Labor – Aufklärung – Wissenschaft
Aufklärung als Wissenschaftsprojekt und die Erfindung des Labors
Zur allzu didaktischen Ausstellung Was ist Aufklärung? Fragen an das 18. Jahrhundert im Deutschen Historischen Museum
Das nackte Auge aus einem Behältnis mit einem halbkugelförmigen Deckel, das um 1700 in Nürnberg als ebenso kunstvolle Handwerksarbeit wie kenntnisreich medizinischem Wissen über das menschliche Organ hergestellt wurde, ziert das Plakat zur Ausstellung Was ist Aufklärung? Fragen an das 18. Jahrhundert, die bis 6. April 2025 gezeigt wird. Liliane Weissberg hat die Ausstellung kuratiert und die „Grundthese der Ausstellung“ formuliert, dass es keine simple Antwort auf die Frage gebe, „sondern Probleme, die gezeigt werden,“ wichtig seien. Dafür wird die Ausstellung in 9 Abschnitte wie „Suche nach Wissen und der neuen Wissenschaft“, „Ordnung der Welt“, „Staatskunst und politische Freiheit“ und „Die Lehren der Antike“ sequenziert. Ausstellungen leben weniger von Texten als von faszinierenden Objekten.
Das Auge des Nürnberger Drechslers und Handwerkskünstlers Stephan Zick fasziniert als Ausstellungsobjekt ebenso wie eine Große Scheiben-Elektrisiermaschine aus dem Besitz Goethes. Auf der aufgeschlagenen ersten Seite der Berlinischen Monatsschrift der Dezemberausgabe von 1784 beantwortet Immanuel Kant wortgewandt die vom Verleger gestellte Frage „Was ist Aufklärung?“. Doch statt an Antworten knüpft die Ausstellung stärker an den Modus der Frage an. Sie lässt die Besucher*innen über die vielfältigen und faszinierenden Objekte vom Dornhai-Präparat in Alkohol bis zu Stühlen aus Goethes Haus am Frauenplan als Inszenierung eines Salons stolpern. Die entscheidende Transformation des Labors als Raum zur Wissensgenerierung mit z.B. Elektrisiermaschine oder Messgeräten wird konzeptuell kaum beachtet.
Im Zuge der Aufklärung und Kants formelhaft-vielversprechender Beantwortung der Frage – „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ – werden eine Vielzahl von Apparaten wie Goethes Elektrisiermaschine, „Weltmaschinen“, wie Goethe sie aus dem Laboratorium des Herzogs Ernst II. von Gotha[1] kannte, oder Luftpumpen[2] entwickelt. Goethe hat mehrere Elektrisiermaschinen angeschafft[3], die ihn faszinierten und zu Experimenten angeregten. Doch die Elektrisiermaschine in der Ausstellung wird bis auf den Hinweis, dass Goethe sie gesammelt und z.B. eine Farbenlehre als wissenschaftliches Projekt betrieben habe, wenig kontextualisiert. Unterschlagen wird geradezu, dass Goethe Wolken interessierten und Meteorologie auf dem Ettersberg mit einer Wetterstation betrieben hat.[4] Im Katalog zur Ausstellung „Was ist Aufklärung?“ Fragen an das 18. Jahrhundert fehlt die Elektrisiermaschine. Während gerade Goethe lange Zeit als sogenanntes „Universalgenie“[5] galt und damit das Projekt Aufklärung für einen germanistischen Horizont verkörperte, bleibt er in der Ausstellung mit der blitzenden und spiegelnden Maschine im Stillstand konturlos.
Die Besucher*innen der Ausstellung über 2 Etagen im Pei-Bau des DHM können fasziniert und befriedigt an der in den Scheinwerfern blinkenden Elektrisiermaschine vorübergehen. Ah, Goethe! Ah, Wissenschaft! Ja, ja, Aufklärung! Und so setzt sich der Parcours über eine „Robe à la française mit Ballonmotiven, vermutlich Frankreich, ca. 1783“, „Geisblatt mit Granatrother Blume aus der Schildbach’schen Xylothek (Holzbibliothek), Kassel, 1780–1800“ und „Figurengruppe Friedrich II. und Voltaire, Volkstedt, nach 1767“, durchkalkulierten Lagerungsplänen von liegenden Sklaven auf Sklavenhandelsschiffen, „Steinschlossgewehr“, „172 Kaurischnecken“ und „Beineisen von Versklavten“ aus dem Ethnologischen Museum Berlin bis zum großformatigen Ölgemälde Jupiter und Ganymed von Johann Joachim Winckelmanns Malerfreund Anton Raphael Mengs aus Privatbesitzt fort. Aufklärung in ihrer widersprüchlichen Vielfalt.
Die Ausstellung feiert mit ihrem Titel nicht zuletzt Immanuel Kant als Aufklärer im Kant-Jahr zu seinem 300. Geburtstag. Große Debatten zu Kant sind eher ausgeblieben. Wenig Nachdenkliches hallt nach dem 22. April 2024 durch das Feuilleton. Fast schon selbstverständlich wird im Abschnitt 8 zur „Gleichheit des Menschen“ der blinde Fleck des von Bristol aus blühenden Sklavenhandels im 18. Jahrhundert mit einer widerlichen Fußangel für einen Sklaven auf einem Schiff, soll man sagen, repräsentiert? 2021 war im Vorfeld zum Kant-Jahr des Philosophen Begriff von „Menschenrace“ kontrovers diskutiert worden.[6] Insbesondere im Kontext vom „Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ und europäischem Sklavenhandel wird die große Geste der Befreiung prekär. Die Mündigkeit wurde den Menschen aus Afrika als Ware abgesprochen. Aus Afrika verschleppte Menschen ohne ein Recht auf Mündigkeit waren materielles Eigentum europäischer Herren, Kaufleute.
Im reich bebilderten Katalog zur Ausstellung wird zwar viel über Kant geschrieben. Doch die Frage zum Begriff der „Menschenrace“ in der Königsberger Schreibstube wird nicht näher erörtert. Gunnar Hindrichs schreibt, dass Kant einen Imperativ formuliert habe. „»Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.« Sapere aude! – »Wag zu wissen!« ist der Imperativ, alle inneren und äußeren Verhältnisse der Entmündigung umzuwälzen.“[7] Doch um welches Wissen geht es hier? Hindrichs nimmt mit dem Imperativ „»Wag zu wissen!«“ eine leichte Verschiebung vor. Denn die geläufige Übersetzung mit „Wage weise zu sein“ für das mehrdeutige Verb sapere gibt einen Wink auf ein länger zusammengetragenes Erfahrungswissen als auf ein eher mathematisch schließendes Verstandeswissen. Das Wissen des sapere für „schmecken“, „riechen“(!), „merken“ und erst metonymisch verstehen bringt stärker das Sinnliche des Verstehens in Spiel, von dem es bei Kant mit akademischer Geste gereinigt wird.[8] Wissen und Wissenschaft oszillieren in den Wissenspraktiken der Aufklärung.
Obwohl Immanuel Kant 1784 vom rassistisch legitimierten Sklavenhandel in der Hauptstadt des Herzogtums Preußen wie seit 1701 Krönungsort der Preußischen Könige, seit 1544 nach der Philipps-Universität in Marburg 1727 zweiten lutherischen Universitätsstadt im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nationen und seit der Zeit der Hanse herausragenden Handelsstadt Königsberg gehört und gelesen haben dürfte, bleibt die „Menschenrace“ ein blinder Fleck. Freilich wurde Königsberg schon im 18. Jahrhundert als Universitätsstandort und Hauptstadt des Herzogtums Preußens marginalisiert, weil in Berlin und eben nicht in Königsberg bahnbrechende Medien, d.h. Zeitschriften- und Buchverlage entstanden. Der verlegerische „Werbeerfolg“ (Liliane Weissberg)[9] mit der Frage „Was ist Aufklärung?“ war von dem lutherischen Pfarrer an der Hauptkirche St. Nikolai Johann Friedrich Zöllner im Dezember 1783 ins Komische gezogen worden. Die mit verlegerischem Gespür formulierte Frage stieß vor allem in den Debattenräumen von Berlin und dann bei Kant in Königsberg eine rege Schreibtätigkeit an. Königsberg als bürgerliche Universitätsstadt nahm an der Debatte teil, weil, was selbst von den Ausstellungsmacher*innen wenig berücksichtigt wird, es mit seiner Universität und Philosophie-Professor Immanuel Kant zum bürgerlichen Debattenraum gehörte. In Berlin wurde die Universität erst 1809 gegründet. Schon 1787 war Kant in die Berliner Akademie der Wissenschaften aufgenommen worden.
Immanuel Kant formuliert die Menschenwürde nicht so formelhaft wie es beispielsweise die Bundeszentrale für Politische Bildung es gern hätte[10], vielmehr wird der Kategorische Imperativ, kurz KI(!)[11], in den Grundlagen zur Metaphaysik der Sitten (1785) von Kant für die Prinzipien der Freiheit die „Idee der Würde eines vernünftigen Menschen“(!) vor einem mathematisch-kaufmännischen Hintergrund von Äquivalenz formuliert: „Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder einen Wert. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“[12] Würde hat im Unterschied zur Ware keinen Äquivalent. Sie ist unvergleichlich und unveräußerlich. Doch gerade die Begriffsformulierung der „Würde eines vernünftigen Menschen“ im System Kant zeitigt an anderer Stelle Widerspruch. Urvashi Chakravarty geht im Essay Aufklärung und Rassismus stärker auf dessen „spannungsgeladene(s) Verhältnis“ ein:
„Einerseits ist das der Aufklärung nachgesagte Bekenntnis zu Freiheit und Autonomie ein zentraler Bezugspunkt in der Geschichte des Denkens; andererseits ist die Epoche der Aufklärung auch die Zeit, in der die Sklaverei massiv zunimmt, sich rassistische Hierarchien festigen und Racial Capitalism als ein System entsteht, das bis in unsere Gegenwart fortwirkt.“[13]
Die Emphase über die neuen Funktionen von Vernunft und Verstand für die Freiheit generiert zugleich Schattenseiten. Kants Wortwahl von „Zweck“ und „Preis“ aus dem bürgerlichen Handel, in dem alles seinen „Preis“ hat und ein „Äquivalent“ gefunden werden kann, bekommt mit der „Würde“ eine preislose Ausnahme, wodurch die Menschenwürde den Prinzipien nicht nur des Handels, vielmehr noch des Kapitalismus im System Kant entzogen wird. Praktisch geschieht allerdings mit dem Racial Capitalism genau das Gegenteil. Aufklärung bei Kant, so ließe sich formulieren, schließt im Namen einer „Metaphysik“ aus, was an anderer Stelle permanent wiederkehrt. Im Eingangsbereich der Ausstellung wird dies mit der Wissenschaftsinszenierung des Bildes Ein Philosoph hält einen Vortrag über das Tellurium aus dem Jahr 1768 von William Pether nach Joseph Wright of Derby erahnbar, wenn dazu seitlich etwa Francisco de Goyas El sueño de la razón produce monstruos (1799; Der Schlaf der Vernunft erzeugt Ungeheuer) oder Johann Heinrich Füssli Der Nachtmahr (1795) projiziert werden.
Harmut Böhme hatte bereits in seiner Mosse-Lecture auf den Schlaf und Traum als Gegenbewegung zur Vernunft (la razón) hingewiesen.[14] Weit weniger als in einer philosophisch-historischen Begründung von nicht zuletzt kaufmännischem Vernunftwissen lassen sich die Wissensformen der Aufklärung vereinheitlichen, obwohl sich die mathematische Methode durchsetzen sollte. Chrétien Frédéric Guillaume Roths „Wissensbaum“ von 1769 der im Ergänzungsband zu Band 1 der Encyclopédie von Diderot und d’Alembert veröffentlicht wurde, gibt nach Silke Förschler und Nina Hahne „Auskunft über das Methodenwissen der Aufklärung“.[15] Doch dieses wird von Ulrich Johannes Schneider in seinem Katalogaufsatz Wissen fördern, Wissen ordnen nicht berücksichtigt, obwohl Roths „Wissensbaum“ abgedruckt wird.[16] Einerseits sehen dagegen die Autorinnen in der „Anordnung der Wissensgebiete“ eine „natürliche“ Repräsentation, die aber nicht als „statisch“ dargestellt wird. Andererseits stellt „der Wissensbaum als genealogisches Ordnungsmuster … die Hierarchie im Prozess der Vermittlung von Wissensfelder … durch seinen ästhetischen Eigenwert selbst in Frage“.[17]
Das Methodenwissen geht einher mit einem „Methodenbewusstsein der Aufklärung“, „das die ganze Spannbreite von heteronom angelegten didaktischen Konzepten der Wissensvermittlung und autonomeren ästhetischen Verfahrensweisen der Erkenntnisgenerierung umfasst“.[18] An dieser Stelle kommt J. W. Goethe ins Spiel, wie er in der Ausstellung nicht vorkommt. Denn Goethe formuliert sein Wissen nicht in philosophischen Begriffstexten wie Kant, vielmehr schreibt er es in einer Bandbreite literarischer Formen von der „Nachtszene“ im Urfaust um 1774 „(i)n einem hochgewölbten engen gothischen Zimmer“[19], das man schon Labor nennen könnte, über die 676 Xenien mit Schiller[20] bis zu Maximen und Reflexionen postum 1833, in denen „Sprüche … aus fünf Dezennien“[21] postum kompiliert wurden. Seine Bibliothek umfasst noch heute mit 1.140 Titeln zu den Naturwissenschaften den größten Teilbereich.[22] Obwohl Goethe z.B. mit der Großen Scheiben-Elektrisiermaschine selbst experimentieren wollte und er in zahlreichen literarischen Genres sein Wissen durch Anschauung formulierte, gibt die Bibliothek einen Wink auf seine Wissensakkumulation durch Bücher!
Um kurz bei Kant und den Büchern zu bleiben: Goethes und Schillers Xenien als Hauptteil des Musenalmanachs von 1797 können als Kritik an kursierenden Texten in Zeitschriften und Büchern von z.B. von Matthias Claudius – „18. Erreurs et verité.“ – über Immanuel Kant – „63. An Kant.“ – und – „385. David Hume“ – wie der ziemlich despektierlichen Wissenschaft – „62. Wissenschaft.“ – in aphoristischer Form gelesen werden.[23] Die Kritik hat aus der knappen zweizeiligen und pointierten Form heraus einen ebenso zeitlich aktuellen wie räumlich bibliothekarischen Modus, wenn Claudius und Kant ebenso wie Hume aufgegriffen werden. Die Kant-Kritik zielt auf den bürgerlich-mathematischen Diskurs, wenn von Goethe und/oder Schiller mit „Rotüre“ der französische Begriff für „Bürgerpack“ gebraucht wird: „Vornehm nennst du den Ton der neuen Propheten? Ganz richtig,/Vornehm philosophiert heißt wie Rotüre gedacht.“ Sie hatten daher Kants Anknüpfung an die Bürger- und Kaufleute durchaus gelesen. Die „Wissenschaft“ wird in der vorausgegangen Xenie als Broterwerb kritisiert: „Einem ist sie die hohe, die himmlische Göttin, dem andern/Eine tüchtige Kuh, die ihn mit Butter versorgt.“ Was sich im Modus der Xenien schreiben lässt, kritisiert die Begriffsarchitektur Kants in mehreren aufeinander folgenden Kritik-Büchern, Kritik der reinen Vernunft (1781), Kritik der praktischen Vernunft (1788) und Kritik der Urteilskraft (1790).
Die Kritik wird zur Frage einer elastischen Ironie durch die Xenien, indem „An Kant“ die „Rotüre“ adressiert wird. Denn der vornehme Ton des Philosophierens, der dem Adel zugerechnet wurde, wird nun dem „Nichtadel“ bzw. abwertend dem „Bürgerpack“ zugestanden. Damit verändert sich der vornehme Ton des Philosophierens zwar abwertend, aber zugleich in politischer Hinsicht demokratisierend. Die Formulierungen der Xenien bleiben mehrdeutig. Auf diese Weise werden sie zu einem Gegenentwurf zur Begriffsliteratur Kants. Sie bringen die Begriffe und das Wissen als mehrdeutige Formulierung ins Schwanken. So auch mit der „Preisfrage der Academie nützl. Wissenschaften.“, die ironisch in eine orthografische Frage verkehrt wird: „Wie auf dem Ü. fortan der theure Schnörkel zu sparen?/Auf die Antwort sind dreißig Dukaten gesetzt.“ Goethe und Schiller geraten in eine bissige Formulierungskunst, wenn die Lateingelehrten mit der „Rechtsfrage.“ eine ironische Kritik an Kants »Sapere aude!« über das „Riechen“ schreiben: „Jahre lang schon bedien ich mich meiner Nase zum Riechen,/Hab ich denn wirklich an sie auch ein erweisliches Recht?“ Denn schon in der vorausgegangenen Xenie zu David Hume wird vor Kant gewarnt: „Rede nicht mit dem Volk, der Kant hat sie alle verwirret“.
Während Kant in den Xenien 1797 zu einem wichtigen Adressaten wird, formuliert Goethe spätestens seit 1809 mit „Aus Ottiliens Tagebuch“ in den „Wahlverwandtschaften“ wie „längere Prosatexte oder Briefe“ Passagen, die als Sprüche gesammelt, zunächst 1823 als Älteres, beinahe veraltetes und schließlich in Maximen und Reflexionen[24] als Wissens- wie Wissenschaftsprobleme veröffentlicht werden. In Älteres, beinahe veraltetes wie auch in Maximen und Reflexionen macht Goethe „das Problematische“ zum Leitfaden seiner Wissenschaft. Denn es gehe darum „alles zu beachten, was irgend auf eine Art zur Sprache kommt, am meisten dasjenige was uns widerstrebt: denn dadurch wird man am ersten das Problematische gewahr, welches zwar in den Gegenständen selbst, mehr aber noch in den Menschen liegt“.[25] Was „zur Sprache kommt“ und gebracht worden ist, lässt sich im Laboratorium der Sprache für den Büchersammler, Leser und so gebildeten Dichter mit anderen Formen formulieren. Dennoch geht es ihm durch Anschauung darum, dass „das Problematische gewahr“ wird. Wie sieht Goethes Labor nun aus? Wie richtete er es sich ein?
1790 erscheint in Jena Johann Friedrich August Göttlings Vollständiges Chemisches Probir-Cabinet zum Handbrauche für Scheidekünstler, Aerzte, Mineralogen, Metallurgen, Technologen, Fabrikanten, Oekonomen und Naturliebhaber entworfen, das als Laborbeschreibung in Goethes Bibliothek gelangt.[26] Einerseits gehört die Universität Jena mit dem außerordentlichen Professor für Philosophie und seinem Lehrauftrag für Chemie Göttling zu Goethes Wissenschaftsumfeld, sodass auch denkbar wäre, dass Göttling ihm das Buch überreicht oder zugesandt hatte, andererseits wird das Handbuch an eine breite Leserschaft adressiert, die nicht aus Chemikern besteht, bei denen er aber „etwas Chemie voraussetzen kann“[27]. Das „Probir-Cabinet“ beschreibt ein Labor für „Untersuchungen auf dem nassen Wege“ in einer Phase, in der sich der Begriff Labor im Gebrauch seit 1600 noch nicht durchgesetzt hat. Er kursiert erst seit 1900 in einer hohen Gebrauchsfrequenz. Im Zeitraum von 1790-1799 wird er exakt einmal nachgewiesen.[28] Das richtige Labor nach dem Philosophieprofessor Göttling ist für die „Wiederholung dieser Versuche“ angelegt, die richtige Erscheinungen generieren:
„Es kann sich also jeder durch die Wiederholung dieser Versuche, durch die im Cabinette befindlichen Mittel, sogleich von der Richtigkeit der Erscheinungen überzeugen, den Erfolg davon zugleich auf die Untersuchungen der Körper anwenden, und sie auch bey vorfallenden Untersuchungen gleichsam als Probe gebrauchen.“ (S. V-IV)
Das Labor wird mit dieser Beschreibung vor allem auf den Modus der „Wiederholung“ und der Wiederholbarkeit ausgerichtet. Es geht mit dem Laborhandbuch vor allem um die Wiederholung und Überprüfbarkeit durch „Erscheinungen“ als Einübung einer wissenschaftlichen Methode für weitere „Untersuchungen“. Deshalb schreibt Göttling von einem „Probir-Cabinett“, in dem das Probieren Erfahrungswissen generieren soll. Die „Probe“ als Praxis der Wiederholung in einem abgesteckten Rahmen oder Raum wird zwischen 1790 und 1799 dreihundertsechsundneunzigmal so häufig wie Labor gebraucht.[29] Das methodische Erfahrungswissen wird durch wiederholte Anschauung generiert. Anders mit Foucault gesagt: Es wird ein Blick trainiert. Göttling kommt es auf die richtigen „Probirmittel“ an, um Fehlerquellen zu vermeiden. (S.VIII) Das Labor als Raum der Wiederholung wird nicht zuletzt bei Goethe zum Wissensort und in der der Chemie verwandten „Farbenlehre“ als Gegenargumentation zu Isaac Newtons „Brechnungsgesetz“[30] in Stellung gebracht.
Während Newton ein streng mathematisches „Brechnungsgesetz“ formuliert, setzt Goethe ihm eine „Bilderpolemik“[31] als Anschauung entgegen. Denn die chemischen Aquarellfarben und das Schwarz der Aquatinta[32] als chemisches Ätzverfahren sollen allererst in Tafeln zur Farbenlehre durch Anschauung Newtons Gesetz widerlegen. „Während die bunten Farben des gebrochenen Lichts in Aquarellfarben aufgetragen sind, ist das Schwarz des Schattens in Aquatinta gedruckt und das Weiß des Lichts ist die Farbe des Papiers der Tafel.“[33] Im Unterschied zu Newtons rein geometrischer Illustration seines „Brechungsgesetzes“ als Kupferstich verwendet Goethe mit den Aquarellfarben und der Aquatinta neue chemische Verfahren, um das Gesetz zu widerlegen. Die farbigen Tafeln werden auf diese Weise zum Labor, an dem der Blick des Gesetzes bricht, und Goethe mit seinen Mitteln eine Ganzheit aus Anschauung behaupten kann. Die „Farbenlehre“ kursiert nicht zuletzt in Waldorfschulen weiterhin als Lehrinhalt.[34]
Die Ausstellung „Was ist Aufklärung?“ mit ihren prominenten Kurator*innen und Kooperationspartner*innen eröffnet vielfältige Fragen an den seit dem 18. Jahrhundert bahnbrechenden Begriff, der weiterhin als diffuses Wissen in der Öffentlichkeit und den Medien kursiert. Für den Artikel 1 des Grundgesetzes zur Unantastbarkeit der Menschenwürde und damit der Grundlage der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland ist die Aufklärung nach Immanuel Kant in ihrer Ambivalenz weiterhin verbindlich, was leider in der Ausstellung nicht erwähnt wird. Das wäre ein starker Einstieg gewesen gerade in Zeiten menschenverachtender Hassreden in digitalen Medien und des neuen, widergängerischen Präsidenten, der Enlightment höchstens mit FOX-News und Scheinwerfern unterkomplex in Verbindung bringen kann. Die weithin verbindlichen Werte der Aufklärung/Enlightment, die nicht zuletzt der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen hervorgebracht haben, werden von Vladimir Putin, Benjamin Netanjahu, Donald Trump und dem Regime in Teheran etc. konkret missachtet, verhöhnt und für Null und Nichtig erklärt. Weil sich die Ausstellung zu sehr in ihren Ausstellungsobjekten verliert und Fragen als Probleme nicht ernst nimmt, sollte man sie sich anschauen, aber keine Genauigkeit erwarten.
Torsten Flüh
Was ist Aufklärung?
Fragen an das 18. Jahrhundert
bis 6. April 2025
Mo-So 10-18 Uhr
Geschlossen 24.12.2024
Deutsches Historisches Museum
Pei-Bau
Hinter dem Gießhaus 3
101177 Berlin
Barrierefreier Zugang
Was ist Ausstellung?
Fragen an das 18. Jahrhundert
Hg. Raphael Gross, Liliane Weissberg für das Deutsche Historische Museum
Beiträge von H. Böhme, H. Bredekamp, U. Chakravarty, R. Chartier, P. Cheek, R. Darnton, E. Décultot, P. Franks, D. Fulda, V. Gerhardt, P. E. Gordon, P. Guyer, J. Habermas, M. Hagner, G. Hindrichs, J. Israel, M. Jacob, A. Lilti, P. Maciejko, M. Mulsow, A. Norton, K. Ospovat, E. Rothschild, U. J. Schneider, M. Suarez, A. Sutcliffe
336 Seiten, 130 Abbildungen in Farbe
17 x 24 cm, Klappenbroschur
ISBN: 978-3-7774-4413-0
€ 39,90
[1] Otto Krätz: Goethe und die Naturwissenschaften. München: Callwey, 1992, S. 69.
[2] Ebenda z.B. S. 139.
[3] Ebenda S. 17 und S. 115.
[4] Siehe Torsten Flüh: „Atlantik-Bläser“ und „Schneewirbel“. Marianne Schuller und Michael Gamper in der Ringvorlesung Source Code der Technischen Universität Berlin In: NIGHT OUT @ BERLIN 23. Dezember 2012.
[5] So noch Romy König: Getrieben von Neugier und der Lust am Leben. In: Goethe Institut Australien Januar 2021.
[6] Siehe Torsten Flüh: Cancel Kant? – Cancel Culture und Kants Begriff der „Menschenrace“. Zu Kants bevorstehendem 300. Geburtstag und der Reihe „Kant – Ein Rassist?“ im Livestream und in der Mediathek. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. Februar 2021.
[7] Gunnar Hindrichs: Der lange Marsch zur Mündigkeit. In: Raphael Gross, Liliane Weissber (Hg.): „Was ist Aufklärung?“ Fragen an das 18. Jahrhundert. München: Hirmer, 2024, S. 59.
[8] Siehe Wikipedia: Sapere aude!
[9] Liliane Weissberg: Fragen stellen. In: Raphael Gross, Liliane Weissber (Hg.): „Was … [wie Anm. 7] S. 13.
[10] „Jeder Mensch ist deshalb wertvoll, weil er ein Mensch ist. Darum sagt Kant: Alles hat einen Wert, der Mensch aber hat eine Würde.“ Zitiert nach Bundeszentral für Politische Bildung: Die Würde des Menschen ist unantastbar. 03.09.2020.
[11] Stefan Martini: Die Formulierung der Menschenwürde bei Immanuel Kant und die „Objektformel“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. In: Arbeitskreis kritischer Jurist*innen Rechtswissenschaften Humboldt Universität zu Berlin ohne Jahr (nach 2005)
10 Hervorhebung durch Fettdruck im Original. Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Riga, 1785, S. 60
[13] Urvashi Chakravarty: Aufklärung und Rassismus. In: Ebenda S. 241.
[14] Siehe Torsten Flüh: Schlaf und Verstand als politisches Problem. Zu Hartmut Böhmes Mosse-Lecture zum Semesterthema Sleep Modes – Über Wachen und Schlafen. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. Januar 2024.
[15] Silke Förschler, Nina Hahne: Das Methodenwissen der Aufklärung. In: dies. (Hg.): Methoden der Aufklärung. Ordnungen der Wissensvermittlung und der Erkenntnisgenerierung im langen 18. Jahrhundert. München: Wilhelm Fink, 2013. S. 7.
[16] Ulrich Johannes Schneider: Wissen fördern, Wissen ordnen. In: Raphael Gross, Liliane Weissberg (Hg.): „Was … [wie Anm. 7] S. 108.
16 Silke Förschler, Nina Hahne: Das … [wie Anm. 15] S. 10.
[18] Ebenda.
[19] Johann Wolfgang Goethe: Faust (Urfaust). In: Bibliotheca Augustana der Universität Augsburg.
[20] Friedrich Schiller Archiv: Xenien von Goethe und Schiller – Ursache, Entstehung und Reaktionen auf den Xenienalmanach. Weimar (ohne Jahr).
[21] Jutta Eckle: „Irren heißt, sich in einem Zustande befinden, als wenn das Wahre gar nicht wäre; den Irrthum sich und andern entdecken, heißt rückwärts erfinden“: Zu Goethes anschauendem Erkennen in Reihen in den Maximen und Reflexionen. In: Silke Förschler, Nina Hahne: Das … [wie Anm. 15] S. 11.
[22] Stefan Höppner: Die Welt im Regal: Die materielle Dimension der Naturwissenschaften in Goethes Bibliothek. In: Jutta Eckle, Aeka Ischihara: Anschauen und Benennen. Beiträge zu Goethes Sammlungen und Studien zur Naturwissenschaft. Heidelberg: Winter, 2022, S. 47.
[23] Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller: Xenien. (48 Seiten) Leipzig und Wien: Bibliographisches Institut, 1900. (Projekt Gutenberg)
[24] Jutta Eckle: „Irren …“ [wie Anm. 21] S. 11.
[25] Ebenda S. 23.
[26] Siehe Suchergebnis „Labor“ in Goethe Privatbibliothek Online im Online-Katalog der Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar.
[27] Johann Friedrich August Göttling: Vollständiges Chemisches Probir-Cabinet zum Handbrauche für Scheidekünstler, Aerzte, Mineralogen, Metallurgen, Technologen, Fabrikanten, Oekonomen und Naturliebhaber entworfen. Jena: Mauke, 1790, S. IV.
[28] DWDS: Verlaufskurve Labor.
[29] Ebenda: Verlaufskurve Probe.
[30] Haru Hamanaka: Präsenz der Farbe. Materialität des Bildes in Goethes Farbenlehre und Newtons Opticks. In: Jutta Eckle, Aeka Ischihara: Anschauen … [wie Anm. 15] S. 117.
[31] Ebenda.
[32] Zum Verfahren der Aquatinta siehe: Torsten Flüh: Trauma und Bildfindungen der Teilung. Zur Ausstellung Zweimal Berlin – Blicke auf eine geteilte Stadt in der Salongalerie »Die Möwe«. In: NIGHT OUT @ BERLIN 13. Juni 2013.
[33] Haru Hamanaka: Präsenz … [wie Anm. 30] S. 123.
[34] Siehe: Van James: Der Malunterricht der Unterstufe: Die Entwicklung des Farbsinns. In: Waldorf Resources 29.03.2015.