Kommunismus – Konstruktion – Krankenschwester
Herrlich verdrehte Agitprop-Revue
Zur Uraufführung von Ronald M. Schernikaus legende in der Inszenierung von Stefan Pucher an der Volksbühne
Die ältere Frau in Reihe 15 sagt nach dem ersten Akt von legende in etwa, dass es doch schade sei, wie der Sozialismus zu Ende gegangen und dass sie die Schauspielerin der Krankenschwester schlecht verstehen könne, weil sie einen Akzent habe. Beides kann der Berichterstatter so nach der Uraufführung des Montageromans legende von Ronald M. Schernikau als verdrehte Agitprop-Revue nicht bestätigen. Ja, das Plakat spielt mit Skizzomat von Marie Emmermann stilistisch auf den sowjetischen Konstruktivismus an, aber anders. Postkartenmotiv: Gedächtniskirche, Patentante Karola nannte sie „Fauler Zahn“, mit Eiermann-Nachkriegskirchenbau. Blick über den Zoo und Tiergarten Richtung Osten, Eisenträger, ein Ohr, eine Wolke, eine Linie wie ein Faden mit Kugeln.
Zuviel sollte das Theaterpublikum nicht verstehen wollen. Das führt weder „in der Schreibmaschinenfassung (mit) 1.451 Seiten“ des Romans zu mehr Verständnis, noch wird die gut dreistündige Theateraufführung mit viel Textperformance und Songs wie dem „Klartext-Song“ dadurch klarer. Die Bühne (Barbara Ehnes) erlaubt nicht nur schnelle Wechsel zwischen Schultheis- „DRUE“ und „EBEN“ Wernesgrüner-Kneipenszene, Flugfeldern, Straßenecken und Krankenhauszimmern etc., sie dreht sich auch ziemlich oft vor und zurück. Die „Buch“ genannten Szenen sind bereits im Roman auf unterschiedlichen Sprachebenen und Redeweisen kurz montiert. Man könnte fast sagen: hier wird Text zwischen Selbstgespräch der Krankenschwester (Sólveig Arnarsdóttir) und Auftritt der „Götter“ vom Schnürboden vor einem projizierten brutzelnden Spiegelei in der Pfanne verwirbelt. Die Gött*innen wissen dann auch nicht weiter und helfen gar nichts.
Roland M. Schernikau hat den Text legende zwischen 1985 und 1991 aus Märchenmotiven, Zeitungs- und Bibelzitaten, Fake-Dokus, Protokollen und einigem Sprachmaterial mehr montiert. Zuvor war er als Schüler mit Kleinstadtnovelle (1980) durchaus berühmt geworden. Doch 1985 war für einen schwulen, jungen Mann plötzlich eine merkwürdige und gefährliche Zeit mit vier Buchstaben geworden: AIDS. Ficken mit oder ohne Kondom? Safe Sex war noch keinesfalls gängige Praxis, geschweige denn gesundheitspolitisch empfohlen. Reflexartig wurden vielmehr Isolations- und Internierungsfantasien von vor allem bayrischen Politikern formuliert. Das gibt den Hintergrund des Roman-Projekts legende. Die Diagnose AIDS wurde als Todesurteil verstanden. Überleben war nicht vorgesehen. Am Ende von „Buch 9 | Die Erlösung“ sterben alle insbesondere auf der „insel“ West-Berlin im Eiweiß der DDR.
„19 die insel wird am sonnabend offiziell zum friedhof erklärt. von den bisherigen einwohnern starben bisher alle; der tod der noch lebenden wird stündlich erwartet. nach mitteilung der götter hat es sich als unmöglich erwiesen, die opfer unter der dicken schicht von leichen zu bergen. ein kardinal weiht das ehemalige inselgebiet von einem flugzeug aus und erklärt es zu einer heiligen stätte, auf der nicht mehr gebaut werden darf.“[1]
legende von Ronald M. Schernikau lässt sich mit dem Trauma der AIDS-Krise seit Mitte der achtziger Jahre als ein verzweifelter Abgesang nicht nur auf die DDR, mehr noch auf den Kommunismus und den Kapitalismus lesen. Vielmehr nimmt es die Form des Requiems eines jungen, queeren Schriftstellers an, der davon ausgehen musste, bald an den Folgen der Immunschwäche zu sterben. Das verändert alles. Sprachlich wurde für AIDS auf biblische Motive wie die Strafe Gottes, Apokalypse oder rassistische wie der Entartung zurück gegriffen. Gleichzeitig wurde Schernikau zum queeren Gast in Talkshows, fand als Schriftsteller aber keine Publikumsverlage für existenzsichernde Buchverträge. Ohne Aussicht auf eine sexualpraktische, medizinische wie gesellschaftliche Normalisierung schrieb und montierte Schernikau sein Opus Magnum als Kritik an Ordnung und Wissen seiner Zeit. Denn es ging 1987 vor allem in Bayern mit dem Staatssekretär Peter Gauweiler im Kabinett von Franz Josef Strauß hoch her. Der Bundestagsabgeordnete Horst Seehofer, später selbst kein Kind von Traurigkeit, sprach davon, dass vor allem homosexuelle AIDS-Infizierte und Kranke künftig „in speziellen Heimen“ untergebracht werden sollten. Der SPIEGEL berichtete unter dem Titel Entartung ausdünnen am 16. März 1987.
Der Konstruktivismus kommt weder auf dem Plakat noch im Roman und auch nicht auf der Bühne als utopische Konstruktion vor. Er wird vielmehr verwirbelt, lädt allerdings zu Missverständnissen und Ambiguität ein. Es wird in der Inszenierung von Stefan Pucher wie im Roman viel Text abgeliefert, so dass die Erzählung der Krankenschwester Irene Binz zu einem einzigen Missverständnis von Flucht und Liebe wird. Die Flucht aus der DDR im Kofferraum eines Autos klappt und klappt dann doch gar nicht, weil „in dem kleinen Haushalt im Schwesternwohnheim (…) DDR-Bücher (waren), der Fernseher war auf DDR eingestellt“.[2] Die ersehnte Liebesbeziehung, die den Anstoß zur Flucht gegeben hatte, ließ sich ebenfalls nicht in Realität verwandeln. Der konstruktivistische Ansatz wird zu einem Formwillen, um der Literatur als Roman eine Form zu verpassen, die in zehn „Teil(en)“ mit zum Beispiel vierundzwanzig „B(ü)ch(er)“ im „Teil 8“ die Konstruktion ad absurdum führt.[3]
Wie subtil Ronald M. Schernikau mit seiner Textverarbeitung der Literaturen im Roman verfuhr, lässt sich beispielsweise in der apokalyptischen Schlusspassage damit bedenken, dass „du tochter der bayrischen bäuerin frohlocke“ angesprochen wird. Denn die bayrische Herkunft überschneidet sich, mit den exponierten Äußerungen bayrischer Politiker in der AIDS-Krise. Tatsächlich herrschte unter den Schwulen in West-Berlin ein großes Sterben. Doch um diesen Schrecken literarisch zu verarbeiten, zitiert Schernikau im neunzehnten Abschnitt von „Buch 9“ aus Emile Zolas Der Zusammenbruch (La Débâcle), wenn es dort „mit einer so dicken Schicht von Leichen“ heißt.[4] Die Literarizität der Textverarbeitung speist sich aus Literaturen als Zitate, die auf andere Weise montiert werden.[5] Sie werden aus dem Kontext herausgeschnitten und anders zusammengesetzt.
Das Montageverfahren hat auch Folgen für die Inszenierung auf der Theaterbühne. Die Montage von Zitaten wie einem von Emile Zola aus dem zwanzigbändigen Roman-Zyklus Les Rougon-Macquart. Histoire naturelle et sociale d’une famille sous le Second Empire, kann einerseits auf den Horizont des eigenen Romans anspielen, anderseits wird die zitierte Formulierung so montiert, dass ihre Herkunft jenseits der Philologie unbekannt bleiben muss. Erst die textkritische Edition von legende – in Kleinschreibung – durch Lukas Mielke, Helen Thein und Thomas Keck erlaubt die Leseweise. Indessen gibt es auch die Wissensebene, dass der gesamte Roman-Zyklus zunächst in der DDR erschienen war. Eine bestimmte Sinnebene oder Zentrierung auf eine Aussage lässt sich allerdings nicht herausarbeiten. Dies betrifft eben auch den Kommunismus in seiner Ausformung eines Sozialismus in der DDR. Helmut Peitsch hat für seinen Aufsatz zu „Schernikaus Poetologie“ ausführlich den „Dokumentarismus“ und die „programmatischen Begriffe() der Literaturdiskussion“ im Umfeld der DKP der 1980er Jahre in Erinnerung gerufen. Doch Schernikau habe sie aufgegeben.[6]
Der Literaturbegriff bei Schernikau hat insbesondere in den Rezensionen zur Uraufführung von legende an der Volksbühne eine wenigstens unterschwellige Rolle gespielt. Denn der Literaturbegriff gibt einen Wink auf die Vorstellung von Theater, wenn kein als Drama gerahmter Text aufgeführt wird. Die Texte aus legende, die unterschiedliche Formen wie Erzählung und Dialog, Satire und Traktat, Gedicht und Rede, aber auch Songs wie Schlager von Marianne Rosenberg als „mariane komenski stewardeß vormals verwaltungsangestellte des krankenhauses später schlagersängerin“[7] und Chöre annehmen können, werden nahezu unbearbeitet auf dem Theater performt. Man könnte das auch ein postdramatisches Theater nennen. Helmut Peitsch findet Schernikaus Literaturbegriff in einer Randnotiz oder Glosse von legende. Es geht dabei nämlich darum, was Autor und Leser als „wir“ daraus machen. Kommunismus wird als communis, gemeinsam(es) Machen eine Produktionsweise von Theater und Literatur.
„Und so erscheint auf S. 533 im Text der »Legende« eine Spalte »anmerkungen« zu Personen und Sachen für die 85 nummerierten, »chronologisch geordnet[en]« »gedichte«, »geschrieben 1979 bis 1986«: »[…] lobet. Nichts andres ist, als was wir daraus machen.«“[8]
legende gibt als Titel für einen Roman und eine Theateraufführung einen Wink auf das Lesen, lat. legere, und Wiederlesen. Schernikau schreibt nicht nur eine Legende als Erzählung und Geschichte, vielmehr macht er das Lesen zum Thema als Drama und Legendenbildung vom Autor zugleich. Bertold Brecht und Dante Alighieri ebenso wie Honoré Balsacs Comédie humaine winken mit den ersten Sätzen herüber. Wieviel Sprachmaterial enthält legende beispielsweise aus Brechts Der Gute Mensch von Sezuan? Und am Schluss, der möglicherweise gar nicht zuletzt geschrieben, sondern nur als solcher montiert wurde, Emile Zolas La Débâcle, wobei débâcle im Französischen erst seit Zola die literarische Bedeutung von Zusammenbruch angenommen hat. Auf dem Theater wird das Lesen zu einer multimedialen Praxis der Sinnlichkeit von Sehenlesen und Hören, Audio und Video im Live. Die Musik macht Christopher Uhe mit Chikara Aoshima, Réka Csiszér und Michael Mühlhaus. Rebecca Riedel sorgt für das Video zeitweise mit Live-Kamera für Stefan Puchers Inszenierung. Es lässt sich auf ganz unterschiedlichen Ebenen hören und sehen.
Stefan Pucher und sein Dramaturg Malte Ubenauf legen Wert darauf, die Aktualität von legende mit ihrer Montage herzustellen. Die Themen, die Schernikau vor dreißig Jahren anschnitt wie die Frage nach dem Kommunismus, werden auf aktuelle Diskussionen wie Mieten, Kapitalismuskritik, Pflege und Krankenhausschließungen etc. bezogen. Die Hauptfigur „janfilipp geldsack“ (Sebastian Grünewald) ist eine harte Satire auf Jan Philipp Reemtsma, der heute weit weniger als vor 30 Jahren in Presse und Boulevardmedien erscheint. Das kritische, linke Engagement des Erben aus einer Zigarettenkonzernfamilie wurde in den 80er Jahren weit stärker auch mit Häme von der Presse begleitet. Schernikau hat durchaus in diese Kerbe gehauen, wenn er in Die Tage in L. (1989) Reemtsma in eine allzu einfache marxistisch-leninistische Formel presst: „einem der reichsten männer der brd, der die gute alte tradition des sozial engagierten verursachers des elends in ungeahnte höhen führt. was heute ein kapitalist ist, das hat marx gelesen und weiß, daß er recht hat, weil er aber ein kapitalist ist, hat er seine angestellten, die brav seine geschäfte für ihn weiterführen, während er die welt erkennt“.[9]
„12 mariane komenski beschließt, in ein besetztes haus zu ziehen. ab jetzt gebe ich nur noch friedenskonzerte.“[10] Die Hausbesetzungen der 80er Jahre sind nicht ganz dasselbe wie der Mietendeckel 2019. Ubenauf und Pucher montieren hier etwas frei. Denn bei den Hausbesetzungen der Anfang der 1980er ging es um Flächensanierungen, die zu einer stärkeren Kontrolle der Wohn- und Lebenssituation führten. Die unsanierten Häuser – „BESETZT“ – sollten als Freiräume erhalten bleiben. Durch den apokalyptischen Schluss der Insel wird sie als „heilige stätte“ der Bebauung und Spekulation entzogen. Dabei ist die Insel als das Gelbe vom Ei eine Fiktion und paradox, weil sich AIDS oder kapitalistische Bodenspekulation überhaupt nicht auf diese eingrenzen ließen. In der Volksbühne tritt „mariane komenski“ auf und singt den Schlager Er gehört zu mir. Der Marianne Rosenberg-Schlager gehört heute zur Queer Culture wie Schlager und der Eurovision Song Contest überhaupt, während Schernikau die Rolle der Schlagersängerin „mariane komenski“ durchaus satirisch anlegt. Schlager gelten als sinnfrei, um – „Er gehört zu mir, wie mein Name an der Tür (…) Denn ich fühlte gleich, das er mich mag/Na ne na na na na“ – mit Gefühlen aufgeladen zu werden. Obwohl die Boxen in der Volksbühne voll ausgesteuert werden, will sich allerdings keine queere Schlager-Konzert-Euphorie wie beim Eurovision Song Contest einstellen. Womöglich müsste das Publikum ein wenig gequeert werden. – Zumal, wenn es vermeintlich wissend hüstelt, als Stino (Dieter Rita Scholl) etwas von Heirat sagt. – Hier wartet es etwas bräsig auf Botschaft Richtung Kommunismus als Abgrenzung und Unterscheidung.
Der Kommunismus ist, wie Ronald M. Schernikau diesen selbst formuliert in seinem Brief vom 5. März 1989, der im Programmheft abgedruckt wird, gebrochen. Die Adressaten, der „Parteivorstand der SEW“, also die Sozialistische Einheitspartei Westberlins und gerade nicht die SED in Ost-Berlin, dürften über einige Formulierungen zumindest verblüfft gewesen sein. Um das Problem der Existenz als Schriftsteller mit einem gesicherten Einkommen zu leben, will er quasi industrieller „Lohnarbeiter“ werden: „Auch in der DDR könnte ich natürlich vorerst nicht als freiberuflicher Autor leben; aber möglich wäre dort eben eine Lohnarbeit, die meine spezifischen Möglichkeiten überhaupt braucht.“[11] Auch die Antragsbegründung dürfte nicht ganz dem Schema der SED entsprochen haben, wenn er schreibt: „Meinen Antrag kann ich nur insofern politisch begründen, als auch in der DDR Kommunisten gebraucht werden.“[12] Waren dort nicht alle Kommunisten? Oder wurde das Gemeinsame durch Parteihierarchien und Erich Honnecker alias „herr lange vertreter der zukunft, später pleite“ (Robert Kuchenbuch) verraten? Nach der Parteidoktrin waren gewiss alle Kommunisten, weil schon Christen als Dissidenten galten. Barbara Ehnes stattet die Bühne für den letzten Abschnitt denn auch ironisch mit knabenhaften Engeln fast in der Manier des sozialistischen Realismus aus.
Die Bildüberschneidungen, Sounds und Textinterferenzen lassen sich nie auf eine Aussage festlegen. Sie faszinieren als Fetzen und rauschen revueartig vorbei. Das macht das Literarische oder eben Theatrale von legende aus. In gewisser Weise hat es Stefan Pucher bilderreich mit Videos gar nicht erst versucht, die Gesamtheit der Teile nach Büchern auf die Bühne zu bringen. Das ist gut so. Die Montage der Texte und Szenen ist nah am Roman mit seinen vielfältigen Zitaten. Rausgelassen haben Ubenauf und Pucher etwa „Richard. Gespräch mit Elmar Kraushaar“[13], in dem der einst elfjährige „Richard“ von seiner Liebesbeziehung zu seinem Arzt im Krankenhaus und darüber hinaus erzählt. Elmar Kraushaar ging es mit dem Interview aus den 80er Jahren wohl darum, die Verlogenheit bürgerlicher Liebespraktiken jenseits der heteronormativen Ehe mit Ausflügen in die Pädophilie aufzudecken. Der Text lässt sich indessen heute kaum anders als ein schwerer Missbrauch lesen. Auch nur eine ansatzweise Darstellung des Textes auf dem Theater hätte zu einem handfesten Theaterskandal geführt.
Dramaturg und Regisseur beziehen sich auf eine Würdigung von legende durch Bernd Heimberger, in der sie als „schier endlos episodische(r), beziehungsreiche(r) Bericht von einer Lebens-Lüge-Insel, die vorgab, alle Wahrheit und Freiheit der Welt gepachtet zu haben, und als selbständige politische Einheit Westberlin existieren sollte und nicht konnte“, beschrieben wird.[14] „Bericht“ wäre gerade ein schwieriger Modus für das Romanhafte und Theatrale. Zumal Helmut Peitsch die Abkehr vom „Dokumentarismus“ hervorhebt. Doch auch das wäre für den schwulen Schernikau noch ein wenig zu einfach gewesen. Denn West-Berlin war ein Sehnsuchtsort der sexuellen Befreiung in gleichzeitiger Unfreiheit durch die Mauer. West-Berlin war die Inkarnation des Paradox, das in legende eine strukturierende Wirkung entfaltet. Dieses Paradox war ständig von den zum Teil ideologischen Kämpfen der Schwulen und Lesben wie auch heute noch zu Fragen des Sternchens* in vielfältigen Interpretationsweisen untereinander durchzogen. Dafür hatte Schernikau ein feines Gespür.
„48 die schwulen machen keine stände mehr. die schwulen haben alles erledigt. die schwulen haben vielleicht kleider an oder jemand trägt ein schild: bewegen sie sich möglichst unnatürlich. die partei versucht auch, die sachen zu erledigen. Die partei hat auch ein kleines schild. Von denen, die sich schön gemacht haben, hat vielleicht einer ein schild: arme romy, und einer: armer rainer werner. Oder gera und knut haben trenchcoats an und hüte und fotografieren die teilnehmer einer genehmigten demonstration, oder helmut ruft: heteros raus aus westberlin! …“[15]
Stefan Pucher geht es offenbar weder darum, Charaktere herauszuarbeiten – die Performer*innen werden im Programmheft ohne Rollen genannt – noch eine Dramenhandlung aufzuführen. Vielmehr geht es um das kommunistische Machen oder auch was das mit einem macht. Katharsis funktioniert plötzlich oder gar nicht. Am Schluss singt auf der Bühne die hübsche, dünne „Tunte“ (Nicolaas van Diepen), wie man in den Achtzigern abwertend und ebenso mit Stolz sagte, mit den langen Haaren und dem langen schwarzen Kleid ein Lied von James Krüss, wie Ronald M. Schernikau es in einem Video angekündigt hat – dem Berichterstatter schießen plötzlich die Tränen aus den Augen. Warum weiß er nicht. Wenig später wird Irene Binz oder all die anderen Krankenschwestern oder eben Frau Schernikau aufspringen und begeistert Applaus klatschen. Die Schwulen und Lesben* operieren seit Zeiten mit der Mehrdeutigkeit und Umwertung von Begriffen und vermeintlich kulturellen Gewissheiten. Eben das berechtigt eine verdrehte Agitprop-Revue mit hoch engagierten, regelrecht queeren Performer*innen.
Torsten Flüh
legende
von Ronald M. Schernikau
in der Inszenierung von Stefan Pucher
Volksbühne Berlin
nächste Vorstellung am 20. Dezember 2019
12. und 25. Januar 2020
[1] Ronald M. Schernikau: LEGENDE. Herausgegeben von Lucas Mielke. Helen Thein und Thomas Keck. Berlin: Verbrecher Verlag, 2019, S. 907.
[2] Georg Fülberth: Uhrmacherblick und Götterblick. Ronald M. Schernikau und die DDR. In: Helmut Peitsch und Helen Thein (Hg.): Lieben, was es nicht gibt? Literatur, Pop und Politik bei Ronald M. Schernikau. Berlin: Verbrecher Verlag, 2017, S. 27.
[3] Vgl. Inhalt. In: Ronald M. Schernikau: LEGENDE … [wie Anm. 1] S. 5-7.
[4] Ebenda S. 1034 Anm. 163.
[5] Zur Praxis der Montage bei Schernikau vgl. Torsten Flüh: Tippen – Montage. In: ders.: Flugblatt – Zeitung – Blog. Materialität und Medialität als Literaturen. Wien: Passagen, 2017, S. 183-188.
[6] Helmut Peitsch: »Dass schlechte kleine Zeiten bloss Dokumente hervorbringen, keine Literatur« Ronald M. Schernikau und der Dokumentarismus. In: ders. und Helen Thein (Hg.): Lieben … [wie Anm. 2] S. 52.
[7] Ronald M. Schernikau: LEGENDE … [wie Anm. 1] S.10.
[8] Helmut Peitsch: »Dass … [wie Anm. 6] S. 65.
[9] Zitiert nach Anmerkungen. In: Ronald M. Schernikau: LEGENDE … [wie Anm. 1] S. 949.
[10] Ebenda Buch 6 | Abfahrt Friedenssängerin Mariane Komenski, S. 491.
[11] Volksbühne Berlin: legende von Ronald M. Schernikau Stefan Pucher. Berlin: Siegessäule, 2019, S. o.N.
[12] Ebenda.
[13] Ronald M. Schernikau: LEGENDE … [wie Anm. 1] S. 468-475.
[14] In: Volksbühne Berlin: legende … [wie Anm. 11], S. o. N.
[15] Ronald M. Schernikau: LEGENDE … [wie Anm. 1] S. 398.