Geschichte – Chronologie – Maschine
Die Geschichte mit dem Dreh
Zur aufsehenerregenden Ausstellung Die Chronologiemaschine im Kulturwerk der Staatsbibliothek zu Berlin
Im Kulturwerk des Hauses Unter den Linden 8 der Staatsbibliothek zu Berlin werden neuerdings deren Schätze aus ihrem sonst schwer zugänglichen Bestand gezeigt. Astrit Schmidt-Burkhardt stellt mit Die Chronologiemaschine einen ebenso aufsehenerregenden wie wirkmächtigen Schatz und sein Umfeld vor. Im 18. Jahrhundert wurde er zwischen Wissenschaft und Zeitvertreib so prominent, dass Denis Diderot der „Chronologique (machine.)“ im 3. Band der Erstausgabe der Encyclopédie 1753 eine ausführliche Beschreibung widmete. Der Originaleintrag im Band ist in der Ausstellung aus dem Bestand der Staatsbibliothek aufgeschlagen. In dessen letzten Absatz wird der Name ihres „auteur“ mit „M. Barbeu du Bourg, docteur en Medecine, & professeur de Pharmacie dans l’université de Paris“ verraten.
Jacques Barbeu-Dubourg hat seine Maschine für den praktischen Gebrauch konstruiert. Sie lässt sich bequem transportieren, gar unter den Arm nehmen, aufklappen und dann mit zwei Kurbeln nach links oder rechts drehen. Durch das Aufklappen entsteht eine Art Rahmen, in dem sich die Weltgeschichte nach dem europäischen Wissensstand des 18. Jahrhunderts vor- oder zurückspulen lässt. Durch die praktische Verwendung, die an das Wischen mit dem Finger auf dem Smartphone erinnert, litten die aus Papier angefertigten Maschinen allerdings so sehr, das aktuell nur noch ein restaurierungsbedürftiges Originalexemplar in der Bibliothek der Princeton University bekannt ist. Die Ausstellungsbesucher*innen müssen dennoch nicht auf die Chronologiemaschine verzichten. Die Kuratorin hat eine nach dem Original anfertigen lassen, die man sofort ausprobieren wollte, wäre sie nicht in einer Vitrine eingeschlossen.
Mit der Chronologiemaschine von Barbeu-Dubourg lassen sich eine ganze Reihe von Verwendungen bedenken. Sie lädt ein zu Zeitreisen durch die Geschichte. Sie gibt den Anwender*innen das Gefühl, mit den Kurbeln gleich Gott die Geschichte in der Hand zu haben. Und sie unterscheidet sich als Carte chronographique, wie Barbeu-Dubourg sie selbst nannte, grundsätzlich von einem Buch, in dem sich nur blättern und lesen lässt. Schmidt-Burkhardt sieht in der Maschine gar das Medium Film angelegt. Sie spricht von „Visual History“ angesichts ihres Schatzes, den sie zufällig fand und der in einem eher begrenzten Kreis internationaler Fachleute diskutiert wird. „Visualisierte Vergangenheit, (…), überführt Geschichtsschreibung in Geschichtsbilder.“[1] Die Handlichkeit der Maschine, die den Blick auf die Geschichte dreht, verändert alles. Zugleich verspricht sie nach dem amtlichen Titel für die Pariser Zensurbehörde vom 28. Mai 1753 einen chronographischen und universellen Zugriff auf die Geschichte: Chronographie universelle & details qui en dépendent pour la Chronologie & les Génealogies.[2] (Universelle Chronographie & abhängige Details für die Chronologie & die Genealogien.)
Gleich einem medienhistorischen Scharnier treffen in der Chronologiemaschine unterschiedliche Geschichtsformate des 18. Jahrhunderts aufeinander. Für die Zensurbehörde des Königs von Frankreich sind die Genealogien eine Legitimation seiner bereits durch die Aufklärung schwankenden Herrschaft. Die in der Encyclopédie umfangreich diskutierte Wissensform der Chronologie, der uhrwerkgleichen, aber linearen Abfolge von Zeitpunkten, setzt unterdessen bereits an dem Narrativ der dynastischen Genealogie als Abfolge von Geburten in einer Herrscherfamilie an. Die Genealogien (les Génealogies) sind im Titel für den königlichen Zensor wichtig. Tatsächlich hat das Denken der Genealogie insbesondere im europäischen Adel bis heute überlebt. Im Deutschen bilden sie Geschlechter, ohne dass sie in der Gender Debatte größere Aufmerksamkeit genössen.
Wie wird die Chronologie in der Encyclopédie formuliert? Das Uhrwerk als Maschinenmodell der Aufklärung par excellence wird zunächst nicht erwähnt. Vielmehr wird eröffnend Isaac Newtons Philosophiae Naturalis Principia Mathematica (1687) von d’Alambert und Diderot zitiert: „In tempore, (…), quoad ordinem successionis, in spatio quoad ordinem situs locantur universa.“[3] In der Zeit sind in Bezug auf die Reihenfolge der Abfolge, im Raum in Bezug auf die Reihenfolge der Orte, alle Dinge lokalisiert. Das physikalische Zeitmodell, das sich von der uhrwerkgleichen Astronomie in ihrem Modus der Wiederholung unterscheidet, bahnt im 18. Jahrhundert mit der Chronologie ein neuartiges Denken der Zeit. Ließe sich die Reihenfolge der Zeitpunkte genau aneinanderreihen, dann hätte man sie mit einem Blick erfasst. Gegenüber den genealogisch angelegten Zeiten der Bibel seit Adam und Eva, in denen sich immer wieder durch unterschiedliche Autoren Verwandtschaftsverhältnisse überschneiden oder unklar bleiben, entsteht mit der Chronologie im 18. Jahrhundert ein neuartiges Zeitmodell.
Graphisch wird die Chronologie bei Jacques Barbeu-Dubourg zu einem Zeitstrahl, auf dem jeder Zeitpunkt wie auf einem Metermaß verzeichnet werden kann. Er klebte die „fünfunddreißig einzelnen Kupferdrucke im Folioformat“ mit Leim aneinander, so dass er „ein rund 16,5 Meter langes Papierband“[4] erhielt, das sich auf- und abrollen lässt. Ob und welche Rolle dabei die Kenntnis von chinesischen Bildrollen oder die Thora spielten, ist nicht bekannt. Doch seit dem 17. Jahrhundert waren chinesische Bildrollen nach Europa gelangt, um viel Aufsehen an Höfen, unter Forschern und Sammlern zu erregen. Barbeu-Dubourgs Carte chronographique ist als Bildrolle vor allem anders strukturiert. Der Zeitstrahl verläuft von links nach rechts gleich der griechisch-lateinischen Lesepraxis. Während zum Beispiel im Arabischen und Chinesischen von rechts nach links gelesen wird.
Am oberen Rand der Kupferstiche verläuft gleich einem Lineal z.B. auf der Tafel 25[5] der Zeitstrahl, der in einen Rhythmus von zehn Jahren und wiederum wechselnd in Jahre eingeteilt ist. Ein Jahr wird mit sechs Strichen in zwölf Monate visuell rhythmisiert. Auf diese Weise vermisst Jacques Barbeu-Dubourg die Zeit kurztaktig, um Namen und Ereignisse einzutragen. Gegenüber der Bindung der Tafeln als Buch, Mappenwerk oder Leporello wie es durch die Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt als Leihgabe in der Ausstellung überliefert ist[6], wird durch das unterbrechungslose Abrollen der vermessenen Zeit aller erst ein Kontinuum der Zeit visualisiert bzw. wahrnehmbar. Beim Leporello als Format der Karte bedarf es einer Art von in die Seiten geklebter Merkzettel, um Namen, Zeitpunkt und Ereignis aufzufinden.[7]
Die maschinelle Rollmechanik als Chronologie der Maschine erspart Merkzettel und das Blättern. Auf dem Plakat für die Ausstellung im Kulturwerk hat Schmidt-Burkhardt denn auch genau diesen rhythmisierten Zeitstrahl als „(e)ine visuelle Revolution des 18. Jahrhunderts“ abbilden lassen.[8] Zugleich wird die durchaus paradoxe Geschichtlichkeit der Karte zwischen neuzeitlicher Chronologie und biblischer Genealogie augenfällig. Vor dem Beginn des Zeitstrahls steht „DIEU“ und am Anfang unter „Adam“ „Eve“. Nach der Genesis, Schöpfungsgeschichte des Alten Testament schnitt Gott im Garten Eden Eva aus einer Rippe Adams.[9] Im Erzählmodus des Genesis braucht es keiner zeitlichen Festlegung dieses ursprünglichen Ereignisses, vielmehr wurde im Judentum, Christentum und Islam seither der genealogische Vorsprung des Mannes tradiert und transformiert.
Das Paradox von Chronologie nach Newton und Genealogie nach der Genesis im Buch Moses lässt sich mit den epochalen Entwürfen eines Kenotaphs für Isaac Newton des Revolutionsarchitekten Étienne-Louis Boullée von 1784 bedenken.[10] Boullée visualisiert in seinem Entwurf ein Weltgebäude ohne Gott. Statt des christlichen Gottes im Himmel wird Newton im Mittelpunkt der nicht zuletzt chronologischen Zeitläufe aufgebahrt. Boullée hatte mit seinem Entwurf die sprengende Kraft Newtons, die sich in der Enzyklopädie ankündigte, verstanden. Jacques Barbeu-Dubourg und die Enzyklopädisten versuchen unter dem Auge der Zensur mit der Chronologie etwas zu vereinen, dessen Unvereinbarkeit bereits aufgebrochen war. Insofern weist der kartografische Zeitstrahl in eine Zukunft über die vermessene Zeit hinaus.
Das Revolutionäre der Chronologiemaschine wird letztlich mit einem Begleitbuch abgefedert, das die Kuratorin nur in der finnischen Nationalbibliothek aufspüren konnte: Introduction abrégee al l’Histoire des différents peuples anciens et modernes; Contenant les principaux événements de chaque siécles, & quelques traits de la vie des Personnages illustres, depuis la création du monde jusqu’à présent. Pour servir principalement d’explication à la Carte Chronographique de M. Barbeu Dubourg (Paris 1757).[11] Um die Chronologiemaschine Barbeau-Dubourg werden unterschiedliche Medien zur Wissensgenerierung eingesetzt. Das gibt auch einen Wink auf die Fiktion der Chronologie, wie sie als Zeitmodell in der Mitte des 18. Jahrhunderts debattiert wird. Die Bildgeschichte der Maschine mit verschiedenen bildhaften Elementen, verlangt möglicherweise nur aus Gewohnheit nach einer Erzählung.
Die nachträgliche, gekürzte Einführung in die Geschichte als Ergänzung zur visuellen Maschine gibt einen Wink auf ein Wissensproblem der Visual History. Das visuelle Wissen durch Bilder bleibt zumindest elastisch und erfordert eine Einführung (Introduction) gleich einer Gebrauchsanweisung, um nicht zuletzt im Gespräch ausgetauscht zu werden. Bis zur Hebung des Schatzes durch Schmidt-Burkhardt konnte die finnische Nationalbibliothek die Introduction nicht zuordnen. Nach der Hebung konnte das Buch nicht mehr für die Ausstellung im Kulturwerk ausgeliehen werden, weil die Sicherheitsmaßnahmen nicht zu finanzieren waren. Ein Foto des Titels muss nun in der Ausstellung ausreichen. Wissen und Wertschätzung sind mit bestimmten Praktiken verknüpft.
Zahlreiche Exponate der Ausstellung kommen aus Privatsammlungen. Deshalb sind sie als Schätze dem Blick der Öffentlichkeit i.d.R. entzogen. Astrit Schmidt-Burkhardt hat mit der Ausstellung und dem Buch Die Chronologiemaschine nicht nur ein medienhistorisches Novum ins Licht der Aufmerksamkeit gerückt, sie hat mit ihrer langjährigen und hartnäckigen Forschungsarbeit von Bildtheorie, Medien-, Kunst- und Wissensgeschichte ebenso verborgene Schätze von einigem Wert gehoben. Im Kulturwerk sind nun viele Schätze in einem Kontext zu sehen, der aller erst ihre Wertschätzung für Forschung und Publikum einsetzen lässt. Mit der Ausstellung wird nicht zuletzt das 270. Jubiläum der Pariser Chronologiemaschine in Berlin gefeiert.
Torsten Flüh
Stabi Kulturwerk
Astrit Schmidt-Burkhardt
Die Chronologiemaschine
Eine visuelle Revolution des 18. Jahrhunderts
bis 8. Oktober 2023
Unter den Linden 8
10117 Berlin
Astrit Schmidt-Burkhardt
Die Chronologiemaschine
Barbeu-Dubourgs Aufbruch in die historiografische Moderne.
Berlin: Lukas Verlag, 2022
256 Seiten, 280 Abb., 240 x 310 mm,
Festeinband. durchgängig vierfarbig.
48,- €
[1] Astrit Schmidt-Burkhardt: Die Chronologiemaschine. Barbeu-Dubourgs Aufbruch in die historiografische Moderne. Berlin: Lukas Verlag, 2022, S. 11.
[2] Ebenda S. 22.
[3] D’Alembert, Diderot: Chronologie. In: Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Tome 3. Paris, 1753. (Wikisource)
[4] Astrit Schmidt-Burkhardt: Die … [wie Anm. 1] S. 20.
[5] Ebenda S. 29 und in der Totalen gut auf Abbildung 77, S. 71 zu erkennen, ebenso S. 88 bis 91.
[6] Das Leporello ebenda S. 157 bis 230.
[7] Ebenda z.B. 162.
[8] Staatsbibliothek zu Berlin: Ausstellung: Die Chronologiemaschine – Eine visuelle Revolution des 18. Jahrhunderts. (Termin)
[9] „21 Da ließ Gott der Herr einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen, und er schlief ein. Und er nahm eine seiner Rippen und schloss die Stelle mit Fleisch. 22 Und Gott der Herr baute eine Frau aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm.“ 1. Moses 2, Vers 21-22. In: Lutherbibel 2017.
[10] Siehe: Archiinform: Newton Kenotaph. Letzte Aktualisierung: 9.8.2023.
[11] Gekürzte Einführung in die Geschichte verschiedener alter und moderner Völker; Enthält die wichtigsten Ereignisse jedes Jahrhunderts und einige Merkmale des Lebens berühmter Persönlichkeiten, von der Erschaffung der Welt bis zur Gegenwart. Dient hauptsächlich der Erläuterung der Carte Chronographique de M. Barbeu Dubourg. Zitiert nach Astrit Schmidt-Burkhardt: Die … [wie Anm. 1] S. 9.
Ein Kommentar