Geschlecht und Merkmal findet im 18. Jahrhundert nicht zuletzt mit einer Verwechslung durch Johann Wolfgang Goethe als Fortsetzung statt. Goethe formuliert als junger Student 1773 den Text Von deutscher Baukunst angesichts des Münsters von Straßburg. Der Text hatte so weitreichende Folgen, dass 25 bis 35 Jahre später die Gotik in Preußen ganz selbstverständlich, „normal“ als Vaterländischer oder Patriotischer Stil benannt wurde, was Goethe mittlerweile peinlich geworden war, weil er ihren französischen Ursprung akzeptiert hatte.[8] Anders gesagt: man muss die Konstruktion einer homogenen Nationalkultur bis in die kleinsten Details verfolgen, um die Übertragungen und offensichtlichen Fälschungen sogar oder gerade bei Goethe als Nationaldichter aufzudecken. Das machen die Autor*innen der Anthologie auf vielfältige und durchaus unterhaltende Weise. Sprache und Sprachoperationen werden entscheidend. Deshalb gehört auch der Artikel Sex der Sprach-, Islam- und Genderforscherin sowie Rapperin Reyhan Şahin in die Anthologie.
Das offene Sprechen über Sexualität in Form von Female Sexspeech scheint sich für viele regelrecht wie eine harte osmanische Backpfeife anzufühlen.[9]

Reyhan Şahins Artikel zwischen Forschung und Rap funktioniert durchaus als eine Art Scharnier für das Buch. Denn mit der Benennung in der „Female Sexspeech“ wird aufgeführt, was mit den „Rettungsinseln“ als verkappte Sexkultur der Heimat verdrängt wird. Wenn die sexuelle Gewalt nicht zum heimatlichen Volksfest gehören würde, müsste es keine „Rettungsinseln“ geben. Dahinter verbirgt sich indessen auch der Anspruch des (weißen, jungen) Mannes, dass er ein Anrecht auf die Geschlechtsteile der Frauen zu seiner Befriedung hat. Das sogenannte „unfreiwillige Zölibat“ junger, weißer Männer formuliert letztlich eine Machtphantasie über den Körper der Frau. Reyhan Şahins bzw. Lady Bitch Rays Sprache wird so zum Horror dieser Männer.
Zu Songzeilen von mir à la »Suck ist, Baby, suck ist, Bitch / Ich will jetzt Votze statt nem harten Dick …« muss ich mir Kommentare anhören wie »Oh nee, das mag ich nicht leiden, wenn Frauen so reden!« Und zwar von Frauen und Männern aus unterschiedlichen, insbesondere gehobenen Schichten. Dabei war das Vulva-Schauen und Pussilüften schon bei der griechischen Göttin Demeter gang und gäbe und ist somit keine neue Erfindung.[10]

Zwischen Sichtbar über Sex bis Zusammen entfalten Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah ein Glossar, das den prekären Begriff der Heimat hinterfragt. Diese Befragung ist weit vielschichtiger und substantieller, wenn man es einmal so formulieren will, als die simple Selbstdarstellung der „Abteilung H (Heimat)“. Die Herausgeberinnen praktizieren mit der Diversität der Autor*innen zwischen Magarete Stokowski, die herausarbeitet, wie schädlich es für eine Gesellschaft ist, die Bilingualität ihrer Bürger*innen z.B. aus Polen nicht zu nutzen, und Vina Yum, die über (koreanisches) Essen schreibt, eine Vielfalt, die schon längst in Deutschland (und Österreich) Fakt ist. Die vermeintliche Homogenität von Heimat erweist sich als klug simplifizierende, politisch-ökonomische Strategie wie bei der Thüringer Bratwurst, die vom Wurstwarenhersteller nachträglich im Mittelalter in Erfurt verortet wird.

Torsten Flüh

Fatma Aydemir,
Hengameh Yagohoobifarah (Hrsg.)
Eure Heimat ist unser Albtraum
Hardcover mit Schutzumschlag
208 Seiten
ISBN-13 9783961010363
Erschienen: 22.02.2019
€ 20,00

ZAK
Just Love
Malerei & Skulptur
Matthias Hamann
We don’t care
beide Ausstellungen noch bis 15. Dezember 2019
Zitadelle Spandau
Am Juliusturm
13599 Berlin



[1] Zu Kerstin Drechsels Serie „E-Werk“ vgl. auch: Torsten Flüh: Subversive Bilderzählschränke. Zu Kerstin Drechsels Installation E-Werk in der ZWINGER Galerie. In: NIGHT OUT @ BERLIN November 2, 2018 18:32. Zur archivierenden Funktion der „E-Werke“ siehe auch: Torsten Flüh: Archiv (NIGHT OUT @ BERLIN)  

[2] Siehe: Berch (schon für 2020) Rettungsinsel.

[3] Selbstdarstellung der Abteilung H (Heimat) des Bundesministeriums (sieh Aufgaben und Abteilungen)

[4] HEIMAT-MINISTER HORST SEEHOFER „Der Islam gehört nicht zu Deutschland!“ Der CSU-Politiker über: Abschiebungen, Parallelgesellschaften, Integration und Heimat. In: Bild 16.03.2018.

[5] Fatma Aydemir, Hengameh Yaghoobifarah: Vorwort. In: Eure Heimat ist unser Albtraum. Berlin: Ullstein, 2019, S. 9.

[6] Max Czollek: Gegenwartsbewältigung. In: Ebenda. S. 167.

[7] Ebenda S. 173.

[8] Siehe Torsten Flüh: Flugblatt – Johann Wolfgang Goethe. In: der.: Flugblatt – Zeitung – Blog. Materialität und Medialität als Literaturen. Wien: Passagen, 2017, S. 37-54.

[9]Reyhan Şahin: Sex. In: Fatma Aydemir, Hengameh Yaghoobifarah (Hrsg): Eure … [wie Anm. 5] S. 157.

[10] Ebenda S. 158.

Gemeinsam Haltung zeigen

Grundgesetz – Antisemitismus – Gewalt

Gemeinsam Haltung zeigen

Zum Konzert „Künstler stehen zusammen“ im Berliner Dom

Gestern Abend fand im Berliner Dom in Gedenken an die Opfer des Anschlags auf die Synagoge in Halle an Jom Kippur auf Initiative von Avitall Gerstetter ein besonderes Konzert mit der Berliner Domkantorei, Domprediger Thomas C. Müller und dem Tenor Björn Casapietra unter der Leitung von Marie-Louise Schneider statt. Mehrere Hundert Menschen waren kurzfristig gekommen. Der Domkantor Tobias Brommann und die erste jüdische Kantorin an der Synagoge Oranienburger Straße und in der Bundesrepublik Deutschland können sich nicht nur von ihren Gotteshäusern über die Spree zuwinken, sie sind auch befreundet, wie Avitall in einer kurzen Ansprache sagte. Sie möchte sich mit befreundeten Künstler*innen mit „dem Thema Hass und Gewalt in der Gesellschaft und Wegen zu ihrer Überwindung auseinandersetzen“. Lesungen, Schauspiele, Vorträge, Ausstellungen und Konzerte sollen auch außerhalb von Berlin stattfinden. Das Konzert im Berliner Dom war dafür der Auftakt.

Ausgerechnet der Berliner Dom …, möchte man sagen. Gerade im Berliner Dom, den Kaiser Wilhelm II. noch als Thronfolger und landeskirchlicher Kirchenregent 1894 in Auftrag gab, ihn 1905 einweihte und der spätestens im Exil ausgesprochen antisemitische Briefe verfasste, muss man sagen. Denn die Geschichte des Berliner Doms und seiner Akteure ist heute vielfältig. Domprediger Thomas C. Müller erinnerte in seiner Ansprache daran, dass die Evangelische Kirche Deutschlands sich eigener antisemitischer Redeweisen erst seit geraumer Zeit kritisch stelle. Die jüdisch-christlichen Gemeinsamkeiten prägten deshalb programmatisch das Konzert. Dafür ist der Berliner Dom ein guter Ort. Als Projektionsfläche für das Festival of Lights lässt sich seine eklektizistische Bonbonnieren-Architektur als frühe Pop Art sehen.

Während in vielen evangelischen Kirchen heute die Psalmen kaum noch gesungen werden, gehört das Singen der Psalmen in der Synagoge zur eigentlichen musikalischen Ausgestaltung des Gottesdienstes. Avitall, die sich in mehreren Projekten nur mit ihrem Vornamen nennt, eröffnete das Konzert mit dem Psalm 23 Adonai Ro‘i Lo Echsar (Der Herr ist mein Hirte) in der Komposition von Gerald Cohen mit Tobias Brommann am Klavier. Das war eine ohne Kommentar vorgeführte Praxis der Gemeinsamkeit. Später sang die Domkantorei Psalm 25 Deine Wege, o Ewiger in der Setzung von Louis Lewandowski, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Berlin und von hier aus die synagogale Liturgie reformiert hat. In der Neuen Synagoge gab es seit ihrer Eröffnung 1866 im Obergeschoss die größte Synagogenorgel der Welt, an der Louis Lewandowski ein umfangreiches Werk für synagogalen Gesang entwickelte. Eine kleinere Synagogenorgel gab es in der Jüdischen Reformgemeinde, Johannisstraße 16, die von Rudolf Mosse gestiftet wurde.[1] Die 1905 hochmoderne, elektrische Sauer-Orgel mit ebenfalls zeitgenössischer Glühbirnenbeleuchtung stiftete der Fürst von Donnersmarck, d. i. Guido Henckel von Donnersmark, der in Paris 1871 in erster Ehe La Paiva geheiratet hatte. Einer der reichsten Adeligen und Industriellen des Kaiserreichs.  

Gerade der Berliner Dom und die Hauptkirche St. Marien haben in den letzten Jahren ihre Vorbildfunktion an der Schnittstelle von Religion, Gesellschaft und Politik erkannt und gestaltet. Der Berliner Dom in seiner durchaus fragwürdigen Architektursprache aus Elementen der Renaissance und des Barock ist zum touristischen Highlight geworden. Hunderte und Tausende Menschen aus Nah und Fern stolpern sozusagen in das pompöse Gotteshaus mit der zu ihrer Zeit größten Orgel in Deutschland von Wilhelm Sauer auf der Suche nach architektonischen Attraktionen – nach Besinnung eher selten. Kurz bevor das Konzert beginnt, kommen zwei junge Koreanerinnen mit ihren fotografierenden und übersetzenden Smartphones, um sich neben mich in die erste Reihe zu setzen. Sie sprechen kein Deutsch, etwas Englisch geht. Ich flüstere ihnen den Anlass des Konzerts zu, mache auf den Wechsel von Deutsch und Hebräisch aufmerksam. Sie sind fasziniert und beeindruckt. Am Schluss stimmt Avitall mit Björn Casapietra den Protestsong We shall overcome von Pete Seeger an. Das passt. Dafür steht „man“ auf und nimmt die Hände der Nachbar*innen.

Die Damen und Herren der Domkantorei, die sich zu einem beeindruckenden, erstklassigen Laienensemble mit 160 Mitgliedern zusammengefunden haben, engagieren sich mit ihrem Auftritt für Avitalls Initiative. Sie zeigen wie alle anderen ihre Haltung und singen zusammen mit Avitall auf Hebräisch L´dor vador von Meir Finkelstein, der über 200 zeitgenössische, liturgische Kompositionen geschrieben hat. Das ist außergewöhnlich. Möglicherweise erklingt das Lied zum ersten Mal in einer evangelischen Kirche überhaupt. Avitall und Tobias Brommann machen hier etwas Neues. Die Kommunikation sucht und stiftet Gemeinschaft. Eine gemeinsame Feier für die Opfer der unfassbaren Gewalttat in Halle aus einem rechtsextremen Hintergrund. Eines zum Terroristen herangewachsenen Gamers, der die ultimative Grenzerfahrung suchte, weil er mit anderen Menschen nicht mehr kommunizieren, sondern im Chatjargon nur noch Befehle erteilen konnte. – Das soll keine Erklärung sein, eher eine gesellschaftliche Verwerfungen andeuten.

Avitall erwähnt in ihrer Rede, dass es um das Grundrecht der Religionsausübung geht. Die Grundrechte sind verfassungsrechtlich durch den Staat gegenüber der Bevölkerung garantiert. Sie stehen im Grundgesetz in den ersten Artikeln. Vermutlich wird es wenig nutzen, gegen eine radikalisierte, rechte Szene mit Grundrechten aus dem Grundgesetz zu argumentieren. Es ist auch davon auszugehen, dass 95-jährige Altnazis, die es durchaus noch vereinzelt in Deutschland gibt, seit 70 Jahren das Grundgesetz mehr anzweifeln, als ihm eine Verfassungstreue entgegenzubringen.[2] Das gibt es. Gustav Seibt brachte vor Kurzem in einer Besprechung des Briefwechsels von Hannah Arendt und Dolf Sternberger mit dem Zitat „Muss ich Ihnen erzählen, dass Deutschland noch nie so antisemitisch war wie gerade jetzt?“ dessen Begriff „Verfassungspatriotismus“ wieder in Erinnerung.[3] Im Artikel 4 des Grundgesetzes steht:
(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.
(2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.
(3) Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.

Die Gewährleistung der „ungestörte(n) Religionsausübung“ gehört zu den Grundrechten nach dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland seit dem 23. Mai 1949. Es gehört somit zu den Grundpflichten des Staates gegenüber seinen Bürgern, dass Stätten der Religionsausübung vom staatlichen Instrument der Polizei geschützt werden müssen. Es sind in Deutschland keine christlichen Kirchen oder Moscheen oder Hindutempel, die vorrangig geschützt werden müssen, sondern vor allem Synagogen. Die Ibn-Rushd-Goethe-Moschee und Seyran Ates bekommen selbstverständlich Polizeischutz in Berlin. Doch offenbar war es ein langwieriger Prozess, dass das von den Rabbinern Walter Jacob und Walter Homolka an der Universität Potsdam gegründete liberale Abraham Geiger Kolleg Polizeischutz erhält. Das könnte man wenigstens als eine Verfassungsschwäche zuständiger Einrichtungen und Politiker formulieren. In Zeiten, in denen das Grundgesetz für die Integration herangezogen wird, ist es oft viel wichtiger, die verbürgte Vielfalt der Grundrechte allen Bürgern klar zu machen.

Avitall erinnerte in ihrer Rede an Jana und Kevin, indem sie versprach, dass wir sie niemals vergessen werden, weil sie zum Opfer des Terroristen wurden, nachdem er nicht in die Synagoge gelangte, um die feiernden Juden zu ermorden. Die Opfer sind nicht namenlos. Ob Herkunft, Glaube und Geschlecht der Opfer noch irgendetwas mit der Mordtat zu tun hatten, lässt sich schwer einschätzen. Doch die Frau auf der Straße und der junge Mann im Döner Imbiss scheinen in ein Hassschema des Mörders gepasst zu haben, selbst dann, wenn es auf die Opfer gar nicht passen sollte. Das fanatische Hassschema passt niemals auf individuelle Opfer. Gerade das macht das Verfehlende der antisemitischen, rassistischen, sexistischen und homophoben Gewalt aus. Sie konstruieren sich Hassziele, die den/die Einzelne/n verfehlen müssen. Man muss es vielleicht noch einmal zuspitzend formulieren: Es gibt Antisemitismus nicht, weil es Juden und Israeli in großer Vielfalt gibt, sondern weil zwanghaft ein Hassobjekt konstruiert wird. Max Czollek hat in seinem Beitrag für die Anthologie Eure Heimat ist unser Abtraum (2019) engagiert auf die Funktion der Juden für die deutsche Gesellschaft hingewiesen:
Im Theater der deutschen Selbsterzeugung spielen aber nicht nur Juden mit, auch Migrant_innen bekommen eine bestimmte Rolle zugewiesen. […] Die Rollenverteilung ermöglicht eine doppelte Bestätigung des deutschen Selbstbildes: dass Deutschland eine offene Gesellschaft ist und dass diese offene Gesellschaft zugleich von denjenigen bedroht wird, die in ihr auch leben sollen, also den Migrant_innen.[4]

Björn Casapietra sang zunächst Hallelujah von Leonard Cohen und erinnerte mit dem heute meistens in der Vorweihnachtszeit und am Heiligabend in vielen evangelischen Kirchen gesungenen Lied Tochter Zion daran, dass das Lied im Nationalsozialismus aus Opportunismus gegenüber den antisemitischen Machthabern in den meisten Kirchen nicht gesungen wurde. Sicher vermied man es auch im Berliner Dom. Zur Geschichte der Religionsausübung in der Domgemeinde und ihrer Domprediger während des Nationalsozialismus läuft ein Forschungsprojekt an der Theologischen Fakultät der Humboldt Universität zu Berlin, das noch nicht abgeschlossen ist. Natürlich befand sich der Dom in einem Spannungsfeld zwischen Politik und Kirche. So heiratete Hermann Göring am 11. April 1935 die Schauspielerin Emmy Sonnemann im Berliner Dom in Anwesenheit von Adolf Hitler, wie ein Foto vom salutierenden General der Flieger und seiner in weiß gekleideten, den Hitlergruß zeigenden Ehefrau überliefert. Der Nationalsozialismus und sein mörderischer Antisemitismus fanden bestimmt nicht nur außerhalb des Doms statt.

Die zerstörten Gemeinsamkeiten und Transfers gerade in Berlin im 19. Jahrhundert wurden von der Domkantorei mit drei Liedern aus dem Oratorium Elias von Felix Mendelssohn Batholdy erinnert. Es wurde am 26. August 1846 im viktorianischen Vereinigten Königreich in Brimingham uraufgeführt. Das Oratorium zum Propheten Elias aus dem Alten Testament kann sowohl als jüdische wie christliche Musikerzählung oder gar Oper gelesen und gehört werden, denn nicht zuletzt entstammte der Komponist der weit verzweigten jüdischen Kaufmanns- und Künstlerfamilie Mendelssohn. Deshalb waren dessen Aufführungen wie auch sonst sämtliche Werke des Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy im Nationalsozialismus verboten. Wohl dem, der den Herrn fürchtet; Sieh, der Hüter Israels und Denn er hat seinen Engeln befohlen erklangen schon als Vorgeschmack auf die Aufführung des gesamten Oratoriums durch Solisten und die Domkantorei unter Leitung von Domkantor Tobias Grommann am 2. November um 18:00 Uhr. Es ist zu einer Frage politischer Haltung geworden, derartige Musikprojekte aufzuführen und zu unterstützen.

Torsten Flüh

Felix Mendelssohn Bartholdy
Elias 
2. November 2019, 18:00 bis 20:30 Uh            
Domkantorei
Berliner Dom

Avitall
Salon Avitall
weitere Projekte


[1] Vgl. zur Jüdischen Reformgemeinde und Rudolf Mosse: Torsten Flüh: George L. Mosses Erinnerung an den Klippen Europas und 50 Jahre Stonewall. Zur Konferenz Mosse’s Europe im Deutschen Historischen Museum und in der W. Michael Blumenthal Akademie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 28. Juni 2019.

[2] Siehe dazu Torsten Flüh: Verkehrte Sicherheit und die Rückkehr der Rasse. Eine kleine Nachlese zum Tag der Deutschen Einheit, Bündnis Berlin und zur Aktion Deutschland spricht. In: NIGHT OUT @ BERLIN Oktober 7, 2018 18:41.

[3] Gustav Seibt: Angst vor Deutschland. In: Süddeutsche Zeitung. 14. Oktober 2019, 17:34 Uhr Zeitgeschichte.

[4]Max Czollek: Gegenwartsbewältigung. In: Fatma Aydemir, Hengameh Yaghoobifarah (Hrsg.): Eure Heimat ist unser Albtraum. Berlin: Ullstein 2019, S. 171.