Tyrann – Ideologe – Autokrat
Das Putin-Rätsel
Zur großen Demonstration „Stoppt den Krieg“ und den dezentralen Protesten
Am Sonntag, den 13. März 2022, kam es in Berlin, die Staatsbibliothek Unter den Linden, Humboldt-Universität, Deutsches Historisches Museum, die Nationalgalerie und das Rathaus hatten die Flagge der Ukraine gehisst, am Alexanderplatz, auf der Karl-Liebknecht-Straße, Unter den Linden, auf dem Pariser Platz und der Straße des 17. Juni nicht nur zu einer großen Demonstration mit Zehntausenden, vielmehr gab es ebenso viele kleinere Protestaktionen. Vor der Akademie der Künste im Hanseatenweg hat Sasha Kurmaz seine Installation The Temple of the Transfiguration (2022) aufbauen lassen. Er ist 1986 in Kiew geboren und hat ein Berlin-Stipendium der AdK für Bildende Kunst erhalten. Am 15. März 2022 postete er auf seinem Facebook-Konto um 14:00 Uhr Fotos von ukrainischen „female heroes“, die in den letzten Tagen in der Ukraine getötet worden sind. Mit dem Temple of the Transfiguration visualisiert Sasha Kurmaz Machtstrukturen der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche unter Moskauer Patriarchat (UOK MP).
Welche Machtpraxis schreiben wir Putin zu? Ist er Tyrann, Ideologe oder Autokrat durch seine Machtpraktiken? Worin unterscheiden sich die des fürchterlichen Tyranns von jenen des Ideologen? Verschiedentlich vermissten Kommentatoren biographisch-persönliche Fakten, die Aufschluss geben sollten über den, sagen wir ruhig, Charakter des Staatspräsidenten. Gibt es nun den megalomanischen Palast auf der Krim, den Alexander Nawalny recherchiert hat, oder nicht? Welche Frau erscheint nicht an seiner Seite? Wie reich oder wie arm ist der Herrscher aller Russen? Immer neue Experten, Slawisten, Psychologen, Militärexperten, geben ihre Einschätzungen ab. Die Bandbreite der zu Rate gezogenen Expert*innen vom Historiker Karl Schlögel über den Psychoanalytiker Slavoij Žižek – Was bedeutet es, Europa zu verteidigen? – bis zur Wirtschaftsjournalistin und Börsen-Moderatorin Anja Koch geben in unterschiedlichen Modi ihre Expertise ab. Was trägt Sasha Kurmaz künstlerische Intervention zur Annährung bei?
Neben The Temple of the Transfiguration hat Sasha Kurmaz eine Tafel mit einer ausführlichen Legende aufstellen lassen. Was ist das für ein Tempel? Zunächst erinnert er an einen schäbigen Bauwagen mit seltsamen Steckdosen und teilweise zerbrochenen Fenstern. Die Schäbigkeit verwandelt sich allerdings mit der orthodoxen Kuppel und dem goldenen Russischen Kreuz in ein machtvolles Versprechen einer Einheit von Ukrainisch-Orthodoxer Kirche und Moskauer Patriarchat. Die Herrschaft der Männer und des Patriarchen von Moskau und aller Rus Kyrill I. wird nach dem Ende der Sowjetunion im post-sowjetischen Russland und der Ukraine damit erneuert und seit 2009 restauriert. Diskussionen einer Teilhabe von Frauen und queeren Menschen, wie sie zwischenzeitlich die Katholische Kirche erreicht haben, gibt es in der Russisch-Orthodoxen Kirche nicht. Der Tempel visualisiert eine Invasion und soziale Kontrolle, die lange vor dem 24. Februar 2022 begonnen hat.
„The Temple of the Transfiguration besteht aus einer Kabine, die ursprünglich auf sowjetischen Militärlastwagen verwendet wurde, und einer orthodoxen Kuppel. Dieses Objekt ist der Versuch, eines der zahlreichen Beispiele für religiöse Pop-up-Gebäude zur rekonstruieren, die man heute in vielen Teilen der Ukraine vorfindet. Solche post-sowjetischen temporären Bauten tauchen in der Regel ohne Genehmigung der Stadtverwaltung in Ortschaften auf, um mittels Religion Bauland zu manipulieren und zu kontrollieren.“[1]
Die Verquickung von sowjetischem Geheimdienst und russisch-orthodoxer Kirche als Machtapparat wird in Patriarch Kyrill I. offenbar. Wladimir Michailowitsch Gundjajew, seit 2009 zum Patriarchen geweiht, arbeitete während der Sowjetzeit als Priester und Offizier des Geheimdienstes KGB.[2] Er war somit ein Kollege des Dresdner KGB-Offiziers beim Auslandsgeheimdienst des KGB Wladimir Wladimirowitsch Putin. Beide sprechen fließend Deutsch. Denn Gundjajews Mutter war Deutschlehrerin. Ob es die deutsche oder die russische Linie ist, die eine vom Schriftsteller Marcel Beyer besonders herausgestrichene „Pedanterie“ zeitigte, lässt sich nicht entscheiden. Möglicherweise war es allerdings genau jene an typisch deutsche Rechthaberei grenzende „unerträgliche Pedanterie“, die den „gesichtslosen“ KGB-Offizier über alle Russen hinaus zum Staatspräsidenten beförderte:
„Es kann nicht nur seiner Tätigkeit als Geheimdienstmitarbeiter geschuldet sein, es muß in der Person liegen, denn es handelt sich um einen Mann, dessen Leben so wenig anekdotisches Material bereithält, daß seine Biographen es als mitteilenswert erachten, Mitgliedern eines hiesigen Anglervereins sei damals der neu beigetretene, aus Leningrad stammende Mann ausschließlich wegen seiner unerträglichen Pedanterie aufgefallen. Er habe stoisch an seinen Ansichten festgehalten, wie etwa der Köder richtig am Haken anzubringen oder die Leine in einem ganz bestimmten Winkel auszuwerfen sei, weshalb seine Vereinskollegen nahe daran waren, die Freude, an der ohnehin nicht gerade außerordentliche Freuden bescherenden Anglerei zu verlieren.“[3]
Marcel Beyers durchaus ironische Beschreibung der Person und ihrer Biographen in der Recherche Putins Briefkasten von 2012 gibt einen Wink auf das literarische Genre der Biographie selbst. Die Aneinanderreihung, Verknüpfung und Kontextualisierung von Anekdoten generiert eine Biographie. In der Anekdote vom Anglerverein, deren Nebensächlichkeit sich für einen der mächtigsten Männer der Welt kaum überbieten lässt, wird rhetorisch ausgefeilt die möglicherweise „unerträgliche Pedanterie“ als Schwäche und Stärke zugleich lesbar. Lässt sich von da aus nicht ein Bogen schlagen zu den Auftritten Putins im Kreml, wenn die Türen aufgerissen werden von nach Nussknacker-Ballett-gleich salutierenden, goldbekordelten, durchgecasteten Jungsoldaten? Möglicherweise gibt es für jeden dieser Auftritte eine Generalprobe unter den Augen des Herrschers aller Rus, der jede Bewegung mit äußerster Pedanterie überwacht, bissig kommentiert – „Höher, höher das Kinn, Josef, zack, zack!“ – und den Winkel mit einem Geodreieck misst. „120 Grad. Josef, da gehen noch 5 Grad weniger!“ Die Pedanterie verwandelt jeden Menschen in eine Maschine, über die der pingelige Maschinist wacht. Das mag in der Kreml-Choreographie und im Imaginären funktionieren, bei den russischen Landstreitkräften aber offenbar nicht.
Zeigt sich nicht in der Praxis der Pedanterie das Imaginäre der Herrschaft? Die Wortverlaufskurve der Pedanterie befindet sich seit den 80er Jahre im freien Fall. Sie wird in der deutschen Sprache kaum noch gebraucht. Im Französischen und Italienischen wird der pedante für den Schulmeister gebraucht. Das Schulmeisterliche steht allerdings kaum mehr im Programm der Pädagogen. Frühe Pädagogiken um 1800 schaffen nach Anja Lemke ein systematisches Verhaltensdesign avant la lettre, das mit dem Schulmeisterlichen korrespondiert. Goethe schreibt an Schiller, dass sein Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre „Maschinen hat“ (S. 184), die ihn in Bewegung setzen und die Bildung des Wilhelm Meister antreiben. Insofern lässt sich sagen, dass der Schulmeister immer auch die Maschine als Verhaltensmodell im Blick hat. Als Synonyme verwendet man Kleinlichkeit, Bürokratismus, Korinthenkackerei.[4] Bekanntlich scheiterte die Pedanterie der Stasi spektakulär. Der Überwachungsapparat zur Machtsicherung der Funktionäre in der DDR, verzettelte sich buchstäblich in Karteikarten und Tonbändern etc., ohne dass die Stasi 1989 die Macht der Montagsdemonstrationen richtig einschätzen konnte. Pedanterie und Geheimdiensttätigkeit bedingen einander, wobei die Pedanterie immer in einen Machtverlust umschlagen kann.
Wiederholt ist es zu bedenkenswerten Fehleinschätzungen von Geheimdiensten nicht nur des sogenannten Ostblocks, sondern auch von CIA und BND zuletzt in Afghanistan oder in Kiew gekommen. So meldete das Redaktionsnetzwerk Deutschland am 25. Februar 2022 um 20:06 Uhr: „Vom russischem Angriff überrascht: BND-Chef musste Ukraine mit Auto verlassen“.[5] „Der Präsident des Bundesnachrichtendienstes, Bruno Kahl, ist am Mittwoch in die Ukraine gereist. Dann wurde er vom russischen Angriff überrascht. Der Rückweg war beschwerlich.“ Putin ist bis heute ein pedantischer KGB-Offizier geblieben, der sich wie bei Kyrill I. mit ehemaligen KGB-Offizieren umgibt. „KGB“ und „Kirche“ operierten und operieren in der Ukraine offenbar gemeinschaftlich. Sasha Kurmaz lässt in The Temple of the Transfiguration die Transformation und Verklärung vermeintlich glorreicher Zeiten sichtbar werden.
„Darüber hinaus (über den „hybriden“ Krieg und den „Informationskrieg“, T.F.) beteiligte sich die UOK MP aktiv an nachrichtendienstlichen Aktivitäten und bot Deckung für die Aktivitäten russischer FSB-Agenten auf ukrainischem Gebiet. Während der Annexion der Krim halfen orthodoxe Priester der UOK MP russischen Spezialeinheiten und pro-russischen paramilitärischen Gruppen bei der Entwaffnung ukrainischer Militäreinheiten.“[6]
Marcel Beyers Anekdote von der „unerträglichen Pedanterie“ findet nicht nur in der überwiegend männlichen Welt des Angelvereins statt, vielmehr wird sie zur obsessiven Kontrolle durch Geheimdienste eingesetzt. Die Dimension der Kontrolle bei Putin wurde in den historischen Analysen bislang weniger analysiert. Karl Schlögel und Ulrich Schmidt trafen am 22. November 2018 in der Mosse-Lecture Russland Versteher – Wenn es denn welche gäbe! aufeinander. Karl Schlögel analysierte als einen besonderen Bereich das russische Stadtbild und seine Veränderungen, wie die öffentlichen Plätze von Orten der offiziellen Machtdemonstration durch Aufmärsche zu Marktplätzen und zivilgesellschaftlichen Räumen wurden. Im essayistischen Modus seiner historischen Analysen kam Putin eher marginal vor, der das Narrativ „eines äußeren Feindes und der Fünften Kolonne“ als „Programm für das Licht am Ende des Tunnels“ vorführe.[7] Putin sei ein „Meister in der Verwirtschaftung unverheilter Traumata“. In der Mosse-Lecture zum Semesterthema „Autokratien. Herausforderungen der Demokratie“ spielte bereits 2018 die Annexion der bis dahin ukrainischen Krim eine Rolle. Schmid wies daraufhin, dass das „Russland-Verstehertum“ ein „deutsches Phänomen“ sei.[8] Die offizielle politische Rhetorik in Russland sprach nach Schmid nicht von „Annexion“, sondern von „Wiedervereinigung“ mit der Krim, was bei einigen deutschen Politiker*innen 2014 für Verständnis sorgte.[9]
In der Monopolisierung von Macht und Geschichtserzählung hat sich Wladimir Putin in seinen Reden am 21.[10] und 24.[11] Februar 2022 lehrbuchgleich als Autokrat in Szene gesetzt. Die visuelle Rahmung beider Reden ist nicht unerheblich. Beide Reden hielt Putin als Videobotschaft aus einem präsidialen Arbeitszimmer am leergeräumten Schreibtisch mit Fahnen und zwei beigen Tastentelefonen, die aus den 80er Jahren stammen könnten. Putin liest die Reden offenbar nicht von einem Blatt oder einem Teleprompter ab. Die Geschichte in nicht immer beendeten Sätzen soll sowohl spontan, ad hoc wie beherrscht wirken. Zu Beginn der ersten Rede rückt Putin seine Krawatte zurecht, als müsse die epochale Bedeutung dieser Rede unterstrichen werden. Für die Botschaft der neuen Ordnung muss die Krawatte ordentlich sitzen. Die Kameraeinstellung für die zweite Rede weicht leicht ab, insofern nun eine graue Telefonanlage mit Minibildschirm stärker ins Bild gerückt wird. Putin sieht und hört alles. Er will aber auch, dass er von allen gesehen und gehört wird. Die Telefonanlage funktioniert als Machtapparat, der eine nahezu pedantische Kontrolle der Kriegsabläufe vorgibt.
„Sehr geehrte Bürger Russlands! Liebe Freunde!
Heute halte ich es erneut für notwendig, auf die tragischen Ereignisse im Donbass und die zentralen Fragen der Gewährleistung der eigenen Sicherheit Russlands zurückzukommen.
Ich möchte mit dem beginnen, was ich in meiner Rede vom 21. Februar dieses Jahres gesagt habe. Es geht darum, was uns besonders beunruhigt und besorgt, um diese fundamentalen Bedrohungen, die Jahr für Jahr, Schritt für Schritt grob und ungeniert von unverantwortlichen Politikern im Westen gegen unser Land gerichtet werden.“[12]
Die Herrschaftsform der Autokratie zeichnet sich nach der Formulierung der Mosse-Lectures als eine aus, „die auf Selbstermächtigung und Machtmonopolisierung gründet und die sich durch den Ausschluss des Anderen und Fremden konsolidiert.“[13] Das Eigene und das Andere werden denn auch von Putin in seiner Rede sogleich thematisch angeschlagen – „eigene() Sicherheit“ und „Bedrohungen … im Westen“. Die Form der Dichotomisierung eines Konflikts wird von Putin in, sagen wir ruhig, freier Rede, gesetzt, entwickelt und durchgespielt. Er gebraucht wichtig Schlüsselworte wie „Neonazis“ und „entnazifizieren“, um seinen Angriffskrieg zu legitimieren. Derartige Begriffe haben zu einer breiten, oft irrlichternden Diskussion über die Staatsform und Machtpraktiken Putins geführt. In seinem Interview mit Beat Soltermann für das Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) spricht der St. Gallener Slawist Ulrich Schmid allerdings weniger von Putin als Autokrat. Er bedauert vielmehr: „Wir haben Putin als Ideologen unterschätzt.“[14] Er verneint indessen, dass Putin ein Faschist oder Russland ein „faschistischer Staat“ sei. Zeigt sich in den beiden Reden Putin als Ideologe? Die Einordnung Putins und seiner Handlungen schwankt offenbar. Oder entsprechen sie Autokratien wie „die ,elektorale‘ Autokratie im Rußland Putins“, wenn man sie „als Hybride verstehen (kann), die die sozialen Systeme von Wirtschaft, Politik und Recht engst möglich verkoppeln“?[15] Die visuellen wie rhetorischen Inszenierungen der Reden passen eher zu einem Autokraten als zu einem Ideologen.
Putins Rhetorik hat es bewirkt, dass ideologische Argumentationsketten durcheinandergewirbelt werden. Faschismus, „Autokratismus“[16] und Tyrann stehen plötzlich als Begriffe und Wahrnehmung nebeneinander. Diese Art Begriffsverwirrung ist nicht etwa zufällig oder nur propagandistisch, vielmehr gehört sie zur Rhetorik Putins. Sie gehört zu seinem Erzählstil. Der bis dato nur von Donald Trump als Präsident der USA 2020 bezüglich des Ursprungs von Sars-Cov-2 übertroffen worden ist, wie mit Fledermäuse, Pangoline, Labore und die Gattung Homo sapiens sapiens thematisiert wurde. Hat Putin, wie häufig en passant von Karl Schlögel fallen gelassen wird, „Postmoderne“ gelernt? Signalbegriffe wie „Faschismus“ oder „Genozid“ bezüglich der ukrainischen Politik werden nicht nur an russische „Bürger“ und „Freunde“ adressiert, sie führen sogleich wie im SRF zur Frage, ob Putin Russland in einen „faschistischen Staat“ verwandelt habe. Slavoj Žižek hat aus Ljubiljana, Slowenien, in diesen Tagen auf die Begriffsverwirrung aufmerksam gemacht:
„Ist das Problem wirklich der ukrainische Faschismus? Da hilft es, Russland selbst zu betrachten: Putins intellektueller Leitstern ist Iwan Ilyin, dessen Werke wieder gedruckt und an die staatlichen Apparatschicks und Militärs verteilt werden. Nachdem er Anfang der 1920er Jahre aus der Sowjetunion verbannt worden war, vertrat Ilyin eine russische Version des Faschismus: des Staates als einer organischen Gemeinschaft, die von einem paternalistischen Monarchen regiert wird und wo die Freiheit zurückstehen muss.“[17]
Putin stellt keine Frage, sondern er beantwortet alle Fragen, ohne gefragt worden zu sein. Er beantwortet Fragen im Voraus. Damit ist er erstens nicht postmodern und zweitens vermeintlicher Herrscher des Diskurses bzw. der Geschichte und der Geschichtsschreibung. Derart klare Antworten sind selbst in der Wissenschaft unter den Historikern unüblich. „Die Antwort ist klar, verständlich und offensichtlich. Die Sowjetunion wurde Ende der 1980er Jahre schwach und brach dann völlig zusammen (…)“[18] Die einleitenden rhetorischen Fragen nehmen die Antwort vorweg, die das „russische Trauma“ anspricht. Oder ist das russische Trauma der Sowjetmensch in seinen standardisierten Zimmern und den Ängsten, etwas Falsches zu sagen, wie es der junge Slawist Ivan Kulnev in seinen Collagen bearbeitet hat und 2017 mit Oktobern als Befreiung und Disziplinierung des Menschen besprochen worden ist? Die Antworten des sowjetischen Projekts bestanden wie beim Verb oktobern für eine Art sowjetische Taufe in einer Transformation von Begriffen. Währenddessen hat sich der Moskauer Finanzdistrikt in ein megalomanisches Hochhausviertel verwandelt und die russischen Oligarchen fahren (fuhren) mit den größten Yachten um die Welt. Auf Bali sitzen nun nach Kriegsbeginn und erfolgten Sanktionen tausende Russen fest. Man könnte fragen, an wen sich Putin mit dieser rhetorischen Milchmädchenrechnung wendet, wenn es nicht offensichtlich wäre. Nämlich an jene Abermillionen russische Bürger, die weiterhin in der sowjetischen Platte in Woronesch leben und schwerlich wie die Moskauer Schwulen aus den Hotels und Dienstleistungsunternehmen für das Wochenende nach Barcelona fliegen konnten! Die Antworten der Geschichte sollen die innenpolitischen Probleme verdrängen.
Die Figur des „paternalistischen Monarchen“ bei Iwan Ilyin ist in den paternalistischen Erzähler, dem Vater als Wirklichkeitsproduzenten gewichen. Wladimir Wladimirowitsch Putin ist immer rasiert, trägt Anzug mit Hemd und Krawatte und fördert plötzlich dadurch visuell geradewegs das Gegenmodell Wolodymyr Selenskij als aufbegehrenden Sohn, dem selbst im Deutschen Bundestag applaudiert wird. Klassischer könnte die Rollenverteilung kaum sein, die sich spürbar gegen Putin wendet. Das ist keinesfalls ein Nebenschauplatz des russischen Angriffs- und Vernichtungskrieges, der nach „Putins Hofphilosoph Alexander Dugin“ nur „wirklich entscheiden (kann)“, wie ihn Žižek zitiert. „Wenn Putin über die „Entnazifizierung“ der Ukraine spricht, sollten wir uns an seine Unterstützung für Marine Le Pens Nationale Sammlungsbewegung in Frankreich, Matteo Salvinis Lega in Italien und andere wirklich neofaschistische Bewegungen erinnern.“[19]
Die genaue Analyse der Reden und Putins Reden ist wichtig. Vieles spricht dafür, dass sich Putin kein postmodernes, sondern ein recht altes, sowjetisches Redenmodell inkorporiert hat. Der haltlose Missbrauch von Begriffen, um Wirklichkeit zu produzieren, sollte einfach ignoriert werden. Ist er wohl gar ein Symptom der Pedanterie? Eine gewisse Obsession für den Missbrauch von Begriffen lässt sich in beiden Reden beobachten: „fundamentale Bedrohung“, „Kriegsmaschinerie“, „Terrorismus“, „Extremismus“, „Lügenimperium“, „Anti-Russland“, „extreme Nationalisten und Neonazis in der Ukraine“, „kriminelle Befehle“, „Wiedervereinigung mit Russland“, „Volksrepubliken“, „Artikel 51 Absatz 7 der UN-Charta“, „demilitarisieren“, „russische Spezialoperation“, „entmilitarisieren“, „entnazifizieren“, „vor Gericht bringen“, „Aneignung der Ukraine durch das Nordatlantische Bündnis“, „Freiheit“, „Recht“, „volksfeindliche Junta“, „Neonazis“, „Gerechtigkeit und Wahrheit“, „Intelligenz“.[20]
Putin gebraucht und missbraucht eine ganze Reihe von Begriffen, die im internationalen Diskurs der Nachkriegszeit besonders wirkmächtig waren. Und er kennt zweifelsohne als ehemaliger KGB-Offizier und Männerfreund des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder das begriffliche Instrumentarium des Westens. – Aber bei Putin haben auch Männerfreundschaften ihre Zeit und ihren Zweck. – Er weiß, welche Begriffe vorkommen müssen, um verstanden zu werden. Und gerade deshalb hinterließen die Reden eine tiefe Verstörung bei den Analysten im Westen, wenn man es einmal so sagen will. Der widerrechtliche oder dysfunktionale Gebrauch der Begriffe ließ BILD hilflos von einer „irre(n) Rede“ sprechen. Irre war die Rede vielleicht nicht, aber berauscht von der eigenen Macht als Mann, der jetzt alles sagen darf und will. Der ultimative Missbrauch der Begriffe korreliert mit den Putins Artikulationen und Inszenierungen von Potenz (Macht/Vermögen) und Vergewaltigung wie sie mit Fragen der Intelligenz kürzlich besprochen worden sind. Die Performanz von Männlichkeit und Macht ist dem 69jährigen wichtig.
Am wirkungsvollsten lässt sich die rhetorische Figur der Drohung am Schluss beschreiben, indem er eine „Bedrohung für unser Land und unser Volk“ insinuiert. Als letzten Satz schiebt er die ultimative Drohung hinterher: „Ich hoffe, dass ich gehört werde.“[21] Putin droht mit der Atombombe. Die Drohung ist in der Politik eine vielgeübte und gut bekannte rhetorische Figur als lateinisch argumentum ad baculum. Im Englischen gibt es für eine Reihe Formulierungen appeal to force, appeal to power, appeal to bribery, argument to the cudgel oder appeal to the stick. Statt mit vernünftigen oder intelligenten Argumenten wird mit Macht – Atommacht – und Gewalt – Vernichtungskrieg – gedroht. Vernunft und Intelligenz als Mittel der Diplomatie werden für nichtig erklärt. Rhetorisch ist deshalb der vorausgegangene Zuruf „Ihr habt Macht, ihr braucht keine Intelligenz.“[22] aufschlussreich. Geht es doch nach wie vor um die Frage, wie intelligent Putin sei. Wie intelligent ist aber jemand, der seinen Hörer*innen entgegenruft: „Ihr habt Macht, ihr braucht keine Intelligenz.“ Damit wird zumindest das Modell der Intelligenz, mit der sich Macht erlangen lässt, annulliert.
Ist es eine Formulierung der Macht, wenn Putin hofft – „Ich hoffe“ –, gehört zu werden? Ist eine Drohung ein Zeichen der Stärke, um einen Krieg zu beginnen und ihn eskalieren zu lassen? Hatten wir Putin am 21. Februar 2022 nicht gehört? Wenn man gehört wird, auf einen gehört wird, dann könnte das für Macht sprechen. Wer nicht gehört wird, hat keine Macht. Hat Putin sich in ein Gehörtwerden hineingeredet? Er hat sich zumindest reden gehört. Der Wunsch gehört zu werden, spricht zweifelsohne stark aus dem Schlusssatz. Aber er schließt auch ein, dass er trotz der Gespräche am meterlangen Tisch, trotz des Arsenals an Telefonen und trotz der Videobotschaft nicht gehört wird. Man könnte das die ultimative Angst des Vaters, der das Gesetz verkörpert, die Angst des Patriarchen von Moskau und aller Rus, des ehemaligen KGB-Offiziers Kyrill I. nennen, dass die transformierten Militärkabinen und Kathedralen leer bleiben und sie nicht mehr gehört werden. Dann werden sie zusammen mit der ultimativen Vaterfigur des Papstes, lateinisch papa, fast plötzlich hinweggerissen.
Auf der Demonstration am 13. März 2022 zeigten sich viele Menschen mit der ukrainischen Flagge in Blau und Gelb. Noch interessanter waren die Demonstrant*innen mit den weiß-hellblauen Flaggen, bei denen der Berichterstatter zunächst Schwierigkeiten hatte, sie ein- oder zuzuordnen. Finnland? Nein, das wäre ein blaues Kreuz. Am Brandenburger Tor erklärte eine junge Frau in perfektem Deutsch, sie sei Russin und habe zwei ukrainische Großväter. Sie sei vor 14 Tagen nach Deutschland gekommen und Jüdin. Die Flagge, die sie zeige, sei eine neue russische Flagge, aus der das Rot in der russischen Flagge entfernt worden sei, weil es für das Blut des Krieges stehe. Wir kennen die Herkunft dieser Flagge nicht. Aber sie war vielfach auf der Strecke der Demonstration zu sehen. Eine Flagge ist ein Hoheitszeichen. Sie beansprucht mittelbar oder unmittelbar die Macht eines Landes. Während Putin sich noch in den Insignien der Macht zwischen den Russischen Flaggen per Video produziert, werden genau diese Insignien mit Smartphones und einer neuen Flagge hundert- oder gar tausendfach in Frage gestellt.
Die Vielfalt war dann an „Stoppt den Krieg“ und den dezentralen Protestaktionen auffällig. Viele junge Russ*innen und Ukrainer*innen sprachen z.B. seitlich der Russichen Botschaft in Berlin oder bei #PUTINSTOPKILL am Brandenburger Tor. Ein russisches Paar tanzte nah an der Siegessäule auf der Straße des 17. Juni ein perfektes Pas de deux. Tänzer*innen aus russischen Ballett-Compagnien verlassen St. Petersburg und Moskau. Opernchöre singen die ukrainische Nationalhymne und vieles mehr, was sich nicht beherrschen lassen will, Menschen, die sich der Drohung Putins nicht unterwerfen wollen, bilden eine Mehrheit, die nach dem Demokratieindex[23] für die Ukraine auf Platz 79 mit einem „Hybridsystem“ noch 2020 kaum vorstellbar schien.
Torsten Flüh
[1] „Das Projekt wurde im Jahr 2021 begonnen, konnte aber aufgrund der von Russland am 24. Februar 2022 eingeleiteten umfassenden Invasion der Ukraine nicht abgeschlossen werden. Seitdem ist es Sasha Kurmaz nicht gelungen, das Land zu verlassen.“
Sasha Kurmaz: The Temple of the Transfiguration. Berlin, 2022. (Deutsche Übersetzung von Anne Diestelkamp).
[3] Marcel Beyer: Putins Briefkasten. Acht Rechercehn. Berlin: Suhrkamp, 2012, S. 11.
[4] Siehe: Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache: Pedanterie.
[5] RND: Vom russischem Angriff überrascht: BND-Chef musste Ukraine mit Auto verlassen. In: RND 25.02.2022 20:06 Uhr.
[6] Sasha Kurmaz: The … [wie Anm. 1].
[7] Karl Schlögel: Russland Versteher – Wenn es denn welche gäbe! In: Mosse-Lectures 01.12.2022 um Minute 105.
[8] Ebenda um Minute 116.
[9] Ebenda um Minute 120.
[10] NTV: LIVE: #Putin hält Rede an die Nation zur Russland-Ukraine-Krise. YouTube: 21.02.2022.
[11] phoenix: Wladimir Putin zum Angriff Russlands auf die Ukraine am 24.02.22. YouTube: 24.02.2022.
[12] Die Rede von Wladimir Putin im Wortlaut. In: Die ZEIT 24. Februar 2022, 5:59 Uhr.
[13] Mosse-Lectures: Autokratien. Herausforderung der Demokratie. Berlin 2018.
[14] Echo der Zeit: Ist Russland unter Putin ein faschistischer Staat? SRF: 15.02.2022 19:18.
[15] Mosse-Lectures: Autokratien … [wie Anm. 13].
[16] Ebenda.
[17] Slavoj Žižek: Was bedeutet es, Europa zu verteidigen. In: Project Syndicat Mar 2, 2022.
[18] Die Rede … [wie Anm. 12].
[19] Slavoj Žižek: Was … [wie Anm. 17].
[20] Die Rede … [wie Anm. 12].
[21] Ebenda.
[22] Ebenda.
[23] Wikipedia: Demokratieindex.
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