Eine deutsche Utopie des Islam

Islam – Mission – Vernunft

Eine deutsche Utopie des Islam

Zum 100jährigen Jubiläum der „Berliner Moschee“

Hinter dem Rathaus Wilmersdorf am Fehrbelliner Platz, einem monumentalen Verwaltungsbau des kaum bekannten A. Remmelmann von 1941 verbirgt sich, wenn man in die Brienner Straße einbiegt, über die Baumkronen hinausragend die erste Moschee in Berlin und sogenannte Berliner Moschee. Fehrbellin und Brienne-le-Chateau wurden als historische Schlachtfelder Preußens in dem Platz- und Straßennamen verewigt. An der Berliner Moschee kristallisieren sich um 1924 Debatten um den Islam als fortschrittliche Religion, gar Religion der Zukunft heraus. Deutsche Christen und Juden konvertieren zum Islam akademisch ausgebildeter Inder aus Lahore, heute Pakistan. Die unter der britischen Kolonialmacht westlich ausgebildeten Akademiker finanzieren in der deutschen Hauptstadt durch ihre Bewegung أحمديه أنجمن اشاعت اسلام لاهور  Ahmadiyya Andschuman Isha’at-i-Islam Lahore (AAIIL) die Mission in Europa.

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Die einzigartigen Debatten um den Islam in Deutschland und Europa ab 1924 werden vor allem durch zwei Publizisten zunächst durch Hugo Marcus (1880-1966) in der Moslemischen Revue als eine Art Vereinsblatt und etwas später durch Leopold Weiss (1900-1992) als Muhammad Asad mit modern-salafistischen Schriften wie Islam at the Crossroads (1934) und The Principles of State and Government in Islam (1961) geführt. Während Muhammad Asad seit dem 22. November 2013 am Haus Hannoversche Straße 1 Ecke Chausseestraße mit einer Berliner Gedenktafel als „Wegbereiter für einen Dialog zwischen den Kulturen“ und als einer der „bedeutendsten muslimischen Autoren seiner Zeit“ geehrt wird, ist Hugo Marcus fast vergessen und wird vom amtierenden Imam im Vortrag zur Geschichte des Moschee nicht erwähnt.

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Hugo Marcus gehörte zu den Gründungsmitgliedern der ersten deutsch-islamischen Gemeinde, wurde deren Geschäftsführer und veröffentliche zwischen 1924 und 1936 regelmäßig in der Moslemischen Revue zu Fragen des Islams. 2019 hat Abraham Rubin im Jewish Quarterly Review seinen konversionskritischen Aufsatz Hugo Hamid Marcus (1880-1966) The Muslim Convert as German Jew veröffentlicht, der die bislang umfangreichste Würdigung darstellt. Rubin untersucht insbesondere die Frage, wie Marcus als deutscher Jude zum Islam konvertieren konnte. Er kommt zu dem Schluss:
„Marcus’s writings seek to Germanize Islam by demonstrating its correspondences with the thought of eighteenth-century German luminaries such as Kant, Lessing, and Goethe. This particular conception of Germanness, associated with a cosmopolitan philosophical tradition, follows a specifically Jewish pattern of identification with German culture. According to historians George Mosse and David Sorkin, the timing of Jewish emancipation shaped the course of acculturation into German culture.‟[1]

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Hugo Marcus wie der zwanzig Jahre jüngere Leopold Weiss finden sich um 1924 in Berlin in einer nicht nur wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Krise der Debatten um Bildung, Religion als Lebenspraxis, Demokratie, Sexualstrafrecht und Moral wieder. In der Berliner Topografie zwischen Studentenbude in der Hannoverschen Straße in der Nähe zur Humboldt Universität, damals Berliner Universität, Sexualwissenschaftlichem Institut von Magnus Hirschfeld im Tiergarten, dem Wissenschaftlich-humanitärem Komitee in Charlottenburg und der Wilmersdorfer Moschee in der Brienner Straße sowie der Moslemischen Revue mit Sitz in der Giesebrechtstraße am Ku’damm schlägt sich ein Netz der Debatten um den Islam aus, das sich nicht einfach als ein liberaler Islam in einer ebenso schwierigen wie hoffnungsvollen Zeit abtun lässt. Vielmehr kursieren in dieser grob umrissenen Topografie Formulierungen, Gespräche, Sehnsüchte, Gedichte, Literaturen, in denen zuvor praktisch undenkbare Narrative von Deutschland und dem Islam für eine kurze Zeit zusammengeführt und zunächst mehr oder weniger lose verknüpft werden.

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Imam Amir Aziz sagt auf Nachfrage bei einem Moscheebesuch im Mai 2024, dass Homosexualität und Islam gar nicht gingen. Allerdings signalisierte er lebenspraktisch-seelsorgerisches Verständnis. Wie konnte sich Hugo Marcus, der sich nach ersten Veröffentlichungen bald Hamid nannte, als nach der Propaganda und den Gesetzen des nationalsozialistischen Regimes, wie den Nürnberger Rassegesetzen (1935) Jude bis 1936 scheinbar unangefochten als Geschäftsführer des Moschee-Vereins halten? Die Gleichwertigkeit der drei monotheistischen Religionen, wie sie im 18. Jahrhundert von Gotthold Ephraim Lessing mit der Ringparabel in Nathan der Weise formuliert worden war, hatten die Nationalsozialisten längst in eine biologistische Rassenideologie verdreht. Unmittelbar nach der Machtergreifung Ende Januar 1933 setzten die Nationalsozialisten mit dem euphemistisch genannten Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums am 7. April ihre Rassenideologie gegen Juden im Staatsdienst durch. Jüdische Notare, Staatsanwälte, Richter etc. wurden von einem auf den anderen Tag arbeitslos. Als Juristen hatten sie so gut wie keine Aussicht auf ein Asyl in anderen Ländern.

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In der Moslemischen Revue lässt sich seit der ersten Ausgabe vom April 1924 der von Sadr-ud-Din als erster Imam und Missionar in Berlin initiierte Islambegriff beobachten. Als Zeuge für die Konversion zum Islam wird „Sir Archibald Hamilton“ mit seinem Artikel vom 13. Januar 1924 in der in London erschienenen Zeitung The People zitiert. Bei Hamilton handelt es sich um den aus altem britischem Adel entstammenden Sir Charles Edward Archibald Watkin Hamilton, 5. Baronet of Trebishun, Breconshire und 3. Baronet of Marlborough House, Hampshire (10. Dezember 1876 – 18. März 1939), der am 20. Dezember 1923 zum Islam übergetreten war und sich fortan Sir Abdullah Hamilton nannte. Damit hatte die Ahmadiyyah Missionsbewegung aus Lahore durch Sadr-ud-Din als Imam seit 1922 an ihrer Shah-Jahan-Moschee in Woking südwestlich von London ein namhaftes Mitglied der Church of England zur Konversion aus moralischen und intellektuellen Gründen bewegen können.
„Seit ich das Alter des Verstandes erreicht habe, hat mich die Schönheit und die einfache Reinheit des Islams stets begeistert. Ich konnte nie, obwohl ich als Christ geboren und erzogen war, an die dogmatischen Bestimmungen der Kirche glauben und setzte stets Vernunft und Verstand an die Stelle blinden Glaubens.
Bei fortschreitenden Jahren wünschte ich, mit meinem Schöpfer zum Frieden zu kommen, und ich fand, daß weder die römische noch die englische Kirche für mich von wirklichem Nutzen war.“[2]

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Maulvi Sadr-ud-Din knüpft mit dem Zitat des prominenten Zeugen aus London nicht nur an seinen Missionsdiskurs eines Islam des Verstandes und der Vernunft an, vielmehr setzt er bzw. ein Helfer bei der Übersetzung mit den Begriffen Verstand und Vernunft vom englischen reason zugleich den Tenor für die Verknüpfung mit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts in Deutschland und den Dichtern Goethe und Lessing. Der Islam des Missionars Sadr-ud-Din ist vernünftig und in der Krise zu Beginn des 20. Jahrhundert für die Diskurse der Moderne anschlussfähig. Was heute häufig am fundamentalistischen Islam aus Teheran oder Mekka kritisiert wird, dass die arabische Welt des Islam keine Aufklärung erlebt habe, wird von Sadr-ud-Din in London erprobt und anschließend auf Berlin übertragen. Die islamische Mission aus Lahore geschieht insofern unter genau jenen Vorzeichen, die gemeinhin heute als Manko des Islam kritisiert werden und bis zur Islamophobie reichen. Die Superorität Europas gegenüber Indien und dem Orient wird von niemand geringerem als einem Adeligen der Kolonialmacht eingeräumt und zugunsten des Islam verworfen:
„Daß ich Moslem geworden bin, verdanke ich vornehmlich den Regungen meines Gewissens und ich fühle mich seitdem als ein besserer und aufrichtigerer Mensch.“[3]   

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Wenige Seiten später übernimmt das Gründungsmitglied Dr. Khalid Banning in seinem Text Die Rettung formelhaft die Argumentation von Verstand, nun als „Menschenverstand“ und Vernunft die Definition des Islams und fügt ihr hinzu, dass er „wirklich demokratisch (keine Scheindemokratie), antikapitalistisch ohne Klassen-, Rassen- und sonstige Unterschiede“ sei.[4] Für Banning kommt in Abgrenzung zum Christentum in der Verstand-Argumentation hinzu, dass der Islam eine „höhere Moral“ repräsentiere „ohne (…) ethisch anstößige und unmännliche Momente“ des Christentums.[5] Damit wird dem Islam ein Konzept der Männlichkeit zugeschrieben, das ihn vom Christentum unterscheide. Verstand und Männlichkeit werden nicht zuletzt in der ersten Ausgabe mit dem eröffnenden Foto von Mohammed Taufiq Killenger, Maulvi Sadr-ud-Din und Dr. Khalid Banning mit der Unterschrift: „Der Osten und der Westen im Islam vereinigt“ in Szene gesetzt. Die drei Gründer tragen westliche Anzüge und Krawatten bis auf den indischen Turban Sadr-ud-Dins und sind mit den Armen ineinander verschränkt. Killenger und Banning treten später nicht mehr in der Moslemischen Revue in Erscheinung.

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Im Umfeld der Zeitschriftengründung erscheint 1924 Maulvi Sadr-ud-Dins kleine Schrift von kaum 60 Seiten im Eigenverlag mit der wenigstens bürgerlichen Kontaktadresse Berlin-Charlottenburg Giesebrechtstraße 5III Der islamische Mensch. Die Moslemische Revue unter gleicher Adresse und Der islamische Mensch finden Eingang in die Bibliothek der Berliner Universität, wo sie noch heute im Jakob und Wilhelm Grimm-Zentrum mit deren Siegel zu finden sind. Das heißt zumindest, dass diese frühen Schriften, noch bevor die Moschee im Frühjahr 1925 fertiggestellt und eingeweiht wird, an der Berliner Universität, heute Humboldt Universität zu Berlin, archiviert und wahrgenommen werden. Die kleine Schrift war als Vortrag an der Schule der Weisheit in Darmstadt gehalten worden. Die von Hermann Graf Keyserling und dem Verleger Otto Reichl 1920 gegründete „Lebensschule“ hatte insofern Sadr-ud-Din den honorablen Rahmen für einen ersten Vortrag in Deutschland bereitet, der auf dem Rückumschlag der Moslemischen Revue wiederholt bis in die 30er Jahre für „M. 0.50“ angepriesen wurde.

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Der Vortrag in der Schule der Weisheit findet an einer Scharnierstelle der zeitgenössischen Orient- und Okzident-Debatte statt. Denn Graf Hermann Keyserling hatte 1922 den mehr als 500 Seiten umfassenden Band Schöpferische Erkenntnis mit der „Einführung in die Schule der Weisheit“ mit einem Vortrag veröffentlicht, den er am 15. Januar 1920 in der Kantgesellschaft in Berlin gehalten hatte, die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs hohe Zuwächse auf über 1.500 Mitglieder verzeichnen konnte: „Morgenländisches und abendländisches Denken als Wege zum Sinn“. Der Vortrag beginnt mit der bemerkenswerten Formulierung, dass „wer viele Sprachen beherrsche“, wisse, „dass es eigentlich keine übersetzbaren Gedanken“ gebe.[6] Dennoch verkoppelt Keyserling das abendländisch rationale Denken als „wissenschaftlicher Verstand“ mit dem östlichen als „metaphysisches Wissen“ (S. 23). Mit anderen Worten: Die Schule der Weisheit in Darmstadt befindet sich an einer Schnittstelle des zeitgenössischen Gedankenaustausches zwischen Kant, Nietzsche, Lebensreform und Morgenland. Die Einladung Sadr-ud-Dins passte insofern in ihr Konzept. Mit einem Wink auf Friedrich Nietzsche wird der Vortrag unter der Überschrift „Der Islam, die Religion der Tat“ eröffnet.[7] Auf den Tatbegriff wird zurückzukommen sein.

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Die Lebensreformbewegung des beginnenden 20. Jahrhunderts rückt mit dem Vortrag an der Schule der Weisheit in Darmstadt, noch bevor er in Berlin verbreitet werden konnte, ins Interesse der islamischen Mission und umgekehrt. Bildung und Lebensreform bieten Anknüpfungspunkte für eine Übersetzung des Koran ins Deutsche und die Bildung einer Gemeinde für die Berliner Moschee. Wie weit Maulvi Sadr-ud-Din zu diesem Zeitpunkt der deutschen Sprache mächtig war oder ihm bereits Hugo Marcus als Mitübersetzer zur Verfügung stand, lässt sich nicht verifizieren. Indessen unterrichtete Marcus nach dem Ersten Weltkrieg, als seine Familie ihr Vermögen und die Unternehmen in Posen verloren hatten, er an der Berliner Universität bei Georg Simmel, Friedrich Paulsen und Max Dessoir studiert hatte, „jungen Muslimen, die vor allem aus Indien nach Europa kamen“, Deutsch. In der von Manfred Backhausen erstellten, umfangreichen Chronik Die Lahore-Ahmadiyya-Bewegung in Europa wird Hugo Marcus als Mitübersetzer der Koranübersetzung Sadr-ud-Dins von 1939 genannt.[8] Insofern liegt es nahe, dass ebenso ein Muttersprachler bei der Abfassung des Vortrages insbesondere hinsichtlich der anspielungsreichen Lexik wie „Religion der Tat“ oder auch „Der Islam und das Rassenproblem“ mitgearbeitet hat. 1924 führt das bereits zur Formulierung:
„Westeuropäischer Imperialismus und islamische Toleranz.
(…) Worum es dabei geht, das ist der Versuch, die Ostvölker in ewiger Sklaverei zu halten mit dem Endziel, sie bis aufs Blut auszusaugen.“[9] (S. 23)

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Die Lexik, die in Der islamische Mensch verwendet wird, gibt mit „(w)esteuropäischer Imperialismus“ und wie bereits bei Khalid Banning mit „wirklich demokratisch (…), antikapitalistisch“ so auch mit „Die islamische Regierung: Das demokratische Prinzip im Staatsleben und in den Religionseinrichtungen“ einen Wink auf ein zumindest linksliberales Milieu, in dem der „Islam“ bzw. der Koran übersetzt wird. Zugleich wird sie mit der Demokratie-Debatte der Weimarer Republik verkoppelt. Der islamische Mensch situiert sich im Vortrag zwischen Modernität, „Religion der Tat“, „panislamischer Solidarität“, Demokratie, Antikapitalismus und „allzu freien und unstatthaften Verkehr zwischen Männern und Frauen“[10] vor dem Hintergrund nicht ehelich geborener Kinder zu großer Zahl in Deutschland und dessen Großstädten, was zugleich von Magnus Hirschfeld in der Sexualstrafrechtsreform mit dem § 218 StGB thematisiert worden war. Der Begriff Homosexualität oder Liebe unter Männern kommt nicht vor. Vor allem aber geht es Sadr-ud-Din mit einem Beispiel zu indischen Bildungs- und Aufstiegschancen, um eine Beseitigung der imperialen Vorherrschaft.
„Ein englischer junger Examensabsolvent aus Cambridge oder Oxford wird erster Professor an einer indischen Universität und wird dann immer über die alten, erfahrenen und gelehrten indischen Professoren gestellt, zu deren Demütigung.“[11]

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Die Eröffnung der Berliner Moschee findet aus einem weit verzweigten Netz nicht nur der indischen Mission, vielmehr noch der deutschen Debatten zwischen der Berliner Universität und der Schule der Weisheit in Darmstadt statt. Die deutsche Suche nach einer Reform der Lebensweisen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Untergang des Kaiserreichs, dem Untergang einer Weltordnung, trifft ganz und gar nicht zufällig auf den Wunsch nach der Verbreitung des Islams. Unter diesem Aspekt einer Diskursverknüpfung durch die Moslemische Revue ist die Arbeit an der Berliner Moschee bislang nicht betrachtet worden. Hugo Marcus wird zum wichtigsten Beiträger dieser Verknüpfung, während Leopold Weiss sich nicht in der Moslemischen Revue artikuliert, aber 1926 in der Berliner Moschee konvertierte und sich fortan Muhammad Asad nannte. Doch wie geschah die Konversion? Erst 1929 im Januarheft wird die Frage „Wie wird man Moslem“ von der Redaktion geradezu minimalistisch beantwortet.
„Um Moslem zu werden, ist keinerlei Zeremonie erforderlich. Der Islam ist nicht nur eine rationale, weit verbreitete und praktisch nützliche Religion, sondern er steht auch in vollem Einklang mit den natürlichen, menschlichen Anlagen. Jedes Kind wird mit diesen Anlagen geboren. Daher bedarf es bei niemandem einer Umwandlung, um Moslem zu werden. Man kann Moslem sein, ohne es irgend jemandem zu sagen. Es ist nur eine reine Formsache für die Organisation, sich zum Islam zu bekennen. Der Grundsatz des islamischen Glaubens ist: „Es gibt keinen Gott ausser Gott, und Muhammad ist Sein Gesandter“.“[12]

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In der Moslemischen Revue veröffentlicht Hugo Marcus bis in die 30er Jahre seine Artikel zur deutsch-islamischen Interkulturalität. Das zweite Heft der Zeitschrift wird im Juli 1924 programmatisch mit Mahomets Gesang von Johann Wolfgang Goethe eröffnet und mit einem redaktionellen Beitrag, Goethe über die Moslems, versehen. Hugo Marcus‘ Beitrag Das Wesen der Religion im gleichen Heft gipfelt in der Schlussformulierung, dass „wenn man die Religion als Spitze des praktischen Verhaltens“ ansehe, „der Kult (…) von neuem wichtig, wichtiger noch als das Weltanschauliche“ werde. Er stelle „die religiöse Stimmung praktisch in uns her unabhängig von aller Erkenntnis“. Die Religion sei „Tat des Ich am Ich“.“[13] Einerseits wird für das „Ich“ populärwissenschaftlich die Psychoanalyse in Anschlag gebracht. Andererseits nimmt Marcus in seiner Formulierung mit der „Tat“ seinen Beitrag Nietzsche und der Islam vorweg, der in der Aprilausgabe 1926 erscheinen sollte.
„Goethe und Nietzsche, die beiden überragenden deutschen Geister, haben gleicherweise nach dem Orient geblickt, Goethe im „Westöstlichen Divan“, Nietzsche im „Zaratustra“. So unterschiedlich nun die Grundstimmung ist, die im „Westöstlichen Divan“ und im „Zaratustra“ lebt, so unterschiedlich war die Auffassung dieser beiden allerwichtigsten Deutschen vom Orient.“[14]

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Obwohl Hugo Marcus nicht näher auf Nietzsches „Buch für Alle und Keinen“ Also sprach Zarathustra von 1883 eingeht, bestimmen der Lebens- und der Tatdiskurs zum Islam seine Verknüpfungspraktiken. Das reicht von Das Leben ist des Lebens Sinn (Januar 1925) über Christus, Tolstoi und Marx (Oktober 1924) im Kontrast zu Mohammeds Gestalt im gleichen Heft bis zu Die Religion und der Mensch der Zukunft (Januar 1931) nun von „Hamid Marcus“. Der Islam wird so zu einer religiös grundierten Lebenspraxis für die Zukunft ganz im Sinne der Rede Zarathustras:
„Aber ein Anderes ist der Gedanke, ein Anderes
die That, ein Anderes das Bild der That. Das Rad
des Grundes rollt nicht zwischen ihnen.

Ein Bild machte diesen bleichen Menschen bleich.
Gleichwüchsig war er seiner That, als er sie that:
aber ihr Bild ertrug er nicht, als sie gethan war.

Immer sah er sich nun als Einer That Thäter.
Wahnsinn heisse ich diess: die Ausnahme verkehrte
sich ihm zum Wesen.

Der Strich bannt die Henne; der Streich, den
er führte, bannte seine arme Vernunft — den Wahn¬
sinn nach der That heisse ich diess.

Hört, ihr Richter! Einen anderen Wahnsinn giebt
es noch: und der ist vor der That. Ach, ihr krocht
mir nicht tief genug in diese Seele!“[15]

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Anlässlich des 200. Geburtstages von Gotthold Ephraim Lessing hält Hugo Hamid Marcus im Missionshaus der Wilmersdorfer Moschee am 22. Januar 1929 einen Vortrag, der keinen Eingang in die Moslemische Revue findet, aber in seinem Nachlass erhalten ist.[16] Die Gleichwertigkeit der drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam wird von Lessing parabelartig mit den Verwandtschaftsverhältnissen in Nathan der Weise durchgespielt.[17] Alle sind untereinander verwandt. Dass die drei Ringe der Ringparabel, dann noch einmal die Gleichwertigkeit der Religionen bestätigt, ist nur eine weitere Spiegelung. Warum erschien der prominente Vortrag zu Lessing, der immerhin im Baseler Nachlass nachgewiesen werden konnte, nicht in der Moslemischen Revue? Nach Abraham Rubin verhandelt Marcus in seinem Jubiläumsvortrag zu Lessing die Frage der Intoleranz in Bezug auf Religion, Rasse und Klasse hinsichtlich des Einkommens. Während die religiöse und rassistische Intoleranz die Minderwertigkeit der Minderheit zur Richtschnur mache, werde in sozio-ökonomischer Sicht die Geschäftstüchtigkeit und der wirtschaftliche Erfolg zum Argument der Intoleranz.

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Wichtiger als Lessing und Goethe im Bildungskontext ist für Hugo Marcus Friedrich Nietzsche, mit dem vor allem die Religion als Lebens- und Selbstpraxis beschrieben wird. Fast zeitgleich formuliert er in der Moslemischen Revue 1924 mit Mohammeds Gestalt und in Kurt Hillers, heute würde man sagen queer-politischem Ziel-Jahrbuch 5, Geistige Politik von 1924 mit Die Entlarvung der Tiefe ein „Selbstgefühl“[18] und „natürliche() und unveräusserliche() Menschenrechte(), zu denen er (Mohammed, T.F.) auch den Liebesanspruch zählt“.[19] Was nicht ausformuliert wird mit dem „Liebesanspruch“, lässt sich doch in der Formulierung lesen: „Denn seine Weisheit ist immer auf das gemeinhin Erreichbare gerichtet und realistisch, ungeachtet sie auf einem idealen Hintergrund ruht.“[20] Mohammed wird so zum Pragmatiker anstelle dogmatischer Rechtsgelehrter. Der Islam, wie ihn Marcus formuliert, während er bereits an der Koran-Übersetzung beteiligt ist, steht nicht im Widerspruch zum Selbstgefühl des Ziel-Jahrbuchs.
„Wenn Hungerstillung, das ist individuelle Erhaltung des Selbst, und Liebe, das ist überindividuelle Erhaltung des Selbst, gesichert sind, dann setzt im Seelenleben die stärkste Triebfeder alles Geschehens ein: die Steigerung des Selbst und der Genuß am gesteigerten Selbst: das sogenannte Selbstgefühl.“[21]

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In der Aprilausgabe 1933 erscheint anscheinend der letzte mit „Hamid Marcus“ gezeichnete Beitrag, Der geistige Gehalt der Ramadanzeit, der wiederum in der Tatlogik formuliert wird. „Wenn Gott uns ein Tun befiehlt, so entstrahlt diesem Tun nicht ein Zweck, nein, es entstrahlt ihm gleich ein ganzes Bündel von Zweckmäßigkeiten und Segenswirkungen.“[22] Die Fokussierung auf das Tun und die Tat durch Maulvi Sadr-ud-Din muss im Kontext der Unabhängigkeitsbewegung in Indien bzw. auf dem indischen multiethnischen, vielsprachigen und multireligiösen Subkontinent gesehen werden. Die historische Hauptstadt des Punjab, Lahore, im Nordwesten Indiens wird 1956 der Islamischen Republik Pakistan zugeschlagen. An der Ausarbeitung der islamischen Verfassung war eben jener Mohammad Asad beteiligt, der dreißig Jahre zuvor in der Berliner Moschee zum Moslem geworden war. Stefan Weidner hat vor allem auf dessen für den modernen Salafismus prototypisches Buch Islam at the Crossroads von 1934 hingewiesen. Durch diese Schrift werde der Islam zu einer „geschlossenen Weltanschauung“ ohne die er nicht hätte „mitspielen können beim großen Spiel der Anschauungen und neuen Weltordnungen“.[23]

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Islam at the Crossroads wird in Delhi im März 1934 ein autobiographisches Vorwort vorangestellt, das den Islam als Lösungsangebot in einer Zeit zahlreicher Probleme ankündigt, die unerwartete Lösung und neue Sichtweisen (angle of vision) erforderten.[24] Am Ende des Vorworts formuliert Mohammad Asad eine ideologische Kampfansage gegen den Westen, die nicht aktueller nachhallen könnte. Das Koranstudium hat nicht etwa zu einem Austausch der Religionen und Kulturen untereinander geführt, vielmehr wird im März 1934, zehn Jahre nach Gründung der an Austausch interessierten Moschee, ein Kulturkampf formuliert:
„This little book (…) does not pretend tob e a dispassionate survey of affairs; it ist he statement of a case, as I see ist: The case of Islam versus Western civilisation. (Hervorhebung durch kursiv im Original) And it is not written for those with whom the Islam is only one of the many, more or less useful accessories of social life, but rather for those in whose hearts still lives a spark of the flame which burned in the Companions of the Prophet – the flame that once made Islam great as a social order and a cultural achievement.”[25]

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Die Ideologisierung der Religion Islam wird im Umfeld der indischen Unabhängigkeitsbewegung zur entscheidenden Strategie. Die Lebenspraxis muss vollkommen auf den Islam ausgerichtet werden. Wo in der Moslemischen Revue im 3. Heft 1924 noch wohlwollende Zitate über den Islam von Mahatma Ghandi abgedruckt wurden, ist 1934 kein Platz mehr für den Islam als „more or less usefull accessories of social life“. Die Debatten um den Islam trafen und verzweigten sich an der Berliner Moschee in den 20er und 30er Jahren. Danach war nichts mehr wie zuvor. Für den September 2024 ist zur Wilmersdorfer Moschee im Museum Charlottenburg-Wilmersdorf in der Villa Oppenheim eine Ausstellung vorgesehen. — Und dann gibt es noch die Erzählung eines Freundes über eine Begegnung an der Moschee vom Mai 2024:
„Eine Frau kommt hinter dem Vorhang vor und begrüßt mich freundlich. Ein einzelner Beter kommt und ich traue mich nicht, mehr Fotos zu machen.
Stattdessen will ich die Informationstafel lesen, als mir drei orthodoxe Juden entgegen kommen. Shabbat Shalom. Alle drei sind etwas verwundert, dass ich so auf sie zugehe und bleiben fragend stehen. Ich frage sie, woher sie kommen und was ich für sie tun könne. Sie sind etwas verlegen, aber auch freudig überrascht dann. Sie sind aus Kiew, Ternopil und irgendwonoch.
Als der Imam kommt, sprechen wir zu fünft und sie wollen wissen, ab wann morgens der Muezzin ruft. Als ich ein Foto von ihnen allen machen möchte, verweisen sie auf den Shabbat. Keine Fotos, erst morgen wieder! Das eine Foto lösche ich nicht und denke, der Liebe Gott wird mich wegen meiner Neugier vielleicht verstehen.
Ich rede vom House of One Berlin, was der Imam kennt, die anderen aber nicht. Sie erzählen von ihrer Flucht aus der Ukraine. Ich habe leider eine Verabredung in der Dänischen Gemeinde und breche die Unterhaltung ab. Aber das Zusammentreffen geht mir doch nicht aus dem Kopf. Gott sei Dank.“[26]

Torsten Flüh

Museum Charlottenburg-Wilmersdorf in der Villa Oppenheim


[1] Abraham Rubin: Hugo Hamid Marcus (1880–1966): The Muslim Convert as German Jew. In: THE JEWISH QUARTERLY R EVIEW, Vol. 109, No. 4 (Fall 2019) 598–630, S. 606.
Zur Konversion: Siehe auch: Torsten Flüh: Vom Umkehren, Bekennen und Schmuggeln. Zur aktuellen Reihe Konversionen der Mosse-Lectures. In: NIGHT OUT @ BERLIN 21. Juni 2015.

[2] Sir Archibald Hamilton: Warum wurde ich Moslem? In: Moslemische Revue Herausgeber Maulvi Sadr-ud-Din 1. Jahrgang April 1924 Heft 1, Berlin, 1924, S. 25.

[3] Ebenda.

[4] Khalid Banning: Die Rettung. In: ebenda S. 31.

[5] Ebenda.

[6] Graf Hermann Keserling: Schöpferische Erkenntnis. Darmstadt: Otto Reichl, 1922, S. 3. (Archive.org) Siehe auch: Margit Ruffing: Geschichte und Gegenwart der Kant-Gesellschaft e.V. 2014 (PDF)

[7] Maulvi Sadr-ud-Din: Der islamische Mensch. (Eigenverlag) Berlin, 1924, 3.

[8]  „Einer dieser Mitarbeiter war Dr. Hamid Markus, der in der Danksagung aus politischen Gründen zwar nicht mehr genannt wird, der aber, wie mir Maulana Sadr-ud-Din selbst bestätigt hat, an der sprachlichen Gestaltung des deutschen Texts und des Kommentars maßgeblich beteiligt war …“ In: Manfred Backhausen: Die Lahore-Ahmadiyya-Bewegung in Europa. (ohne Ort, ohne Jahr – 2006) S. 77-78. (PDF)
Siehe auch: Wolfram Setz: Einleitung. In: Hugo Marcus: Einer sucht den Freund und andere Texte. Ein Lesebuch zusammengestellt von Wolfram Setz. Hamburg: Männerschwarm Verlag, 2022, S. 42.

[9] Maulvi Sadr-ud-Din: Der … [wie Anm. 6] S. 23.

[10] Ebenda S. 37

[11] Ebenda S. 27.

[12] Die Redaktion: Was ist der Islam. In: Maulvi Sadr-ud-Din und Professor S. M. Abdullah (Hg.): Moslemische Revue: Fünfter Jahrgang 1929. Berlin 1929, S. 190-191.

[13] Hugo Marcus: Das Wesen der Religion. In: Moslemische Revue Herausgegeben von Maulvi Sadr-ud-Din 1. Jahrgang Juli 1924. Berlin 1924, S. 84.

[14] Hugo Marcus: Nietzsche und der Islam. In: Moslemische Revue Herausgegeben von Maulvi Sadr-ud-Din und Maulvi F. K. Khan Durrani Dritter Jahrgang 1926 Heft 2 April 1926. Berlin 1926, S. 79.

[15] Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. Band 1. Chemnitz: Schmeitzner, 1883, S. 49. (Deutsches Text Archiv)

[16] Abraham Rubin: Hugo … [wie Anm. 1] S. 604.

[17] Siehe: Torsten Flüh: Genealogische Operationen mit Witz. Nathan In The Box von und mit Bridge Markland wird bei der Premiere gefeiert. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. November 2021.

[18] Hugo Marcus: Die Entlarvung der Tiefe. In: Kurt Hiller (Hg.): Geistige Politik! (Ziel-Jahrbuch 5, 1924) S. 92. Zitiert nach: Hugo Marcus: Einer … [wie Anm. 8] S. 35.

[19] Hugo Marcus: Mohammeds Gestalt. In: Moslemische Revue 1926. Zitiert nach ebenda S. 437.

[20] Ebenda.

[21] Hugo Marcus: Die … [wie Anm. 18]. S. 35.

[22]1937 findet unter dem Nachruf Hudah Johanna Schneider gestorben noch das Kürzel M. H..
Hamid Marcus: Der geistige Gehalt der Ramadanzeit. In: Maulana Sadr-ud-Din, Dr. phil. S. M. Abdullah: Moslemische Revue. 9. Jahrgang, April 1933, Heft 1 und 2. Berlin,1933, 12.

[23] Stefan Weidner: Hin und weg. Warum bekennen sie Europäer zum Islam? Das Beispiel Leopold Weiss alias Muhammad Asad. In: Ulrike Vedder, Elisabeth Wagner (Hg.): Konversionen. Erzählungen der Umkehr und des Wandels. Mosse-Lectures an der Humboldt-Universität zu Berlin. Berlin: Vorwerk 8, 2017, 130.

[24] Muhammad Asad: Islam at the crossroads. Sixth (revised) edition. Punjab: Arafat Publications Dalhousie, 1947, S. 1. (Archive.org)

[25] Ebenda S. 6.

[26] Veröffentlicht auf Facebook am 11. Mai 2024 von KD L. Ehmke.

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