Klassenfragen, Intelligenz und Obdachlosigkeit

Klasse – Wärme – Prekariat

Klassenfragen, Intelligenz und Obdachlosigkeit

Zu Mike Savages Mosse-Lecture über das Semesterthema Klassenfragen

Beginnen die Klassenfragen nicht mit der nach Wärme? Richtig warm war es am 9. Januar um 19:00 Uhr c.t. im Senatssaal der Humboldt-Universität nicht. Einige Besucher*innen im Publikum behielten gar ihre Mäntel an. Natürlich war es vergleichsweise wohltemperiert und trocken. Das ist auf dem Eckernförder Platz gleich neben der Charité, Campus Virchow Klinikum am Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal in Höhe Westhafen anders. Der fast verwilderte Platz liegt auf meiner Laufstrecke. Ich laufe bis zu viermal in der Woche am Eckernförder Platz vorbei und auch mal die Zwischenwege. Dort lebt offenbar ein/e Obdachlose/r. Ich sah sie/ihn morgens schon auf dem ehemaligen Bunkerzugang im Schlafsack liegen. Der durchnässte Schlafsack ist mittlerweile leer. Wenige Schritte entfernt im Unterholz ist ein billiges Klappzelt aufgeschlagen und verschlossen.

Klassenfragen standen im Wintersemester 2019/2020 als Thema auf dem Programm der Mosse-Lectures. Wärme ist selbst im bislang milden Berliner Winter eine Klassenfrage. Sie ist sosehr zu einer sozialen Frage geworden, dass die Berliner Stadtmission einen „Kältebus und Kälte-Notübernachtung“ eingerichtet hat, um Kältetote unter den Wohnungslosen zu vermeiden.[1] Am Donnerstagabend hielt nach einer Vorstellung von Patrick Eiden-Offe der Londoner Soziologe und Fellow der British Academy Mike Savage seinen Vortrag unter dem Titel The Importance of Class in an Age of Inequality. Mike Savage hat ab 2011 am „Great British Class Survey“ der BBC mitgearbeitet. Dafür wurde 2013 ein „Great British class calculator“ quasi als Künstliche Intelligenz online geschaltet, durch den man – „What class are you?“ „Tell us about you“ – seine Klassenzugehörigkeit mit der Beantwortung der schematisierten Fragen nach „Economic“, „Social“ und „Cultural“ ermitteln konnte. Die BBC und Savage meinten vor allem, dass die soziale Einteilung in „upper, middle and working class“ im 21. Jahrhundert nicht mehr gelte.[2]   

Die Mossse-Lectures sind und werden bereits seit 2012 auf einem eigenen YouTube-Kanal dokumentiert, so dass diese Besprechung nur der Versuch einer Korrespondenz und keine Dokumentation sein kann. Hatte Joseph Vogl vom Institut für deutsche Literatur in seiner Einführung zu Andreas Reckwitz‘ Vortrag Die Spätmoderne und ihre Drei-Klassen-Gesellschaft darauf hingewiesen, dass der Begriff der Schichten für die gesellschaftliche Unterscheidung behaupte, die Gesellschaftsschichten seien wie Gesteinsschichten unverrückbar, so erinnere der Klassenbegriff an die Bewegung und die Auseinandersetzung.[3] Das Plakatmotiv der ihre Mützen schwenkenden Matrosen hoch oben am Bug eines Kriegsschiffes aus Sergej Eisensteins epochalen Revolutionsfilm Panzerkreuzer Potemkin von 1925 lässt sich ebenso als eine soziale wie emotionale Bewegung sehen. Die jubelnden Matrosen werden mit der extremen Untersicht als triumphale Sieger ins Bild gesetzt. Doch welche Probleme der Klasse, wie sie beispielsweise Mike Savage mit einer Reformulierung des Klassenbegriffs bearbeitet hat, tauchen heute auf?

Sind Wohnungslose eine eigene Klasse? Oder gehören sie zur von Mike Savage neuformulierten Klasse des Prekariats, das sich aus dem „Great British Class Survey“ als Lebensweise (lifestyle) ergeben hat? Er und sein Team teilen die Gesellschaft Großbritanniens heute nach einem „New Model of Class“ in „Precariat“, „Emerging service workers“, „Traditional working class“, „Technical middle class“, „New affluent workers“, „Established middle class“ und „Elite“ ein. Zur Elite gehören im Vereinigten Königreich insbesondere Aristokraten bzw. der Adel. Welche Funktionen können Klassenbegriffe übernehmen? Mit dem Plural der Klassenfragen wird auch der marxistische Begriff der „Klassenfrage“ angeschnitten und verschoben. Klassenfragen berühren die Kapitalismuskritik[4] ebenso wie die Ungleichheit der Einkommensentwicklungen im 21. Jahrhundert. So fragt das Semesterprogramm: „Hat eine liberalistisch orientierte marktkonforme Demokratie, welche die offensichtlichen Umstände einer „real existierenden Klassengesellschaft“ ausspart, die soziale Demokratie ersetzt?“[5]    

Die Klassenkultur in Großbritannien lässt sich nicht zuletzt als eine besondere, fast prototypische beschreiben. Der Zugang zur sogenannten highbrow Kultur wie Theater oder Oper bleibt weitestgehend der aristokratischen Elite vorbehalten. Die Geigerin und Professorin für Ensemble und Digitale Medien an der Musikhochschule Trossingen Barbara Lüneburg hat mit ihrem Forschungsprojekt TransCoding – From `Highbrow Art´ to Participatory Culture 2017 im Unterschied zum angelsächsischen Klassenbegriff der „Highbrow Art“ eine partizipatorische Kunstpraxis durch und mit „Social Media“ vorgeschlagen und erforscht.[6] Konnte man noch in den 70er Jahren die typisch britische Formulierung „My Home is my castle.“ als Geflügeltes Wort lernen und zitieren, hat die gemeinnützige Organisation Shelter 2017 ermittelt, dass es im UK (Wales, England, Schottland und Nordirland) 300.000 Menschen gibt, die „homeless“ sind. Am 18. Dezember 2019 veröffentlichte Shelter eine Pressemitteilung, dass 280.000 Menschen allein in England ohne Wohnung sind. Einer von 200 Menschen sei oder werde „homeless“ in England. Seit 2016 sind also innerhalb von drei Jahren 23.000 Menschen mehr „homeless“ geworden.[7]

Das Problem der Homelessness scheint in England noch weit größer zu sein als in Deutschland oder selbst Berlin. Doch genaue Zahlen gibt es für Berlin nicht. Für den 29. Januar 2020 hat die Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales die Nacht der Solidarität mit der ersten Zählung und Befragung von „obdachlosen Menschen“ mit 1.600 ehrenamtlichen Helfern angekündigt.[8] Geflügelte Worte sind immer wandelbar. Der Büschmann kannte bei seiner Erstausgabe die sprichwörtliche Formulierung „My home is my castle“ (noch) nicht. In den 70er, 80er oder auch noch 90er Jahren, vielleicht sogar schon seit der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft, wurde das Zitat vor allem als Wunschtraum nach dem Eigenheim wie in England gebraucht. Doch die Herkunft der Formulierung des englischen Richters und Juristen Sir Edward Coke von 1604 betraf vor allem das Freiheits- und Eigentumsrecht des Hausbesitzers gegen selbst staatliche Übergriffe. Es ist insofern stark mit der Ausformung des Liberalismus[9] verknüpft: „the house of every one is to him as his Castle and Fortress as well for defence against injury and violence“ (das Haus eines jeden ist für ihn sowohl seine Burg als auch seine Festung zur Verteidigung gegen Verletzungen und Gewalt).[10] 

Nach der angelsächsischen Rechtsprechung gilt Sir Edward Cokes Formulierung rechtlich weiterhin. Sie stand gar Pate bei der Abfassung von Artikel 13 des Grundgesetzes, wenn es in Absatz 1 knapp und treffend heißt: „Die Wohnung ist unverletzlich.“ Die Unverletzlichkeit der Wohnung jedes Einzelnen selbst für den Staat und seine Polizei schreibt sich mehr oder weniger von Coke her. Deshalb braucht die Polizei in Rechtsstaaten einen richterlichen Durchsuchungsbefehl, um eine Wohnung durchsuchen zu dürfen. Die Unverletzlichkeit der Wohnung gilt in der Bundesrepublik Deutschland als ein Grundrecht des Menschen. Wer die Wohnung bzw. sein „home“ verliert, dem wird als Mensch und Bürger ein Grundrecht streitig gemacht. Es ist mir wichtig, die Problematik der Homelessness oder Wohnungslosigkeit einmal so genau zu beschreiben, weil sie im Klassenschema selbst von Mike Savage nicht thematisiert wird, obwohl das „Precariat“ und selbst „Emerging service workers“ nicht nur in England heute vom Verlust der Wohnung bedroht sein dürften. Durch den „Great British class calculator“ ließ sich nicht nur die (eigene) Klassenzugehörigkeit ermitteln, vielmehr wurden mit 161.000 Teilnehmer*innen auch besonders große Datenmengen sozusagen big data zur Auswertung von Mike Savage und Fiona Devine generiert.   

Im November 2015 veröffentlichte Mike Savage sein Buch zur Frage der Klasse in Großbritannien unter dem Titel Social Class in the 21st Century [11], woran er wie auch an Karl Marx, Max Weber und Thomas Pikettys Capital [12] wiederholt in seiner Mosse-Lecture anknüpft. Nach der Methode der empirischen Sozialforschung wird so das Klassenmodell der britischen Gesellschaft ausdifferenziert und bestätigt: das Buch „provides incontrovertible evidence that class is as powerful and relevant today as it’s ever been“ (liefert den unbestreitbaren Beweis dafür, dass die Klasse heute so mächtig und relevant ist wie nie zuvor).[13] Entgegen der Erwartung, dass die Klassenfrage zur Bewegung führe, beschreibt Savage allein schon methodologisch einen aktuellen Zustand von Klassen, die sich eher durch Exklusion und Exklusivität als durch Mobilität unter den Klassen auszeichnen. Die Klassenfrage wird so bei ihm in Großbritannien zu einer Schicksalsfrage. Methodologisch kann die empirische Sozialforschung nur das Klassenmodell bestätigen und ausdifferenzieren. Wie wirkt sich das auf die Frage der Ungleichheit aus?

Wenn mich nicht alles täuscht, dann trägt das britische Klassenmodell, wie es von Mike Savage konzipiert und analysiert wird, selbst in einer Ausdifferenzierung nicht zum Klassenkampf oder einer Infragestellung der Ungleichheit bei. Vielmehr sorgt die Elite mit der Queen an ihrer Spitze und als machtvoll ohnmächtiges Staatsoberhaupt für eine imaginäre Befriedung der Klassen untereinander. Die Royals als Verkörperung des britischen Staates bleiben medial permanent präsent, während sie auch als eine kapitalistische, gewinnorientierte Unternehmerfamilie gesehen werden könnten. Die imaginäre Funktion der Klasse als Wissen von sich selbst, als Identität, tritt derart mächtig hervor, dass statt eines kämpferischen Arbeiters der Labour-Partei ein elitengeschulter, neoliberaler, tabloidfähiger Tory selbst von denen gewählt wird, die gerade nicht der Elite sondern den unteren Klassen angehören. Statt Bewegung und Kampf wird im Identitätsversprechen von Nation und Klasse eine Stabilisierung der sozialen Verhältnisse gesucht, während immer mehr Menschen homeless werden.

Das neue Klassenmodell mit seiner hierarchischen Ordnung vom „Prekariat“, „Aufstrebenden Servicemitarbeiter“ und „Traditioneller Arbeiterklasse“ spaltet das Konzept der Arbeiterklasse in diverse Gruppen auf, die sich gerade nicht mehr in einer Partei wie Labour sammeln lassen. Die Diversifizierung einer mehr oder weniger immer schon imaginären Klasse der Arbeiter*innen hat den Effekt der Schwächung und Vereinzelung. Dies ließe sich mit technologischen wie makroökonomischen Entwicklungen beschreiben, die bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Modifizierung des industriellen Arbeiters einsetzen ließen. Man könnte beispielsweise auf Berufe wie den der Telephonistin zu Beginn des 20. Jahrhunderts verweisen, den Hugo Münsterberg schon 1912 in „14 gesonderte psychologische Akte“ aufgeteilt hat.[14] Der seit 1892 in Harvard lehrende Münsterberg führte bereits vor 1910 in Amerika Versuche mit Telephonistinnen durch, weil ein Unternehmen wie „die Bell Telephone Company 16000 Telephonistinnen beschäftigt(e)“.[15] Es lässt sich sagen, dass es sich dabei fast um eine Klasse handelte.

Die Telephonistinnen sind für die Frage nach der soziologischen Klasse interessant, weil sie durch ihre auf Schnelligkeit und Wiederholbarkeit angelegte Tätigkeit quasi der Telephonmaschine unterworfen und für ihre Funktionsfähigkeit wie ein Fabrikarbeiter am Fließband eingesetzt werden. Sie stellen einen betriebswirtschaftlichen Faktor dar und werden zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur schnell gebraucht, sondern auch verbraucht. In Münsterbergs Worten: „Andererseits ist es nur natürlich, daß eine solche angespannte, schnelle und sorgsame Leistung, bei der vor allem das schnelle Lokalisieren des richtigen Loches eine schwierige, doch unerläßliche Leistung ist, nur von einer verhältnismäßig kleinen Zahl menschlicher Nervensysteme geleistet werden kann. Die Unfähigkeit, die Aufmerksamkeit längere Zeit hindurch so angespannt zu halten, oder so schnelle Bewegungen auszuführen oder die zugerufenen Zahlen richtig zu behalten, führt (…) zur Ermüdung und zum schließlichen Zusammenbruch der Angestellten und zur Konfusion im Dienst.“[16] Deshalb werden von Münsterberg psychologische Experimente unternommen, damit der wirtschaftliche Schaden für die Telephongesellschaften verringert werden kann.

Für die Klassenfragen sind die Telephonistinnen bei Münsterberg nicht zuletzt deshalb interessant, weil der von Mike Savage wiederholt zitierte Max Weber durchaus an dessen Forschungen anknüpfte. Trotzdem ist kein Klassenkampf der Telephonistinnen bekannt. Das mag am Alter gelegen haben, den die „telephonbeflissenen Mädchen“ wurden „nur im Alter von 17 und 23 Jahren in die Schule aufgenommen“. (S. 65) Sie zählten und zählten eben nicht zu den Arbeitern, während Münsterberg für sie besondere Einstellungstests entwickelte. Er unterzieht sie schließlich einem Intelligenztest. „Der Versuch besteht darin, daß eine längere Reihe von Wortpaaren zugerufen wird, deren jedes zwei logisch zusammengehörige Begriffe darstellt. Es wird dann später eins der Worte wieder genannt und die Versuchsperson hat das zugehörige Wort zu reproduzieren. Vergleichsversuche haben dargetan, daß es sich in der Tat da nicht um bloße Gedächtnisleistungen, sondern in erster Linie um Intelligenzleistungen handelt. Ich benutzte für den Versuch 24 Paare logisch verbundener Wörter, die selbstverständlich ganz im Erfahrungsumkreis der zu Prüfenden lagen.“[17] Die Intelligenz wird bei Münsterberg zu einer Frage der „Leistung“, wie man beim Arbeiter von der Arbeitsleistung spricht, und sie schon wiederholt in der Beschreibung der Arbeit im „Telephonverkehr“ (S. 63) verwendet wird. Zugleich berücksichtigt er einen „Erfahrungsumkreis“, der an eine klassenspezifische Erfahrung oder Lebenswirklichkeit erinnern könnte.

Der „schließliche Zusammenbruch der Angestellten“, wie er heute im Burnout wiederkehrt, wird nur deshalb nicht in Kauf genommen, weil er Kosten verursacht und den „Dienst“ durcheinanderbringt. Obwohl die Telephonistinnen als „Angestellte“ und nicht als Arbeiterinnen benannt werden, unterliegt ihre als „Intelligenzleistung“ genannte „Arbeit“ durch und durch den kapitalistischen Verhältnissen. Doch die Intelligenzprüfung verdeckt zumindest teilweise die Natur ihrer Arbeit. Münsterberg merkt selbst an, wie schwierig es sei, Intelligenz zu prüfen, und wie breit der Intelligenzbegriff in Pädagogik, Medizin und Psychologie diskutiert werde.[18] Dennoch oder deshalb wird er als „Intelligenzleistung“ zum entscheidenden Kriterium für die zu erwartende Arbeitsleistung, die wirtschaftlich, gewinnbringend sein soll bzw. sich für die Investition der Telephongesellschaften in eine Ausbildung lohnen soll. Was hat das mit Klassenfragen zu tun? Die Ausbeutung der Arbeitsressourcen gehört nach wie vor zum Modell des Kapitalismus. Aber um 1900 wird in das „Wirtschaftsleben“ nicht zuletzt mit Münsterberg, der auch Gedichte unter Pseudonym publizierte, ein neuer Faktor der und sogar für Arbeit eingeführt, der mit dem Begriff der Intelligenz bestimmt, geprüft und gemessen werden soll.

Münsterberg nennt die Telephonistinnen nicht Arbeiterinnen, sondern Angestellte. Die Angestellten müssen allerdings in „Diensten“, als Dienstleister im Telephonverkehr, wie Maschinenarbeiter funktionieren. Deshalb gibt die Frage nach den Angestellten als Arbeiter zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen Wink auf aktuelle Diskussionen zu Klassenfragen und Ungleichheit. Werden durch „Precariat“, „Emerging service workers“ und „Traditional working class“ nicht eher wahre Klassenverhältnisse verdeckt als sichtbar gemacht? Intelligenztests wie bei Münsterberg führen nicht nur das kapitalistische Leistungsprinzip in die Beschreibung des Denkens ein, sie sorgen auch für dessen Personalisierung und leisten Selektion, während es im Hyperkapitalismus der USA gar nicht mehr um Intelligenz geht. Kürzlich hat die Berliner Soziologin Jutta Almendinger berichtet, wie sie eines Morgens vom Thomas-Mann-Haus in Los Angeles an den Strand fuhr und dort Obdachlose sah. „Es waren ausgebildete Lehrer! Sie verdienten nur so wenig, dass sie sich von ihrem Gehalt keine Wohnung in der Nähe ihrer Arbeitsstelle leisten konnten. Deshalb schliefen sie in ihren Autos oder in Zelten.“[19]   

Torsten Flüh

Nächste Mosse-Lecture
Sommersemester 2020
Verschwörungstheorien
30.04.2020, 19 Uhr Eva Horn  


[1] Berliner Stadtmission: Über den Kältebus. (Berliner Stadtmission)

[2] Siehe The Great British class calculator: What class are you? BBC 3 April 2013 Last updated at 05:00.

[3] Siehe Klassenfragen Programm.

[4] Zur kapitalismuskritik vgl. auch Torsten Flüh: Das Dilemma der Kritik. Alain Badiou und Mihály Vajda in der Reihe Stören am Gorki Theater. In: NIGHT OUT @ BERLIN Mai 7, 2016 18:46.

[5] Klassenfragen [wie Anm. 3]

[6] Siehe Barbara Lüneburg: 6. The Art Production. In: dies. : TransCoding – From `Highbrow Art´ to Participatory Culture. Social Media – Art – Research. Bielefeld: transcript, 2018, S. 66-71.

[7] Shelter: 280,000 people in England are homeless, with thousands more at risk. Posted 18 Dec 2019.

[8] Nacht der Solidarität: Grußwort der Senatorin. Berlin.de.

[9] Zum Liberalismus als Thema der Mosse-Lectures vgl.: Torsten Flüh: Enden des Liberalismus. Von Christoph Menkes Mosse-Lecture zur Kritik des Liberalismus und der Microsoft Cloud. In: NIGHT OUT @ BERLIN April 25, 2017 20:12.

[10] Online Library of Liberty: Sir Edward Coke declares that your house is your “Castle and Fortress” (1604) oll.libertyfund.org.

[11] Mike Savage: Social Class in the 21st Century. London: Pinguin, 2015.

[12] Vgl. zur Buchvorstellung von Thomas Pickettys Le Capital: Torsten Flüh: Wiederkehr des Kapitals als gefährliches Erbe. Zu Thomas Pickettys Democracy Lecture im HKW und die große Beschleunigung. In: NIGHT OUT @ BERLIN November 12, 2014 20:26.

[13] Ebenda.

[14] Hugo Münsterberg: 13. Versuche mit Telephonistinnen. In: ders.: Psychologie und Wirtschaftsleben. Ein Beitrag zur angewandten ExperimentalPsychologie. Leipzig: Barth, 1912, S. 63.

[15] Ebenda S. 64.

[16] Ebenda.

[17] Ebenda S. 68.

[18] Ebenda S. 67.

[19] Jutta Almendinger: „Amerika ist ein Höllenvorbild“. In: Die Zeit vom 28. November 2019, 12:01 Uhr.

Shakespeare’s Machines – Zu UNCANNY VALLEY von Rimini Protokoll

Maschine – Künstliche Intelligenz – Theater

Shakespeare’s Machines

Zu UNCANNY VALLEY von Rimini Protokoll (Stefan Kaegi) und Thomas Melle auf der Seitenbühne der Berliner Festspiele

Bei William Shakespeare, dem großen Theatermann und Bühnenautor, kommt die Maschine als Thema im ganzen Werk, also allen ihm zugeschriebenen Texten genau zweimal vor. Einmal schreibt Hamlet von sich selbst als Maschine, woran Heiner Müller 1977 mit seinem Theatertext Hamletmaschine angeknüpft hat. Beim zweiten Mal geht es mit der Maschine in The Two Noble Kinsmen (Die beiden edlen Vettern) um das Theater als solches. Grob gesagt wird damit der Begriff der Maschine kurz nach 1600 für zwei Bereiche auf der Bühne verwendet: den psychischen Prozess der Selbstwahrnehmung und der Bühnenmaschinerie. Der Schriftsteller und Übersetzer Thomas Melle hat mit Stefan Kaegi in seinem Stück Uncanny Valley vor allem wissenschaftliche Texte verarbeitet und transformiert, die insbesondere die Bereiche der Psyche und des Theaters beleuchten.  

Stefan Kaegi als Regisseur „erforscht“, laut Programmheft, „im Theater eine Versuchsanordnung ohne Schauspieler“.[1] Die Theaterinszenierung wird dadurch zur Forschung, die Bühne samt Zuschauerraum zum Versuchslabor. Das Publikum wird mehrfach direkt angesprochen. Angesprochen von wem? Vom Text? Vom Autor? Vom Roboter? Der Roboter als Menschmaschine macht das Publikum und seine Rolle im Theater zum Thema. Der Roboter sitzt für Thomas Melle in täuschend ähnlicher Gestalt und Gestik mit zuckenden Stirnfalten und bewegenden Augenlidern aus Silikon auf der Bühne. Das entspricht der Logik des Autors Thomas Melle als Mensch, der in seinem Buch Die Welt im Rücken (2016) „einen außergewöhnlichen Einblick in Leben und Denken eines manisch-depressiv Erkrankten“ gibt.[2] Wenn er manisch-depressive Schübe hat, kann Melle auf Lesereisen nicht als Vorleser seines Textes erscheinen. Deshalb könnte ein „animatronisches“ Double, das fehlerfrei nach Algorithmen funktioniert, hilfreich sein.

Wie funktioniert Intelligenz? Lassen sich menschliche und künstliche Intelligenz unterscheiden? Oder überschneiden sich ständig Intelligenzkonzepte in Intelligenzbildungen? Ich wage es, das Intelligenzgeheimnis des Berichterstatters ein wenig für die Leser*innen zu lüften. – Schlag nach bei Shakespeare ist eine geradezu sprichwörtliche Formulierung, die es 1963 mit Bill Ramsey und Gus Backus zu Schlagerehren brachte. „Drin“ reimte sich da wunderbar und ziemlich machohaft auf „hin“: „Schlag‘ nach bei Shakespeare, bei dem steht was drin!/Kommst Du mit Shakespeare, sind die Weiber gleich ganz hin.“[3] Neujahrsscherz? Nein, sogar Cole Porter für das Shakespeare-Musical Kiss Me, Kate (1948).[4] „Brush up your Shakespeare“, klingt im Original allerdings etwas smarter. Irgendwo war da, womöglich durch adoleszentes Schlagerhören, Shakespeare im Hinterkopf. In digitalen Zeiten schlägt man allerdings nicht mehr nach, sondern googlet und sucht auf ShakespeareWords.com.

Der Schriftsteller Friedrich Kröhnke, der mit vielen traditionellen Praktiken der Wissensakkumulierung vertraut ist, sagte nach einer Aufführung von Uncanny Valley: „Früher gab’s den Büchmann.“ Damit meinte er August Methusalem Georg Büchmanns Geflügelte Worte – der Citatenschatz des deutschen Volkes, die noch 2007 fortgesetzt von Walter Robert-Tornow und bearbeitet von Winfried Hofmann bei Ullstein erschienen sind. Die Geflügelte(n) Worte erschienen 1864 zum ersten Mal bei Haude und Spenner in Berlin. Als Oberlehrer hatte Büchmann ein durchaus verbindliches Zitatwissen nach einer Systematik u. a. der Herkunftssprachen – Französisch, Englisch, Italienisch, Griechisch, Lateinisch – für seine Zeit zusammengestellt.[5] Das weit verbreitete Zitatwissen lässt sich als ein durchaus beeindruckendes meistens mit der Macht einer gelehrten und/oder prominenten Herkunft beschreiben. Der Büchmann beginnt für das Englische natürlich mit … Shakespeare.[6] Unter den Hamlet-Zitaten fehlt allerdings das Maschinenzitat.[7] Aus Die beiden edlen Vettern wird gar nicht erst zitiert.[8]

Das Zitatwissen bleibt in gewisser Weise ein passives. Es wird oft einfach als Wissen mit einer Geste der Bedeutung ausgesprochen. Doch schon Büchmann erwähnt für Shakespeare eine Übertragung durch Übersetzung, wenn es um die Shakespeareschen „Household words“ aus König Heinrich der Fünfte geht, die in „Alltagsworte“ übersetzt werden. Und: „Der Ausdruck selbst ist ein solches Alltagswort geworden, daß Dickens ihn höchst passend zum Titel eines literarischen Unterhaltungsblattes wählen konnte. Der von Gutzkow nachgeahmte Titel: „Unterhaltungen am häuslichen Herde“ hat nur noch einen fernen Anklang an die Originalstelle des englischen Dichters.“[9] Das Zitatwissen kann sich insofern durch Übertragungen verbreiten und verkehren. Doch Zitate gehorchen zunächst einmal einem Wissen als Algorithmus, womit sie sich finden oder wiederholen und programmieren lassen. Damit sind wir sehr nah am Text von Uncanny Valley und der Frage nach der Maschine bei Shakespeare. Dort liest Polonius in verräterischer Absicht der Königin einen Liebesbrief Hamlets an Ophelia vor:
„Thine evermore, most dear lady, whilst
this machine is to him,
Hamlet.“ (Hamlet II.ii.122-124)[10]    

Hamlet beschreibt sich selbst durchaus poetisch als Maschine. Ob damit seine Psyche und Verhalten oder (nur) sein Körper oder „human frame“[11] beschrieben werden soll, bleibt völlig offen. – „this machine is to him“, im Original übrigens: „this Machine is to him“ – Es gibt eine Unsicherheit oder auch unheimliche Offenheit in der Sprache, mit der Hamlet sich zur Maschine macht. Er behauptet, dass ihm die Maschine seiner selbst gehöre. In der Übersetzung von August Wilhelm Schlegel heißt die Stelle: „Der Deinige auf ewig, teuerstes Fräulein, solange/diese Maschine ihm zugehört./Hamlet.“ In der Weise wie Hamlet seine Liebe für Ophelia beschreiben möchte und ihm die Worte beim Reimen versagen, könnte man sagen, dass ihm die Maschine seiner selbst oder seines Selbst auch nicht (mehr) gehört. Er kann sich selbst als Maschine gerade nicht kontrollieren. Die Abschiedsformulierung behauptet eine Kontrolle im Kontrollverlust von Sprache und Verhalten, um das Gefühl der Liebe zu beschreiben.
„O liebe Ophelia, es gelingt mir schlecht mit dem Silbenmaße; ich besitze die Kunst nicht, meine Seufzer zu messen, aber daß ich Dich bestens liebe, o Allerbeste, das glaube mir. Leb wohl!“[12]

Der Kontrollverlust über Psyche und Körper wird von Stefan Kaegi und Thomas Melle zur Versuchsanordnung von Uncanny Valley gemacht. Künstliche Intelligenz kennt keinen Kontrollverlust. Das Motiv des Kontrollverlustes, das vor allem eine imaginäre Kontrolle als Normalfunktion voraussetzt, wird von Kaegi und Melle mit den „Biografien“ von Alan Turing, der bis heute „unser Verständnis von Künstlicher Intelligenz“ prägt,[13] und Thomas Melle, zur Fragestellung des Stückes (ohne) Schauspieler. Gleich eingangs zeigt der „Melle-Roboter“ ein Foto „von sich“ als „süßes“ Schulkind, das womöglich nur deshalb „süß“ in die Kamera schaut, weil es weiß, dass es fotografiert und wie erwartet wird, dass es aussehen, blicken soll. Damit wird bereits die Frage nach dem Authentisches angeschlagen, um zugleich zu fragen, ab wann und wie nicht bereits Kinder programmiert werden, um „süß“ zu wirken. Auf diese Weise wird die vermeintlich sichere Unterscheidung zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz hintertrieben.

Ob Künstliche Intelligenz vom Kontrollverlust weiß, lässt sich als eine Frage der Grenzziehung formulieren. Die meisten Computer sind heute online vernetzt, so dass durch z.B. Cyberattacken die Kontrolle der Künstlichen Intelligenz sehr wohl verloren gehen kann und Sicherheitsprogramme permanent an der Kontrollerhaltung arbeiten. Kontrolle als Wunsch nach Sicherheit wird an der Schnittstelle von Politik und KI zum bestimmenden Thema, wie z. B. die Konferenz des Cyber Security Forums und des Aspen Institutes im Mai 2019 zeigte. Obwohl der „Melle-Roboter“ nicht vernetzt ist, sondern (nur) jeden Abend das gleiche Programm abspielt, kommt es auch bei ihm zu Ausfällen. Der Berichterstatter sah zwei Vorstellungen, eine am 28. Dezember 2019 und eine am 3. Januar 2020. Das war ein Zufall, aber geplant. Am 28. Dezember um 20:30 Uhr trat ein Mann vor Beginn der Vorstellung auf die Bühne, wies daraufhin, dass immer dann jemand vor einer Aufführung eine Ansage mache, wenn etwas nicht funktioniere, und sagte, dass der eine Fuß des „Melle-Roboters“ trotz aller möglichen Anstrengungen heute Abend nicht funktioniere. Menschliches oder künstliches Versagen? Am 3. Januar funktionierte der Fuß, der sich im Verlauf des Programms einmal deutlich und über die normale Körperfunktion hinaus drehte. Das Theater funktioniert als Maschine nicht zuletzt, weil Theaterproben immer dazu dienen, einen möglichst genauen Ablauf der Textvorführung einzuüben.

Wahrscheinlich müsste man nicht so sehr den Kontrollverlust bedenken, sondern bereits den imaginären Kontrollwunsch des Menschen in der Moderne erforschen. An der Schwelle zur Moderne schreibt William Shakespeare seine Texte und Theatertexte aus zahlreichen Quellen. The Two Noble Kinsmen geht gar aus einer Kollaboration mit John Fletcher hervor und knüpft an die The Knight’s Tale aus The Canterbury Tales von Geoffrey Chaucer an. Da es sich bei The Knight’s Tale um den Prolog einer höfischen Versdichtung aus dem 14. Jahrhundert handelt, kommt das Theater als Maschine dort nicht vor. Insofern gehört die Transformation der Verserzählung durch Shakespeare und Fletcher für das Theater zu einer entscheidenden Neuerung. Es ist ausgerechnet der Pädagoge oder „Schoolmaster“, der das Theater poetisch als Maschine formuliert:
And I that am the rectifier of all,
By title pedagogus, that let fall     
The birch upon the breeches of the small ones,
And humble with a ferula the tall ones,   
Do here present this machine, or this frame;     
And, dainty Duke, whose doughty dismal fame  
From Dis to Daedalus, from post to pillar,
Is blown abroad, help me, thy poor well-willer,   
And with thy twinkling eyes look right and straight
Upon this mighty ‘ Morr,’ of mickle weight;        
 ‘ Is ’ now comes in, which being glued together
Makes ‘ Morris,’ and the cause that we came hither,
The body of our sport, of no small study. (TNK III.v.108-120)

Die Selbstvorstellung des Schulmeisters als „the rectifier of all“ (Gleichrichter von allem) in der fünften Szene des dritten Aktes formuliert in der Tragikkomödie auch ein neuartiges Verständnis der Pädagogik. Die Gleichrichtung der Schüler wird dabei durch körperliche Züchtigung – „der fallen ließ/Die Birke auf die Hosen der Kleinen,/Und demütigt mit einer Ferula (Stock) die Großen“ – praktiziert. Die gleichrichtende Kontrolle von Schülern oder Menschen allgemein wird von Shakespeare und Fetcher um 1613 für den „Schoolmaster“ mit dem Theater als Maschine formuliert. – „Do here present this machine, or this frame;“ (Stelle Ihnen hier diese Maschine oder diesen Rahmen vor;) – Zu Beginn des 17. Jahrhunderts gibt es natürlich noch keine systematische Erforschung der Elektrizität, wo seit den 1870er Jahren in der Elektrotechnik in England und Deutschland rectifier bzw. Gleichrichter konzipiert werden. Ein Begriff aus dem Umfeld der Pädagogik des frühen 17. wird damit im späten 19. Jahrhundert wirkungsmächtig in die Elektrotechnik übertragen. Das Technikwissen der Gleichrichter generiert sich mehr oder weniger entfernt aus die Theaterliteratur des 17. Jahrhundert. Nach dem Deutschen Wörterbuch bleibt die Herkunft vage, um damit einen „apparat zur umwandlung von wechselstrom in gleichstrom, s. Blaschke wb. d. elektrotechn. (1901) 55“ zu bezeichnen.[14]

Die Maschine wird insofern vor allem mit der Gleichrichtigkeit vom „Schoolmaster“ in Verbindung gebracht. Thomas Melle formuliert seinen Roboter als Praxis einer Auslagerung, damit das „Problem der Unstetigkeit“ des Menschen behoben wird: „Nach Teilen des Geistes, die ich in mein Buch ausgelagert habe, habe ich jetzt auch meinen Körper ausgelagert und ich kann ihn touren und alles Unangenehme erledigen lassen.“[15] „Stetigkeit“, Regelmäßigkeit, Kontrolliertheit und Gleichrichtigkeit umschreiben einen ähnlichen Wunsch, der im 17. und frühen 18. Jahrhundert insbesondere mit der Dichtung und „Reimkunst“ zusammen gebracht wird: „GLEICHRICHTIGKEIT, f., ‚regelmäszigkeit‘, im 17. und frühen 18. jh. gelegentlich: solches (die alte deutsche reimkunst) ist meistentheils von unserer heutigen und richtigen poesi weit entfernt, und rechter kunst und gleichrichtigkeit unfähig Schottel haubtspr. (1663) 841“.[16] Im Englischen wird das Verb rectify seit dem 14. Jahrhundert als Synonym für heal, also heilen, gebraucht. Seit dem 16. Jahrhundert wird rectify wie restore „(someone or something) to its proper condition; to straighten out, to set right“ verwendet.[17]  

Wenn Thomas Melle in einer Art Textcollage wiederholt die Biografie Alan Turings in zweifacher Weise mit dem Computer in Verbindung bringt, dann betrifft dies in unheimlicher Weise dessen Zwangsmedikamentierung mit Östrogen gegen dessen homosexuelles Begehren und das „Imitation Game“, das der Erfinder auf die Frage nach der Unterscheidung von menschlicher und künstlicher Intelligenz übertrug. Beim „Imitation Game“ als Gesellschaftsspiel ging es zu Anfang des 20. Jahrhunderts um die geschlechtliche Unterscheidung von Mann und Frau durch die Beantwortung von Fragen. Es geht also um ein Wissen, das das biologische Geschlecht verraten oder eben gerade nicht verraten soll, indem die geschlechtliche Antwort mit Texten imitiert wird. Dieses Gesellschaftsspiel, das Alan Turing vertraut war, übertrug er auf den Computer. Erst dann, wenn der Computer in der Lage sei, in gleicher Weise wie ein Mensch zu antworten, lasse die Künstliche Intelligenz als perfekt bezeichnen. Weil Turing sexuell nicht so funktionierte, wie es die Gesellschaft erwartete, therapierte sie ihn mit Medikamenten, bis er wie Schneewittchen in dem gleichnamigen Disney-Film in einen mit Zyanid vergifteten Apfel biss.

Das Imitation Game als Turing Test hat in der Philosophie zu einer umfangreichen Diskussion geführt. Sundar Pinchai behauptete als Google-Chef im Mai 2018, dass das Anrufprogramm Google Duplex mit seinem NLP, Natural Language Programming, den Turing Test bestanden habe, weil die Menschen am Telefon nicht mehr unterscheiden könnten, ob sie mit einem Menschen oder einem Computer sprechen. Werbewirksam wurde der Anruf vom Computer in einem großen Auditorium vor überwiegend jungen Menschen vorgeführt. Sie waren begeistert und klatschten. Mittlerweile heißt das Programm Dialogflow. Es wird intensiv beworben und von einigen Firmen wie KLM eingesetzt. Mit Dialogflow müsste der „Melle-Roboter“ nicht mehr monologisieren, sondern könnte mit dem Publikum kommunizieren, um es einmal so zu formulieren. Allerdings merkt bereits Thomas Melle subtil an, dass auf Lesereisen immer die gleichen intelligenten Fragen aus dem Publikum gestellt werden. Will das Publikum möglicherweise auch immer die gleichen Antworten hören? In der Forschung ist u.a. von Stuart Shieber in The Turing Test: verbal behaviour as the hallmark of intelligence darauf hingewiesen worden, dass Turing eine Definition von Intelligenz umgehe.[18] Sind sprachliche Formulierungen schon Intelligenz?

Stefan Kaegi und Thomas Melle führen auf dem Theater sowohl das hinsichtlich Alan Turings Zwangsmedikamentierung besonders schwierige medizinische Wissen vor als auch die Theatermaschine. Die Etymologie von rectify und rectifier als heilen und Heiler gibt einen Wink auf das Medizinwissen und seine Transformationen. Turings Ärzte handelten gewiss in bester Absicht nach dem psychiatrischen Wissen ihrer Zeit, um, wie es Thomas Melle nennt, den „Computer“ Alan Turing heteronormativ umzuprogrammieren oder gleichzurichten. Der „Melle-Computer“ sitzt mit offen verkabeltem Hinterkopf(!) – „Kopf“, „Schulter-R.“, „MUND AUF/ZU“, „Lippen“ … – auf einem Sessel, so dass die Maschine als solche gut einzusehen ist. Als „Theatermaschine“ führen Kaegi und Melle einen Schweinwerfer vor, der Emotionen erzeugt. Das darf man dann schon als Ironie auffassen. Denn die Aufmerksamkeit des Publikums wird auf einen Scheinwerfer und Roboterkabel mit Schildchen gelenkt, damit das Publikum die, sagen wir, immersive Maschine, in der es sitzt, vergisst.

Torsten Flüh

UNCANNY VALLEY
Von Rimini Protokoll (Stefan Kaegi)
und Thomas Melle
Donnerstag, 09.01.2020: 18:00
Freitag, 10.01.2020: 18:00
Samstag, 11.01.2020: 15:30, 18:00
Haus der Berliner Festspiele Seitenbühne


[1] Münchner Kammerspiele (Hg.): Unheimliches Tal/Uncanny Valley von Rimini Protokoll (Stefan Kaegi) und Thomas Melle (Uraufführung 04. Oktober 2018). München 2018, S. (unnummeriert – 2).

[2] Thomas Melle. Ebenda S. 19.

[3] Bill Ramsey & Gus Backus – Schlag nach bei Shakespeare 1963. (YouTube)

[4] Vgl. zu Kiss me Kate: Torsten Flüh: Der Paillettenrausch. Dagmar Manzel und die Pailletten in Kiss me, Kate an der Komischen Oper. In NIGHT OUT @ BERLIN April 17, 2012 20:39.

[5] Georg Büchmann: Geflügelte Worte – der Citatenschatz des deutschen Volkes. Berlin: Haude und Spenner, 1864. (Digitalisat)

[6] Ebenda S. 89.

[7] Ebenda S. 94-95.

[8] Nach Zitaten aus Macbeth geht Büchmann zu Milton über. Ebenda S. 98.

[9] Ebenda S. 91.

[10] Hamlet II, ii, 122-124 (ShakespeareWords.com)

[11] Siehe ebenda.

[12] Hamlet übersetzt von August Wilhelm von Schlegel 1798 (Gutenberg)

[13] Zum Abend. In: Münchner Kammerspiele (Hg.): Unheimliches … S. 6.

[14] Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Lemma: Gleichrichter. (online)

[15] Zum Abend. In: Münchner Kammerspiele (Hg.): Unheimliches … [wie Anm. 1] S. 6.

[16] Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Lemma: Gleichrichter. (online)

[17] Wiktionary rectify (online).

[18] Stuart Shieber: The Turing Test: verbal behaviour as the hallmark of intelligence. Cambridge: Massachusetts Institute of Technology, 2004, S. 8.

Dichterin des europäischen Dialogs

Dialog – Übersetzung – Poesie

Dichterin des europäischen Dialogs

Zur Verleihung des Kleist-Preises an Ilma Rakusa im Deutschen Theater

Am 24. November wurde der Kleist-Preis der Heinrich von Kleist-Gesellschaft e. V. an die in Zürich und in der Linienstraße in Berlin lebende Dichterin Ilma Rakusa verliehen. Berlin und Zürich. Die Berliner Presse berichtete kaum. Am Dienstagabend, den 26. November las Ilma Rakusa vor einem kleineren Kreis als im Deutschen Theater in der Tucholsky Buchhandlung von Jörg Braunsdorf aus ihrem jüngsten Buch Mein Alphabet. Im offiziellen Rahmen der Preisverleihung fand der Berlin- und Zürich-Bezug keine Erwähnung, weil sich die Preisträgerin als Kosmopolitin versteht. Doch Ilma Rakusa geht, wie sie verriet, immer, wenn sie just in Berlin angekommen ist, zu Jörg Braunsdorf in die Buchhandlung, weil sie ein Ort nicht nur des Bücherverkaufs, vielmehr der Literatur und des Gesprächs ist.

Nachdem Philipp Beckert und Erez Ofer mit den Duos für zwei Violinen von Béla Bartók die Preisverleihung musikalisch auf Wunsch der Preisträgerin und höchstem Niveau eröffnet hatten, lasen Maren Eggert und Alexander Khuon den Brief von Henriette Vogel an Heinrich von Kleist und umgekehrt. Dramaturgisch wurden anschließend vier Texte von Ilma Rakusa aus Mein Alphabet in die Nähe der Briefe durch die Schauspieler*innen gerückt. Das Grußwort hielt der Präsident der Heinrich von Kleist-Gesellschaft, Günter Blamberger, mit thematischem Bezug zur Praxis der Benennung und zum Possessivpronomen mein. Yoko Tawada durfte als Vertrauensperson der Jury auf Ilma Rakusa eine europäisch geprägte Laudatio halten, die sich mit ihrer Preisrede bedankte. Die Laudatorin sagte, dass „(d)ie Dichterin, die (sie) in Graz kennengelernt hatte,“ schon lange „bevor „Europa“ zum Modethema wurde, praktiziert (habe), eine Europäerin zu sein.“[1]

Günter Blamberger hatte bereits zum Kleist-Jahr 2011 in seiner Kleist-Biographie wie jetzt in seiner Rede Heinrich von Kleist an Henriette Vogels als „Spiegelbrief der >Todeslitanei<“ bezeichnet, „der zum Korpus der Todesbriefe gehört und in der Gattungsgeschichte des Briefes einmalig, ja, unvergleichlich ist“.[2] Nun war es wohl das erste Mal, dass diese beiden Briefe von Maren Eggert und Alexander Khuon auf der Bühne mit schauspielerischem Aplomb gelesen wurden. Die Verortung und Datierung der beiden Briefe, – „[wahrscheinlich Berlin, November 1811]“[3] – ist unsicher. Wie können also die „Todesbriefe“ gelesen werden? Sie sind anders als auf der Theaterbühne von Heinrich für Henriette und umgekehrt möglicherweise nie vorgelesen worden. Alexander Khuon und Maren Eggert legen in ihre Stimmen eine besondere Zärtlichkeit und Verliebtheit. Oder geht es um einen Todeswunsch, der eine sprachliche Übersetzung sucht?
„»Mein Jettchen, mein Herzchen, m Liebes, m Täubchen, m Leben, m liebes stilles Leben, m Lebenslicht, m Alles, m Hab u Gut, meine Schlösser, Aecker, Wiesen u Weinberge, o Sonne meines Lebens, Sonne, Mond u Sterne, Himmel u Erde …«“[4]

Ich breche hier ab. – Wie wird Lesen möglich? Der Todesbrief, liest man ihn mit seinen Abkürzungen von „m“ und „u“, ohne das „m“ gleich laut als „mein“ zu lesen, ist in seiner Zeichenhaftigkeit fast getwittert. Nein, nicht nur gezwitschert, sondern nach dem Kurz- und Abkürzungsformat des Kurznachrichtenmediums Twitter geschrieben. Abkürzungen sind in einem Liebesbrief nicht gerade schmeichelhaft. Dennoch bleiben sie auch heute via Twitter nicht folgenlos und können sich sinnlich, emotional verfangen. War es die Eile oder die Wiederholbarkeit im Modus der Litanei, die Kleists die Abkürzungen nehmen, schreiben ließ? Henriette Vogel übernimmt ebenfalls die abkürzende Schreibweise. Khuon und Eggert lesen (selbstverständlich) die Worte, die vermeintlich nicht ausgeschrieben werden müssen. Hätten sie das „m“ und das „u“ als solche laut gelesen, hätte sich die Litanei, das ebenso langatmige wie gemeinsame Lesen in ein seltsames Gestammel zwischen „m“ und „u“ verwandelt. Doch schrieben Heinrich und Henriette überhaupt diese Briefe?
„»Mein Heinrich, m Süßtönender, m Hyazinthen Beet, m Wonnemeer, m Morgen u Abendroth, m Aeolsharfe, m Thau, m Friedensbogen, m Schoßhündchen, m liebstes Herz, m Freude, im Leid, m Wiedergeburt, m Freiheit …«“[5]   

Wir wissen nicht, ob Heinrich von Kleist und Henriette Vogel die Briefe jemals geschrieben haben. Denn die Briefe sind nur als „Abschrift [..] im Nachlass Peguilhems“, eines gemeinsamen Freundes, überliefert.[6] Im Format der Biographie und der Wiederkehr des Todestages nimmt die „Abschrift“ indessen eine nahezu unverzichtbare Funktion ein. Die Ähnlichkeit und zumindest im zweiten Brief Vorhersehbarkeit in der Schreibweise ließe fast an ein maschinelles Textverarbeitungsverfahren denken. Doch welches war der erste und welcher der zweite Brief, der von der Schreibweise fast schon eine Kopie sein könnte? Geht es um Zeugnisse einer Todeseuphorie als maschinelle Psyche, die sich auf auch unheimliche Weise vorhersagen und -sehen lässt? Der gewiss unerklärliche Doppelsuizid[7] von Heinrich von Kleist und Henriette Vogel verlangt nach einem sprachlichen Zeugnis. Mit der „Abschrift“ – „(l)eider gibt es von den beiden Briefen kein handschriftliches Original“[8] – bleibt die „Todeslitanei“ als Wunsch nach einer sprachlichen Äußerung ins Bodenlose ungesichert.  

Der gemeinsame, suizidale Tod am Kleinen Wannsee bleibt rätselhaft und schmerzlich wie eine Wunde, umso mehr verlangt er nach Imagination und Erzählung. Was als Vorspiel zum unsagbaren, ja, störenden und verstörenden Suizid gilt, kann mit gleicher wissenschaftlicher Berechtigung als nachträglicher Versuch, einer Schließung eben jener skandalösen Störung formuliert und aufgefasst werden. Wir wissen es nicht. Günter Blamberger bietet an, „sich vor(zu)stellen, dass die Todeslitaneien in der Nacht zum 21. November 1811 verfasst wurden, im Gasthof Stimming“.[9] Doch wir müssen es selbst als Philologen aushalten können, dass wir es nicht wissen. Nach Blamberger entsprechen sie „der Form der einander spiegelnden Briefe, die Paul Lindau 1873 erstmals publiziert hat, verbunden mit dem Kommentar, dass ihre Beurteilung »weniger zum Ressort des literarischen Kritikers als zu dem des Psychiaters« gehöre“.[10] Die Schreibweise vermag insofern, das medizinische Wissen der Psychiatrie über den Suizid auszulösen. Lindaus Kommentar lässt sich denn auch als Versuch lesen, die Störung als Pathologie zu beruhigen.

In gewisser Weise stehen die „Spiegelbriefe“ dem Modus der Duos für zwei Violinen von Béla Bartók entgegen, die sich Ilma Rakusa für die musikalische Rahmung der Preisverleihung gewünscht hatte. Die 44 Duos für zwei Violinen (1931) praktizieren zunächst einmal eine musikalische Vielfalt, die nicht im Solo, sondern zu zweit gespielt wird. Als pädagogische Übungsstücke gedacht, verwenden sie ungarische, rumänische, serbische, slowakische, ruthenische und arabische Folklore. Die Melodien basieren wie im Duo 26 häufig auf Kinderspielen und -liedern, „Hinketanz, Rutenische Kolomeyka, Erntelied, Wallachischer Tanz und Dudelsack“.[11] Doch das scheinbar Kindlich-Einfache in gewisser Kürze der Duos erweist sich als höchst anspruchsvoll, so dass Philipp Beckert und Erez Ofer ein kammermusikalisches Kleinod zum Funkeln brachten. Denn das Zusammenspiel der Violinen macht allererst die reizvolle Musik. Themen werden entwickelt, aufgenommen und verwandelt. Die Hörer*innen nehmen quasi am kreativen Prozess, dialogischen Musikmachen teil.

Die Mehrsprachigkeit, die in den Duos anklingt, gehört zur Herkunft Ilma Rakusas. Ihr Vater sprach Slowenisch, ihre Mutter Ungarisch und als Kind verschlug es die Familie nach Italien, bevor sie im deutschsprachigen Zürich ankamen. Sie studierte in Paris, weshalb sie Französisch spricht. Und mit Love after love – Acht Abgesänge hat sie 2001 einen Gedichtzyklus veröffentlicht, der das Englische in besonderer Weise einsetzt und verarbeitet, wenn es beispielsweise heißt: „Wow./Der Traum ist aus./Die Tage Schatten. Jeder so grau wie der andere./Nevermore./You realize?/Verschenkte Zeit, der Herbst fällt in die Beete. Blätter fallen wie von weit.“[12] Das Englische erhält dabei eine ganz andere, poetische Funktion, die, wie sie in Mein Alphabet schreibt, etwas von einer „Traumabewältigung“ hatte.[13] Das Englische kontrastiert, als sei’s ein Zwiegespräch mit sich selbst. Doch dazu später.

Ilma Rakusa ist also Europäerin durch Mehrsprachigkeit und Übersetzung. Yoko Tawada lernte ihre Wahlpreisträgerin nicht in Hamburg, Berlin oder Tübingen, sondern im österreichischen Graz und damit im Dreiländereck von Slowenien, Ungarn und Österreich kennen.
„Damals in Graz gab Rakusa nicht nur eine Lesung aus ihren eigenen literarischen Texten, sondern stellte einen französischen Autor vor, und es dauerte eine Weile, bis ich begriffen hatte, dass sie eine deutschsprachige Dichterin aus der Schweiz ist, die aus dem Französischen, Russischen, Ungarischen und weiteren, europäischen Sprachen übersetzt. Es war das erste Mal, dass ich eine waschechte Europäerin erlebte. Damit möchte ich keinen Unterschied zwischen einer falschen und waschechten Europäerin machen, sondern ich nehme das Wort „waschecht“ ernst und sehe vor Augen, wie die Textilien ihrer Texte durch das Wasser vieler Sprachen gewaschen worden sind. Wie kommt sonst dieser zarte, fast durchsichtige und kraftvolle Glanz in ihre Sprache?“[14]

In der Tucholsky Buchhandlung verrät Ilma Rakusa einiges über ihre Schreibpraxis, die zu ihrem vielschichtigen und durchaus vielstimmigen Buch Mein Alphabet geführt hat. So ein Buch wird von ihr komponiert. Diese Komposition enthält sowohl als Formen Gedichte wie Prosa als auch interviewartige Gespräche. Bei den Gesprächen wird nicht angegeben, wer die Fragen stellt. Vielleicht hat sie sie selbst für sich formuliert. Vor allem hat sie für das Buch an das Langgedicht Alphabet (1981) von Inger Christensen als „Dialogpartner“ angeknüpft, wie sie in ihrer Preisrede verriet.[15] Ilma Rakusa schreibt sozusagen mit „Dialogpartner(n)“, was voraussetzt, dass Dialoge möglich und zum Schreiben notwendig sind. Sie liest und analysiert Christensens Alphabet, um einen Wink zu geben, worum es ihr mit ihrem Buch geht.
„Christensens „Alphabet“ ist kein lyrisches Nischenprodukt, es verhandelt die Welt, wie wir sie wahrnehmen sollten, damit sie uns erhalten bleibt.“[16]

Selten zeigte eine Preisrede zum Kleist-Preis der letzten Jahre eine derart deutliche politische Haltung nicht nur hinsichtlich der Wahrnehmung der Welt, vielmehr noch als Europäerin aus dem Dialog heraus. In der Weise wie sie als Leserin und Übersetzerin von Marina Zwetajewa (1892-1941) und Danilo Kiš (1935-1989) mit ihnen und vielen anderen im Dialog verwoben ist und sich mit ihnen austauscht, wird für sie Dialog zur ethischen Haltung, die heute durchaus gefährdet ist. Sie stellt sich beispielsweise „eine imaginäre Begegnung zwischen Kleist und Zwetajewa vor: provozierend beide, unnachgiebig im Gespräch, schnell und – hinter dem Rapier – sehr verwundbar“.[17] Das „Gespräch“ glättet oder befriedet hier nicht, aber es bringt die Dichter imaginär überhaupt ins Gespräch. Das ist Ilma Rakusa heute wichtig:
„Noch ist es nicht zu spät, gefährliche Tendenzen auch in Deutschland, Frankreich oder Italien abzuwenden. Doch die Zeit tickt. Und wir müssen uns darauf besinnen, dass Europa nur bestehen kann, wenn es Einheit demonstriert statt Zwietracht, wenn es auf Dialog setzt statt auf Abschottung. Ich sage das als überzeugte Europäerin und als eine Wortarbeiterin, für die Poetik – um einmal mehr Danilo Kiš zu zitieren – Po-ethik meint.“[18]

Poetik als „Po-ethik“ formuliert, macht Ilma Rakusas Dichtung politisch. Sie bedarf einer gewissen Offenheit für den „Dialog“ statt der „Abschottung“. Doch ihre Dichtung ist vielförmig, so dass eben auch Verletzlichkeit und Empfindlichkeit oder die „Raserei“[19] von Love after love zur Schreibpraxis der Kleist-Preisträgerin gehören. In dem Maße wie die Bücher und Texte komponiert werden, sind sie auch formal reflektiert. Vielleicht bringt gerade die „Raserei“, die ebenso bei Heinrich und Henriette eine Rolle gespielt haben könnte, das Einmalige und Unvergleichliche hervor. Indem die Dichterin ihre Schreibpraxis verrät, schreibt sie doch kaum, was sich mit den „Acht Abgesänge(n)“ lesen lässt:
„… Man könnte es Raserei nennen, ich befand mich in einem Zustand höherer Raserei, jedenfalls war da eine Energie, die mich antrieb und immer weitertrieb, unbarmherzig vorantrieb. Und als ich nach Stunden aufsah, lag vor mir ein Gebilde, länger als alle meine bisherigen Gedichte. War es denn überhaupt ein Gedicht? Nicht vielmehr ein zorniges Gestammel? In das auch »er« sich einmischte, in seinem Idiom? Ich ließ es liegen…“[20]  

Ist der Dialog, wie ihn Ilma Rakusa mit ihrem Schreiben praktiziert, nicht so gar eine Art Polylog, wenn man diesen nicht ganz nach dem Konzept des österreichischen Kulturphilosophen Franz Martin Wimmer verstehen will? Bei Wimmer sind Kulturen mehr oder weniger geschlossene Systeme. Bei Ilma Rakusa geht es indessen immer um eine Vielfalt von Stimmen der Poesie und in ihr. Diese Vielfalt im Austausch immer wieder lesbar zu machen, macht Ilma Rakusas Poesie einzigartig.

Torsten Flüh


[1] Yoko Tawada: Laudatio für Ilma Rakusa. In: Kleist-Gesellschaft: Yoko Tawada verlieh Kleist-Preis 2019 an Ilma Rakusa. Kleist-Preis (24. November 2019).

[2] Günter Blamberger: Heinrich von Kleist. Biographie. Frankfurt am Main: Fischer, 2011, S. 463.

[3] Ebenda.

[4] Ebenda.

[5] Ebenda S. 464.

[6] Ebenda S. 465.

[7] Zum Suizid vgl. Thomas Macho: Das Leben nehmen. Suizid in der Moderne. Berlin: Suhrkamp 2017. Und: Torsten Flüh: Der Suizid muss ein moderner Wiener sein – und stören. Thomas Macho stellt sein Buch Das Leben nehmen in der Feierhalle des Kulturquartiers silent green vor. In: NIGHT OUT @ BERLIN November 16, 2017 19:41.

[8] Günter Blamberger: Heinrich … [wie Anm. 2] S. 465.

[9] Ebenda.

[10] Ebenda.

[11] Béla Bartók: Duo Nr. 26. Duo Nr. 26 aus den 44 Duos für zwei Violinen, „Spottlied“. Kammermusikführer.

[12] Ilma Rakusa: Love after love. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2001, S. 16.

[13] Ilma Rakusa: Mein Alphabet. Graz – Wien: Droschl, 2019, S. 81.

[14] Yoko Tawada: Laudatio … [wie Anm. 1]

[15] Ilma Rakusa: Preisrede. [wie Anm. 1]

[16] Ebenda.

[17] Ebenda.

[18] Ebenda.

[19] Ilma Rakusa: Main … [wie Anm. 13] S. 82.

[20] Ebenda.

Chanukka und Weihnachten trans-religiös gefeiert

Lichterfest – Familie – Weihnachten

Chanukka und Weihnachten trans-religiös gefeiert

Über Glückwünsche zu Feiertagen in einer diversen Gesellschaft und Mein schwules Auge

Erstens der Weihnachtsdruck hat mich überlistet: Am Samstagnachmittag begann ich dann doch noch, Gewürzplätzchen für meine Familie zu backen. 150 Minuten abwiegen, Wal- und Haselnüsse mahlen, mit Knethaken Zutaten – Mehl, Butter, Zucker, Salz, Backpulver, Eier, und gemahlene Nüsse, Lebkuchengewürz, Zitronen- und Orangenschale – kräftig mischen, den Teig mit den warmen Händen geschmeidig kneten, ausrollen und ausstechen, backen, mit Zitronen und Puderzuckerglasur bestreichen, Matcha zum Zuckerguss färben. Zweitens wollten mich die Freunde kurzentschlossen noch zu einer Käseverkostung mit Würchwitzer Himmelsscheibe (Milbenkäse) und besonderem Rotwein aus Argentinien um Acht sehen. Der Koffer für die Weihnachtstage war noch nicht gepackt. Um 7 Uhr aufstehen, um den Koffer zu packen. Abwasch. Kurz: Ich vergesse die Fotos für die Weihnachtsbesprechung auf OneDrive zu kopieren.

Internationale und nationale Feiertage, insbesondere das Weihnachtsfest, sind eine organisatorische und emotionale Herausforderung. Am 1. Dezember, zugleich 1. Advent, eröffnete Klaus Lederer, Senator für Kultur und Europa, das Ausstellungs- und Veranstaltungsprojekt Queering Xmas – Positionen der Zuneigung zusammen mit Jan Feddersen vom Queer*en Kulturhaus im Sonntags-Club in der Greifenhagener Straße 26. Klaus Lederer begrüßte all jene Menschen, die Weihnachten in der Familie feiern und auch jene, die keines feiern, weil es beispielsweise keine größere Familie gibt oder sie einen anderen Glauben praktizieren bzw. als Kommunisten Religionen grundsätzlich ablehnen. Der Kultursenator nimmt das offensichtlich nicht allzu orthodox.

Weihnachten feiern in Berlin auch Mohammed und Elif ebenso wie andere Kinder aus muslimischen Familien mit Plätzchenbacken und Feier im Jugendladen des Deutschen Roten Kreuzes Wedding. Als ich die Backaktion mit den Mitarbeiter*innen im Jugendladen 2 Wochen zuvor abgesprochen hatte, kam mir Mohammed mit seinem Fahrrad entgegen und fragte mich gleich, ob er wieder mit mir Plätzchen backen dürfe. Er ist so um die 10 Jahre alt. In der Woche vor Weihnachten nahm ich an einer Weiterbildungsveranstaltung von CrossRoads in Neukölln teil, die darin bestand, dass wir die Dar Assalam Moschee und Neuköllner Begegnungsstätte in der Flughafenstraße zum Nachmittagsgebet besuchten, um uns ausführlich nach dem Gebet mit der sechszehnjährigen Pressereferentin Ayse zu unterhalten. Zum Nachtgebet nach Sonnenuntergang um 17:20 Uhr gingen wir noch in die prächtige Şehitlik Moschee auf dem alten türkischen Friedhof, der 1798 angelegt wurde, am Columbiadamm, wo der Muezzin sich mit uns nach dem Gebet unterhielt.

Zu denken gab mir in der letzten Woche ein entschieden vorgetragener Einwand gegen meine Formulierung der Wünsche für die Feiertage zu Chanukka und Weihnachten in einem Newsletter, den ich für eine Gruppe verfasste. Chanukka und Weihnachten fallen dieses Jahr zeitlich zusammen. Freitag erhielt ich anlässlich der Feiertage von Chanukka und Weihnachten den Newsletter des House of One „Drei Religionen. Ein Haus.“, das auf dem Gelände der von Ost-Berliner Stadtplanern 1964 „abgetragenen“ Kirche St. Petri gebaut werden soll. Warum sollte man heute nicht sowohl für Chanukka als auch für Weihnachten frohe Festtage in Deutschland wünschen? Was passiert, wenn man es einfach macht? Und dann auch noch in zeitlicher Nähe in Berlin Moscheen während des Gebets besucht und respektvoll miteinander umgeht?

In meinem Newsletter schrieb ich meine trans-religiösen Wünsche etwas anders nach der Irritation trotzdem hinein. Mir war signalisiert worden, dass das doch eigentlich nicht passe. Prompt erhielt ich eine Antwortmail, die sich für die Glückwünsche an jüdische Mitglieder bedankte. Ebenfalls am Freitag schaute ich in einem Büro vorbei, in dem Freunde arbeiten, und wünschte zum Abschied „frohe Festtage zu Chanukka und Weihnachten“ in die Runde der Mitarbeiter*innen. Daraufhin erfuhr ich wenig später, dass eine Mitarbeiterin gesagt hatte, dass sie das nun besonders nett fand, weil sie Jüdin sei. Darum geht es: Wissen Sie denn, wer Jude ist und wer nicht? Und woher wissen Sie es?

Die deutsche Gesellschaft ist längst vielfältiger, als es gemeinhin wahrgenommen wird. Die junge, neue Mitarbeiterin, nennen wir sie K., ist, soviel mir später erzählt wurde, in den alten Bundesländern geboren. Doch es gibt ein unheimliches Wissen, das uns nur an Weihnachtswünsche denken lässt, obwohl mittlerweile immer weniger Deutsche in die Kirche gehen. Dieses Wissen geht nämlich davon aus, dass es dort keine Juden in Deutschland gibt, wo sie nicht in besonderer Weise sichtbar werden. Sorry, aber das ist natürlich genauso wie bei den Schwulen und Lesben! Wer nicht durch ein besonderes Verhalten oder Kleidung als schwul und lesbisch sichtbar wird, bei dem oder der gehen die meisten Menschen davon aus, dass sie stino, stinknormal, bzw. hetero sind.

Keine trans-religiösen Glückwünsche zu Chanukka und Weihnachten zu wünschen, geht stillschweigend davon aus, dass es keine Juden in Deutschland gibt. Da beginnt Antisemitismus! Wollen Sie sie etwa an der Nase erkennen?! Es bestand bei meinem Newsletter für die Gruppe nicht der geringste Anlass, dass es keine Jüd*innen in dem Kreis gibt. In Berlin ist es natürlich noch einmal etwas anders als zum Beispiel in Kiel, wo offenbar der Rabbiner für Beisetzungen auf den Friedhöfen in der Michelsen- oder der Eichhofstraße aus Hamburg kommen muss. Seit 2004 gibt es allerdings selbst in Kiel wieder eine Synagoge, die von einer Gemeinde des liberalen Judentums unterhalten wird. Sie geht zurück auf die zerstörte Synagoge am Schrevenpark, die am 9. November 1939 zerstört wurde.

Worum geht es beim Familienfest Weihnachten? In meiner Familie ging es seit meinen Kindertagen darum, dass eine Gruppe über Generationen und Klassen hinweg gemeinsam feiert. Und dieses gemeinsame Feiern schloss immer mehr Menschen als die Kleinfamilie ein. Alleinstehende Großtanten und Nachbarinnen kamen z. B. hinzu. Zuvor hatten im Haus der Bächerei meines Großvaters die Lehrlinge und Gesellen selbstverständlich mit der Familie gefeiert und Grünkohl gegessen. Beim Feiern gerade zu Weihnachten sollte es immer darum gehen, etwas gemeinsam zu machen. Irgendwie haben meine Großeltern schon Weihnachten gequeert, als es den Begriff noch gar nicht gab. Ganz abgesehen von meinen Xmas-Performances Statue of Commercial Xmas für meine Großeltern, Eltern, Schwestern und Schwager in den 90er Jahren. Fast wie im Sonntags Club: „Queer(ing) Xmas – Positionen der Zuneigung trans-religiöse wie kulturelle Aspekte aus der Fülle unserer diversen Lebensentwürfe.“[1]

Weihnachten bedeutet eine Herausforderung, (andere) Rituale der Gemeinschaft und Zuneigung zu entwickeln. Meine ziemlich besten Freunde J. und M. haben z. B. ein Reeperbahn-20:00-Uhr-Besuchsritual für Heiligabend, dann ist es nämlich selbst dort für 2 bis 3 Stunden ganz ruhig, und Hagenbeck-Walross-Besuch-Ritual für Silvesternachmittag herausgebildet. Als schwules Paar wollten sie ein eigenes Ritual ihrer Zweisamkeit schaffen. Das wäre eine Art Mikrofamilie der Zuneigung. Vielleicht kann man auch Rituale der Einsamkeit zelebrieren. Für mich persönlich war es allerdings schon ein wenig komisch, als ich zu Weihnachten 1994 von Shanghai nach Hongkong am 24. Dezember durch das Ost- und Südchinesische Meer auf einer Art kombiniertem Frachtfährschiff tuckerte. An Deck war eine bestimmte Art Meeraal im Dutzend offenbar zum Trocknen aufgehängt. Im Restaurant der nur von Chinesen genutzten Fährverbindung blinkte ein mehrfarbiges „Merry Christmas“ aus Plastik etwas nervös. Heute nutzen nur noch langweilige Kreuzfahrtschiffe die Route.

Queering Xmas findet noch bis 6. Januar mit Weihnachtsgebäck und Ausstellung im Sonntags Club statt. Zahlreiche Künstler*innen zeigten Türchen für Türchen der 24 Adventskalender-Türen ihre Arbeiten wie u.a. die von Rinaldo Hopf, der gerade zusammen mit Fedya Ili die Sonderausgabe des Periodikums Mein schwules Auge/My Gay Eye zu Gay Metropolis 1989-2019 herausgegeben hat. Zu den Bild- und Textwelten gehören u. a. auch Arbeiten des Herausgebers mit schwulen Portraits auf der BILD vom 11. November 1989 mit dem unvergleichlichen BILD-Wording „Deutschland umarmt sich Einigkeit und Recht und Freiheit“ als Titel.[2] Rinaldo Hopfs Zeitungsbilder queeren die historischen Ereignisse, so dass sich auf der BILD vom 13. November unter dem Titel „Guten Morgen Deutschland Es war ein schönes Wochenende“ zwei junge Männer küssen.[3] Hopf hat die Montagen 2019 zum Jubiläum angefertigt. Enthalten sind in der Sonderausgabe auch Fotos von Andreas Fux aus der Serie „Indian Boy an der Brücke der Einheit“ von 1991[4], die auch in The Ballery zu sehen waren.[5]

Zu den Ereignissen des Jahres 2019 zählt, dass der konkursbuch verlag von Claudia Gehrke für „hervorragende gesamtverlegerische Tätigkeit ein Gütesiegel und eine Prämie“ als Deutschen Verlagspreis aus der Hand der Staatsministerin für Kultur und Medien, Monika Grütters, am 18. Oktober entgegennehmen durfte.[6] Claudia Gehrke verlegt nicht nur die Kleist-Preisträgerin Yoko Tawada. Sie verlegt auch seit 1982 Mein heimliches Auge (multisexuell), das sie mitentwickelt und herausgibt,und seit 2003 Mein schwules Auge. Norbert Bisky hat für das Schwule Auge einige Bilder von Jungs z.B. im Schwimmbad freigegeben.[7] Das Blau der Wassersspritzer, das natürlich im Schwimmbad und auch sonst nicht blau ist, verdeckt, was allzu pornographisch gesehen werden könnte und macht es gerade dadurch erst sichtbar.

In diesem Sinne wünsche ich allen Leser*innen (mit diverisitätanzeigendem Gender-Sternchen) queere Festtage zu Chanukka und Weihnachten.

Torsten Flüh

PS: Die Fotos werden am 28. Dezember gewechselt.

Queer(ing) Xmas
Positionen der Zuneigung
Performance: Der Einzug der drei Königinnen
6. Januar ab 16:00 Uhr
Malerei/Zeichnungen/Objekte/Filme und Installationen von 24 internationalen Künstler*innen: Alexander von Agoston // Roswitha Baumeister // Ursula Bierther // Traude Bührmann // *durbahn // Stef. Engel // Lilly Grote// Arnaldo González // Lena Rosa Händle // Rinaldo Hopf // Swen Kählert // Soojung Kim // Luisa Landsberg // Sieglinde Mix // Chris Regn // Nicola Reinitzer // Heike Schader // Doris Schmidt // Jenni Tietze // Lilia Tirado Rosales // Francois Pisapia // Andrew Wagner // Jürgen Wittdorf // Louis Zoller
Sonntags-Club
Greifenhagener Str. 28
19437 Berlin
bis 6. Januar 2020

Chanukka
Lichterzünden am Brandenburger
bis 28.12. bei Einbruch der Dunkelheit

Christmette
24. Dezember um 23.00 Uhr
Evangelische Kirche St. Marien zu Berlin
mit Superintendent Dr. Bertold Höcker und Marvin Gasser (Orgel)

Gottesdienst zum Jahreswechsel
Lesungen in Deutsch, Englisch, Französisch
31.12. 2019 um 23.00 Uhr
Evangelische Kirche St. Marien zu Berlin
mit Superintendent Dr. Bertold Höcker und Marvin Gasser (Orgel)
Die kurzen Lesungen aus dem Alten Testament in mehreren Sprachen werden bis kurz vor 0:00 Uhr von Orgelmusik durchwirkt. Segnungen werden in der Marienkapelle angeboten. Zum Jahreswechsel ziehen wir in einer Prozession singend durch die Kirche, während die Glocken läuten. Nach Glück- und Segenswünschen für 2020 bitten wir zum Empfang in die Marienkapelle. Anschließend feiern wir das erste Abendmahl im neuen Jahr. Der Gottesdienst wird von queeren Menschen und Gemeindegliedern für alle gestaltet.

Rinaldo Hopf/Fedy Ili
Mein schwules Auge
Special Edition
Berlin Gay Metropolis 1989-2019
416 Seiten, Fadenheftung
Format 24 cm x 16,5 cm, viele Bilder
Erschienen Ende Oktober 2019
ISBN 978-3-88769-945-1
19,90 €        


[1] Siehe http://www.sonntags-club.de/288vernissage.html

[2] Rinaldo Hopf, Fedya Ili: Mein schwules Auge/My Gay Eye. Gay Meropolis 1989-2019. Tübingen: Konkursbuch, 2019, S. 174-175.

[3] Ebenda S. 169.

[4] Ebenda S. 145-151.

[5] Siehe: Torsten Flüh: Vertrauliche Begegnung mit Fuchs: Sonnenallee. 30 Jahre Mauerfall am Brandenburger Tor, in The Ballery, in der Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche und im Berliner Dom. In: NIGHT OUT @ BERLIN 12. November 2019.

[6] Deutscher Verlagspreis. Die Preisträger.

[7] Rinaldo Hopf, Fedya Ili: Mein … [wie Anm. 2] S. 246/247.

Herrlich verdrehte Agitprop-Revue

Kommunismus – Konstruktion – Krankenschwester

Herrlich verdrehte Agitprop-Revue

Zur Uraufführung von Ronald M. Schernikaus legende in der Inszenierung von Stefan Pucher an der Volksbühne

Die ältere Frau in Reihe 15 sagt nach dem ersten Akt von legende in etwa, dass es doch schade sei, wie der Sozialismus zu Ende gegangen und dass sie die Schauspielerin der Krankenschwester schlecht verstehen könne, weil sie einen Akzent habe. Beides kann der Berichterstatter so nach der Uraufführung des Montageromans legende von Ronald M. Schernikau als verdrehte Agitprop-Revue nicht bestätigen. Ja, das Plakat spielt mit Skizzomat von Marie Emmermann stilistisch auf den sowjetischen Konstruktivismus an, aber anders. Postkartenmotiv: Gedächtniskirche, Patentante Karola nannte sie „Fauler Zahn“, mit Eiermann-Nachkriegskirchenbau. Blick über den Zoo und Tiergarten Richtung Osten, Eisenträger, ein Ohr, eine Wolke, eine Linie wie ein Faden mit Kugeln.

Zuviel sollte das Theaterpublikum nicht verstehen wollen. Das führt weder „in der Schreibmaschinenfassung (mit) 1.451 Seiten“ des Romans zu mehr Verständnis, noch wird die gut dreistündige Theateraufführung mit viel Textperformance und Songs wie dem „Klartext-Song“ dadurch klarer. Die Bühne (Barbara Ehnes) erlaubt nicht nur schnelle Wechsel zwischen Schultheis- „DRUE“ und „EBEN“ Wernesgrüner-Kneipenszene, Flugfeldern, Straßenecken und Krankenhauszimmern etc., sie dreht sich auch ziemlich oft vor und zurück. Die „Buch“ genannten Szenen sind bereits im Roman auf unterschiedlichen Sprachebenen und Redeweisen kurz montiert. Man könnte fast sagen: hier wird Text zwischen Selbstgespräch der Krankenschwester (Sólveig Arnarsdóttir) und Auftritt der „Götter“ vom Schnürboden vor einem projizierten brutzelnden Spiegelei in der Pfanne verwirbelt. Die Gött*innen wissen dann auch nicht weiter und helfen gar nichts.

Roland M. Schernikau hat den Text legende zwischen 1985 und 1991 aus Märchenmotiven, Zeitungs- und Bibelzitaten, Fake-Dokus, Protokollen und einigem Sprachmaterial mehr montiert. Zuvor war er als Schüler mit Kleinstadtnovelle (1980) durchaus berühmt geworden. Doch 1985 war für einen schwulen, jungen Mann plötzlich eine merkwürdige und gefährliche Zeit mit vier Buchstaben geworden: AIDS. Ficken mit oder ohne Kondom? Safe Sex war noch keinesfalls gängige Praxis, geschweige denn gesundheitspolitisch empfohlen. Reflexartig wurden vielmehr Isolations- und Internierungsfantasien von vor allem bayrischen Politikern formuliert. Das gibt den Hintergrund des Roman-Projekts legende. Die Diagnose AIDS wurde als Todesurteil verstanden. Überleben war nicht vorgesehen. Am Ende von „Buch 9 | Die Erlösung“ sterben alle insbesondere auf der „insel“ West-Berlin im Eiweiß der DDR.
„19 die insel wird am sonnabend offiziell zum friedhof erklärt. von den bisherigen einwohnern starben bisher alle; der tod der noch lebenden wird stündlich erwartet. nach mitteilung der götter hat es sich als unmöglich erwiesen, die opfer unter der dicken schicht von leichen zu bergen. ein kardinal weiht das ehemalige inselgebiet von einem flugzeug aus und erklärt es zu einer heiligen stätte, auf der nicht mehr gebaut werden darf.“[1]  

legende von Ronald M. Schernikau lässt sich mit dem Trauma der AIDS-Krise seit Mitte der achtziger Jahre als ein verzweifelter Abgesang nicht nur auf die DDR, mehr noch auf den Kommunismus und den Kapitalismus lesen. Vielmehr nimmt es die Form des Requiems eines jungen, queeren Schriftstellers an, der davon ausgehen musste, bald an den Folgen der Immunschwäche zu sterben. Das verändert alles. Sprachlich wurde für AIDS auf biblische Motive wie die Strafe Gottes, Apokalypse oder rassistische wie der Entartung zurück gegriffen. Gleichzeitig wurde Schernikau zum queeren Gast in Talkshows, fand als Schriftsteller aber keine Publikumsverlage für existenzsichernde Buchverträge. Ohne Aussicht auf eine sexualpraktische, medizinische wie gesellschaftliche Normalisierung schrieb und montierte Schernikau sein Opus Magnum als Kritik an Ordnung und Wissen seiner Zeit. Denn es ging 1987 vor allem in Bayern mit dem Staatssekretär Peter Gauweiler im Kabinett von Franz Josef Strauß hoch her. Der Bundestagsabgeordnete Horst Seehofer, später selbst kein Kind von Traurigkeit, sprach davon, dass vor allem homosexuelle AIDS-Infizierte und Kranke künftig „in speziellen Heimen“ untergebracht werden sollten. Der SPIEGEL berichtete unter dem Titel Entartung ausdünnen am 16. März 1987.     

Der Konstruktivismus kommt weder auf dem Plakat noch im Roman und auch nicht auf der Bühne als utopische Konstruktion vor. Er wird vielmehr verwirbelt, lädt allerdings zu Missverständnissen und Ambiguität ein. Es wird in der Inszenierung von Stefan Pucher wie im Roman viel Text abgeliefert, so dass die Erzählung der Krankenschwester Irene Binz zu einem einzigen Missverständnis von Flucht und Liebe wird. Die Flucht aus der DDR im Kofferraum eines Autos klappt und klappt dann doch gar nicht, weil „in dem kleinen Haushalt im Schwesternwohnheim (…) DDR-Bücher (waren), der Fernseher war auf DDR eingestellt“.[2] Die ersehnte Liebesbeziehung, die den Anstoß zur Flucht gegeben hatte, ließ sich ebenfalls nicht in Realität verwandeln. Der konstruktivistische Ansatz wird zu einem Formwillen, um der Literatur als Roman eine Form zu verpassen, die in zehn „Teil(en)“ mit zum Beispiel vierundzwanzig „B(ü)ch(er)“ im „Teil 8“ die Konstruktion ad absurdum führt.[3]

© Thomas Aurin

Wie subtil Ronald M. Schernikau mit seiner Textverarbeitung der Literaturen im Roman verfuhr, lässt sich beispielsweise in der apokalyptischen Schlusspassage damit bedenken, dass „du tochter der bayrischen bäuerin frohlocke“ angesprochen wird. Denn die bayrische Herkunft überschneidet sich, mit den exponierten Äußerungen bayrischer Politiker in der AIDS-Krise. Tatsächlich herrschte unter den Schwulen in West-Berlin ein großes Sterben. Doch um diesen Schrecken literarisch zu verarbeiten, zitiert Schernikau im neunzehnten Abschnitt von „Buch 9“ aus Emile Zolas Der Zusammenbruch (La Débâcle), wenn es dort „mit einer so dicken Schicht von Leichen“ heißt.[4] Die Literarizität der Textverarbeitung speist sich aus Literaturen als Zitate, die auf andere Weise montiert werden.[5] Sie werden aus dem Kontext herausgeschnitten und anders zusammengesetzt.

© Thomas Aurin

Das Montageverfahren hat auch Folgen für die Inszenierung auf der Theaterbühne. Die Montage von Zitaten wie einem von Emile Zola aus dem zwanzigbändigen Roman-Zyklus Les Rougon-Macquart. Histoire naturelle et sociale d’une famille sous le Second Empire, kann einerseits auf den Horizont des eigenen Romans anspielen, anderseits wird die zitierte Formulierung so montiert, dass ihre Herkunft jenseits der Philologie unbekannt bleiben muss. Erst die textkritische Edition von legende – in Kleinschreibung – durch Lukas Mielke, Helen Thein und Thomas Keck erlaubt die Leseweise. Indessen gibt es auch die Wissensebene, dass der gesamte Roman-Zyklus zunächst in der DDR erschienen war. Eine bestimmte Sinnebene oder Zentrierung auf eine Aussage lässt sich allerdings nicht herausarbeiten. Dies betrifft eben auch den Kommunismus in seiner Ausformung eines Sozialismus in der DDR. Helmut Peitsch hat für seinen Aufsatz zu „Schernikaus Poetologie“ ausführlich den „Dokumentarismus“ und die „programmatischen Begriffe() der Literaturdiskussion“ im Umfeld der DKP der 1980er Jahre in Erinnerung gerufen. Doch Schernikau habe sie aufgegeben.[6]  

© Thomas Aurin

Der Literaturbegriff bei Schernikau hat insbesondere in den Rezensionen zur Uraufführung von legende an der Volksbühne eine wenigstens unterschwellige Rolle gespielt. Denn der Literaturbegriff gibt einen Wink auf die Vorstellung von Theater, wenn kein als Drama gerahmter Text aufgeführt wird. Die Texte aus legende, die unterschiedliche Formen wie Erzählung und Dialog, Satire und Traktat, Gedicht und Rede, aber auch Songs wie Schlager von Marianne Rosenberg als „mariane komenski stewardeß vormals verwaltungsangestellte des krankenhauses später schlagersängerin“[7]  und Chöre annehmen können, werden nahezu unbearbeitet auf dem Theater performt. Man könnte das auch ein postdramatisches Theater nennen. Helmut Peitsch findet Schernikaus Literaturbegriff in einer Randnotiz oder Glosse von legende. Es geht dabei nämlich darum, was Autor und Leser als „wir“ daraus machen. Kommunismus wird als communis, gemeinsam(es) Machen eine Produktionsweise von Theater und Literatur.
„Und so erscheint auf S. 533 im Text der »Legende« eine Spalte »anmerkungen« zu Personen und Sachen für die 85 nummerierten, »chronologisch geordnet[en]« »gedichte«, »geschrieben 1979 bis 1986«: »[…] lobet. Nichts andres ist, als was wir daraus machen.«“[8]  

© Thomas Aurin

legende gibt als Titel für einen Roman und eine Theateraufführung einen Wink auf das Lesen, lat. legere, und Wiederlesen. Schernikau schreibt nicht nur eine Legende als Erzählung und Geschichte, vielmehr macht er das Lesen zum Thema als Drama und Legendenbildung vom Autor zugleich. Bertold Brecht und Dante Alighieri ebenso wie Honoré Balsacs Comédie humaine winken mit den ersten Sätzen herüber. Wieviel Sprachmaterial enthält legende beispielsweise aus Brechts Der Gute Mensch von Sezuan? Und am Schluss, der möglicherweise gar nicht zuletzt geschrieben, sondern nur als solcher montiert wurde, Emile Zolas La Débâcle, wobei débâcle im Französischen erst seit Zola die literarische Bedeutung von Zusammenbruch angenommen hat. Auf dem Theater wird das Lesen zu einer multimedialen Praxis der Sinnlichkeit von Sehenlesen und Hören, Audio und Video im Live. Die Musik macht Christopher Uhe mit Chikara Aoshima, Réka Csiszér und Michael Mühlhaus. Rebecca Riedel sorgt für das Video zeitweise mit Live-Kamera für Stefan Puchers Inszenierung. Es lässt sich auf ganz unterschiedlichen Ebenen hören und sehen.

© Thomas Aurin

Stefan Pucher und sein Dramaturg Malte Ubenauf legen Wert darauf, die Aktualität von legende mit ihrer Montage herzustellen. Die Themen, die Schernikau vor dreißig Jahren anschnitt wie die Frage nach dem Kommunismus, werden auf aktuelle Diskussionen wie Mieten, Kapitalismuskritik, Pflege und Krankenhausschließungen etc. bezogen. Die Hauptfigur „janfilipp geldsack“ (Sebastian Grünewald) ist eine harte Satire auf Jan Philipp Reemtsma, der heute weit weniger als vor 30 Jahren in Presse und Boulevardmedien erscheint. Das kritische, linke Engagement des Erben aus einer Zigarettenkonzernfamilie wurde in den 80er Jahren weit stärker auch mit Häme von der Presse begleitet. Schernikau hat durchaus in diese Kerbe gehauen, wenn er in Die Tage in L. (1989) Reemtsma in eine allzu einfache marxistisch-leninistische Formel presst: „einem der reichsten männer der brd, der die gute alte tradition des sozial engagierten verursachers des elends in ungeahnte höhen führt. was heute ein kapitalist ist, das hat marx gelesen und weiß, daß er recht hat, weil er aber ein kapitalist ist, hat er seine angestellten, die brav seine geschäfte für ihn weiterführen, während er die welt erkennt“.[9]

© Thomas Aurin

„12 mariane komenski beschließt, in ein besetztes haus zu ziehen. ab jetzt gebe ich nur noch friedenskonzerte.“[10] Die Hausbesetzungen der 80er Jahre sind nicht ganz dasselbe wie der Mietendeckel 2019. Ubenauf und Pucher montieren hier etwas frei. Denn bei den Hausbesetzungen der Anfang der 1980er ging es um Flächensanierungen, die zu einer stärkeren Kontrolle der Wohn- und Lebenssituation führten. Die unsanierten Häuser – „BESETZT“ – sollten als Freiräume erhalten bleiben. Durch den apokalyptischen Schluss der Insel wird sie als „heilige stätte“ der Bebauung und Spekulation entzogen. Dabei ist die Insel als das Gelbe vom Ei eine Fiktion und paradox, weil sich AIDS oder kapitalistische Bodenspekulation überhaupt nicht auf diese eingrenzen ließen. In der Volksbühne tritt „mariane komenski“ auf und singt den Schlager Er gehört zu mir. Der Marianne Rosenberg-Schlager gehört heute zur Queer Culture wie Schlager und der Eurovision Song Contest überhaupt, während Schernikau die Rolle der Schlagersängerin „mariane komenski“ durchaus satirisch anlegt. Schlager gelten als sinnfrei, um – „Er gehört zu mir, wie mein Name an der Tür (…) Denn ich fühlte gleich, das er mich mag/Na ne na na na na“ – mit Gefühlen aufgeladen zu werden. Obwohl die Boxen in der Volksbühne voll ausgesteuert werden, will sich allerdings keine queere Schlager-Konzert-Euphorie wie beim Eurovision Song Contest einstellen. Womöglich müsste das Publikum ein wenig gequeert werden. – Zumal, wenn es vermeintlich wissend hüstelt, als Stino (Dieter Rita Scholl) etwas von Heirat sagt. – Hier wartet es etwas bräsig auf Botschaft Richtung Kommunismus als Abgrenzung und Unterscheidung.

© Thomas Aurin

Der Kommunismus ist, wie Ronald M. Schernikau diesen selbst formuliert in seinem Brief vom 5. März 1989, der im Programmheft abgedruckt wird, gebrochen. Die Adressaten, der „Parteivorstand der SEW“, also die Sozialistische Einheitspartei Westberlins und gerade nicht die SED in Ost-Berlin, dürften über einige Formulierungen zumindest verblüfft gewesen sein. Um das Problem der Existenz als Schriftsteller mit einem gesicherten Einkommen zu leben, will er quasi industrieller „Lohnarbeiter“ werden: „Auch in der DDR könnte ich natürlich vorerst nicht als freiberuflicher Autor leben; aber möglich wäre dort eben eine Lohnarbeit, die meine spezifischen Möglichkeiten überhaupt braucht.“[11]  Auch die Antragsbegründung dürfte nicht ganz dem Schema der SED entsprochen haben, wenn er schreibt: „Meinen Antrag kann ich nur insofern politisch begründen, als auch in der DDR Kommunisten gebraucht werden.“[12] Waren dort nicht alle Kommunisten? Oder wurde das Gemeinsame durch Parteihierarchien und Erich Honnecker alias „herr lange vertreter der zukunft, später pleite“ (Robert Kuchenbuch) verraten? Nach der Parteidoktrin waren gewiss alle Kommunisten, weil schon Christen als Dissidenten galten. Barbara Ehnes stattet die Bühne für den letzten Abschnitt denn auch ironisch mit knabenhaften Engeln fast in der Manier des sozialistischen Realismus aus.

Die Bildüberschneidungen, Sounds und Textinterferenzen lassen sich nie auf eine Aussage festlegen. Sie faszinieren als Fetzen und rauschen revueartig vorbei. Das macht das Literarische oder eben Theatrale von legende aus. In gewisser Weise hat es Stefan Pucher bilderreich mit Videos gar nicht erst versucht, die Gesamtheit der Teile nach Büchern auf die Bühne zu bringen. Das ist gut so. Die Montage der Texte und Szenen ist nah am Roman mit seinen vielfältigen Zitaten. Rausgelassen haben Ubenauf und Pucher etwa „Richard. Gespräch mit Elmar Kraushaar“[13], in dem der einst elfjährige „Richard“ von seiner Liebesbeziehung zu seinem Arzt im Krankenhaus und darüber hinaus erzählt. Elmar Kraushaar ging es mit dem Interview aus den 80er Jahren wohl darum, die Verlogenheit bürgerlicher Liebespraktiken jenseits der heteronormativen Ehe mit Ausflügen in die Pädophilie aufzudecken. Der Text lässt sich indessen heute kaum anders als ein schwerer Missbrauch lesen. Auch nur eine ansatzweise Darstellung des Textes auf dem Theater hätte zu einem handfesten Theaterskandal geführt.  

Dramaturg und Regisseur beziehen sich auf eine Würdigung von legende durch Bernd Heimberger, in der sie als „schier endlos episodische(r), beziehungsreiche(r) Bericht von einer Lebens-Lüge-Insel, die vorgab, alle Wahrheit und Freiheit der Welt gepachtet zu haben, und als selbständige politische Einheit Westberlin existieren sollte und nicht konnte“, beschrieben wird.[14] „Bericht“ wäre gerade ein schwieriger Modus für das Romanhafte und Theatrale. Zumal Helmut Peitsch die Abkehr vom „Dokumentarismus“ hervorhebt. Doch auch das wäre für den schwulen Schernikau noch ein wenig zu einfach gewesen. Denn West-Berlin war ein Sehnsuchtsort der sexuellen Befreiung in gleichzeitiger Unfreiheit durch die Mauer. West-Berlin war die Inkarnation des Paradox, das in legende eine strukturierende Wirkung entfaltet. Dieses Paradox war ständig von den zum Teil ideologischen Kämpfen der Schwulen und Lesben wie auch heute noch zu Fragen des Sternchens* in vielfältigen Interpretationsweisen untereinander durchzogen. Dafür hatte Schernikau ein feines Gespür.
„48 die schwulen machen keine stände mehr. die schwulen haben alles erledigt. die schwulen haben vielleicht kleider an oder jemand trägt ein schild: bewegen sie sich möglichst unnatürlich. die partei versucht auch, die sachen zu erledigen. Die partei hat auch ein kleines schild. Von denen, die sich schön gemacht haben, hat vielleicht einer ein schild: arme romy, und einer: armer rainer werner. Oder gera und knut haben trenchcoats an und hüte und fotografieren die teilnehmer einer genehmigten demonstration, oder helmut ruft: heteros raus aus westberlin! …“[15]  

Stefan Pucher geht es offenbar weder darum, Charaktere herauszuarbeiten – die Performer*innen werden im Programmheft ohne Rollen genannt – noch eine Dramenhandlung aufzuführen. Vielmehr geht es um das kommunistische Machen oder auch was das mit einem macht. Katharsis funktioniert plötzlich oder gar nicht. Am Schluss singt auf der Bühne die hübsche, dünne „Tunte“ (Nicolaas van Diepen), wie man in den Achtzigern abwertend und ebenso mit Stolz sagte, mit den langen Haaren und dem langen schwarzen Kleid ein Lied von James Krüss, wie Ronald M. Schernikau es in einem Video angekündigt hat – dem Berichterstatter schießen plötzlich die Tränen aus den Augen. Warum weiß er nicht. Wenig später wird Irene Binz oder all die anderen Krankenschwestern oder eben Frau Schernikau aufspringen und begeistert Applaus klatschen. Die Schwulen und Lesben* operieren seit Zeiten mit der Mehrdeutigkeit und Umwertung von Begriffen und vermeintlich kulturellen Gewissheiten. Eben das berechtigt eine verdrehte Agitprop-Revue mit hoch engagierten, regelrecht queeren Performer*innen.

Torsten Flüh

legende
von Ronald M. Schernikau
in der Inszenierung von Stefan Pucher
Volksbühne Berlin
nächste Vorstellung am 20. Dezember 2019
12. und 25. Januar 2020  


[1] Ronald M. Schernikau: LEGENDE. Herausgegeben von Lucas Mielke. Helen Thein und Thomas Keck. Berlin: Verbrecher Verlag, 2019, S. 907.

[2] Georg Fülberth: Uhrmacherblick und Götterblick. Ronald M. Schernikau und die DDR. In: Helmut Peitsch und Helen Thein (Hg.): Lieben, was es nicht gibt? Literatur, Pop und Politik bei Ronald M. Schernikau. Berlin: Verbrecher Verlag, 2017, S. 27.

[3] Vgl. Inhalt. In: Ronald M. Schernikau: LEGENDE … [wie Anm. 1] S. 5-7.

[4] Ebenda S. 1034 Anm. 163.

[5] Zur Praxis der Montage bei Schernikau vgl. Torsten Flüh: Tippen – Montage. In: ders.: Flugblatt – Zeitung – Blog. Materialität und Medialität als Literaturen. Wien: Passagen, 2017, S. 183-188.   

[6]  Helmut Peitsch: »Dass schlechte kleine Zeiten bloss Dokumente hervorbringen, keine Literatur« Ronald M. Schernikau und der Dokumentarismus. In: ders. und Helen Thein (Hg.): Lieben … [wie Anm. 2] S. 52.

[7] Ronald M. Schernikau: LEGENDE … [wie Anm. 1] S.10.

[8] Helmut Peitsch: »Dass … [wie Anm. 6] S. 65.

[9] Zitiert nach Anmerkungen. In: Ronald M. Schernikau: LEGENDE … [wie Anm. 1] S. 949.

[10] Ebenda Buch 6 | Abfahrt Friedenssängerin Mariane Komenski, S. 491.

[11] Volksbühne Berlin: legende von Ronald M. Schernikau Stefan Pucher. Berlin: Siegessäule, 2019, S. o.N.

[12] Ebenda.

[13] Ronald M. Schernikau: LEGENDE … [wie Anm. 1] S. 468-475.

[14] In: Volksbühne Berlin: legende … [wie Anm. 11], S. o. N.

[15] Ronald M. Schernikau: LEGENDE … [wie Anm. 1] S. 398.

Die Schwebe und die „Grenzen des Sagbaren“

Lyrik – Prosa – Briefe

Die Schwebe und die „Grenzen des Sagbaren“

Zur Herausgabe des Briefwechsels von Sarah Kirsch und Christa Wolf mit dem Titel »Wir haben uns wirklich an allerhand gewöhnt«

Am 19. November fand im Plenarsaal der Akademie der Künste am Pariser Platz die Buchpremiere eines beeindruckenden Briefwechsels zwischen der Lyrikerin Sarah Kirsch und der Schriftstellerin Christa Wolf statt. Ein durchaus illustrer Abend in der Akademie. Geradezu ikonographisch wird ein Foto der beiden Schriftstellerinnen von Helga Paris auf die Stirnwand des Saales projiziert, das sich im Fenster zum Brandenburger Tor spiegelt. Christa Wolf mit einer Strähne über dem linken Auge lächelt ihre Freundin Sarah Kirsch von der Seite an. Es ist mehr als ein Lächeln, fast schon Freude über und Stolz auf die jüngere Freundin. Auf einem Tisch Weingläser, ein paar Wiesenblumen. Als Hintergrund eine Art Fachwerkwand. „Sarah Kirsch und Christa Wolf im Sommer 1975 in Meteln/Mecklenburg“, wo Gerhard und Christa Wolf ihren ländlichen Rückzugsort hatten.  

Das Foto mit der leichten Untersicht von Helga Paris auf die Brieffreundinnen ziert auch den Schutzumschlag des Buches. Es wird ikonographisch. Eine Frauenfreundschaft. In den Sälen im Erdgeschoss des Akademie-Gebäudes wird bis 12. Januar 2020 die Ausstellung Helga Paris, Fotografin mit 275 Fotografien gezeigt. Sabine Wolf vom Archiv der Akademie der Künste am Robert-Koch-Platz, wo sich der Nachlass von Christa Wolf befindet, hat den Briefwechsel geordnet und herausgegeben sowie mit einem Nachwort kenntnisreich, aber behutsam kommentiert. Zur Buchpremiere spricht der Direktor des Archivs Werner Heegewaldt ein Grußwort. Sabine Wolf unterhält sich mit Gerhard Wolf über sein erstes Zusammentreffen mit Sarah Kirsch und den Briefwechsel seiner Frau mit ihr. Anna Thalbach liest dann ein wenig energisch die Briefe von Sarah Kirsch und Maren Eggert mit warmen Timbre die von Christa Wolf. Die näheren und weiteren Freund*innen und Familienmitglieder der Briefeschreibenden sind zahlreich erschienen.

Wie beginnt ein Briefwechsel? Und wie endet er? Wann und wo bekommt er seine größte Nähe? Wahrscheinlich findet sie im Briefwechsel genau zu jener Zeit statt, als sich die Freundinnen im sommerlichen Meteln zwischen Cramoner See und Rugensee unfern von Schwerin fotografieren lassen. Gespräche, Blicke und Handlungen am sommerlich gedeckten Tisch zum Beispiel werden Nähe hergestellt haben. Die drei letzten Briefe vom Dezember 1990 und August 1992 enden in den Verwerfungen der „Wendezeit“. Insofern war zehn Tage nach den Feierlichkeiten zu 30 Jahre Deutsche Einheit am 9. November 1989 am Brandenburger Tor der Schauplatz für die Buchpremiere zufällig oder nicht beziehungsreich. Es spielt sich im Hintergrund auch eine, wenn nicht ideologische, so doch politische Geschichte von Freiheit und Reglementierung, ja, Zensur ab.

Das Jahr 1989 wurde anstelle einer Vereinigung eine Art Bruchstelle im Briefwechsel der Freundinnen. Nach 30 Jahren Briefwechsel zwischen 1962 und 1992 konnten sich die beiden Freundinnen nicht mehr austauschen. Das ist bestürzend, ja schmerzlich und mikrologische, deutsche Geschichte. Gerüchte, Verdächtigungen, „Stille Post“, Vorwürfe offen oder verdeckt: „Hoffentlich kannste die Politik auch mal wieder dahin rücken wo sie hingehört, diesz wünsche ich sehr doch von Herzen, sonst ist es kaum möglich zu schreiben.“ (Sarah Kirsch an Christa Wolf, Tielenhemme 19. Dezember 1990)[1] Christa Wolf stirbt am 1. Dezember 2011 in Berlin, Sarah Kirsch am 5. Mai 2013 in Heide, Dithmarschen. Der Briefwechsel zwischen Sarah Kirsch und Christa Wolf ist sozusagen der zweite Band der Briefe von Christa Wolf, die „abgerundet … circa 15000 Briefe()“ geschrieben und archiviert hat.[2]

Die Herausgeberin Sabine Wolf ist nicht verwandt oder verschwägert mit Christa Wolf. Gleichwohl kannte sie als jetzige stellvertretende Leiterin des Archivs und frühere Leiterin des Literaturarchivs Helga Wolf persönlich, was sie in ihrem Nachwort offen formuliert, wenn es um Sarah Kirsch und Christa Wolf als Erstunterzeichnerinnen der Petition gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns aus der DDR am 17.11.1976 geht. „(»Ladies first«, habe ein Kollege vorgeschlagen – so berichtete Christa Wolf später einmal gegenüber der Herausgeberin)“.[3] 1975 im Sommer in Meteln gab es einen Moment der ländlichen Idylle. Mit der Petition gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns verdichtete sich auch der Konflikt, ob und wie das Leben und Überleben in der DDR möglich sei. Der Briefwechsel wird zutiefst von politischen Verwerfungen, man kann es Zeitgeschichte nennen, strukturiert. Die Frage nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann heißt nun drängender: Ausreisen oder bleiben?

Christa Wolf bleibt im Zwiespalt mit den Privilegien als anerkannte Schriftstellerin in der DDR. Sarah Kirsch entscheidet sich 2 Jahre nach der Idylle für die Ausreise. Am 21. August 1977 stellte Sarah Kirsch ihren offiziellen Ausreiseantrag bei Erich Honecker, sieben Tage später erfolgte ihre Ausreise nach West-Berlin. Das war auch ein Bruch, aber die Brieffreundschaft der Schriftstellerinnen hält. 1977 treffen sich die Freundinnen offenbar gelegentlich in West-Berlin. Es gibt kein Privates ohne das Politische. Es spielt immer hinein. Am 2. Januar 1978 schreibt Christa Wolf aus der neuen Wohnung in der Friedrichstraße 133 in Ost-Berlin eröffnend.
„(…) na, es sieht ja nicht gerade aus, als ob wir dieses Jahr besonders viel Ruhe kriegen sollen …
Du, ich schreib Dir bloß, damit Du weißt, wir kommen im Januar kaum noch mal rüber, wir fahren in den nächsten Tagen gen Mecklenburg, ich bin schon halb verrückt, weil ich nicht arbeiten kann in diesem irren Berlin-Mitte…“![4]   

Was wird hier geschrieben und auch nicht gesagt? Es gibt dann im Brief von Christa Wolf einige Überlegungen über „Produktionswärme“, um schreiben zu können, und allerhand Neuigkeiten über Freunde und die Silvesterfeier auf der sich „unsere sehr ruhige Gesellschaft mit der ziemlich lauten von Ekke Schall vermischt“. Das dürften dann Schauspieler*innen aus dem Berliner Ensemble um Brechts Schwiegersohn Ekkehard Schall und seine Frau Barbara, geb. Brecht, gewesen sein, die nicht erwähnt wird. Hat sie nicht mitgefeiert? „…, alles kaputt und beichtbedürftig, du hättest aus fast jedem alles rausholen können, doch bin ich nicht mehr so neugierig drauf“.[5] Neben diesen Einblicken in die Friedrichstraße könnte allerdings die Frage nach den drei Auslassungspunkten von Interesse sein. Gewiss hatten Christa und Gerhard Wolf das Privileg, nach West-Berlin und West-Deutschland reisen zu dürfen. Doch werden die Behörden im Ostteil den Reisenden wohl kaum „besonders viel Ruhe kriegen“ lassen, wenn sich Christa Wolf mit ihrer „ausgereisten“ Freundin traf. Was konnte Sarah Kirsch lesen? Konnte sie die drei Auslassungspunkte lesen? Und wer las einen solchen Brief mit?

Im ersten Band der Briefe wird beispielsweise über das hochpolitische Thema „Literaturbegriff“ in der DDR mit Rosemarie Zeplin am 22. Mai 1985 geschrieben. Allerdings erfolgt diese Auseinandersetzung anlässlich der Veranstaltung »Gespräch über Georg Lukács aus Anlass seines 100. Geburtstages« in der Akademie der Künste der DDR am 22. April 1985 mit einer durch Fieber recht deliranten Eröffnungssequenz.[6] Christa Wolf sah in ihren Briefen einen Beitrag zur Briefliteratur. Man könnte also erstens formulieren, dass sie immer auch als Autorin ihre Briefe an Sarah Kirsch las und schrieb. Dem Brief vom 2. Januar 1978 fehlen nicht nur die Worte, wenn drei Auslassungspunkte in der Eröffnungssequenz gesetzt werden. Vielmehr markieren sie, was nicht gesagt, nicht geschrieben werden kann, weil der politische Zensor mitlesen könnte. Sie geben auch einen Wink. Für Christa Wolf geht es nicht nur darum, an den „Grenzen des Sagbaren“, wie sie es 1982 in Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra, ihren Frankfurter Poetikvorlesungen an der Johann Wolfgang Goethe-Universität formulierte, zu schreiben.[7]

In den Briefen taucht quasi nach den Regeln der Orthographie wiederholt typographisch z.B. als Auslassungspunkte das Unsagbare als Wink und eine Art Versagen von Sprache auf. Das wird beispielsweise dann besonders wichtig, wenn die Schauspielerin Maren Eggert Briefe von Christa Wolf liest. Es wird selbst für sie äußerst schwierig, die Auslassungspunkte als mehr und anderes als eine Pause hörbar zu machen. Im Briefwechsel von Sarah Kirsch und Christa Wolf geht es beispielsweise am 9. August 1974 selbst um ein Zitat aus einem Brief, das Kirsch in das Gedicht Der Milan montiert und verarbeitet. Kirsch weist ausdrücklich auf ihre literarische Operation hin: „Das großgedruckte Zitat in dem Milan ist aus 1 Brief Brentanos an Arnim.“[8] Die semantische Schwebe im Gedicht wird von ihr, die Gerhard Wolf im Gespräch mit Sabine Wolf „die größte deutsche Lyrikerin neben Ingeborg Bachmann“ nennt, mit einem Briefzitat hergestellt, wenn es heißt:
„D e r  M i l a n
Donner; die roten Flammen
Machen viel Schönheit. Die nadlichten Bäume
Fliegen am ganzen Körper. Ein wüster Vogel
Ausgebreitet im Wind und noch arglos
Segelt in den Lüften. Hat er dich
Im südlichen Auge, im nördlichen mich?
Wie wir zerrissen sind, und ganz
Nur in des Vogels Kopf. WARUM
BIN ICH DEIN DIENER NICHT ICH KÖNNTE
DANN BEI DIR SEIN. In diesem elektrischen Sommer
Denkt keiner an sich und die Sonne
In tausend Spiegeln ist ein fürchterlicher Anblick allein.“[9]    

Erstaunlicher Weise (oder nicht) geht Christa Wolf in ihrem Antwortbrief aus Kleinmachnow schon am 13. August nicht auf das Zitat aus dem Brief als solches ein, sondern greift für die Frage, was ein Milan sei, zu „Meyers Neuem Lexikone, Band 5“.[10] Es geht ums Wissen und Wissensverarbeitung im Gedicht. Was weiß Meyers Neues Lexikon vom Milan? Der Milan: „Raubvogel? Schmarotzer?“[11] Bei einem Glas Sekt bekommt Christa Wolf einen „Schwips“. Das Zitat wird als unzeitgemäß kritisiert, obschon die Briefschreiberin an der Schreibmaschine selbst ihr literarisches Spiel mit Übersprüngen weitertreibt. Denn „Schwips“ und Fieber kommen in den Briefen als Rahmung des Schreibens und Wissens wiederholt vor. Dann lässt sich vielleicht lockerer oder vertraulicher an die „(v)ielliebe Sarah“ schreiben. Und das Wissen wird weniger brisant.
„Jetzt hab ich einen Schwips und esse schnell Gemüsesuppe dazu. Stelle mir die einzige mögliche Ganzheit von Menschen, die lieben (achgott, würde Jana sagen, Mensch Meier) in des Raubvogels Kopf vor, aber in Tränen bricht über solche Kleinigkeiten ja niemand mehr aus. Auch giebt es, hierorts, keine Diener mehr. Das ist ein oder der Fortschritt. Lavendel in Briefen – ich weiß nicht: Fortschritt oder Rückschritt? Komm mir nicht mit einfach Liebe …“[12]

Der Briefwechsel bekommt in jener Zeit selbst etwas Beschwipstes quasi als Gegenposition zur institutionalisierten, sozialistischen Ernsthaftigkeit des Schriftstellerverbandes. Denn nachdem die ältere Freundin in dem Gedicht ein Liebesgedicht für Christoph Meckel gelesen hat, schlägt sie – „Ende der Gemüsesuppe (Schwips noch wirksam)“ vor „MILAN ohne weitere Begründung an (den) Antrag für die Frankreich-Reise“ anzuheften. „Oder doch: Weitere Begründung: Studium der MILANE.“ Anders gesagt: Das Liebesgedicht wird für die Antragstellung zu einer Begründung, mit Christoph Meckel nach Frankreich zu reisen. Natürlich lässt sich das nur im „Schwips“ schreiben, weil es sonst als Wissen gefährlich werden könnte. Die Schriftstellerin-Existenz in der DDR wird von den Institutionen hoch reglementiert. Und manchmal gibt es „Sondergenehmigung(en)“, die man nicht erwartet hat.
„Heute bekam ich per Eilboten via Schriftstellerverband vom Ministerium für Kultur eine Sondergenehmigung zum Bezug kulturpolitischer und schöngeistiger Literatur, die ich niemals beantragt hatte.“[13]  

Das Briefschreiben und nicht zuletzt der Briefwechsel mit Sarah Kirsch hat für Christa Wolf seine eigene Dynamik. Obschon man bei der Lesung aus dem Briefwechsel im Plenarsaal der Akademie der Künste den Eindruck gewinnen konnte, dass hier zwei Frauen einen vertraulichen wie vertrauten und gefühlsbetonten Briefwechsel über Familie und Freund*innen führen, springen immer wieder seine (politischen) Verstrickungen hervor. Denn die Herausgeberin hat recherchiert, dass Christa Wolf sehr wohl, und zwar schon am 10.6.1970 einen Brief an Bruno Haid mit der Bitte „um eine »Sondergenehmigung für den Empfang von Druckerzeugnissen aus dem Ausland«“ gestellt hatte.[14] Über zwei Jahre später wird auf geheimnisvolle oder willkürliche Weise dem Antrag stattgegeben, was sich möglicherweise nur im „Schwips“ vergessen lässt, wenn frau sich nicht ärgern will.

Der Briefwechsel ist mehr als das Panorama einer Frauenfreundschaft. Er ist vielschichtig und lässt späterhin Verletzlichkeiten und Verletzungen mitlesen. Doch diese sind nicht rein privater Natur oder privaten Ursprungs, vielmehr spielen das Politische und unterschiedliche politische Haltungen eine Rolle. Trotzdem gibt es weiterhin ein Mitteilungsbedürfnis, das wahrscheinlich die Freundschaft ausmacht. Dieses Bedürfnis, sich mitzuteilen, nimmt unterschiedliche Formen an. Nach 1977 gibt es einen subtilen Unterton vielleicht der Enttäuschung, trotz welcher weiter erzählt wird von Familie und gemeinsamen Freund*innen. Die Auslassungspunkte werden z.B. am 25.1.79 von Christa Wolf weiterhin mit mehr als einer Pausenfunktion eingesetzt.
„Fielliebe Signora,
Du, es sind schon ganz andere im Süden hängengeblieben und in Sonne und Liebe und Faulheit verdorben und vergangen … Na, Du wirst schon wissen, was Dir gut tut, aber in diesem kalten Winter denken wird doch manchmal, ob nun die Sarah nicht friert ohne ihren Wintermantel. Wenn Du aber kommst, wollen wir uns bald sehen und unsere früheren Menschen, an die wir uns erinnern, mit den heutigen vergleichen, ja?“[15]

Christa Wolfs Briefe sind nicht zuletzt wegen der sprachlichen Elastizität Briefliteratur. Es geht niemals nur um eine Informationsvermittlung. Vielleicht geht es der eifrigen Briefeschreiberin Wolf gar darum, überhaupt ein „Du“ zu finden. Das „Du“ soll eine Art Referenzraum bilden, damit „wir uns bald sehen und unsere früheren Menschen, an die wir uns erinnern, mit den heutigen vergleichen“. Das „Du“ wird hier von Christa Wolf vermutlich so direkt angeschrieben wie sonst kaum in ihren Briefen. Man könnte diesen Briefwechsel auch als einen Wunsch nach dem „Du“ beschreiben, bei dem sie allerdings durchaus eine Position der wissenden Älteren einzunehmen begehrt. Nicht zuletzt das Lebensmodell der mehrgenerationellen Familie unterscheidet sie auch von den Liebeswechsel der jüngeren. – Ein Briefwechsel, der viele Lesehaltungen ermöglicht.

Torsten Flüh

Sarah Kirsch, Christa Wolf
»Wir haben uns wirklich an allerhand gewöhnt«
Der Briefwechsel
Herausgegeben von Sabine Wolf unter Mitarbeit von Heiner Wolf
D: 32,00 €
A: 32,90 €
CH: 42,90 sFr
Erschienen: 11.11.2019
Gebunden, 456 Seiten
ISBN: 978-3-518-42886-3
Auch als eBook erhältlich.

Helga Paris, Fotografin
8.11.2019 — 12.1.2020
Pariser Platz
Säle
Di – So 11 – 19 Uhr
Am 24.12. und 31.12. geschlossen
Führungen: Mi 17 Uhr, So 12 Uhr, € 3 zzgl. Ausstellungsticket
€ 6/4
Bis 18 Jahre und dienstags ab 15 Uhr Eintritt frei


[1] Sarah Kirsch, Christa Wolf: »Wir haben uns wirklich an allerhand gewöhnt« Der Briefwechsel. Herausgegeben von Sabine Wolf unter Mitarbeit von Heiner Wolf. Berlin: Suhrkamp, 2019, S. 321.

[2] Siehe zum ersten Band: Torsten Flüh: Nicht „aushalten, zu leben ohne zu schreiben“. Zu Christa Wolfs Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten. Briefe 1952-2011. In: NIGHT OUT @ BERLIN Februar 28, 2017 20:47.

[3] Sabine Wolf: Nachwort. In: Sarah Kirsch, Christa Wolf: »Wir … [wie Anm. 1] S. 352.

[4] Sarah Kirsch, Christa Wolf: Ebenda S. 135.

[5] Ebenda.

[6] Siehe: Torsten Flüh: Nicht … [wie Anm. 2].

[7] Sabine Wolf: Nachwort… [wie Anm. 3] S. 350.

[8] Sarah Kirsch, Christa Wolf: »Wir … [wie Anm. 1] S. 122.

[9] Ebenda.

[10] Ebenda S. 123.

[11] Ebenda S. 124.

[12] Ebenda.

[13] Ebenda.

[14] Fußnote 1, ebenda S. 125.

[15] Ebenda S. 140.

Purer Theaterwahnsinn mit Pension Schöller (In the Box)

Witz – Theater – Wahnsinn

Purer Theaterwahnsinn mit Pension Schöller (In the Box)

Zur Uraufführung von Bridge Marklands Pension Schöller (In the Box) im Delphi und in der Brotfabrik

Um den Caligariplatz in Weißensee entsteht mit der Brotfabrik – „Kunst ist Lebensmittel“ – und dem Theater im Delphi schräg gegenüber in der Gustav-Adolf-Straße 2 gerade so etwas wie ein neues Theaterviertel. Bridge Markland nutzt mit ihrem Co-Regisseur Nils Foerster für ihre Version des Jahrhundertschwanks Pension Schöller beide Theaterbühnen, um ein wahres Feuerwerk an Witz abzubrennen. Sie packt den Schwank-Klassiker von Carl Laufs und Wilhelm Jacoby aus dem Berlin von 1890 als One-Woman-Montage in einen Karton (box) verstärkt, aktualisiert und kommentiert den Theatertext mit James Bond-Soundschnipseln und Popmusik von ABBA bis Zappa, wechselt gefühlte 100 Mal die Rollen und Geschlechter zwischen Kellner, Philipp Klapproth, Ulrike Sprosser, Ida, Franziska, Alfred Klapproth, Fritz Bernhardy, Eugen Rümpel, Major Gröber, Direktor Schöller, Amalie Pfeiffer, Friederike und Maler Kissling und zündet unzählige Pointen.   

Der Witz in Bridge Marklands einzigartigem Theaterformat ist ebenso schnell wie hintergründig. Die Theatermaschinerie aus Rollenwechseln mit vorproduzierten Text- und Sound-Track dazu faszinierenden Handpuppen von Eva Garland und entsprechenden Perücken oder Hüten für die Performerin rast zwischen einem Café, einer Pension in Berlin und einem Landgut im Brandenburgischen so schnell, dass sich das Publikum vom Kichern, Glucksen, Prusten und sekündlichen Nachdenkenwollen kaum erholen kann. Bridge Markland übertrifft sich mit ihrer sechsten Classic-in-the-Box-Produktion nach Faust 1, Räuber, Zerbrochner Krug, Leonce + Lena, Ratten mit Pension Schöller selbst. Sie wird mit ihrer Produktion zu einer Witzforscherin des Unmöglichen und Publikumstesterin. Der Witz lässt sich bei ihr nicht einholen oder feststellen. Er passiert akrobatisch durch permanente Sinnsaltos.

Das original erhaltene Stummfilmkino Delphi von 1929 verwandelt sich für Bridge Marklands Pension Schöller in ein Lokal zwischen Kneipe und Café. An den Tischen das Publikum. Am Tresen, wo schon Szenen für die Serie Babylon Berlin mit Lars Eidinger etc. gedreht wurden, steht ein namenloser Kellner und trocknet ein Glas, während der Barkeeper für einen Gast aus dem Publikum einen, sagen wir, Negroni mit Gin, Campari, Roten Wermut und Orangenscheibe mixt. Das Publikum spielt als Lokalgäste mit, obwohl es das noch gar nicht weiß. Das nennt man heute Immersion. 1890 und Florenz 1919 (Negroni) überschneiden sich mit 1929, als das Stummfilmkino Delphi eröffnet wurde, und Babylon Berlin sowie dem Jetzt. Witz generiert sich immer plötzlich im Jetzt. Manchmal ist er kaum spürbar. Das Lokal als Witz wird von Bridge Markland und Nils Foerster höchst genau inszeniert. Sie haben dafür recherchiert. – Darauf wird zurückzukommen sein.   

Warum Pension Schöller? Das Komödiengenre Schwank, für das Pension Schöller als eine Art Prototyp gelten darf, galt schon bei seiner Uraufführung am 7. Oktober 1890 im Wallner-Theater parallel zur Holzmarktstraße Nähe Jannowitzbrücke als witzig, aber sinnfrei. Das führte dazu, dass die Vossische Zeitung vom 8. Oktober nicht einmal die Uraufführung, sondern nur die „Vorstellung im Wallner-Theater“ am Vorabend erwähnte, der „der Herzog und die Herzogin von Connaught … mit der Frau Prinzessin Friedrich Carl (beigewohnt)“ habe.[1] Dank Wikipedia kann man heute wissen, dass der im Buckingham Palast als Sohn Queen Victorias 1850 geborene Arthur, 1. Duke of Connaught and Strathern, mit seiner in Potsdam geborenen Ehefrau Prinzessin Luise Margareta von Preußen und seiner Schwiegermutter Prinzessin Maria Anna von Anhalt-Dessau, eben der „Prinzessin Friedrich Carl“ die Uraufführung besuchte.[2] Soviel Renommee hatte das Wallner-Theater dann doch.

Der Theaterkritiker G. E.-I. des Berliner Tageblatts nahm seinen Besuch ein wenig ernster und ordnete die „Posse“ in der Rubrik „Theater, Kunst, Wissenschaft“ als „Verrücktheit“ ein. Zwar hält der Theaterkritiker nicht allzu viel von der Qualität des Stücks, aber er trifft dann doch recht genau dessen Thema. Selbst fühlt er sich ermuntert zu sprachspielerischem Humor. 
„Herr Carl Laufs hat die Muse ziehen lassen und ist dem Kobold gefolgt, ja er hat seiner „Pension Schöller“, die gestern Abend im Wallner-Theater etablirt war, den teuflischen Rath noch überteufelt. Nicht nur um einen „tollen Einfall“ baut sich diesmal sein Stück auf, sondern die Mutter seiner Posse ist diesmal die „Verrücktheit“.[3]

Waren der Herzog und die Herzogin von Connaught „amused or not amused“? Wir wissen es nicht. Doch aus der Perspektive der nicht nur Berliner Kulturforschung sind die „Verrücktheit“ und der Wahnsinn der Pension Schöller äußerst interessant. Mit dem Genre „Posse“ oder „Schwank“ verarbeiten Carl Laufs und Wilhelm Jacoby nämlich kulturelle Praktiken der bereits zum Industriestandort und Millionenmetropole transformierten Stadt Berlin. Um 1890 geraten die Stadt Berlin und ihre Bevölkerung durch ihr Wachstum unter Druck. Etliche neue städtische Krankenhäuser müssen gebaut werden. Die sich seit 1810 an der Charité mit Ernst Horn zunächst als Criminalgeschichte des Sackes (Deutsches Ärzteblatt) herausbildende Psychiatrie generiert neuartige Krankheitsbilder wie das Forschungsprojekt Kulturen des Wahnsinns für die Zeit zwischen 1870 und 1930 herausgearbeitet hat.[4] 1890 veröffentlicht Hans Laehr erstmals eine Übersicht der zahlreichen Anstalten für Geisteskranke, Nervenkranke, Schwachsinnige, Epileptische, Trunksüchtige usw. in Deutschland, Österreich und der Schweiz: einschließlich der psychiatrischen und neurologischen wissenschaftlichen Institute.

Einerseits werden neue Anstalten und Kliniken z.B. an der Universität gegründet, andererseits formulieren Ärzte und Professoren neuartige Krankheitsbilder. 1865 war „als besondere Klinik“ die Psychiatrische und Nervenklinik der Universität an der Charité gegründet worden. Für die Wittenauer Heilstätten der Stadt Berlin war Dalldorf 1879 gegründet worden und 1881 das Erziehungsheim hinzugekommen. Wuhlgarten sollte 1893 gegründet werden.[5] Als am 27. Januar 1890 der Berliner Arzt und Professor für Psychiatrie Carl Westphal stirbt, veranstaltet die Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenkrankheiten am 20. April 1890 in der Aula der Königlichen Universität, heute Humboldt-Universität zu Berlin, eine Gedächtnisfeier, auf der Carl Moeli eine umfangreiche Rede auf den Verstorbenen und dessen Verdienste in der Herausbildung der Psychiatrie hält. Die Beobachtung der Kranken spielt fast wie bei Philipp Klapproth im Schwank dabei eine entscheidende Rolle, wie Moeli Westphals „Verdienst“ beschreibt.
„Diese Vorarbeit der Sonderung und Abgrenzung, glaubte er, müsse dem Herantreten an die so complicirten Vorgänge, wie wir sie in den meisten Krankheitsformen vor uns sehen, vorausgehen.
Von diesem Gesichtspunkte aus ist wohl die Thätigkeit zu erklären, welche Westphal zunächst der Erforschung solcher geistiger Abweichungen zuwandte, die ihm einer gründlichen Bearbeitung vom rein klinischen Standpunkte aus eher zugänglich erschienen.
Es waren wie bekanntlich die Agoraphobie (Platzangst, T. F.) und die Zwangsvorstellungen.
Diese z. Th. von einzelnen Beobachtern schon erwähnten Zustände als leicht erkennbare Krankheitsbilder gelehrt zu haben, ist Westphal’s grosses Verdienst.“ [6]

Witz und Wahnsinn werden mit Bridge Marklands und Nils Foesters Inszenierung von Pension Schöller noch einmal mit über 100 Musikzitaten zugespitzt. 100 Audiozitate plus Schwanktext mit 13 Rollen in ca. 120 Minuten ohne Pause! Das ist: Wahnsinn! Außerordentlich. Der Wahnsinn ist sehens- und hörenswert. Denn schon der Gutsbesitzer Philipp Klapproth kommt als Tourist extra nach Berlin, um in einer Überbietung der Geschichten von Sehenswürdigkeiten der Großstadt „eine Irrenanstalt“ zu besuchen. Der zeitgenössische Theaterkritiker formuliert es wie folgt:
„Diese Tugend kultivirt ein sonst ganz passabler spießbürgerlicher Gutsbesitzer, der sich einredet, er müsse in Berlin durchaus einmal eine Irrenanstalt besuchen, damit er seinen Freunden zu Hause erzählen könnte: „Seht, Kinder, der Klapphorn ist ein kapitaler Kerl -, und ist es auch Wahnsinn, liegt doch Methode darin.“ Ein unglücklicher Neffe dieses angenehmen Schwärmers soll ihm zu jenem unbeschreiblichen Vergnügen verhelfen, und der Aermste weiß sich keinen anderen Rath, als daß er den lieben Onkel in eine ganz harmlose Pension führt und ihm die ebenso harmlosen Gäste des Privathauses als unheilbare Geisteskranke vorstellt.“[7]

Pension Schöller wird als Schwank deshalb so interessant, weil er frühe populäre Wissenspraktiken des Reisens und Schauens als Tourismus, Wissen der Großstadt und die Einrichtung von „Irrenanstalten“ als Neuigkeit und Sehenswürdigkeit formuliert. –„ALFRED. Ach, deshalb bist du auch hier so herumgejagt von einer Sehenswürdigkeit zur anderen.“ (1. Akt, 5. Auftritt) – Die touristische Wissenspraxis des Anschauens misslingt auf ebenso witzige wie beunruhigende Weise. Die Sehenswürdigkeiten müssen nach einer Art Abenteuer-Ranking bewertet werden. Je origineller, gefährlicher und bedeutender die Sehenswürdigkeit ist, desto größer wird der erzählerische Mehrwert in der Wohnstube auf dem ländlichen Gut. Klapproth will sich Wissen über die Großstadt aneignen.
„Wo werde ich geblieben sein? Umgesehen habe ich mich und zwar gründlich. Zu was bin ich denn in einer Großstadt, wie Berlin, wenn ich mir nichts ansehen soll? Zu was soll ich mich denn immer mit den Schilderungen anderer begnügen? Selbst sehen, das ist unterhaltend und belehrend…“[8]

Das Potential der Beunruhigung des schon damals als „sonst ganz passable(n) spießbürgerliche(n) Gutsbesitzer“ zu identifizierenden „Klapphorn“, wie der Theaterkritiker schreibt, wird immerhin im dritten Akt des Schwanks so groß, dass er beginnt, sich ernsthaft um sein Leben zu sorgen. Er fühlt sich in Lebensgefahr. Die Todesangst vor der Unbeherrschbarkeit der „unheilbar() Geisterkranke(n)“ wird im Schwank ins Lächerliche und selbst in eine aberwitzige Täuschung gewendet. Was von der bürgerlich-konservativen Vossischen Zeitung geradezu peinlich beschwiegen wird, um stabilisierend den Besuch der königlichen und kaiserlichen Hoheiten zu erwähnen, betrifft konkrete kulturelle Praktiken der Rubrik „Theater, Kunst, Wissenschaft“. Oder mit den Worten Klapproths:
„… Da habe ich nämlich vor einiger Zeit einen außerordentlich fesselnden Artikel über Heilanstalten für Geisteskranke gelesen. Und da bei mir zu Hause ein solches Institut gebaut werden soll, ist natürlich sofort in mir der Gedanke rege geworden, einmal eine solche Anstalt zu besuchen. Namentlich ein Ball oder eine Soirée in einem solchen Etablissement soll das Interessanteste sein, was man sich denken kann. Hier sind nun eine ganze Reihe solcher Privatinstitute – du bist mit aller Welt bekannt, und ich rechne deshalb fest darauf, daß du mir zu der Gelegenheit verhelfen wirst, einmal einem solchen merkwürdigen Abend beizuwohnen.“[9]   

Die Beunruhigung durch das neuartige Wissen von den „Heilanstalten für Geisteskranke“ formuliert der Theaterkritiker des Berliner Tageblatts en passant als Schwäche der Dramaturgie des Stücks. Die Grenzen zwischen „spießbürgerlicher“ Abenteuerlust, einer exzentrischen Schriftstellerin, einem kolonialen Löwenjäger und einem Kriegsveteran etc. zu „Geisteskranke(n)“ sind keinesfalls so klar definiert, wie es Klapproth hofft, sich anschauen zu können. Die „Geisteskranke(n)“, die in einer Vielzahl von neuen „Anstalten“ in Deutschland, Österreich und der Schweiz untergebracht werden, sind eine andere Art von „Sehenswürdigkeit“. Selbst im Schwank vermögen sie noch zu beunruhigen. Deshalb fasst es der Theaterkritiker als „enorme(n) Lacherfolg“ zusammen. Er konnte noch nicht ahnen, dass Pension Schöller bis auf den heutigen Tag als Abwehr von Wahnsinn zum wohl meistgespielten und meistverlachten Erfolg werden sollte.
„… Natürlich hält er sie sammt und sonders für geistig gestört, und als sie ihn im letzten Akt gar noch Alle auf seinem Gute besuchen, da erreicht die Tollheit, aber mit ihr auch der enorme Lacherfolg den Höhepunkt. Am Schlusse stehen selbstverständlich zwei Brautpaare in Reih und Glied, und dem Zuschauer wird wenigstens noch die Beruhigung, daß nur das Stück ein bischen wirr, bei den lieben Leuten aber Alles in Ordnung ist. – Ja, das Stück selbst ist wirr! Kommt es aber auf den Lacherfolg an – dann hat Herr Laufs einen erfolgreichen Tag hinter sich, den er allerdings in erster Reihe dem vortrefflichen Zusammenspiel …“[10]

Es ist eigentlich erstaunlich, dass Pension Schöller meines Wissens nicht vom Forschungsprojekt Kulturen des Wahnsinns im Bereich Medizingeschichte berücksichtigt worden ist.[11] Die Auswertung der Krankenakten seit 1870 führte nicht zur Frage nach einer gesellschaftlichen Verarbeitung des neuen Wissens von Wahnsinn und seiner weiträumigen Hospitalisierung in Anstalten, die wie beispielsweise ab 1900 durch Ludwig Hoffmann in einer architektonischen und landschaftsgärtnerischen Idylle in Buch bei Berlin errichtet wurden. Das Team des Projekts betrachtete „„Wahnsinn“ als Feld einer Neubestimmung von Subjektivität und Individuation, die sich in den Jahren zwischen der Gründung des Deutschen Reiches und dem Vorabend des Faschismus vollzog und den Beginn einer „urbanen Moderne“ markiert.“ Mit Pension Schöller inszenieren Laufs und Jacoby einen geradezu exemplarischen „Schwellenraum“, wie es das Projekt nannte.
„Wir untersuchen „Wahnsinn“ unter dem epistemologischen Ansatz eines Schwellenraumes, der sich für einen interdisziplinären Zugriff anbietet, da er es erlaubt, Ausdrucks-, Regulierungs- und Diskursivierungsformen im urbanen Setting zu analysieren. Übergangs- oder Schwellenphänomene markieren die Aushandlungsbereiche sehr unterschiedlicher Wissensräume und soziokultureller Lebens- und Erfahrungsbereiche…“[12]

Philipp Klapproth wird in einen Schwindel versetzt, den er glauben muss, weil er ihn glauben und erzählen will. Das ist keine Nebensächlichkeit. Denn der Schwindel ist nicht nur einfach eine Täuschung, vielmehr machen Bridge Markland und Nils Foerster diesen Schwindel durch die Schnelligkeit und Vielzahl der Rollenwechsel und Musikzitate zur Performance-Praxis. Während noch im Bühnenschwank der Schwindel durchschaut werden kann und lediglich über den beschwindelten Spießbürger Klapproth gelacht wird, lässt sich im In-the-Box-Format kaum noch ein Halt finden. Der Wahnsinn als Überforderung und Schnelligkeitsrausch bekommt Methode. Dafür hat Bridge Markland mit Nils Foerster visuelle Feldstudie beispielsweise an den Kellnern des Café Einstein Unter den Linden betrieben.
„KISSLING zum Kellner. Kellner, noch ein Pilsener! – Aber Freundchen, sei doch nicht so schwerfällig. Bedenke doch, wie günstig für dich die Chancen liegen. Wenn du schon sagst, es ist eine verschrobene, merkwürdige Gesellschaft dort zusammen, wie sollte da dein Onkel, der alsdann fest überzeugt ist, es mit geistig gestörten Patienten zu tun zu haben, den Schwindel merken? Er geht in diesem Gedanken hin und sieht folglich durch die Brille des Vorurteils. Und wie schwer ist es doch schon meistens im gewöhnlichen Leben, zu unterscheiden, wer verrückt ist und wer nicht. Du siehst also, daß mein Vorschlag lange nicht so gewagt ist, wie es anfänglich scheint.“

Die Ausschmückung und umständliche Begründung des Schwindels darf man getrost vergessen. Mit dem Ausruf „Wahnsinn!“ wird heutzutage eine kaum noch verständliche, herausragende, künstlerische Leistung bedacht. Am Schluss trampelt das Publikum bei der Uraufführung von Pension Schöller in the box Applaus mit den Füßen. Dieser Beifall gilt auch den wunderbaren Handpuppen von Eva Garland. Sie deutet die Rollen fast schon als Charaktere aus recycelten Materialien wie goldenen Vorhangquasten, die wunderbar blondes Kopfhaar abgeben. Die Andeutungen machen die Puppen viel lebendiger, als wenn sie völlig ausgestaltet wären. Bridge Markland entfacht mit den Handpuppen diesen Wahnsinn über den Wahnsinn der Großstadt. Nach Krug in the box im Stadtbad Steglitz 2011, Räuber in the box ebenfalls im Stadtbad Steglitz 2012 und Leonce + Lena in the box in der Brotfabrik 2014 hat der Berichterstatter nun sicher einen Gipfel der Aufführungskunst von Bridge Markland mit 13 von Schauspieler*innen eingesprochenen Rollen gesehen. Es sind unterschiedliche Stücke im In-the-Box-Format, doch die nicht zuletzt queere Verwandlungskunst der Performerin hat mit Pension Schöller einen kaum erwarteten Höhepunkt erreicht. – Must see!

Torsten Flüh

Bridge Markland
Pension Schöller
In the Box
Brotfabrik
5.12. – 7.12.19 | 20 Uhr
19.12. – 21.12.19 | 20 Uhr
Caligariplatz 1
13086 Berlin


[1] Vossische Zeitung vom 8. 10. 1890, S. 3. Siehe dazu die digitalisierte Ausgabe auf zefys (Zeitungsinformationssystem der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz).  

[2] Arthur, 1. Duke of Connaught and Strathearn (Wikipedia)

[3] G. E.-I. in Theater, Kunst, Wissenschaft In Berliner Zeitung vom 8. 10. 1890, S. 2. Siehe dazu digitalisierte Ausgabe auf zefys.

[4] Siehe zu Kulturen des Wahnsinns: Torsten Flüh: Wahnsinn mit Methode. Zur Abschlussveranstaltung Kulturen des Wahnsinns im Ambulatorium. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juli 14, 2015 21:31.

[5] Hans Laehr: Anstalten für Geisteskranke, Nervenkranke, Schwachsinnige, Epileptische, Trunksüchtige usw. in Deutschland, Österreich und der Schweiz: einschließlich der psychiatrischen und neurologischen wissenschaftlichen Institute. Berlin, 1890. (Zitiert nach Neunte Auflage, Berlin und Leipzig: Walter de Gruyter, 1937, S. 8-11.

[6] C. (Carl) Moeli: Zur Erinnerung an Carl Westphal. Berlin: August Hirschwald, 1890, S. 29.

[7] G. E.-I. in Theater … [wie Anm. 3] S. 2-3.

[8] Carl Laufs, Walther Jacoby: Pension Schöller. Berlin (o.J.) (Zeno) Zitiert nach 11. Auflage. Berlin: Theaterverlag Eduard Bloch, 1927, S. 17.

[9] Ebenda S. 22-23.

[10] G. E.-I. in Theater … [wie Anm. 3] S. 3.

[11] Vgl. „Publikationen der beteiligten Forschungsgruppe“ In: Kulturen des Wahnsinns. Publikationen.

[12] Zitiert nach ebenda Seite Forschergruppe.

Von der Weiblichkeit der Kopffüßler Argonauta argo

Wissenschaft – Argonauta argo – Aquarium

Von der Weiblichkeit der Kopffüßler Argonauta argo

Zur Ausstellung Power Cage – Experimentalraum Aquarium im State Studio Berlin

Die Kuratorinnen Christina Ertl-Shirley und Dzeni Krajinovic vom Berliner Produktionsbüro Rix haben 15 Künstlerinnen eingeladen, bis zum 7. Dezember im State Studio Berlin die Naturforscherin Jeanne Villepreux-Power mit audio-visuellen Arbeiten zu würdigen. Als interdisziplinäres Projekt vom Hauptstadt Kulturfonds gefördert situiert sich die Ausstellung an der Grenze des Sichtbaren. Das State Studio wurde mit schwarz verhängten Fenstern selbst in ein geheimnisvolles Aquarium verwandelt. Denn die autodidaktische Naturforscherin Jeanne Villepreux-Power (1794-1871) erfand im frühen 19. Jahrhundert das moderne Aquarium zur Beobachtung von Meerestieren, vor allem Mollusken und Cephalopoden (Kopffüßler). Schon 1834 schlug Camilo Maravigna in der Literaturzeitschrift Giornale Letterario dell’Accademia Gioenia di Catania vor, Jeanne Villepreux-Power als Erfinderin des Aquariums anzuerkennen.

1860 erschien bei C. de Mourgues frères in Paris jenes Buch, welches ihr Hauptwerk in der Welt der Naturwissenschaften genannt werden kann: Observations et expériences physiques „an Bulla lignaria, Asterias, Octopus vulgaris und Pinna nobilis, die Reproduktion von Meerestieren Testaceen, Manieren von Krustentieren Powerii, Verhalten von gemeinen Mardern, merkwürdige Tatsachen einer Schildkröte, Argonauta argo, Studienplan für Meerestiere, merkwürdige Fakten einer Raupe“.[1] Das Buch über die vielfältigen Beobachtungen und physikalischen Experimente blieb ins Deutsche unübersetzt. Die Männerdomäne Wissenschaft und vor allem Naturwissenschaften rechnete in Deutschland nicht mit einer französischen Autodidaktin, die sich in Sizilien und London als erste Frau bis zum korrespondierenden Mitglied der Zoological Society London weiterentwickelt hatte. Nun nehmen die Künstlerinnen im State Studio direkt an der U-Bahnstation Kleistpark Bezug auf Jeanne Villepreux-Power.

Mauveine Tide (2019) Mira O’Brien

Der Experimentalraum bot einen „Cyanotypie-Workshop“ mit Miriam Otte, einen „Zeichenworkshop »Krustentiere«“ mit Mira O’Brien und eine „visuelle Reise“ zur Geschichte des Aquariums mit Mareike Vennen und Silke Förschler an. Am Samstag wird ein „Biosphären-Workshop“ mit Monika Kalinowska stattfinden. Darstellungspraktiken und Wissensproduktion durch Experimente stehen insofern in engem Austausch mit dem ästhetischen Ausstellungserlebnis. Die Künstlerinnen werden zugleich zu Forscherinnen. Denn das Weibliche spielt nicht nur als Geschlecht der Forscherin, Erfinderin und Naturwissenschaftlerin Villepreux-Power eine entscheidende Rolle. Vielmehr konstelliert beispielsweise Claudia Reiche mit ihrer Arbeit ARGONAUT_A (Video, Foto, Collage, organisches Material) die Beschreibung und Darstellung der Argonata argo mit denen des „weiblichen Wollustorgans“.

Pierres Animées (Singing Bubble Observatory) (2019), Tomoko Sauvage

Die Künstlerinnen kreisen mit ihren Arbeiten vor allem um das Aquarium. Für Jeanne Villepreux-Power stellte sich bei der Konstruktion des Aquariums 1832 in Messina die Frage, wie es gelingen könnte die Argonauta argo lebend zu beobachten, wie sie 1860 in Observations et expériences physique schreibt. Doch das Aquarium aus Glas erfüllte nicht ganz seinen Zweck. Es war sozusagen nicht nah genug am natürlichen Lebensraum der Argonauta argo. Besser funktionierten Käfige, die die Forscherin im Hafen von Messina einrichtete.
„Zu diesem Zweck erfand ich 1832 ein Glasaquarium, das ich in meinem Haus am Meer in Messina gebaut hatte. Nachdem ich mit dem Argonauta Argo in diesen Aquarien experimentiert hatte, erkannte ich, dass sie meinem Wunsch nach nicht erfolgreich waren. Obwohl die Argonauten die von ihren Schalen entfernten Teile in diesen Aquarien repariert hatten, war dies nicht der einzige Gegenstand meiner Pläne. Der Hafen von Messina, den ich täglich überquerte, um nach organischen Wesen zu suchen, bot mir Mittel, die man an keinem anderen Strand finden konnte. Um mein Ziel zu erreichen, stellte ich mir Käfige vor (1). Nachdem ich die Erlaubnis der Behörden erhalten hatte, pflanzte ich sie auf einem niedrigen Meeresgrund im Lazaretto von Messina an einem Ort, an dem ich ungestört meine Beobachtungen fortsetzen konnte. Dann gab ich eine Menge lebende Argonauta ein und achtete darauf, jeden Tag das notwendige Futter zuzubereiten, bestehend aus getesteten Mollusken, Venus, Cytherea, gebrochenem Loligo, das ich absichtlich mit einem Rechen gefangen hatte.“[2]

I am Water (2019) Mara Wagenführ

Die Käfige als quasi natürliche Unterwasseraquarien wurden nach der Forscherin mit Power Cage benannt. Der Titel der Ausstellung Power Cage spielt daher mit dem Doppelsinn des Eigennamens und der Kraft, die im Experimentalraum Aquarium generiert werden kann oder soll. Durch die Heirat mit dem englischen Geschäftsmann James Power nannte sich die Forscherin in ihrem Buch Jeanne Power, geborene Villepreux. Mit Power Cage geht es nicht nur darum, die in Deutschland kaum bekannte Forscherin und Erfinderin bekannt zu machen. Es geht auch um die Methoden und Praktiken, mit denen sie in England, Sizilien, Italien und dem Mittelmeerraum bekannt wurde. Das Aquarium aus Glas wurde von ihr nicht für das Wohn- und/oder Jugendzimmer erfunden. Vielmehr ging es Jeanne Villepreux-Power um eine frühe Form der Wissenschaft vom Leben nicht nur im Meer, sondern der Fauna, die seit dem Erdaltertum in den Ozeanen existiert. Denn Cephalopoden können als Überlebende einer Tiergruppe gelten, die  noch 265 Millionnen Jahe vor dem Auftauchen der ersten Dinosaurier entstanden war.     

Ciel Purrificada (2019) Anouschka Trocker

Die Erfassung des Lebens durch Beobachtung wird für die Forscherin zunächst zu einem gewissen Problem. Sie beschreibt in einer Fußnote die Konstruktion der Käfige als Lebensbedingung zum Beobachten sehr genau. Villepreux-Power geht systematisch vor, um die größtmögliche Nähe zum Leben herzustellen. Dies reicht soweit, dass sie ihre Beobachtungen so formuliert, dass sie nicht gesehen werden wollte: „Über dem Käfig öffnete sich eine Tür; rechts und links waren zwei kleine Öffnungen angeordnet; von dort konnte ich, ohne gesehen zu werden, meine Tiere beobachten.“[3] Doch die Beobachtungen wollen in Worte gefasst werden. Das ist eine weitere lexikologische Operation. Sie beschreibt die „Struktur der Argonauta Argo“ wie folgt:
„Der Kopffüßer des Argonauta Argo ist mit acht Armen versehen, die eine Krone um den Mund bilden. Jeder Arm hat zwei Reihen Saugnäpfe. Die ersten beiden Arme sind robuster als die anderen, sie sind mit Membranen versehen, aus denen sie ihre Schale herstellen. Die Arme, die sich über den Augen befinden, sind viel mehr als bei anderen. Die Augen befinden sich rechts und links vom Kopf unter den Armen. Der Körper dieses Kopffüßers hat die Form eines gestutzten Eies von mehr als einem Viertel, ist jedoch zur Spitze hin länger. Der obere Teil des Verdauungsbeutels hat die Form eines kleinen runden Behälters, in den das Wasser eintritt. Entlang des Halses zwischen dem Kopf und der Öffnung des Beutels befindet sich eine Membran, die die Form eines Schlauchs oder Siphons hat und zu dem Teil hin, an dem sich die Öffnung des Beutels befindet, viel weiter ist. Dieser vom Tier in Bewegung gesetzte Siphon pumpt das Wasser, das in den oben genannten Behälter eindringt, und schwimmt so das Tier (wie alle anderen Kopffüßer durch die Wirkung der anziehenden und abstoßenden Kraft des Siphons) und führte sein kleines Boot…“[4]

Fluidic Memory (2019), Ioanna Vreme Moser (Detail)

Das (wahre) Leben zeigt sich nach Villepreux-Power erst und nur, wenn die Cephalopoden mit ihren Augen die Forscherin nicht sehen können. Das Wechselspiel des Beobachtens mit dem eigenen Verstecken generiert ein (wahres) Wissen. Dabei erhalten die Kopffüßler durch die Beschreibung eine fast anthropomorphe Gliederung und Bezeichnung ihrer Gestalt in Arme, Mund und Augen. Wie die Augen funktionieren, beschreibt die Forscherin nicht. Doch könnten sie zweifelsohne die Wissenschaftlerin sehen, was von dieser nicht erwünscht ist. Die Forscherin wünscht alles zu sehen, so dass mit einem Mikroskop die Augen selbst von ihr beobachtet werden und sie mit einem siebentausendfach vergrößernden Mikroskop den Kopffüßler-Nachwuchs sehen kann.[5] Unterschiedlich Beobachtungspraktiken werden zu einer Art „Gesamtbild“ montiert. Der Wunsch nach einer panoramatischen Ansicht korrespondiert mit dem Sehen des zuvor Unsichtbaren durch das Mikroskop. Aquarien funktionieren als Unterwasser-Panoramen wie Städte-Panorama auf Marktplätzen. Das ultimative Wissen von der Natur der Argonauta Argo generiert sich durch ein Zählen, Messen, Benennen und sogar testendem Fühlen der Schale.

Papier. Falten. (2019) Christina Ertl-Shirley und Ruth Waldeyer

Das Aquarium wurde in der jüngeren Zeit als Wissensraum vom Leben ins Interesse der Kulturwissenschaft gerückt. Die Kulturwissenschaftlerin und Aquariumexpertin Mareike Vennen hatte 2018 Das Aquarium – Praktiken, Techniken und Medien der Wissensproduktion (1840-1910) veröffentlicht. Sie befasst sich vor allem mit den Anfängen des Aquariums als „Wardian Cases“ des Arztes und Pflanzenliebhabers Nathaniel Bagshaw Ward.[6] Offenbar war in der Forschungsliteratur Jeanne Villepreux-Power aus dem Fokus geraten. Bei ihr lassen sich wie später bei Ward die Anfänge des Wissens vom Aquarium und Argonatauta argo anders beobachten. Vennen untersucht die „Wissensumwelten im Glas“. Denn nach ihr, setzten Aquarien „die Einrichtung zumindest einer minimalen Umwelt voraus“.
„Dadurch machte die Aquarienhaltung von Anfang an ein Wissen über die Beziehung zwischen Lebewesen und ihrer Umwelt zur praktischen Notwendigkeit, und eben das hatte tiefgreifende Auswirkungen auf den Blick in die submarine Welt, das Wissen über sie und den Umgang mit ihr. Als somit um 1850 Amateurforscher, vornehmlich in Großbritannien im Kontext der praktischen Naturkunde erstmals begannen, mit Aquarien im eigenen Heim zu experimentieren, brachten ihre praktischen Versuche ein gänzlich neues Wissen über die Bedingungen des Lebens im Wasser hervor.“[7]

Papier. Falten. (2019) Christina Ertl-Shirley und Ruth Waldeyer

Die besondere Zartheit und Elastizität der Schale des Kopffüßlers fasziniert die Forscherin Villepreux-Power ebenso wie dessen Fortbewegung. Wird die Schale getrocknet, ist sie dünn wie Papier und zerbrechlich. Wird sie nach einer Trockendauer wieder in Wasser eingeweicht, bekommt sie ihre Elastizität zurück. Die Künstlerinnen in Power Cage reagieren auf unterschiedliche Weise auf diese Beschreibungen und das positive Wissen vor allem von Argonauta Argo. So gehen Christina Ertl-Shirley und Ruth Waldeyer mit ihrer Installation Papier. Falten aus 150m² Papier auf den Namen wie der Beschreibung des Kopffüßlers ein, indem sie sie in eine weibliche Poetologie transformieren.
„Vor rund 105 Millionen Jahren beginnen die weiblichen Papierboote, eine feine Hülle herzustellen, die sie mit ihren Armen festhalten. Sie lassen Höhlen und Felsspalten hinter sich und begeben sich Richtung Wasseroberfläche. Um als Treibgut nicht aufzufallen, haben sie sich eine Tarnung zugelegt: Die dünne Membranhaut, die sie über die Schale spannen, kann ihre Farbe ändern.“[8]

Papier. Falten. (2019) Christina Ertl-Shirley und Ruth Waldeyer

Die Papierinstallation Papier. Falten ist begehbar und wird mit 16 Kissenlautsprechern und 3 Ultraschallsensoren akustisch quasi zum Leben erweckt. Nachdem frau/man vorsichtig in das Papiergehäuse eingetreten ist, gelangt frau/man in der Mitte zu einem Kissen, auf dem sie/er sich einrichten kann. Die Installation funktioniert wie ein Experiment, in dem die Besucher*innen eine Erfahrung machen können. Erfahrungswissen wird durch Praxis und ihre Wiederholbarkeit generiert. Experiment und Erfahrung überschneiden sich im französischen expérience. Die aufwendige Papierinstallation mit 1000 Magneten und 300 Foldback-Klammern reflektiert insofern das Experiment und seine Künstlichkeit selbst. Die Erfahrung wird immer schon durch die Konstruktion des Experimentes vorformatiert. Für das Aquarium spricht Vennen gar von „>Reinigungsarbeiten<„, mit denen sie nicht nur „das Putzen von Fensterscheiben“ anspricht, sondern auch „Techniken des Rahmens und Filterns, der Regulierung und Visualisierung“ erforscht.[9]

Tintenuniversum und die erstaunlichen Phänomene des Einfachen
nuniversum und die erstaunlichen Phänomene des Einfachen
(2019) Uta Neumann

Die Künstlerinnen gehen ebenfalls häufig auf die Sichtbarkeit ein. Wie wird wann was sichtbar? Mira O’Brien lädt mit Muveine Tide (Ölfarbe, Doppelverglasung Holz, UV-Folie) ein, in ein „umgekehrtes Aquarium“ mit „Unterwasser-Landschaftstableau“ einzutreten. „Eine imaginäre Traumlandschaft, direkt auf Glas gemalt, einer jungen Frau beim Übergang von Couturier zur Naturforscherin. Mauveine Tide bezieht sich auf die Farbe verrottender Seeschnecken, die durch den ersten synthetischen Farbstoff ersetzt werden, was Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem lila Rausch in der Mode führt.“ (Mira O’Brien) Die Künstlerin bezieht sich damit auf die Biographie von Jeanne Villepreux-Power, die, bevor sie John Power heiratete und mit ihm nach Sizilien übersiedelte, als erfolgreiche Schneiderin in Paris gearbeitet hatte. Wenig erforscht ist offenbar, wie die Forscherin Praktiken aus dem Schneiderinhandwerk in ihre Naturwissenschaft übertrug.

I am Water (2019) Mara Wagenführ

Als Schneiderin musste sich Jeanne Villepreux-Power wohl eine ganz Reihe von Praktiken erworben haben, die in ihrer Naturwissenschaft zum Zuge kommen sollten. Das Vermessen des Körpers für die Anfertigung eines Kleides ließ sich ebenso übertragen, wie dass Erfühlen der Textur, „Struktur“ oder Stofflichkeit der Schale von Argonauta Agro. Sie konnte den Umgang mit Stoffen und Textilien in der Wissenschaft nutzen. Was zunächst als ein typisch weiblicher Beruf mit seinen Praktiken aufgefasst wurde, lässt sich in den Bereich der Wissenschaftspraxis und Beschreibung von Körpern transferieren. Gerade die scheinbar nebensächliche Beobachtung der Schale generiert ein neues Wissen, das (männlichen) Naturforschern bislang entgangen war. Dadurch gelingt es ihr ein neuartiges, singuläres Wissen zu formulieren: „Was die Struktur der Molluske der Argonauta betrifft, niemand kann ignorieren, was die Naturforscher gesagt haben. Ich (aber) will erzählen, was ich im Singular beobachtet habe oder nicht von anderen über dieses Tier erwähnt wurde.“[10]    

Argonaut_A (2019) Claudia Reiche

Billy Roisz fragt in ihrem Video Aquatic Aberration danach, wie ein Tintenfisch seine Umgebung sieht. Wie funktionieren sinnliche Wissensprozesse? Können die Arme den Tintenfisches wie der Argonauta Argo beim Sehen helfen? Für einen Menschen ist es durchaus schwierig zu sagen, was sie oder er im Video von Billy Roisz sieht oder gar erkennt. Es erinnert eher an einen Rorschachtest. Das technisch außerordentlich hoch aufgelöste Sehen mit einem Mikroskop, das siebentausendfach vergrößert, ermöglicht es, Jeanne Villepreux-Power mit der Frage nach der „Reproduktion“ die Brut der Kopffüßler zu sehen. Eine gute Schneiderin sollte nicht nur genau sehen können, sie hat es mehr oder weniger bewusst gelernt, Muster zu erkennen. Muster lassen sich wiederholen, werden um 1830 schon von mechanischen Webstühlen insbesondere in Paris produziert und lassen sich zur Sichtbarkeit von Wohlstand, Klasse und Geschlecht einsetzen.

Argonaut_A (2019) Claudia Reiche

Claudia Reiches Installation ARGONAUT_A stellt mit vier Plastikstäben ein virtuelles Aquarium als Rahmen des Sichtbaren her. Das Aquarium soll auch als Ausschnitt und Rahmen von Leben funktionieren. Gleichzeitig wird eine Installation auf einem altertümlich Bilderrahmen mit vergoldeten Leisten eingerichtet. Im Aquarium wird das (verborgene) Leben der Meere allererst gerahmt und sichtbar. Es lässt sich zu neuartigen Tableau vivants transformieren und in einen nicht nur häuslichen, sondern heimlichen Lebensbereich integrieren. Denn das Leben im Aquarium wird auch abhängig vom Hausherrn oder der Hausfrau und sei sie ein/e Jugendliche/r. Man lernt auf das Leben zu achten und es mit Fütterungen und Sauerstoffversorgung etc. zu regulieren und zu kontrollieren. Die Visualisierung des Meereslebens unter der der Wasseroberfläche ist im höchsten Maße von den Medien abhängig. Was aber sieht man im Aquarium vom Leben?

Argonaut_A (2019) Claudia Reiche

Schnell kann die Biosphäre im Aquarium in ein Drama der Zerstörung durch Algenbefall, Schnecken- bzw. Moluskenbefall etc. umschlagen. Bäuchlings an der Wasseroberfläche schwimmende Zierfische sind der Horror des Aquariums. In dem Video in Claudia Reiches Installation unter einer Darstellung des „Sphincter ani extrenus“ und „crus clitoridis“ etc. als „Fig. 430“ auf Glas wird am Strand mit den Wellen ein Argonauta Argo angeschwemmt. Die Arme hängen wie ein einzelner rötlich heraus. Was bei Villepreux-Power als „Mund“ mit einer „Krone“ aus „acht Arme(n)“ beschrieben wird, überschneidet sich mit einer Darstellung des Schließmuskels und der Klitoris. In einer sich wie auf einem Schallplattenteller drehenden Scheibe mit einer detaillierten, photographischen Darstellung von Argonauta Argo spiegelt sich noch einmal die „Fig. 430“. Das weibliche Wollustorgan und die weibliche Molluske Argonauta Argo generieren eine seinerzeit neuartige Sichtbarkeit des Weiblichen. Sie vermessen und zeichnen um die Mitte des 19. Jahrhunderts das Weibliche neu.

Argonaut_A (2019) Claudia Reiche

Die Überschneidung des Künstlichen und Künstlerischen mit den Darstellungspraktiken der Naturwissenschaften wird von Claudia Reiche in ihrer Installation mit einem Cocktailglas auf einer Petrischale, in dem sich eine rote Flüssigkeit unter einer Glashaube mit einer kleinen Ausbuchtung befindet, inszeniert. Wann wird ein Aperitif sichtbar? Und durch welche Verknüpfungen Blut oder gar Menstruationsblut? Wann bekommt die Glashaube das Aussehen einer weiblichen Brust? Zwischen Freizeitgetränk und Laborgefäßen pendelt die Sichtbarkeit hin und her. Das Laborgefäß der Petrischale, das um 1900 zufällig von einem Schüler Robert Kochs in Berlin erfunden wurde, wird heute bisweilen auch humorvoll in der Spitzengastronomie eingesetzt.[11] Was ist die grüne Flüssigkeit in dem Fläschchen? – Wir wissen es nicht.

Torsten Flüh

POWER CAGE
Experimentalraum Aquarium
bis 7. Dezember 2019
State Studio Berlin
Hauptstr. 3
10827 Berlin 


[1] Übersetzung des erweiterten Titels von Torsten Flüh nach Jeanette Power: Observations et expériences physiques sur la bulla lignaria, l’asterias, l’octopus vulgaris et la pinna nobilis, la reproduction des testacés univalves marins, mœurs du crustacé powerii, mœurs de la martre commune, faits curieux d’une tortue, l’argonauta argo, plan d’étude pour les animaux marins, faits curieux d’une chenille. Paris: C. de Mourgues fréres, 1860. (Gallica)

[2] Ebenda S. 32. (Übersetzung T.F.)

[3] Ebenda. (Übersetzung T.F.)

[4] Ebenda S. 33-34.

[5] Ebenda S. 31.

[6] Marieike Vennen: Das Aquarium. Praktiken, Techniken und Medien der Wissensproduktion (1840-1910). Göttingen: Wallstein, 2018, S. 35.

[7] Ebenda S. 11.

[8] Zitiert nach Ausstellungstext.

[9] Mareike Vennen: Das Aquarium … [wie Anm. 6] S. 21.

[10] Jeannette Power: Observations … [wie Anm. 1] S. 33.

[11] Vgl. dazu Torsten Flüh: Der Magen, das Gesetz und die Sprache. reinstoff in den Edison Höfen. In: NIGHT OUT @ BERLIN August 24, 2012 20:21. (Leider gibt es das reinstoff nicht mehr.)

Die Geister-Maschine – Zu 特急三百哩/ Express 300 Meilen

Maschine – Geist – Sicherheit

Die Geister-Maschine

Zu 特急三百哩/Express 300 Meilen von Saegusa Genjirō als Stummfilmkonzert im Japanisch-Deutschen Zentrum Berlin

Tokkyu sambyaku-ri/Express 300 Meilen (Japan 1928) wurde am 14. November als Berlin Premiere mit der Stummfilmmusik von Günter A. Buchwald & Silent Movie Music Company im großen Saal des JDZB in Dahlem vorgeführt. Es war, als knüpfe das Team um Kiyota Tokiko damit an die Welturaufführung der rekonstruierten Fassung von Abel Gances La Roue beim Musikfest im September an. Die beiden Filme spielen im Milieu der Eisenbahner in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts in Frankreich und Japan. Lokomotiven und ein Lokomotivführer nehmen in beiden Filmen die bedenkenswerten Hauptrollen ein. Das Verhältnis von Maschine und Mensch steht damit im Fokus der Filme. La Roue erzählt die Lebensgeschichte des Lokführers Sysif in epischer Länge.特急三百哩/Express 300 Meilen setzt zwei Heldentaten des Lokführers Mori Shigeru in Szene, der von Koji Shima, einem japanischen Stummfilmstar, gespielt wurde.[1]

Der japanische Stummfilm war verschollen und wurde 2004 an der Universität der Künste Osaka als erster „Eisenbahnfilm“ in Japan aufwendig restauriert.[2] Express 300 Meilen wurde mit deutschen Unter-Zwischentiteln vorgeführt. Wie in La Roue gibt es eine Überschneidung von Spiel- und Dokumentarfilm, zumal der Film in Kooperation mit dem Eisenbahnministerium Japans und der staatlichen Japan Railway Group (JR) gedreht wurde. In der Eröffnungssequenz wird eine regelrechte Eisenbahn-Choreographie aus einer Obersicht gefilmt. Sechs Personenzüge mit Dampflokomotiven fahren auf einer bahnhofsnahen Gleisanlage aus zwei Richtungen aufeinander zu und kreuzen sich. Durch die unterschiedlichen Schienenstränge und Weichenstellungen kollidieren sie nicht, sondern rauschen in höherem Tempo aneinander vorbei.

Die nur mit einer kurzen Sequenz überlieferte Eisenbahn-Choreographie setzt nicht nur die sekundenschnelle Technologie mit schnellen Schnitten in Szene, vielmehr erhält sie eine gespenstische Dimension. Das Gespenstische wird im Stummfilm mit der Eisenbahntechnologie eine prominente Rolle in mehrfacher Hinsicht spielen. Es wird mit der Eisenbahn selbst verkoppelt. Die eröffnende künstlerische Choreographie darf durchaus als technische und visuelle Innovation verstanden werden, weil sie eine zunächst undurchschaubare Macht der Maschine zu Kinematographie werden lässt. Doch diese Innovation in filmischer wie eisenbahntechnischer Hinsicht wurde bislang kaum beachtet.

In der internationalen, westlichen Filmforschung ist über Express 300 Meilen fast nichts publiziert worden. Einige wenige Artikel sind in Japan erschienen.[3] Immerhin hat die Internet Movie Database (IMDB) einen Großteil der Mitwirkenden zusammengestellt, obwohl der Film nicht 1929, sondern 1928 uraufgeführt wurde.[4] IMDb kennt nur ein 20-minütiges Fragment des Films. Die Rekonstruktion von 2004, die gezeigt wurde, ist 84 Minuten lang. In englischer Übersetzung lassen sich ausführlichere Texte zum Film nicht finden, obwohl er einzigartig ist. Es ist keinesfalls nur ein Film für Eisenbahn- oder Modeleisenbahnliebhaber. Einige Einstellungen wie zum Beispiel das Abfilmen der Gleise während der Fahrt als Visualisierung von Geschwindigkeit und Schienennetz als System erinnern auffällig an Abel Gance‘ La Roue von 1924.[5] Doch stärker als dort wird hier mit dem japanischen Eisenbahnministerium kooperiert, um spektakuläre, großangelegte Filmszenen wie die Eisenbahn-Choreographie zu produzieren.  

Die Eisenbahn-Choreographie, so kurz die restaurierte Sequenz sein mag, ließe sich als Schlüsselszene und Setting formulieren. Einerseits wird die Maschinerie der Eisenbahn durch Schienennetz und Lokomotiven mit Personenwaggons ganz offensichtlich in beeindruckender Größe vorgeführt. So funktioniert die Maschinerie reibungslos. Es kann nichts passieren. Es kommt zu keiner Kollision, als wolle der Eisenbahnminister sagen: So sicher ist unsere Eisenbahn. Sie brauchen keine Angst haben. Andererseits bleiben die Mechanismen der Maschinerie unsichtbar, obwohl wie in La Roue Signale gezeigt werden. Die mechanische Choreographie zeigt und verbirgt die Maschinerie zugleich. Dieses Verhältnis von totaler Sichtbarkeit durch eine Totale mit Aufsicht als Kameraeinstellung, gleichsam eine göttliche Perspektive, und unerklärlicher Funktionsweise der Maschinerie generiert das Gespenstische. Das Filmpublikum sieht alles, kann sich aber nicht erklären, was es sieht. Nach Kinema Junpo (Ausgabe vom 21. Februar 1929) verlief die Kooperation mit Herrn Minoru Murao, der vom Eisenbahnministerium beauftragt wurde, offenbar nicht reibungslos. Vor allem die Geister-Lok missfiel.[6]

Für die narrative Formation von Express 300 Meilen, der die Distanz von ca. 1.014 km zwischen Moji und Tokio bestimmt, wird das Gespenstische strukturierend. Das funktioniert völlig anders als in La Roue. Nachdem der japanische Eisenbahnminister in einer Sequenz wahrscheinlich höchst persönlich in einem westlichen Unternehmermantel mit Persianerkragen die Eisenbahn in der JR Wests Umekoji Locomotive Garage (heute Umekoji Steam Locomotive Museum, Kioto) inspiziert hat[7], kommt es zu einem aufschlussreichen Zwischenfall. Eine Lokomotive setzt sich ohne Lokführer in Bewegung. Die Maschine verselbständigt sich, sie gerät außer Kontrolle und wird so zur Verkörperung des Gespenstischen. Das ist eine grandiose narrative Innovation der Drehbuchautoren Kan Kikuchi und Kimura Chigio sowie des Filmregisseurs Saegusa Genjirō.

Die Verselbständigung der Lokomotive innerhalb der Maschinerie Eisenbahn wird zur ultimativen Katastrophendrohung. Denn die Geister-Lokomotive rast auf Kollisionskurs mit dem Expresspersonenzug zu. In dieser Situation kommt der heldenhafte Einsatz des Lokführers Mori Shigeru (Koji Shima) mit der allerneuesten und schnellsten Lok zum Zuge. Während die Geister-Lokomotive unaufhaltsam über die Strecke und durch Bahnhöfe rast, telefonieren unterschiedliche Eisenbahnmitarbeiter mit einander. Das Telefon ist schneller als die rasende Lokomotive. Dadurch erhält der Lokführer Nachricht von der drohenden Katastrophe und beschließt, sie zu stoppen, indem er quasi auf sie springt wie auf ein durchgebranntes Pferd und die Lokomotive kurz vor der Kollision zum Halten bringt. Bemerkenswert ist dabei, dass sich insbesondere eine Dampflokomotive, die ständig beheizt werden musste, nicht ohne weiteres verselbständigen konnte. Doch der Schrecken der Maschine liegt in ihrer geisterhaften, unkontrollierten Verselbständigung, die nur durch einen heldenhaften Lokführer-Maschinisten und Menschen beendet werden kann.      

Durch schnelle Schnitte und Gegenschnitte mit wechselndem Bildmaterial wird im Stummfilm die erwünschte Dramatik generiert. Günter A. Buchwald & Silent Movie Music Company steigern die Dramatik mit schnellem Rhythmus und in vieler Weise eingesetzten Instrumenten von Klavier (Gunter A. Buchwald), Schlagzeug (Frank Bockius) und Posaune (Marc Roo), während die Geige (Günter A. Buchwald) eher für ruhigere, melodramatische Sequenzen eingesetzt wird. Das Stoppen der Maschine bzw. Lokomotive wird dem Mut und der, sagen wir, Geistesgegenwart des Lokführers zugeschrieben. Visuell wird der menschliche Steuermann der Maschine zu ihrem Kontrolleur. Obwohl die Aktion zunächst als aussichtslos imaginiert wird, sind die Ängste vor dem Verlust von Menschenleben durch die Maschine größer. Die Maschine als Lokomotive bedroht insofern Menschenleben, was von Abel Gance mit einer quasi ursprünglichen Katastrophe völlig anders in Szene gesetzt worden war.

特急三百哩/Express 300 Meilen setzt nicht nur Eisenbahn, Lokomotive und Maschinist in Szene, vielmehr wird hier eine Geister- wie Geisteswissenschaft mit den Mittel der 電影 Diànyǐng, deutsch StromSchatten, generiert. Anders als die westlichen oder europäischen Bewegungen der Kinematographie gehört der japanische Film mit den ursprünglich chinesischen Schriftzeichen bzw. Kanji für Blitz bzw. seit dem späten 19. Jahrhundert Elektrizität 電 und Schatten 影 einem ebenso unheimlichen wie erhellenden Bereich der Kunst an. Der Film wird im sino-japanischen Sprachraum eine Geister- und Beschwörungskunst. 電影 lässt sich mit dem modernen Wissen wie den japanischen Mythen z.B. des Nō verknüpfen.[8] Die Eisenbahn, die im Film bereits mit dem elektrischen Medium des Telefons verbunden und visualisiert wird, eignet sich geradezu perfekt für eine Geisteswissenschaft von der Maschine. Denn es geht um den Geist der Maschine. Ihre Funktionsweise lässt sich durch moderne Operationen ebenso beeinflussen wie mit älteren Wissensformationen von Geistern verknüpfen. Nicht zuletzt spielen unterschiedliche „Einzelwissenschaften des Geistes“[9] eine entscheidende Rolle für Wilhelm Dilthey in seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften 1883.
Die Analysis dieser Thatsachen ist das Centrum der Geisteswissenschaften, und so verbleibt, dem Geiste der historischen Schule entsprechend, die Erkenntniß der Prinzipien der geistigen Welt in dem Bereich dieser selber, und die Geisteswissenschaften bilden ein in sich selbständiges System.[10]

Das moderne Wissen der Dampfmaschinen und der längst angebrochenen Elektrizität führt zu 特急三百哩/Express 300 Meilen, indem in der Maschine quasi die Geister und keinesfalls nur die Naturwissenschaften fortleben. Doch – so das Eisenbahnministerium aus dem Hintergrund – die Geister, insbesondere Geister-Lokomotiven werden durch das menschliche Personal und einen mutigen Helden kontrolliert. Nachdem der heldenhafte Lokführer die Reisenden gerettet hat, wird er sogleich, auf den ersten Blick mit der Liebe einer Zirkusartistin Orie (Natsukawa Shizue) belohnt. Die Beherrschung der Geister-Maschine wird nach dem mythischen Modell der Heldenbelohnung durch die Liebe einer Frau vergolten. Der darauffolgende Erzählstrang des Films im Zirkusmilieu kann ein wenig vernachlässigt werden, obwohl es mit dem Todeswunsch der Artistin und der rettenden Liebe des Lokführers um eine ähnliche Struktur geht. Die Erzählung von der Maschine und ihrer Beherrschung lässt sich offenbar vorzugsweise mit einer Liebesgeschichte zu einer Frau verknüpfen.

Von stärkerem Interesse wird dann wieder die längere Schlusssequenz. Der Lokführer soll nun im Unwetter den nächtlichen Schnellzug nach Tokio befehligen. Mori Shigeru (Koji Shima) formuliert ausdrücklich in einem Zwischentitel, dass er der Lokomotive ganz gehöre, wenn er seinen Dienst tut. Er unterwirft sich in gewisser Weise damit der Maschine. Obwohl seine Frau Orie vom brutalen Zirkusdirektor (Hiroshi Mita) bedrängt wird, entscheidet sich der Lokführer für den Schnellzug. Es ist nicht nur eine Frage der quasi soldatischen Pflicht, vielmehr wird sie mit Schnitt und Gegenschnitt als eine Entscheidung zwischen individueller Liebe und Fürsorge gegen die Kontrolle der Maschine und die für die Gesellschaft inszeniert. Mori Shigeru entscheidet sich für die Gesellschaft und den Expresszug. Auf der schnellen Fahrt im Unwetter begegnet ihm nun allerdings Orie als Gespenst auf den Bahnschienen, was Mori den Zug anhalten lässt, woraufhin er die Strecke inspiziert und feststellt, dass sie durch einen Erdrutsch verschüttet worden ist. Er hätte den Zug zum Entgleisen gebracht. Das Gespenst im 電影 wie 電影 als Wissen verkörpern insofern ein prognostisches Wissen und verhindern eine Katastrophe.

Die Sicherheit der Eisenbahn in Japan wird nach 特急三百哩/Express 300 Meilen durch ein erstaunlich vielschichtiges Wissen gewährleistet, lässt sich sagen. Wenn die Schrecken der Eisenbahn als paradigmatische Maschine nicht bereits kursierten, hätte es des Films mit seiner Erzählung vom Eisenbahnwissen kaum bedurft. 1872 war die erste Eisenbahnstrecke in Japan zwischen Tokio und Yokohama eröffnet worden. Frappierend an Saegusa Genjirōs beredten Stummfilm ist vor allem, wie er unterschiedliches Wissen zu einer wie Jacques Derrida es einmal genannt hat, Hauntologie montiert.[11] Zwischen Eisenbahn-Choreographie und Gespenst auf der Schnellzugstrecke wird ein für westliche Zuschauer zunächst einmal allein unterhaltendes Wissen visualisiert, das geheimnisvoll bleibt. Schaut man allerdings einmal genauer hin, wie unterschiedliches Wissen mit dem Gespenstischen in elektrische Schatten transformiert und montiert wird, dann bietet der Film sehr vielmehr als eine Liebesgeschichte fast schon in der Spätphase des Eisenbahnzeitalters.

Die ultimative Sicherheit bietet die Familie, wie sie am Schluss mit Mori Shigeru und seiner Kleinfamilie für Japan in Szene gesetzt wird. Der Lohn des mutigen und zuverlässigen Eisenbahners, nachdem er mit dem Geist der Lokomotive gekämpft hat, wird so als Familienidylle vorgestellt. Die Verwerfungen, die der Arbeiterberuf seit den 1840er Jahren in der Eisenbahnindustrie zwischen Produktion, Instandhaltung und Kontrolle bewirkt hat[12], finden in der Idylle einer Kleinfamilie und der geistigen Verbundenheit von Lokführer und seiner Ehefrau eine Glättung. Die große Maschinerie der Eisenbahn wird längst von den Leben der Arbeiter gespeist, die i.d.R. keinesfalls Helden werden sollten, sondern beispielsweise als Mechaniker namenlos blieben.

Torsten Flüh  

Japanisch-Deutsches Zentrum Berlin
Veranstaltungen
Ausstellungseröffnung „Morgenwolken“
HIGASHIYAMA Kaii – Lithografien von Nihonga (neo-traditionelle japanische Malerei) aus den Archivbeständen des JDZB zum 20. Todesjahr des Künstlers
Donnerstag, 28. November 2019, um 19 Uhr
Saargemünder Str. 2
14195 Berlin
U-Oskar-Helene-Heim


[1] Die japanischen Namen werden nach der japanischen Reihenfolge von Familienname an erster und Vorname an zweiter Stelle genannt.

[2] 映画保存協会(Film Preservation Society): Tokyo[復元報告]特急三百哩 よみがえった幻の鉄道映画. 2004年9月16日 http://filmpres.org/preservation/tokkyu/

[3] Siehe z.B. 映画「特急三百哩」(1928)の復元  übersetzt: Ota Reismann (太田米男): Restaurierung des Films „Limited Express 300“ (1928). S. 132-136. (PDF)

[4] Tokkyu sambyaku-ri (1929) (IMDb)

[5] Vgl. dazu Torsten Flüh: Von der Liebe zur Maschine. Zu La Roue von Abel Gance mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter der Leitung von Frank Strobel. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. Oktober 2019.

[6] 太田米男: 映画 … [wie Anm. 3]

[7] Ebenda.

[8] Zum und dem Spiel der Geister siehe auch: Torsten Flüh: Musik als Klangkunst für offene Ohren. Zum Nō-Ensemble der Umewaka Kennokai Foundation Tokio und dem Ensemble Musikfabrik mit Peter Eötvös beim Musikfest Berlin 2019. In: NIGHT OUT @ BERLIN 10. September 2019.

[9] Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. XIX. In: Deutsches Textarchiv.

[10] Ebenda S. XVII.

[11] Jacques Derrida: Spectres de Marx: l’état de la dette, le travail du deuil et la nouvelle Internationale. Paris: Éditions Galileé, 1993.

[12] Vgl. hierzu auch Torsten Flüh: Pariser Industrialisierung glüht durch Hector Berlioz‘ Benvenuto Cellini. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. September 2019.

Queering the Classics – The Bassarids

Oper – queer – Libretto

Queering the Classics

Zu Wystan Hugh Audens, Chester Kallmans und Hans Werner Henzes moderner Antiken-Oper The Bassarids in der Komischen Oper

Den fulminanten Coup, den Barrie Kosky als Intendant wie Regisseur und Vladimir Jurowski als Dirigent mit The Bassarids in der Komischen Oper gelandet haben, werden Sie erst wieder am 26. Juni 2020 hören und sehen können. Safe the Date! Im Livestream allerdings ist die Inszenierung mit Sean Panikkar in der Rolle des Dionysus als Gast bis 14. April 2020 verfügbar. Sean Panikkar hatte im August 2018 mit Kent Nagano und den Wiener Philharmonikern bei den Salzburger Festspielen in der Rolle debütiert. In Berlin sticht er neben Günter Papendell als Pentheus, König von Theben, hervor. Barrie Kosky hat seine Inszenierung in englischer Sprache mit einem Zitat aus dem Libretto unter das Motto „There’s no way to hide!“ gestellt. Du kannst mir nicht entkommen.

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Die Verführungskünste des „boy-god“ Dionysus sind nach den Bakkchen des Euripides ebenso groß wie seine Machtgelüste tödlich. Wystan Hugh Auden und Chester Kallman waren sich 1963 als Librettisten mit Hans Werner Henze einig, dass der Komponist der Transformation des Librettos nach der griechischen Tragödie um Dionysos und Pentheus zu folgen habe. Und so nahmen sie mit der Umbenennung der Bakkchen in die Bassariden eine entscheidende Verschiebung vor. Sie queerten das antike Drama als Opernlibretto, das Die Bakkchen hätte heißen können. Denn während in der antiken Tragödie nur Frauen dem Gott Dionysos in ekstatischer Lust zulaufen und verfallen, folgen ihm in The Bassarids Frauen und Männer. Dionysos wurde textlich und stimmlich zu einem lyrischen Tenor komponiert.

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Sean Panikkar besticht insbesondere in den lyrischen Passagen, wenn Dionysus nach dem Libretto lediglich als Voice zu hören ist. Die englisch, distinguierte Aussprache des R führt er geradezu lustvoll vor. So war es eine gute Entscheidung von Barrie Kosky, die Oper nicht in der deutschen Übersetzung, sondern im Englischen Original von Wystan Hugh Auden und Chester Kallman aufzuführen. Das Libretto hat eine überragende lyrische Qualität und darf als pure queer history gelten. Schon „the boy-god“, wie ihn Pentheus‘ Mutter Agave (Tanja Ariane Baumgartner) nennt, ist in seiner kalkulierten Mehrdeutigkeit unübersetzbar. Denn Dionysus ist nicht nur der junge Gott, den Zeus sich im Oberschenkel zur Rettung einnäht und austrägt, nachdem er ihn mit der Menschenfrau Semele gezeugt hatte und diese in Eifersucht von Hera getötet worden war. Vielmehr lassen sich im „boy-god“ all jene jungen Männer imaginieren, die von Männern wie Frauen angehimmelt werden. Dionysus verführt als Voice auf fast naiv-lyrische Weise:
VOICE: Birds hold a tunefull parliament
         And the honey-bee loudly hums,
         Here the fawn and the wolf-cub
         Sport and play in an amity:
         Men and maids also dance.[1]   

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Auden und Kallman adaptieren den Dionysos-Mythos und haben ihrem Libretto ein beziehungsreiches Zitat von Gottfried Benn als Motto vorangestellt: „The Myth lies …“[2] Der Mythos lügt? Worin lügt der Mythos? In Gottfried Benns Gedicht Verlorenes Ich bezieht sich die Formulierung auf eben jene „die einst auch das verlorene Ich umschloß“. Mythen sind in ihrer elastischen Formulierungskunst ungenau und mehrdeutig. Doch bezogen auf die Verschiebung der Gefolgschaft des Gottes von Bakkchen zu Bassariden ließe sich die Übermittlung des Mythos nach Euripides als bereits heteronormativ korrigiert lesen. Für ihre Umwandlung nahmen Wystan Hugh Auden und Chester Kallman ein klassisches Bildungswissen wie ein Erfahrungswissen in Anspruch. Denn Christopher Isherwoods Freund Auden, der sich als Oxford-Absolvent das Wort „schwul“ selbstbewusst in Berlin 1928 angeeignet hatte und es als Entschuldigung für einen Flirt in der Straßenbahn einsetzte – „Entschuldigen Sie Madam, aber ich bin schwul“ –, wie Robert Beachy zitiert hat[3], hatte sich als Zweiunddreißigjähriger 1939 in New York in den 18jährigen Brooklyn College Schüler und Opernfan Chester Kallman verliebt. Schon in Berlin hatte er zahlreiche Begegnungen mit jungen Männern, die in Gedichte auf fast fehlerfreiem Deutsch verwandelt wurden.

Man redet hier von Kunst am Wochenende
Bin jezt zu Hause, nicht mehr in Berlin
So kommt es immer vor in diesen Sachen
Wir sehen uns nie wieder, hab‘ dein Ruh:
Du hast kein Schuld und es ist nichts zu machen
Sieh‘ immer besser aus, und nur wenn Du
Am Bahnhof mit Bekannten triffst, O dann
Als Sonntagsbummelzuge fertig stehen
Und Du einsteigen willst, kuk einmal an
Den Eisenbahnen die dazwischen gehen.
Sonst, wenn ein olle Herr hat Dich gekusst
Geh mit; ich habe nichts bezalt; Du must.[4]

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Das Genre Oper ermöglichte Auden eine (nicht zuletzt sinnlich reimende) Poetik, mit der er nach Edward Mendelson in eine Krise geraten war. –  „And where should we find shelter/For joy or mere content/When little was left standing/But the suburb of dissent.“ (Und wo sollen wir Schutz finden?/Aus Freude oder nur zur Zufriedenheit/Als noch wenig mehr übrig war/Als der Vorort des Dissens.)[5] – Der gemeinsame Opernbesuch wurde 1940 schon deshalb zur Leidenschaft des Schriftstellers und Poeten, weil auf der Opernbühne die Poetik und Rhetorik des „grand style“, der antiken Dichtung, überlebte, wie Edward Mendelson in seiner Einführung zu den Libretti berichtet. Im „grand style“ werden Dionysus‚ Verführungskünste um so größer, als die Voice rein verbal auf fast hypnotische Weise Raum zur Imagination gibt. [6]
VOICE. O what a pleasant hermitage,
         Far from Nemesis, the overjust.
         Come. Come. Yourselves associate
         With our glad unanimity:
         Join the dance. Come away.

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Wo Rehkitz (fawn) und Wolfwelpe (wolf-cub) tollen und spielen, verspricht die Dionysus‘ Stimme eine geradezu paradiesisch-glückliche Einstimmigkeit (unanimity). Diese Einstimmigkeit wird sich zur Tragödie verkehren, weil in ihr kein Widerspruch oder eine Dissonanz geduldet werden darf. Vladimir Jurowski und Barrie Kosky haben zwar in einem Interview für die Produktion mit klugen Formulierungen erklärt, warum Hans Werner Henze sich mit 40 Jahren zur Komposition von The Bassarids entschied. – „Vladimir Jurowski: … The Bassarids waren in vielerlei Hinsicht ein Wendepunkt in Henzes Leben. Es ist der Punkt in seinem Schaffen, an dem er vielleicht zum ersten Mal ganz bei sich ist und sagen kann: Ich bin Hans Werner Henze, ich bin der, der ich bin…“ „Barrie Kosky: Letztlich sind alle Theaterschaffenden in der westlichen Tradition in irgendeiner Form vom antiken griechischen Theater beeinflusst…“[7] – Doch bereits Mendelson hat in seiner Einführung zur Werkausgabe der Libretti darauf hingewiesen, dass „Auden and Kallman had since 1948 summered in Ischia, where in 1953 they met Hans Werner Henze“.[8]   

© Monika Rittershaus

Hans Werner Henze war gleichfalls an dem selten glücklichen Begehrensmodel „boy-god“ interessiert. Unter der Folie der antiken Tragödie, die bei Euripides fast misogyn konnotiert wird, verhandeln Auden, Kallman und Henze nicht nur ihr sexuelles Begehren, vielmehr überhaupt die Sexualität als Begehren und Geschlechterordnung im „grand style“. Dadurch lässt sich vorführen, was in den Secret Boys Poems eher fürs Tagebuch gedacht war. Barrie Kosky inszeniert denn auch das Intermezzo, stärker und deutlicher als von Auden in den Regieanweisungen vorgesehen, als Travestie, aus der der allzu männlich, gesetzgebende König von Theben, Pentheus, in Frauenkleidern seiner Mutter Agave hervorgeht. Auden haderte offenbar mehrfach mit den Inszenierungen seiner Libretti und besonders bei der Uraufführung von The Bassarids am 6. August 1966 in Salzburg. Das könnte einen Wink geben auf das imaginäre Potential des Librettos. Es ist der alte blinde Seher Tiresias (Ivan Turšić), in der Inszenierung mit Sonnenbrille und im Hauskleid mit markanten Brüsten, als Medium des Wissens, der Dionysus einführt.
TIRESIAS.
         Who? Dionysus?
         He is the youngest of the Gods; soon Hera
         Also will befriend his might. On Olympus
         Now and Delphi his place waists amongst Gods, the
         God Dionysus!

© Monika Rittershaus

Wie sind die Mythen und die griechische Götterwelt mit ihren komplizierten Genealogien entstanden? Im klassischen Bildungswissen lassen sich die Abstammungen zwar labyrinthisch, doch relativ klar nachverfolgen. Sie lassen sich in enzyklopädisches Wissen im Sinne einer Grundbildung verwandeln. Doch dieses Wissen ist ein nachträgliches, das aus der antiken Literatur kompiliert wird. Die Dichter der Antike stellten in ihren Tragödien, Komödie und Gedichten diese allererst in der Dramaturgie ihrer Literaturen her. Dort sind allerdings die Genealogien literarisch weit verschachtelter, als sie sich im enzyklopädischen Wissen merken lassen. Das Bildungswissen des 19. Jahrhundert wird nach dem Dichter, Kulturkritiker und Schulinspektor Matthew Arnold durch „the grand style“ der antiken Rhetorik vermittelt, der schon von der zeitgenössischen Kritik karikiert wurde. Was aber heißt es dann, dass Dionysos genealogisch als der Jüngste vorgestellt wird? Die Macht des Tötens (kill) und Erneuerns (renew) haben durchaus andere Gött*innen auch. Aber wie ist es mit dem Freigeben (release) oder gar Befreien als dritter Praxis nach Teiresisas? Lässt er nur jemanden frei? Oder ermöglicht er die Freigabe von kulturell nicht normierten Praktiken? In der Poetik des Librettos bleibt das offen.
TIRESIAS. Dionysus
         Kills and renews and can release you. Where is
         Pentheus our King? Bring Pentheus with you
         Quickly . . .

© Monika Rittershaus

Die ständigen und oft kämpferischen Regulierungen des Weltenlaufs mit einem Gott, Zeus, als Göttervater, der ständig seine Macht durch Affären mit Menschenfrauen überschreitet, missbraucht und auch vor Inzest nicht zurückschreckt, um so seine Macht zu mehren, braucht ein Ventil, in der der fast schon überregulierte Mensch der antiken Welt sich als befreit fühlen darf. Diese Funktion könnte den späten bzw. jungen Mythos des Dionysos herausgefordert haben. Die Deregulierung wird im Rausch durch Wein, Drogen und sexuelle Enthemmung praktiziert und versprochen. Dionysos verbreitet keinesfalls nur Chaos, vielmehr dereguliert er die Göttermacht, indem er sich quasi selbstermächtigt, diese Macht allerdings ebenso brutal nutzt und an Agave vorführt. Teiresias formuliert es anders. Bei Auden und Kallman wird diese Funktion als Praxis der Sexualität aufgeführt. Dem psychologischen und psychoanalytischen Trieb ist nicht zu entkommen. Er wird zum Wahrheitsmodus des Geschlechtlichen, vor dem man sich nicht verstecken kann. 
AGAVE.  Let him go: the blindest of all women
         Thrust upon by Eros, and limpest man. Go.
         Blank Dionysus of girls, the boy-god.
         Hop to him, both your love-gods in a fever.
         Go.

© Monika Rittershaus

Der „grand style“ als Poetik zeichnet sich durch eine besondere Elastizität und Verschachtelung im fast schon deliranten Sprechen z. B. der Agave aus. Das Nahen Dionysus verschiebt die Syntax der Rede und Benennung. „Blank Dionysus of girls, the boy-god“ ließe sich übersetzen als „Nackter Dionysus der Mädchen, der Jungen-Gott“. Aber was heißt das, wenn nicht damit seine sexuelle Attraktivität beschrieben wird? Pentheus kämpft als Herrscher von Theben so sehr gegen diese Attraktivität und sein sexuelles Begehren an, dass er nicht nur von seinem Großvater Cadmus (Jens Larsen) nicht mehr an Dionysos als Gott zu glauben, sondern sich selbst zu Abstinenz und Zölibat zwingt. Er versucht alles, um dem zu entkommen, woran sein Großvater nicht aufhören kann zu glauben.
PENTHEUS …
         You have been heard. Heard bowed, I have listened. But
         One thing, one that I long waited to hear, you most.
         Carefully shunned: Do you in your wisdom think
         Dionysus a God or no?
CADMUS. I believe him a God, the son
         Semele bore Zeus miraculously, a God
         Glorious, fearful, new to the Gods and, new
         To himself and his strength, proving them both on man.

© Monika Rittershaus

Doch es ist nicht nur die Frage nach der Sexualität oder dem Anderen, die Pentheus als König des Stadtstaates Theben mit Dionysus als „Anathema“ verknüpft. Vielmehr begründet er seine Verfluchung mit der Frage nach dem Guten für die Stadt. Die Frage nach dem Guten (good) anstelle der nach dem Gott (god) lässt sich zumindest bei Auden/Kallman als eine rhetorische Figur beobachten und bedenken. Sie widmen dieser Frage ein Gedicht bzw. eine Arie in drei Strophen. Nicht nur das poetische Spiel mit god und good wird hier aufgeführt. Zugleich bekommt Pentheus‘ Position eine nachvollziehbare Berechtigung. Das scheinbar willkürliche Verbot des Gottes Dionysus erhält nun eine monotheistisch-säkulare Rechtfertigung, indem „the grand style“ paradigmatisch aufgeführt wird. 
PENTHEUS. Faithful Beroe!
         Whom else can I trust
         Not to betray me?
         To you alone
         Can I open my heart.
         Listen, Beroe!
         For speak I must:
         The best in Thebes
         Do but worship shadows
         Of the True Good.

         They honor Its excellence
         Under many a name
         Of God and Goddess:
         But the Good is One,
         Not male or female,
         They acknowledge Its glory
         With statues and temples
         Fair to behold:
         But the Good is invisible
         And dwells nowhere.

         Well, let it be so,
         For so it must be
         With little children
         Until they have come
         To understanding.
         Truth and righteousness
         Glimmer through
         The ancient rites:
         But they shall not worship
         The Ungood!

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Günter Papendell brilliert mit diesem philosophischen Diskurs. Die Unsichtbarkeit des Guten wird als Gegenargument für die vielgestaltig sichtbaren Götter formuliert. Man kann das gar eine mediale Frage der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit nennen. Im Unterschied zu Euripides‘ Bakkchen verstärken Auden/Kallman die Position des Pentheus entschieden. Die Dramaturgie wird zugespitzt und zur Frage einer christlich konnotierten Transzendenz. – „But the Good is invisible/And dwells nowhere.“ – Das Gute ist unsichtbar und lässt sich nicht an einen Ort binden. Pentheus‘ Rede für das monotheistisch oder transzendental Gute – „But the Good is One“ – lässt sich so nicht bei Euripides finden. Da die Sichtbarkeit ein positives Wissen voraussetzt, geht es mit der Unsichtbarkeit des Guten um einen grundverschiedenen Wissensmodus. Es führt nicht nur Pentheus vor oder charakterisiert ihn, vielmehr wird hier ein philosophisches Problem in poetischer Form aufgeführt, wie es sich selbst auf der Opernbühne nur schwer vermitteln lässt. Barrie Koskys Inszenierung und Personenführung verzichtet auf allzu starke philosophische Aspekte. Er macht mehr Oper und Darstellung allerdings mit dem Bühnenbild und Kostümen von Katrin Lea Tag als geradezu amphitheatrales soziales Ereignis. Der Zuschauerraum bleibt erleuchtet. Jede/r sieht jede/n und die Sänger*innen wie Chor, Tänzer*innen und Teile des Orchesters spielen auf der großen Freitreppe. Theater als soziales Ereignis mit Wink auf antike Praktiken.

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Wystan Hugh Auden war als Operngänger mit der Uraufführung von The Bassarids in Salzburg hinsichtlich der Musik sehr zufrieden. Vladimir Jurowski weist allerdings darauf hin, dass das Publikum die Musik „einfach geil“ fand, „weil sie es an die ihm vertraute Welt eines Richard Strauss erinnerte“.[9] Und man kann hinzufügen, dass es wohl genau das war, was sich Auden und Kallman quasi als Hugo Hoffmansthal-Epigonen, Richard Strauss‘ Librettisten, erträumt hatten. Dazu passt auch, dass ein Freund vor der Vorstellung The Bassarids als die größte Oper der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ankündigte. Bei Agaves Wahnsinnsarie, nachdem sie Pentheus, ihren Sohn, im bassaridischen Rausch zerfleischt hat, schimmert denn auch Elektra von Hugo von Hoffmannsthal und Richard Strauss durch. Hans Werner Henze ging zumindest darin andere und neue Wege, dass er die Oper wie eine Sinfonie in vier Sätzen komponierte. The Bassarides befinden sich musikalisch an der Schnittstelle von Oper, Musikdrama und Musiktheater. Henzes Musik für Dionysus  wird in vielen aufeinanderfolgenden Dur-Dreiklängen und Septakkorden komponiert, die Jurowski als „eine() Art übertriebene() Romantik“ auffasst.[10] Man könnte sie allerdings ebenso als eine Queerness beschreiben, die Sean Panikkar auf berückende Weise stimmlich und darstellerisch zu verkörpern weiß.

Nach Elegy for Young Lovers (1961) und The Bassarids (1966) endete die Zusammenarbeit von Wystan Hugh Auden und Chester Kallman mit Hans Werner Henze. Insofern bleibt die verspätete Oper The Bassarids, die musikalisch schon keine Oper mehr ist, ein Solitär. Vielleicht ist die Oper Edward II. von Andrea Lorenzo Scartazzini mit dem Libretto von Thomas Jonigk, die 2017 in der Deutschen Oper aufgeführt wurde, ein spätes Echo von The Bassarids.[11] Benjamin Brittens Oper Tod in Venedig kam erst 1973 in einer völlig anderen Sprache und Musik obgleich mit ähnlichem Sujet zur Uraufführung.[12] Denn Gustav von Aschenbach/Thomas Mann himmelt in Tadzio einen „boy-god“ an. Audens und Kallmans sowie Henzes gewissermaßen behutsames Queering der antiken Tragödienliteratur blieb ein Einzelfall. Der kann allerdings noch einmal in der Komischen Oper in herausragender Qualität mit Sean Panikkar gesehen und gehört werden. Die allzu wenigen Aufführungen von The Bassarids geben indessen auch einen Wink auf die zwanghaften Wiederholungsgewohnheiten von Operngängern, die nicht sehen und hören wollen, was sie nicht kennen.

Torsten Flüh

PS: Unter- oder Übertitel in Deutsch wären gewiss nicht die Lösung gewesen. Doch für diese wirklich sehr textbasierte Oper wäre eine Projektion des englischen Textes hilfreich gewesen.  

Komische Oper
The Bassarids
Musikdrama in einem Akt
Hans Werner Henze
Libretto Wystan Hugh Auden und Chester Kallman
Fr., 26. Juni 2020, 19:00 Uhr
Livestream bis 14.04.2020
YouTube: Contemporary Classical: The Bassarids – video performance.


[1] Wystan Hugh Auden/Chester Kallman: The Bassarids. In: Wystan Hugh Auden: The complete works of W. H. Auden : poems, plays (with Christopher Isherwood), libretti (with Chester Kallman), prose / [ed. by Edward Mendelson]. Princeton: Princeton University Press, 1993.

[2] „Die Mythe log … Gottfried Benn“ (Libretti, S. 249) steht nach der Gesamtausgabe untereinander auf der Titelseite. Auden und Kallman zitieren hier aus Benns Gedicht Verlorenes Ich. (1943) In seiner Einführung übersetzt Edward Mendelson das Zitat mit „The Myth lies“. Edward Mendelson: Introduction. In: Ebenda S. xxviii.

[3] Robert Beachy: Gay Berlin. Birthplace of a Modern Identity. New York: Knopf, 2014, S. xi. Siehe auch: Torsten Flüh: „Entschuldigen Sie, Madam, aber ich bin schwul.“ Zu Robert Beachys Gay Berlin: Birthplace of a Modern Identity in der American Academy. In: NIGHT OUT @ BERLIN Oktober 29, 2015 20:20.

[4] Zitiert nach: Katherine Bucknell: The Boys in Berlin: Auden’s Secret Poems. In: The New York Times Nov. 4 1990 Section 7, Page 1. In der Ausgabe der Collected Poems von Edward Mendelson von 1976 fehlen derartige Gedichte. Richard R. Bozorth hat 2004 erstens darauf hingewiesen, dass Auden sich ausführlich mit der Psychoanalyse Sigmund Freuds befasst habe (S. 175) und zweitens während seines zweiten Berlin-Aufenthalt ein „remarkable“ Tagebuch geführt habe. (S. 180) „The remarkable journal he kept in Berlin in early 1929 records, on facing pages, a diary of his love life and sexual relations with various young men he met in Germany, and a complex theoretical engagement with the work of Freud (…)“ Gleichwohl ist Auden erst spät in das Interesse der Queer Studies geraten. (S. 176) Richard R. Bozorth: Auden: love, sexuality, desire. In: Stan Smith (Ed,): The Cambridge Companion to W. H. Auden. Cambridge/New York: Cambridge University Press, 2004, S. 175-187.

[5]  Zitiert nach Edward Mendelson: Introduction. Wystan Hugh Auden: The … [wie Anm. 1] S. xvi.

[6] Ebenda.

[7] »Wie ein Echo des antiken Theaters …« Regisseur Barrie Kosky und Dirigent Vladimir Jurowski über Sinfonien, Satyrspiele und die Suche nach sich selbst. In: Komische Oper (Hg.): The Bassarids. Hans Werner Henze. Berlin 2019, S. 20.

[8] Edward Mendelson: Introduction. Wystan Hugh Auden: The … [wie Anm. 1] S. xxvi.

[9] »Wie ein Echo … [wie Anm. 6] S. 10.

[10] Ebenda.

[11] Siehe u.a. Torsten Flüh: Die Rückkehr der Oper nach der Anti-Oper. Edward II. als schwule Oper an der Deutschen Oper Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN März 6, 2017 21:38.

[12] Siehe u.a. Torsten Flüh: Spuren der Kunst im Gesicht. Graham Vick inszeniert Benjamin Brittens Tod in Venedig an der Deutschen Oper. In: NIGHT OUT @ BERLIN  März 23, 2017 18:07.