Mensch – Intellektronik – Musiktheater
Der Name der Maschine und sein Versprechen
Zur Uraufführung von Also sprach Golem von Kommando Himmelfahrt & Kaj Duncan David nach Stanislaw Lem bei ultraschall berlin
Die polnische Originalausgabe des Buches wiederholte 1973 auf dem Cover unter dem Namen des Autors, Stanisław Lem, siebenmal den Titel GOLEM XIV. Erst in der Übersetzung und deutschen Ausgabe des Textes im Insel Verlag transformierte der Titel anspielungsreich zu Also sprach Golem. Die Anspielungen im Titel lassen sich einerseits im Hebräischen, גולם, als Versprechen auf einen noch unförmigen oder auch ungebildeten ebenso wie gespenstischen Menschen in Kombination mit der römischen Zahl vierzehn als Wink auf eine gleichfalls kabbalistische und serielle Herkunft auffächern. Andererseits wird im deutschen Titel Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra unweigerlich mitgelesen. Am 18. Januar erlebte nun im Radialsystem V das Musiktheaterstück Also sprach Golem seine gefeierte, auf Deutschlandfunk Kultur live übertragene Uraufführung.
Das Theater als imaginärer Raum mit einem Rednerpult wird einerseits von Thomas Fiedler (Buch, Konzeption, Inszenierung) auf der Bühne mit Graham F. Valentine als Computer-Ingenieur und Konstrukteur von Golem XIV, Richard Popp, sowie Medienkunst von Carl-John Hoffmann in Szene gesetzt. Unter der Leitung des Komponisten Kaj Duncan David wird hinter der Projektionsfläche live analoge und digitale Musik gemacht und gemischt. Doch vielleicht ist der Sog des Imaginären beim Hören im Radio noch stärker, während auf der Bühne das Theater selbst in einer Maschinenförmigkeit vorgeführt wird. Die visuelle Medienkunst von Carl-John Hoffmann projiziert weniger Golem XIV als „Intellektronik“, wie es Friedrich Griese übersetzt,[1] denn verschiedene Modi deren Darstellung seit den frühen Bildschirmschriften vom orangen Monochrom-Monitor der 1980er bis hin zum 3D-Rendering der Gegenwart.
Also sprach Golem wird im Radialsystem V zur Darstellung von „Intellektronik“ und durch die Wiederholung der historischen Darstellungsweisen zu deren Erforschung. Als die ersten digitalen Buchstaben in Orange von Golems „Antrittsvorlesung Dreierlei über den Menschen“ auf der großflächigen Bühnenrückwand erscheinen, fühlt sich der Berichterstatter unwillkürlich genervt. Ihm geht ungefähr durch den Kopf: Okay, das ist jetzt aber sehr altmodisch. Haben die nicht genug Geld gehabt, um das ein wenig professioneller zu machen? Da könnte man doch nun ein bisschen zaubern auf der Bühne mit Hologrammen wie beim Salon Sophie Charlotte in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. So wirkt Golem XIV doch völlig veraltet. Etwas fantasielos geradezu. Irgendwann werden dann Arme, Beine und eine Taube im 3D-Rendering projiziert, bis sich schließlich gegen Ende die ganze Projektionsfläche technisch auflöst und die Bühnen- und Musikmaschinerie durchscheint.
Kommando Himmelfahrt & Kaj Duncan David geht es weniger um eine, sagen wir, Stanley Kubrick-mäßige, 2001 – A Space Odyssey (1968) mit dem sprechenden Computer HAL 9000, als vielmehr um die Show der „Intellektronik“, die wir zwischenzeitlich „Künstliche Intelligenz“ nennen, und ihre Dekonstruktion. Julia Warnemünde schreibt dazu für das Programm: „Golem XIV ist eine große Show orchestriert durch den Wissenschaftler Popp und seine Gehilfen, ein Ensemble aus Musikern, die die virtuellen Atemzüge der Maschine in einen hörbaren Hauch übersetzen.“[2] Und wieviel Show ist jedes neue IPhone von Apple? Oder auch: Wieviel Show sind die Buchpräsentationen von Brad Smith, wenn es mit Microsoft um The Future Computed – Artificial Intelligence and its Role in Society geht?[3] Richard Pop behauptet großspurig am Rednerpult, GOLEM XIV verstehe keine Ironie. Doch schon in der frühen, rudimentären Bildschirmschrift erscheint wenig später „;-)“, Semikolon, Strich, runde Endklammer, als Zeichenkombination für Ironie.
Kommando Himmelfahrt & Kaj Duncan David verarbeiten Stanislaw Lems Text Golem XIV in eine Show, die beispielsweise mit einer Ansage durch eine junge Frau die aktuellen Modi der Show wiederholt demonstrativ vorführt, wenn es in der Ansage heißt, man möge die Mobiltelefone ausschalten und das Fotografieren sei verboten. Das könnte dann auch soviel heißen, dass das visuelle Bühnengeschehen und die Projektionen so neuartig sind, dass sie geheim bleiben müssten, weil sie noch nicht an die Öffentlichkeit dringen dürfen. Doch jede neue Gadget Launch, jede digitale Innovation wird heute als Show inszeniert und darauf angelegt, dass sie mit der Millionen-Pixel-Smartphone-Kamera in Social Media geteilt wird.
Während Stanislaw Lem heute landläufig als prognostischer Autor der Maschinenintelligenz[4] und Sinn gelesen wird oder Golem XIV als „Angehöriger der Maschinenintelligenz“ vom Suhrkamp Verlag angepriesen wird[5], thematisieren Kommando Himmelfahrt & Kaj Duncan David vielmehr die Darstellungsweisen. Deshalb empfiehlt es sich, genauer den Text und seine Schreibweise zu analysieren. Ist Golem XIV bzw. Also sprach Golem ein Roman? Was macht den Roman zu Science Fiktion? Und in wieweit überschneiden sich Literatur, Philosophie und Technik(voraus)wissen? Die unsichere Grenze von Literatur und Wissenschaft soll genauer bedacht werden. Bernd Gräfrath hat schon früh auf die Verzahnung von „unterhaltsame(r) Belletristik“ und „ernsthafte(r) Wissenschaft“ in Golem XIV von Lem hingewiesen.[6]
„Die ungewöhnliche Kombination von literarischer Form und kognitivem Gehalt hatte allerdings den Nachteil, daß das Werk durch die Netze des üblichen Rezensentenwesens fiel. Trotz hoher Auflagen ist die Wahrscheinlichkeit gering, daß Lem zum intendierten Leser vorgedrungen ist: Die einen suchen bloß unterhaltsame Sience-fiction (und sind von dem Buch vielleicht sogar enttäuscht), die anderen haben kognitive Interessen und nehmen ein Buch aus dem Regal »Sience-fiction« gar nicht erst in die Hand.“[7]
Die Veröffentlichung von Also sprach Golem im Deutschen bis zur aktuellen Textgestalt unterlief mehrere Phasen, die teilweise Stanislaw Lem selbst, teilweise der Übersetzer Friedrich Griese mit dem Lektorat des Suhrkamp Verlages vornahmen. Es gibt insofern eine Textgenese, die von Stanislaw Lem selbst in literarischen Modi thematisiert worden ist.[8] Zunächst werden Teile des Textes in Lems Buch Wielkość urojona/Imaginäre Größe (1973/1976) neben anderen als „Vorwort“ etc. veröffentlicht. Stanislaw Lem hatte sich als Programm für das Buch vorgenommen, Vorworte als eigene Kunst bzw. literarisches Genre zu schreiben. Die Vorworte zu den Büchern bzw. Geschichten wie die in der „Presses Universitaires Paris 2009“ veröffentlichten „Geschichte der bitischen Literatur“[9] gibt es nicht. Das Vorwort wird gleichfalls zum Versprechen und zum Imaginarium von Büchern, die es (noch) nicht gibt.
„Die Kunst, Vorworte zu schreiben, erhebt schon lange Anspruch auf ein Heimatrecht. Und ich spüre schon längst das Bedürfnis, diesem okkupierten Schrifttum Genüge zu tun, das seit vierzig Jahrhunderten in der Sklaverei der Werke, an die es gefesselt ist, über sich selbst schweigt.“[10]
Stanislaw Lem will mit dem ungewöhnlichen Buch das Vorwort über seine Funktionen zum Sprechen bringen, könnte man sagen.
Die Rahmung des Textes zu Golem XIV wird von Lem nicht nur durch das Vorwort, vielmehr noch visuell und typographisch durch ein Titelblatt mit ausdrücklich wissenschaftlicher Verortung angelegt. Denn er zitiert das führende westliche Institut für Technologie als Herausgeber, wenn es in Englisch inklusive akademischem Titel und militärischem Rang heißt „Massachusetts Institute of Technology presents: GOLEM XIV. Foreword by Irving T. Greve, M. A., Ph. D., and Thomas B. Fuller II., General US Army, Ret. MIT Press 2029“.[11] Das fiktionale Titelblatt wird in modifizierter Form mit „Indiana University Press 2047“ für die polnische Originalausgabe von „Golem XIV“ 1981 übernommen.[12] Nicht so für die deutsche. In den Ausgaben der Bundesrepublik Deutschland bei Insel bzw. Suhrkamp gibt es ebenso im Buch Imaginäre Größe eine „Vorrede“[13] und das kursiv gedruckte „Vorwort“.[14] Zudem enthält der Golem-Abschnitt in dem Buch Imaginäre Größe eine „Belehrung“ als weitere Rahmung des Textes.[15]
Vorworte unterliegen einer bedenkenswerten Zeitlichkeit. Sie sollen im Voraus, vor dem Text gelesen werden, den sie nachträglich ankündigen. Erst wenn der Text im Buch fertig, gar schon ein Nachwort geschrieben worden ist, wird das Vorwort verfasst. Während die Texte in Imaginäre Größe noch undatiert bleiben und lediglich das Titelblatt mit „2029“ datiert ist, wird das Vorwort als „Vorrede“ für Also sprach Golem mit dem Jahr „2027“, das „Nachwort“ mit „Juli 2047“ angegeben, weil das Buch mit den Texten von GOLEM XIV nicht abgeschlossen werden konnte. (Also sprach Zarathustra S. 159) Insofern bleibt das Buch fragmentarisch. Auch Nietzsches Buch beginnt mit einer „Vorrede“. Die aufwendige oder zumindest detaillierte Datierung des Textes im Kontext der Vorworte gibt auch einen Wink auf das Genre Science Fiction. Denn die Zukunft bleibt der Nachträglichkeit der Erzählung unterworfen. Die Befreiung der Vorworte kündigt Lem als paradoxe an, denn die vermeintliche Hinführung der Vorworte zum Text soll nunmehr „nirgendwo einführen“.
„..; und deshalb habe ich, der ich das Vorwort zur Kleinen Anthologie der Vorworte schreibe, sehr wohl das Recht dazu, denn ich schlage Einführungen vor, die nirgendwohin einführen, sowie Vorreden, denen keine Reden folgen.“ (S. 14)
In der Ausgabe des Ost-Berliner Verlags „Volk und Welt Berlin“ rahmt eine Collage als Einbandentwurf von Carl Hoffmann das Buch der „Vorwort(e) zum Nichts“.[16] Vor einer Wand oder einem Horizont, auf dem mehrere Kugeln wie Planeten aufgereiht sind, steht ein affenartiges Wesen, das ein weißes Tuch an einem gesenkten Stock hält, als wolle es mit einer Parlamentärflagge um die Wahrung seiner völkerrechtlich garantierten Unverletzlichkeit bitten. Das Gesicht des Wesens changiert zwischen einem Menschenmann und einem Affen. Doch das Buch der „prachtvoll geschnitzte(n), goldgeschmiedete(n), mit allerhand Greifen und Grafen in majestätischen Supraporten gekrönte Türrahmen“ ist nur geschrieben worden, „um den Leser ins Nichts zu stoßen“.
„Der Entdecker des Nichts ist der Mensch. Aber es ist so schwierig, so ungewöhnlich, weil es eine unwirkliche Sache ist, die man nicht ohne eine sorgfältige Vorbereitung, nicht ohne geistige Übungen, nicht ohne eine langwierige Initiation und ohne Training versuchen kann; Unvorbereitete läßt sie zur Säule erstarren – daher muß man sich für eine Kommunikation mit dem präzis gestimmten, reich orchestrierten Nichts sehr gewissenhaft präparieren und jeden Schritt in seiner Richtung möglichst gewichtig, markant, materiell gestalten.“[17]
Das Nichts betrifft auch GOLEM XIV. Denn wie die „Geschichte der bitischen Literatur“ im Buch Imaginäre Größe bereits vorschlägt, lässt sich nicht mehr sicher entscheiden, welche Texte von Menschen und welche von Maschinen geschrieben worden sind. In der Abfolge der „Vorworte“ im Buch ordnete Stanislaw Lem die „Geschichte der bitischen Literatur“ vor „GOLEM XIV“ an, das „GOLEMS Inaugurationsvortrag“ als Maschinenliteratur enthält. Als „bitische Literatur“ formuliert Lem „jedes Erzeugnis nichtmenschlicher Herkunft, das heißt ein solches, dessen eigentlicher Autor kein Mensch gewesen ist (er konnte es hingegen mittelbar gewesen sein – indem er Tätigkeiten ausführte, die den eigentlichen Autor zu schöpferischen Akten provozierten)“.[18] Mit dem „Inaugurationsvortrag“ wird indessen, eine posthumane Literatur geschrieben zu haben, beansprucht. Reproduziert und collagiert wird von Golem ein quasi evolutionistischer Diskurs, der mit einer polemisch-antihumanistischen Philosophie nach Friedrich Nietzsches „Buch für Alle und Keinen“ unter dem Titel Also sprach Zarathustra kombiniert wird.
„Ihr seid ja erst unlängst vom Stamm des Wildlings abgestoßen, eure Verwandtschaft mit den Lemuren und Äffchen ist noch so stark, daß ihr zur Abstraktion strebt, ohne die Augenscheinlichkeit verschmerzen zu können, wodurch ein Vortrag, der nicht von kräftiger Sinnlichkeit getragen ist, ein Vortrag voller Formeln, die über den Stein mehr sagen, als euch ein erblickter, beleckter und betasteter Stein vermitteln kann –“.[19]
Für das Buch Also sprach Golem und in der Übersetzung von Friedrich Griese wird die polemische oder auch agitatorische Geste der einsetzenden, direkten Ansprache der (menschlichen) Leser – „Ihr seid ja“ – durch eine syntaktische Umstellung und formalisierte Lexik abgeschwächt: „So kurz erst habt ihr euch vom wilden Stammbaum abgelöst, so eng seid ihr noch mit den Lemuren und Halbaffen verwandt, daß ihr, nach Abstraktion strebend, der Anschaulichkeit nicht entbehren könnt …“[20] Der „Inaugurationsvortrag“ wird zur „Antrittsvorlesung“ und korrespondiert zugleich mit Franz Kafkas Text Ein Bericht für eine Akademie (1917), wo ein Affe von seiner Menschwerdung vor „Hohe(n) Herren von der Akademie“ berichtet.[21] Doch Golem wird meistens typographisch in Majuskeln – GOLEM – geschrieben, was ihn auch aus einer Syntax wie Semantik herauslöst, um ihn zugleich für die Presse humoristisch als „Governments Lamentable Expense of Money“ lesbar zu machen, woran Irving T. Creve 2027 erinnert.[22]
Doch der Titel und Name „GOLEM XIV“ eröffnet noch eine weitere Möglichkeit der Entzifferung. Geht es doch mit der Maschinenliteratur immer um ein Entziffern und Anders-kombinieren. GOLEM wird in den englischsprachigen USA konstruiert und schließlich dem „MIT“ überlassen, womit ein „Go Lem“ (Geh Lem) als Entzifferung möglich wird. Anders gesagt: entgegen aller Behauptung der Maschinenhaftigkeit ist es doch gerade der polnische Autor Stanislaw Lem, der sich in GOLEM einschreibt, indem er Lektüren zur Science Fiction montiert. Zwischen der „Geschichte der bitischen Literatur“ und GOLEM XIV siedelt Lem „Vestrands Extelopädie“ als „PROBEBOGEN GRATIS!“ an und spielt unter „PROGRNOLINGUISTIK“ auf „N. Chomsky“, nach dem „der Amblyon-Effekt das grundlegende Gesetz der Sprachentwicklung – des Zusammenlaufens ganzer Artikulationsperioden zu neu entstehenden Begriffen und ihren Bezeichnungen“ sei.[23] War es doch gerade Noam Chomsky am Massachusets Insitute of Technology (MIT), der 1957 Syntactic Structures, gefolgt 1965 von Aspects of the Theory of Syntax nicht zuletzt als strukturtheoretische Grundlage für Maschinenübersetzung und -literatur veröffentlichte.
Stanislaw Lem verarbeitet in GOLEM XIV/Also sprach Golem nicht nur philosophisches und literarisches Wissen durch lexikalische Anspielungen und Zitate, vielmehr noch transformiert er Chomskys Theorie der strukturalistischen Linguistik in eine mehrfach als Wissenschaft gerahmte, erzählerische Form. Die Frage nach dem Menschen wird von ihm narrativ diskutiert, indem er sie durch ein Maschinenkonzept konterkariert. Denn seit Aspects of the Theory of Syntax veröffentlicht in „THE M.I.T. PRESS“ wird die (menschliche) Sprache in Anknüpfung an Wilhelm von Humboldt als ein „system of rules“ formuliert, das mit einer „generative grammar“ beschrieben werden soll, um jene Prozesse herausfinden, die „furthermore, an outgrowth of a persistent concern, within rationalistic philosophy of language and mind, with this „creative“ aspect of language use“.[24] Der „kreative“ Aspekt im Gebrauch „innerhalb der rationalistischen Philosophie von Sprache und Geist“ wie durch den Menschen wird von Noam Chomsky im Vorwort, „Preface“, ausdrücklich angeschrieben. In dem Moment, in dem die Regelhaftigkeit der Sprache zur Theorie erklärt wird, verwandelt sie sich in einen maschinenartigen Prozess, der sich nicht zuletzt durch eine Grammatik der Titelblätter und Vorworte als ein unendlicher Aufschub und ein Versprechen formulieren lässt.
Ist es doch gerade die Logik der evolutionistisch erhöhten Schnelligkeit der operationellen Prozesse in der Sprache, die GOLEM zum sogenannten „Übermenschen“ werden und schließlich verstummen lässt. Wobei Nietzsche paradoxerweise frühzeitig Autoren als „intelligente Maschinen“ und „Schreibmaschine“ kritisierte.[25] Was wäre Intelligenz anderes als sprachlich-regelhafte Prozesse? Ist es doch die „über 1900mal größere() Informationskapazität als die menschliche und eine() Intelligenzleistung (IQ) von 450 bis 500 Zentilen“[26], die GOLEM schon in der ersten Generation als dem Menschen überlegen ausweisen. Durch die Anordnung der Texte im Buch – „Vorrede“, „GOLEMs Antrittsvorlesung“, „XLII. Vorlesung“ und „Nachwort“ – werden die GOLEM-Texte mittels einer ebenso fiktiven wie kohärenten Wissenschaftsgeschichte und einer Nacherzählung zu einem Maschinentext gemacht. Gleichzeitig verwischt und übersetzt Lem die theoretisch-lexikalischen Anknüpfungen, indem er trotzdem Begriffe wie „Verstand“ oder „Persönlichkeit“ einstreut. GO Lem formuliert streng nach einer generativen Grammatik, wenn es in der „Antrittsvorlesung“ heißt:
„DER SINN DES BOTEN IST DIE BOTSCHAFT. DIE GATTUNGEN ENTSTEHEN AUS EINER KETTE VON FEHLERN.“[27]
Stanislaw Lem spricht mit den Begriffen „Intelektronik“ und „Psychonik“ in der „Vorrede“ von GOLEM XIV neuartige Wissenschaften an, die eben jenes Feld benennen, das bereits vor der Jahrhundertwende mit der Psychologie und durch Intelligenztests zu erfassen gesucht wird, um es als Wissen zu strukturieren. Die Psychologie soll die Menschen um 1900 nicht zuletzt für die neuen Berufe in der zunehmend technifizierten Wirtschaft berechenbar machen. So entwickelt z. B. 1912 Hugo Münsterberg eine „Intelligenzprüfung“ für Kandidatinnen einer Telefonistinausbildung in Psychologie und das Wirtschaftsleben, um die Kosten für die Telefongesellschaften zu senken.[28] Die vermeintliche Verwandlung des Menschen in eine Maschine, die sich in ihren Prozessen selbst beschleunigt und verselbständigt, wird bereits in der „rationalistic philosophy of language and mind“, um noch einmal Noam Chomsky zu zitieren, konzeptionell angelegt.
Kommando Himmelfahrt & Kaj Duncan David spielen mit ihrer Show, die Verschaltung von Text, visueller und akustischer Kunst für GOLEM XIV durch, als generiere es sich aus seiner Grammatik selbst. Doch es bleibt immer noch der Mensch als Medium, als Mittler, der die ganze Show anstößt und für eine geraume Zeit am Laufen hält. Der vermeintlich selbstlernende Computer wird in einer wilden Apotheose zwischen Rock und Punk nicht zerstört, aber durch die Dramaturgie der Show abgeschaltet. Und dann sind es Menschen mit Namen – Graham F. Valentine, das dänische Ensemble SCENATET und Kaj Duncan David etc. –, die für Applaus vor Menschen auf die Bühne treten, sich verbeugen und die Show beenden.
Torsten Flüh
Kommando Himmelfahrt & Kaj Duncan David
Also sprach Golem
rbbKultur
Musik der Gegenwart
1. April 2020 20:04 Uhr
[1] Stanislaw Lem: Also sprach GOLEM. Aus dem Polnischen von Friedrich Griese. Frankfurt am Main: suhrkamp taschenbuch, 2009, S. 7. (Zuerst Insel Verlag 1981)
[2] Julia Warnemünde/KOMMANDO HIMMELFAHRT: Also sprach Golem. Deutschlandfunk Kultur (Hg.): ultraschall berlin. festival für neue musik. Berlin 2020, S. 76. (Digital)
[3] Siehe dazu: Torsten Flüh: Kant und die Ethikrichtlinien aus dem Internetkonzern. Brad Smith stellt The Future Computed im Microsoft Atrium in Berlin und beim Weltwirtschaftsgipfel in Davos vor. In: NIGHT OUT @ BERLIN Januar 29, 2018 19:01.
[4] Siehe z.B. die Zusammenfassung ohne Autornamen und Publikationsdatum auf getabstract von Patrick Brigger und Thomas Bergen unter https://www.getabstract.com/de/zusammenfassung/also-sprach-golem/30530
[5] Siehe folgende PDF: https://www.suhrkamp.de/buecher/also_sprach_golem-stanislaw_lem_37766.pdf
[6] Bernd Gräfrath: Lems >Golem< Parerga und Parlipomena. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1996, S. 9.
[7] Ebenda S. 10.
[8] Siehe dazu: Bernd Gräfrath: Textaufbau und Textgesichte. In: Ebenda S. 13.
[9] Stanislaw Lem: Imaginäre Größe. (Autorisierte Übersetzung aus dem Polnischen von Caesar Ramarowicz) Berlin: Verlag Volk und Welt, 1976, S. 49-82.
[10] Ebenda S. 5.
[11] Bernd Gräfrath: Textbau … [wie Anm. 8] S. 13.
[12] Stanislaw Lem: Imaginäre … [wie Anm. 9] o. Seitenzahl (S. 107).
[13] Ebenda S. 109-131.
[14] Ebenda S. 133-137. Vgl. auch Stanislaw Lem: Imaginäre Größe. Frankfurt am Main: Insel, 1976, S. 136-141.
[15] Ebenda S. 139-141.
[16] Ebenda S. 14.
[17] Ebenda S. 15.
[18] Ebenda S. 51.
[19] Ebenda S. 143.
[20] Stanislaw Lem: Also … [wie Anm. 1] S. 31.
[21] Franz Kafka: Ein Bericht für eine Akademie. In: Der Jude. Eine Monatsschrift. Jg. 2, Heft 8. November 1917. Berlin/Wien: R. Löwit, S. 559.
[22] Stanislaw Lem: Also … [wie Anm. 1] S. 20.
[23] Stanislaw Lem: Imaginäre … [wie Anm. 9] S. 101.
[24] Noam Chomsky: Aspects of the Theory of Syntax. Cambridge: The M.I.T. Press, 1965, S. V.
[25] Siehe: Torsten Flüh: Nietzsches „intelligente Maschinen“. Zur Intelligenz und Maschine bei Nietzsche, dem Technikmuseum Berlin und dem Riesen-Dampfhammer. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. Juli 2019.
[26] Stanislaw Lem: Also … [wie Anm. 1] S. 16.
[27] Ebenda S. 51.
[28] Hugo Münsterberg: Psychologie und das Wirtschaftsleben. Ein Beitrag zur angewandten Experimental-Psychologie. Leipzig: Barth, 1912, S. 69.
4 Kommentare