»ça a été«

Witz – Mikro – Wissen

»ça a été«

Zur Tagung Lesen und Schreiben. Figuren des Kleinen zu Ehren von Prof. Dr. Marianne Schuller in der HFBK, Hamburg

In der Extended Library der HFBK am Hamburger Eilbekkanal über der Eingangshalle mit dem hohen Hellglasfenster Die schöne Botschaft Willy von Beckeraths fand anlässlich des ersten Todestages von Marianne Schuller die Tagung Lesen und Schreiben – Figuren des Kleinen statt. Zum Treppenhaus ist die Regalwand mit Scheiben durchbrochen. Die Erweiterung der Bibliothek deutet einen Raum an, der über die Geschlossenheit einer kanonischen Bibliothek hinausgeht. Fetting, Feuerbach, Fiebig, aber auch Caspar David Friedrich stehen im Regal. Für ihr Buch Moderne. Verluste. Literarischer Prozeß und Wissen verwendete Marianne Schuller ein Detail aus Giovanni Battista Piranesis Carceri d’invenzione. Treppen und Brücken mit winzigen Zeichnungen wimmelnd geschäftiger Arbeiter, die an Maschinenkonstruktionen vorbei in eine Höhe und Tiefe zugleich, in ein Nichts führen.

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Marianne Schuller war der HFBK auf vielfältige Weise nicht zuletzt über Debatten zum Feminismus und einer feministischen Literaturwissenschaft verbunden. Zwischen der Hochschule für bildende Künste im Lerchenfeld 2 und dem Philosophenturm der Universität Hamburg im Von-Melle-Park 6 entfalteten sich ihre Forschungen, Interventionen und ihre Lehre. Auf der Tagung sprachen Weggefährt*innen wie die ehemalige Presse- und Öffentlichkeitsreferentin der HFBK Karin Pretzel und die ehemalige Professorin für Ästhetische Theorie an der HFBK Michaela Ott. Gunnar Schmidt, der 2003 zusammen mit Marianne Schuller das titelgebende Buch Mikrologien. Philosophische und literarische Figuren des Kleinen publiziert hatte, verlas den Vortrag des verhinderten Jürgen Link. Zusammen mit Iris Därmann und Günther Ortmann hat er den Band Marianne Schuller: Bunte Steine Texte 1984-2023 herausgegeben. Karl-Josef Pazzini, Julia Pestalozzi und Ute Gerhard trugen weitere an Marianne Schuller erinnernde Vorträge bei.

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Die Teilhabe, in Momenten gar Teilnahme am Lesen und Schreiben von Marianne Schuller hat wenigstens Studienverläufe, wenn nicht gar Lebensläufe beeinflusst. Karin Pretzel erinnerte bei ihrer Begrüßung an ihre häufiger gebrauchte Formulierung „Ja, Mensch“, indem sie den Titel der Rede von Julia Pestalozzi vorwegnahm. Sie konnte nicht nur mit Ausrufezeichen zwischen Verwunderung und das Menschliche aufrufend vielfältig intoniert werden. Der Ausruf konnte ebenso mit Frage- oder Pausenzeichen, Gedankenstrich danach. Vis-à-vis gesprochen konnte Marianne Schullers „Ja, Mensch“ Leben verändern. Sie schaffte Nähe und Distanz gleichzeitig nach Karin Pretzel, schwebte im Zwischenraum. Für das Tagungsprogramm erinnerte sie an den Schluss des Vor-Worte(s) Nanologie aus Mikrologien:
„Nano- und Mikrochiptechnologie, Mikrobiologie, mikroinvasive Chirurgie, Quantencomputer, Elektronenrastermikroskopie. Winzige Rechner und Roboter werden erdacht, die, versteckt in Geräten und Körpern, Arbeiten verrichten. Diese Zwergenwelt ist alles andere als schwach und gewiss nicht mehr zu schlagen. Im Gegenteil, als ubiquitäre Anwesenheit kommt ihr eine Mächtigkeit zu, die bisweilen paranoisch erlebt wird. (…) Das Kleine in technischer Form ist kein schöner Schmetterling, es ist eine verstreute Großtechnologie.“[1]  

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Die technischen Formen des Kleinen operieren nicht nur mit Wissen z.B. im „Elektronenrastermikroskop()“ bzw. dem Rasterelektronenmikroskop, sie generieren zugleich ein solches in einer Repräsentationslogik, wenn hier nur einmal an die großformatigen Hintergrundbilder von SARS-CoV-2 in den Nachrichtensendungen von 2020 erinnert werden darf.[2] Ganz zu schweigen von den Menschenversuchen Elon Musks mit dem Chip Neuralink. Marianne Schuller und Gunnar Schmidt haben frühzeitig auf die Fragen an die Macht des Kleinen aufmerksam gemacht. Die Rechenprozesse bringen das Kleine zugleich hervor, wie sie mit dem Binarismus von 0 und 1 errechnet werden. Viele haben forschend daran, wie Marianne Schuller zeitweilig mit Vorliebe sagte, angedockt. Die literarischen Figuren des Kleinen aus der Zeit um 1800 wie 1900 geben weiterhin einen Wink auf andauernde Fragen nach dem mächtigen kursierenden Wissen und Wissensformen.

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Bevor auf die einzelnen Vorträge eingegangen werden soll, darf an dieser Stelle an das rahmende Umschlagbild von Moderne. Verluste.[3] mit einem Detail aus Carceri d’invenzione von Piranesi erinnert werden. Die Carceri begründeten quasi Piranesis Ruf in der Moderne. „Er wurde gefeiert als Vorläufer des Expressionismus und Surrealismus und in erster Linie mit seinen »Carceri d‘invenzione« identifiziert, einer Serie wilder, alptraumhafter, mit sadistischen Handlungen gespickter Kerkerszenen“, urteilten Georg Schelbert und Moritz Wullen 2020.[4] Doch zum Frontispiz der Serie geht Felicitas von Beughem detailliert und sich als „Betrachter“ imaginierend auf den bedenkenswerten Kerkerraum ein, der auf das Wissen wie den Wahn ebenso wie den Traum anspielt. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass die Radierung von 1761 mit 55 x 41,9 cm kleinformatig ausfällt.
„Als Betrachter betreten wir ihn (den Kerker, T.F.) durch einen dunklen Bogen und haben Sicht auf ein Wirrwarr aus Balken, Brücken, gemauerten Rundbögen, Ringen und Ketten. Der Raum scheint sich zum rechten Bildrand in undurchschaubaren Gewölben auszudehnen, sodass es nicht möglich ist, ein Ende zu erkennen, geschweige denn eine klare Raumstruktur.“[5]

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In der Forschung zur Sprache und dem Sprechen ging es Marianne Schuller, wie sich schon in ihrem frühen Text Hörmodelle zu Sprache und Hören in den Hörspielen und Libretti von Ingeborg Bachmann ankündigte, um die „lautliche Qualität von Sprache“[6] und die „Musikalität der Sprache des Imaginären“.[7] Die Reihe der Vorträge eröffnete Iris Därmann, Professorin für Kulturtheorie und Kulturwissenschaftliche Ästhetik an der Humboldt-Universität zu Berlin, nicht zuletzt deshalb einer „Fährte“ Marianne Schullers zu Walter Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert folgend, mit Kinder versammeln. Benjamins Theorie der Kindheit habe die Sprache erweitert um das, was sich ihr entziehe. Iris Därmann entwickelte an dem Beispiel von Fernand Delignys Zusammenleben mit sogenannten „autistischen“ Kindern in den Chevenen ein Denken des Menschlichen, das nicht dem Gesetz der Sprache unterworfen ist. 2019 hatte Leon Hilton auf my-blackout.com mit Mapping the Wander Lines: The Quiet Revelations of Fernand Deligny die „Fährtenlinien“ der Kinder neuerlich ins Interesse gerückt.

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Die Frage nach der Sprache und dem Kommunikationsvermögen von Kindern, die nicht sprechen, schneidet zugleich den Bereich der Psychiatrie an, den Gilles Deleuze und Félix Guattari mit Tausend Plateaus kritisch bearbeitet haben. Milles Plateaux gehörte seit der Übersetzung ins Deutsche 1992 zu den Theorietexten, die in den Seminaren von Marianne Schuller gelesen wurden und mit denen Haus-, Bachelor-, Masterarbeiten sowie Dissertationen und Habilitationen bei ihr entstanden.[8] – In Lothar Lamberts Die Liebeswüste geht es ebenfalls um die Sprache und eine stumme Frau (Ulrike S.), die aus der Psychiatrie entflohen ist.[9] Anders gesagt: es ließe sich mit Tausend Plateaus eine Kartografie der Fluchtlinien der stummen und unter dem Trenchcoat nackten Frau durch Berlin zeichnen. Fernand Deligny wurde für das Denken der Karte und des Rhizoms für Deleuze und Guattari wichtig, woran Iris Därmann verstärkend anknüpfte:
„Fernand Deligny transkribiert die Linien und Bahnen autistischer Kinder, er macht Karten: er unterscheidet sorgfältig zwischen „planlosen Linien“ und „gewohnten Linien“. Und das gilt nicht nur für das Gehen, es gibt auch Karten von Wahrnehmungen, Karten von Gesten (kochen oder Holz sammeln) mit gewohnten Gesten und planlosen Gesten. Ebenso für die Sprache, wenn es sie gibt. Deligny hat seine Schriftlinien für die Lebenslinien geöffnet.“[10]

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Für Marianne Schuller war in der Lehre wichtig, Theorie-Texte zu lesen, obwohl dieser Zug in ihren Texten heute von jungen Forschenden nicht gleich lesbar werden könnte. Sie zitierte Theorien von Sigmund Freud, soweit die Psychoanalyse als Theorie gedacht werden kann, Jacques Lacan, Jaques Derrida, Roland Barthes, George Didi-Huberman, Gilles Deleuze, Michel Foucault, Marcel Mauss, Julia Kristeva, Carlo Ginzburg etc. nicht als Wissen, vielmehr knüpfte sie an ausgelegte Fährten der französischen Theoretiker*innen an. Das war im forschenden Schreiben für und mit Marianne Schuller keinesfalls einfach zu praktizieren, vielmehr erforderte es einen Bruch mit der Tradition einer akademischen, Wissen zitierenden Schreibweise. Fast als ein methodologischer Kontrast dazu hörte sich Jürgen Links von Wissen sprühender Vortrag Die kleinen Chocs der Moderne. Statische Normalisierung und literarische Denormalisierung, von Gunnar Schmidt vorgelesen, an.

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Mit der Normalisierung knüpft Link an Michel Foucault an. Jürgen Link und Marianne Schuller waren seit ihrer frühen Zeit in Bochum Weggefährt*innen nicht zuletzt durch die medienkritische und diskurswissenschaftliche Zeitschrift KultuRRevolution, die er seit 1982 herausgibt. Marianne erwähnte sie gelegentlich in ihren Vorlesungen, um eine Hörerinnerung mitzuteilen. Der Normalisierung gilt es entgegenzuwirken. Eine Kulturrevolution verspricht eine Denormalisierung. Im Kontext der Geschichte der Volksrepublik China bekam der Begriff Kulturrevolution für mich in Shanghai wenig später, Mitte der 90er Jahre, einen ganz anderen Klang. Mao’s Kulturrevolution von 1966 bis 1976 hatte einen entschieden totalitären Charakter, der zwischenzeitlich eher schleichend unter Xi eine weitere nationalistische Kulturrevolution totalitärer Einheit gefolgt ist. Link erinnerte in seinem Vortrag nicht zuletzt an die Forschungen von Marianne Schuller und „die massenhaft kleinen Chocs in der Moderne“ bei Benjamin und Baudelaire. Der „Normalismus“ führe seit der Zeit um 1800 zu verdateten Gesellschaften.

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Karl-Josef Pazzini erinnerte in seinem Vortrag Marianne Schuller hört Kafka lachen an das Lachen in den Texten von Franz Kafka. Sie habe die Texte mit Freud als ein Überbleibsel ihres Medizinstudiums gleichsam auf Symptome abgehört. 2016 veröffentlichte sie in RISS, Zeitschrift für Psychoanalyse den Text Ein «großer Lacher». Kafka. In einem Brief an Felice gehe es 60mal ums Lachen. Nach Pazzini habe Marianne darin etwas von sich wiedererkannt. Es sei ein keine Bedeutung produzierendes Lachen. Einmal abgesehen von Kafka, kam Marianne Schuller verschiedentlich auf das Lachen, das sich einer Kontrolle der Lacher*in entziehe, zurück.  Das Lachen platze aus einem heraus. Das Lachen räume nach Pazzinis Lektüre den Zwang zur Seite, alles verstehen zu müssen. Dem Lachen nachgehört, könne es auf vielfältige Weise entstehen. So könnten Entsetzen und Erschrecken plötzlich auflachen lassen. Zugleich sei das Lachen Lustquelle und Jouissance in einem. Und mit Marianne Schuller gab Karl-Josef Pazzini zu bedenken:  „Wieso soll denn das Hören ein Fernsehen sein?“

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Die für Marianne Schuller nicht zuletzt als Verfahren des Hörens und Sehens wichtige Psychoanalyse spielte zugleich in der Rede „Ja, Mensch!“ – Höre ich sie noch sagen von Julia Pestalozzi auf verwandtschaftlicher Ebene eine diskrete Rolle. Julia Pestalozzi wurde 1934 in Budapest geboren, studierte dort wie in Zürich als auch in London, heiratete Marianne Schullers Verwandten Pestalozzi und wurde eine schwesterliche Zuhörerin wohl nicht zuletzt am Telefon. Sie praktiziert als Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Psychotherapie in Basel. In ihrer persönlichen Rede von den Erinnerungen an die 8 Jahre jüngere Marianne bzw. Manni rief sie nicht zuletzt die generationellen Verstrickungen in der Familie auf.[11] Julia Pestalozzi erwähnte fast schon als Nachwort, dass es in ihrer Familie in Budapest jüdische Verwandte gegeben habe. Der biographischen Redeweise stand Marianne Schuller im Kontext ihrer Literaturforschung ablehnend gegenüber. Mit Julia Pestalozzis Rede indessen, die sie insbesondere an Heidrun Kaupen-Haas als Hinterbliebene adressierte, tat sich indessen ein Riss auf. – Das Verfahren der Psychoanalyse im Lesen, Hören und Schreiben war auch überlebenswichtig gewesen.

Blick über die Außenalster mit den Mundsburg-Türmen und dem Kirchturm von St. Gertrud in der Nähe der HFBK.

Die hohe Intensität der Tagung, die intensive Adressierung der Redebeiträge an Marianne Schuller hatten zweifellos mit der Rede von Julia Pestalozzi dem Sagbaren, dem Angedeuteten und der schwesterlichen Hinwendung einen besonderen Punkt erreicht. Das Tagungsessen an der Alster in einem gehobenen italienischen Restaurant soll schon deshalb erwähnt werden, weil sich unter zunächst wenig Bekannten oder gar Unbekannten ein respektvolles, fast enthusiasmiertes Gespräch entspann. Das geheimnisvolle Spiel von Nähe und Distanz, das sich beizeiten mit Marianne einstellte, stiftete Gegenwart und Abschied. Sollten die Gespräche, die Hinwendungen noch über den Abend und die Tagung hinausgehen? Zumindest versicherten sich die Teilnehmenden untereinander, dass die Stimmung für einen Moment mit der An- wie Abwesenheit von Marianne Schuller zu tun gehabt habe. „Das ist sie auch gewesen.“

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Am Sonntagmorgen rückte Ute Gerhardt Marianne Schuller als Theoretikerin des Witzes und Lachens in Erinnerung, indem sie die Fluchtlinien des Kleinen in Siegfried Kracauers Roman Ginster von 1928 verfolgte. Und sie erinnerte sich an Marianne, die in Bochum auf Tische und Stühle gesprungen war. Zugleich rahmte sie ihren literaturwissenschaftlichen Vortrag mit dem Hinweis auf die aktuelle Debatte der „Kriegstüchtigkeit“. Denn Ginster entziehe sich den Kategorien des Normalen und der Normalität. Dem Protagonisten gehe es darum, sich in seiner witzigen Wendung zum Drücken und Drückeberger dem Krieg zu entziehen. Dafür setze er das Verfahren des Witzes ein. Kracauer habe den Roman anonym veröffentlicht und so schon im Titel formuliert: als habe Ginster ihn selbst geschrieben: Ginster Von ihm selbst geschrieben. Damit habe Kracauer auch die traditionelle Autobiographie verfremdet. So werde in Ginster und mit Ginster durch das Kleine und Verschwinden mit Witz formuliert, wenn es im Musterungsraum um die statistische Vermessung für die Kriegsteilnahme geht und er sich über den Begriff Volk wundert:
„Ginster hatte immer nur Leute kennengelernt. Niemals Völker.“[12]

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Die Originalausgabe von Siegfried Kracauers anonym im Berliner S. Fischer Verlag veröffentlichten Roman schlägt bereits in der Eröffnungssequenz die Themen des Einzelnen und der Masse mit den Verfahren des Witzes an. Der Name sei „ihm aus der Schule geblieben“[13], womit sich eine ganze Reihe von Assoziationen des oft streng riechenden Ginsters ergeben. Häufig kommt er auch als Stechginster vor. Syntagmatisch weckt der Witz Erwartungen, die auf paradoxe Weise nicht eingelöst werden: „Es befriedigte Ginster, daß der Kellner einem Klub die Treue hielt, der niemals kam.“ Ginster beherrscht den Sprachwitz, indem er sich schon eingangs durch Homonyme von der „Masse“ ironisch abhebt. Als er auf einem Platz der Stadt M. auf eine Menschenansammlung stößt, werden deren Köpfe zu „Kopfpflaster“ bzw. Kopfsteinpflaster:
„Der helle Nachmittag lud dazu ein, auf ihren Köpfen spazieren zu gehen, die wie Asphalt glühten. Ginster wurde durch die Vorstellung erschreckt, daß das Kopfpflaster plötzlich auseinanderbrechen könnte.“[14]

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Michaela Ott knüpfte in ihrem Vortrag Minoritär-Werden von Philosophie und Kunst ebenfalls an Gilles Deleuze/Félix Guattari mit Zeichnungen und Wortmutationen der HFBK-Absolventin Nanne Meyer an. In den Zeichnungen der Linien werden Formen angedeutet, während zugleich die Wörter mit Adverbien wie, aber oder wie immer kleiner werden. Michaela Ott erinnerte daran, dass sich im nächsten Jahr der 100. Geburtstag von Gilles Deleuze jähre. Ohne Deleuze wäre sie nicht an der HFBK gelandet, aber auch nicht ohne Marianne. Das von Deleuze eröffnete Denken des Werdens habe sich gegen die Philosophiegeschichte als Geschichte eines Unterdrückers geäußert. Das Minoritärwerden wende sich gegen die Statik der Größe und Klarheit. Deleuze habe sich gegen die Nichtbeachtung der in Frankreich aus Afrika lebenden Schriftsteller gewendet, was für ihre Forschungen wichtig wurde. Damit habe er großen Einfluss auf ihre eigenen Forschungen wie den afrikanischen Film ausgeübt.

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Mit seiner frei vorgetragenen Rede Organisationstheoretische Mikrologien erinnerte Günther Ortmann zunächst an den Salon von Marianne Schuller und Heidrun Kaupen-Haas in der Bornstraße. – Bornstraße ist auch für mich ein Zauberwort. In der Bornstraße 7c wohnten meine Großeltern in der 5. Etage unter dem Flachdach, die ich als Kind oft besuchte. Im Betonteich des Von-Melle-Parks der Universität wollten die Spielzeugschiffe nicht so recht schwimmen. Später Philosophenturm und Marianne. Jüdisches Leben als literarischen Spaziergang für die VHS. – Günther Orthmann hatte im November 2016 zusammen mit Marianne Schuller die transdisziplinäre Tagung »Was ich berühre, zerfällt« „Organisation, Recht, Schrift – Kafka“ im Haus Huth der Daimler und Benz Stiftung in Berlin organisiert. Aus der Tagung ist 2019 der Band Kafka – Organisation, Recht, Schrift hervorgegangen. Durchaus mikrologisch eröffnete Günther Ortmann seinen Beitrag mit dem Comic Yo! Yes? von Chris Raschka.[15] Durch die lautliche Begrüßung „Yo!“ werden zwei Jungen schließlich zu Freunden.

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Ortmann entwickelte aus dem „Yo!“ in freier Rede eine praxeologische Organisationstheorie vom Begrüßen und Danken als Formen des Tausches. Dabei erwähnte er zugleich das an Marianne erinnernde Lachen als ein Geschenk. Denn der Dank sei eine Sache, zu der man nicht verpflichtet ist. Zugleich wird der Dank in unterschiedlichen Kulturen ganz verschieden verbalisiert oder durch Gesten bekundet. Seine Organisationstheorie basiert auf der Rekursivität, zu der Günther Ortmann in der Rede wie im Kafka-Band bemerkte:
„Organisationen lassen sich nach alledem als Veranstaltungen/Einrichtungen selbsterzeugter Gesetzlichkeit auffassen, deren Abgründigkeit latent bleiben muss und von ihnen auch fast immer, auch unter Einsatz organisationaler Mittel, latent gehalten wird. Die Gefahren und die Unheimlichkeit dieser Selbstreferentialität und Rekursivität blitzt nur von Zeit zu Zeit auf“.[16]

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Die Tagung endete mit einem Video aus Fotos, die Claudia Reiche von Marianne Schuller 1989-1991 gemacht hatte. Nach der Projektion kommentierte sie die Fotos kurz:
„Es ist einfach so, dass das Fotografieren mit der Spiegelreflexkamera eine optomechanische Inszenierung von Nachträglichkeit bietet: Sobald der Auslöser gedrückt wird, verschwindet mir das Bild  kurz im Sucher, das heißt, fotografieren, was gewesen sein wird.“
Marianne lächelte, wurde wieder ernst und wir machten noch ein Foto.

© Claudia Reiche

In der Fotografie ist es vor allem die Zeitlichkeit, die Roland Barthes in seinem Buch La chambre claire, ein Buch des Abschieds und der Trauer, mit dem nur unscharf zu übersetzenden »ça a été« formuliert hat.

Torsten Flüh

post scriptum: Eine auf die Beiträge der Tagung bezugnehmende Auf-Zeichnung von Erik Porath:

© Erik Porath

Marianne Schuller
Bunte Steine
Texte 1984-2021.

Herausgegeben von Iris Därmann, Günther Ortmann und Gunnar Schmidt.
Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 2024.
39,90 EUR


[1] Marianne Schuller, Gunnar Schmidt: Mikrologien. Literarische und philosophische Figuren des Kleinen. Bielefeld: transcript, 2003, S. 24-25.

[2] Siehe zur Sichtbarkeit von SARS-CoV-2: Torsten Flüh: Unheimlich unheimlich. Zum „bakterielle(n) Live Talk des Mondmaschine-Teams mit … Claudia Reiche“ via zoom. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. April 2020.

Siehe auch die frühe Besprechung zu Verschwörungstheorien während der Pandemie: Torsten Flüh: Fledermäuse, Pangoline, Labore und die Gattung Homo sapiens sapiens. Wie Verschwörungstheorien Sinn stiften und Narrative vom Patient Zero bis zur Artengrenze übertragen werden. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. April 2020.

[3] Marianne Schuller: Moderne. Verluste. Literarischer Prozeß und Wissen. Basel/Frankfurt am Main: Stroemfeld/Nexus, 1997.

[4] Georg Schelbert, Moritz Wullen: Das Piranesi-Prinzip. Einführung, Gruß und Dank. In: dieselben (Hg.): Das Piranesi-Prinzip. Berlin: E. A. Seemann, 2020, S. 4.
Siehe auch die Online-Ausstellung: Das Piranesi-Prinzip. Zum 300. Geburtstag des großen italienischen Meisters. Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin.

[5] Felicitas von Beughem: Kat. 13 Kerker (Titelblatt) In: Georg Schelbert, Moritz Wullen: Das … [wie Anm. 4] S. 58.

[6] Marianne Schuller: Hörmodelle. Sprache und Hören in den Hörspielen und Libretti [Ingeborg Bachmann]. In: Marianne Schuller: Bunte Steine. Texte 1984-2021. Herausgegeben von Iris Därmann, Günther Ortmann und Gunnar Schmidt. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 2024, S. 12.

[7]  Ebenda S. 16.

[8] Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin: Merve 1990.

[9] Vgl. zur Sprache ebenso wie der Thematisierung des Mediums Film mit dem Schneidetisch im Film in Korrespondenz mit Hörspiel bei Ingeborg Bachmann der „Rasierklingenmann“: Torsten Flüh: Mehr Ruhm! Lothar Lambert zum 80. Geburtstag und seine Filmen Die Liebeswüste, Verbieten Verboten und Fucking City. In: NIGHT OUT @ BERLIN 24. Juli 2024.

[10] Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend … [wie Anm. 8] S. 277.

[11] Wir wissen nicht, ob sich Marianne Schuller auf die Frage der „Literatur, Autofiktion und Fiktion“, wie sie von Falk Richter mit The Silence auf die Bühne gebracht worden ist, hätte anfreunden können. Doch es gibt einen generationellen Wink hinüber in das Familiäre und die Geschichte. Siehe: Torsten Flüh: Auf dünnem Eis. Zur gefeierten Deutschen Erstaufführung von Falk Richters The Silence an der Schaubühne. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. Dezember 2023.

[12] Bedenken ließe sich mit dem Namen Ginster die gleichnamige Buschpflanze, die zur Unterfamilie der Schmetterlingsblütler gehört. So wurde bereits 1753 von Carl von Linné der Deutsche Ginster beschrieben und kategorisiert.

[13] (Siegfried Kracauer:) Ginster. Von ihm selbst geschrieben. Berlin: S. Fischer Verlag, 1928, S. 9.

[14] Ebenda S. 9-10.

[15] Chris Raschka: Yo! Yes? United States: Orchad Books, 1993. (YouTube)

[16] Günther Ortmann: Kafka: bootstrapping avant la lettre. In: Günther Orthmann, Marianne Schuller: Kafka – Organisation, Recht, Schrift. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 2019, S. 206.

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