Aufklärung als Wissensprojekt und die Erfindung des Labors

Labor – Aufklärung – Wissenschaft

Aufklärung als Wissenschaftsprojekt und die Erfindung des Labors

Zur allzu didaktischen Ausstellung Was ist Aufklärung? Fragen an das 18. Jahrhundert im Deutschen Historischen Museum

Das nackte Auge aus einem Behältnis mit einem halbkugelförmigen Deckel, das um 1700 in Nürnberg als ebenso kunstvolle Handwerksarbeit wie kenntnisreich medizinischem Wissen über das menschliche Organ hergestellt wurde, ziert das Plakat zur Ausstellung Was ist Aufklärung? Fragen an das 18. Jahrhundert, die bis 6. April 2025 gezeigt wird. Liliane Weissberg hat die Ausstellung kuratiert und die „Grundthese der Ausstellung“ formuliert, dass es keine simple Antwort auf die Frage gebe, „sondern Probleme, die gezeigt werden,“ wichtig seien. Dafür wird die Ausstellung in 9 Abschnitte wie „Suche nach Wissen und der neuen Wissenschaft“, „Ordnung der Welt“, „Staatskunst und politische Freiheit“ und „Die Lehren der Antike“ sequenziert. Ausstellungen leben weniger von Texten als von faszinierenden Objekten.

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Das Auge des Nürnberger Drechslers und Handwerkskünstlers Stephan Zick fasziniert als Ausstellungsobjekt ebenso wie eine Große Scheiben-Elektrisiermaschine aus dem Besitz Goethes. Auf der aufgeschlagenen ersten Seite der Berlinischen Monatsschrift der Dezemberausgabe von 1784 beantwortet Immanuel Kant wortgewandt die vom Verleger gestellte Frage „Was ist Aufklärung?“. Doch statt an Antworten knüpft die Ausstellung stärker an den Modus der Frage an. Sie lässt die Besucher*innen über die vielfältigen und faszinierenden Objekte vom Dornhai-Präparat in Alkohol bis zu Stühlen aus Goethes Haus am Frauenplan als Inszenierung eines Salons stolpern. Die entscheidende Transformation des Labors als Raum zur Wissensgenerierung mit z.B. Elektrisiermaschine oder Messgeräten wird konzeptuell kaum beachtet.

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Im Zuge der Aufklärung und Kants formelhaft-vielversprechender Beantwortung der Frage – „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ – werden eine Vielzahl von Apparaten wie Goethes Elektrisiermaschine, „Weltmaschinen“, wie Goethe sie aus dem Laboratorium des Herzogs Ernst II. von Gotha[1] kannte, oder Luftpumpen[2] entwickelt. Goethe hat mehrere Elektrisiermaschinen angeschafft[3], die ihn faszinierten und zu Experimenten angeregten. Doch die Elektrisiermaschine in der Ausstellung wird bis auf den Hinweis, dass Goethe sie gesammelt und z.B. eine Farbenlehre als wissenschaftliches Projekt betrieben habe, wenig kontextualisiert. Unterschlagen wird geradezu, dass Goethe Wolken interessierten und Meteorologie auf dem Ettersberg mit einer Wetterstation betrieben hat.[4] Im Katalog zur Ausstellung „Was ist Aufklärung?“ Fragen an das 18. Jahrhundert fehlt die Elektrisiermaschine. Während gerade Goethe lange Zeit als sogenanntes „Universalgenie“[5] galt und damit das Projekt Aufklärung für einen germanistischen Horizont verkörperte, bleibt er in der Ausstellung mit der blitzenden und spiegelnden Maschine im Stillstand konturlos.

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Die Besucher*innen der Ausstellung über 2 Etagen im Pei-Bau des DHM können fasziniert und befriedigt an der in den Scheinwerfern blinkenden Elektrisiermaschine vorübergehen. Ah, Goethe! Ah, Wissenschaft! Ja, ja, Aufklärung! Und so setzt sich der Parcours über eine „Robe à la française mit Ballonmotiven, vermutlich Frankreich, ca. 1783“, „Geisblatt mit Granatrother Blume aus der Schildbach’schen Xylothek (Holzbibliothek), Kassel, 1780–1800“ und „Figurengruppe Friedrich II. und Voltaire, Volkstedt, nach 1767“, durchkalkulierten Lagerungsplänen von liegenden Sklaven auf Sklavenhandelsschiffen, „Steinschlossgewehr“, „172 Kaurischnecken“ und „Beineisen von Versklavten“ aus dem Ethnologischen Museum Berlin bis zum großformatigen Ölgemälde Jupiter und Ganymed von Johann Joachim Winckelmanns Malerfreund Anton Raphael Mengs aus Privatbesitzt fort. Aufklärung in ihrer widersprüchlichen Vielfalt.

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Die Ausstellung feiert mit ihrem Titel nicht zuletzt Immanuel Kant als Aufklärer im Kant-Jahr zu seinem 300. Geburtstag. Große Debatten zu Kant sind eher ausgeblieben. Wenig Nachdenkliches hallt nach dem 22. April 2024 durch das Feuilleton. Fast schon selbstverständlich wird im Abschnitt 8 zur „Gleichheit des Menschen“ der blinde Fleck des von Bristol aus blühenden Sklavenhandels im 18. Jahrhundert mit einer widerlichen Fußangel für einen Sklaven auf einem Schiff, soll man sagen, repräsentiert? 2021 war im Vorfeld zum Kant-Jahr des Philosophen Begriff von „Menschenrace“ kontrovers diskutiert worden.[6] Insbesondere im Kontext vom „Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ und europäischem Sklavenhandel wird die große Geste der Befreiung prekär. Die Mündigkeit wurde den Menschen aus Afrika als Ware abgesprochen. Aus Afrika verschleppte Menschen ohne ein Recht auf Mündigkeit waren materielles Eigentum europäischer Herren, Kaufleute.

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Im reich bebilderten Katalog zur Ausstellung wird zwar viel über Kant geschrieben. Doch die Frage zum Begriff der „Menschenrace“ in der Königsberger Schreibstube wird nicht näher erörtert. Gunnar Hindrichs schreibt, dass Kant einen Imperativ formuliert habe. „»Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.« Sapere aude! – »Wag zu wissen!« ist der Imperativ, alle inneren und äußeren Verhältnisse der Entmündigung umzuwälzen.“[7] Doch um welches Wissen geht es hier? Hindrichs nimmt mit dem Imperativ „»Wag zu wissen!«“ eine leichte Verschiebung vor. Denn die geläufige Übersetzung mit „Wage weise zu sein“ für das mehrdeutige Verb sapere gibt einen Wink auf ein länger zusammengetragenes Erfahrungswissen als auf ein eher mathematisch schließendes Verstandeswissen. Das Wissen des sapere für „schmecken“, „riechen“(!), „merken“ und erst metonymisch verstehen bringt stärker das Sinnliche des Verstehens in Spiel, von dem es bei Kant mit akademischer Geste gereinigt wird.[8] Wissen und Wissenschaft oszillieren in den Wissenspraktiken der Aufklärung.

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Obwohl Immanuel Kant 1784 vom rassistisch legitimierten Sklavenhandel in der Hauptstadt des Herzogtums Preußen wie seit 1701 Krönungsort der Preußischen Könige, seit 1544 nach der Philipps-Universität in Marburg 1727 zweiten lutherischen Universitätsstadt im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nationen und seit der Zeit der Hanse herausragenden Handelsstadt Königsberg gehört und gelesen haben dürfte, bleibt die „Menschenrace“ ein blinder Fleck. Freilich wurde Königsberg schon im 18. Jahrhundert als Universitätsstandort und Hauptstadt des Herzogtums Preußens marginalisiert, weil in Berlin und eben nicht in Königsberg bahnbrechende Medien, d.h. Zeitschriften- und Buchverlage entstanden. Der verlegerische „Werbeerfolg“ (Liliane Weissberg)[9] mit der Frage „Was ist Aufklärung?“ war von dem lutherischen Pfarrer an der Hauptkirche St. Nikolai Johann Friedrich Zöllner im Dezember 1783 ins Komische gezogen worden. Die mit verlegerischem Gespür formulierte Frage stieß vor allem in den Debattenräumen von Berlin und dann bei Kant in Königsberg eine rege Schreibtätigkeit an. Königsberg als bürgerliche Universitätsstadt nahm an der Debatte teil, weil, was selbst von den Ausstellungsmacher*innen wenig berücksichtigt wird, es mit seiner Universität und Philosophie-Professor Immanuel Kant zum bürgerlichen Debattenraum gehörte. In Berlin wurde die Universität erst 1809 gegründet. Schon 1787 war Kant in die Berliner Akademie der Wissenschaften aufgenommen worden.

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Immanuel Kant formuliert die Menschenwürde nicht so formelhaft wie es beispielsweise die Bundeszentrale für Politische Bildung es gern hätte[10], vielmehr wird der Kategorische Imperativ, kurz KI(!)[11], in den Grundlagen zur Metaphaysik der Sitten (1785) von Kant für die Prinzipien der Freiheit die „Idee der Würde eines vernünftigen Menschen“(!) vor einem mathematisch-kaufmännischen Hintergrund von Äquivalenz formuliert: „Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder einen Wert. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“[12] Würde hat im Unterschied zur Ware keinen Äquivalent. Sie ist unvergleichlich und unveräußerlich. Doch gerade die Begriffsformulierung der „Würde eines vernünftigen Menschen“ im System Kant zeitigt an anderer Stelle Widerspruch. Urvashi Chakravarty geht im Essay Aufklärung und Rassismus stärker auf dessen „spannungsgeladene(s) Verhältnis“ ein:
„Einerseits ist das der Aufklärung nachgesagte Bekenntnis zu Freiheit und Autonomie ein zentraler Bezugspunkt in der Geschichte des Denkens; andererseits ist die Epoche der Aufklärung auch die Zeit, in der die Sklaverei massiv zunimmt, sich rassistische Hierarchien festigen und Racial Capitalism als ein System entsteht, das bis in unsere Gegenwart fortwirkt.“[13]

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Die Emphase über die neuen Funktionen von Vernunft und Verstand für die Freiheit generiert zugleich Schattenseiten. Kants Wortwahl von „Zweck“ und „Preis“ aus dem bürgerlichen Handel, in dem alles seinen „Preis“ hat und ein „Äquivalent“ gefunden werden kann, bekommt mit der „Würde“ eine preislose Ausnahme, wodurch die Menschenwürde den Prinzipien nicht nur des Handels, vielmehr noch des Kapitalismus im System Kant entzogen wird.  Praktisch geschieht allerdings mit dem Racial Capitalism genau das Gegenteil. Aufklärung bei Kant, so ließe sich formulieren, schließt im Namen einer „Metaphysik“ aus, was an anderer Stelle permanent wiederkehrt. Im Eingangsbereich der Ausstellung wird dies mit der Wissenschaftsinszenierung des Bildes Ein Philosoph hält einen Vortrag über das Tellurium aus dem Jahr 1768 von William Pether nach Joseph Wright of Derby erahnbar, wenn dazu seitlich etwa Francisco de Goyas El sueño de la razón produce monstruos (1799; Der Schlaf der Vernunft erzeugt Ungeheuer) oder Johann Heinrich Füssli Der Nachtmahr (1795) projiziert werden.

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Harmut Böhme hatte bereits in seiner Mosse-Lecture auf den Schlaf und Traum als Gegenbewegung zur Vernunft (la razón) hingewiesen.[14] Weit weniger als in einer philosophisch-historischen Begründung von nicht zuletzt kaufmännischem Vernunftwissen lassen sich die Wissensformen der Aufklärung vereinheitlichen, obwohl sich die mathematische Methode durchsetzen sollte. Chrétien Frédéric Guillaume Roths „Wissensbaum“ von 1769 der im Ergänzungsband zu Band 1 der Encyclopédie von Diderot und d’Alembert veröffentlicht wurde, gibt nach Silke Förschler und Nina Hahne „Auskunft über das Methodenwissen der Aufklärung“.[15] Doch dieses wird von Ulrich Johannes Schneider in seinem Katalogaufsatz Wissen fördern, Wissen ordnen nicht berücksichtigt, obwohl Roths „Wissensbaum“ abgedruckt wird.[16] Einerseits sehen dagegen die Autorinnen in der „Anordnung der Wissensgebiete“ eine „natürliche“ Repräsentation, die aber nicht als „statisch“ dargestellt wird. Andererseits stellt „der Wissensbaum als genealogisches Ordnungsmuster … die Hierarchie im Prozess der Vermittlung von Wissensfelder … durch seinen ästhetischen Eigenwert selbst in Frage“.[17]

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Das Methodenwissen geht einher mit einem „Methodenbewusstsein der Aufklärung“, „das die ganze Spannbreite von heteronom angelegten didaktischen Konzepten der Wissensvermittlung und autonomeren ästhetischen Verfahrensweisen der Erkenntnisgenerierung umfasst“.[18] An dieser Stelle kommt J. W. Goethe ins Spiel, wie er in der Ausstellung nicht vorkommt. Denn Goethe formuliert sein Wissen nicht in philosophischen Begriffstexten wie Kant, vielmehr schreibt er es in einer Bandbreite literarischer Formen von der „Nachtszene“ im Urfaust um 1774 „(i)n einem hochgewölbten engen gothischen Zimmer“[19], das man schon Labor nennen könnte, über die 676 Xenien mit Schiller[20] bis zu Maximen und Reflexionen postum 1833, in denen „Sprüche … aus fünf Dezennien“[21] postum kompiliert wurden. Seine Bibliothek umfasst noch heute mit 1.140 Titeln zu den Naturwissenschaften den größten Teilbereich.[22] Obwohl Goethe z.B. mit der Großen Scheiben-Elektrisiermaschine selbst experimentieren wollte und er in zahlreichen literarischen Genres sein Wissen durch Anschauung formulierte, gibt die Bibliothek einen Wink auf seine Wissensakkumulation durch Bücher!

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Um kurz bei Kant und den Büchern zu bleiben: Goethes und Schillers Xenien als Hauptteil des Musenalmanachs von 1797 können als Kritik an kursierenden Texten in Zeitschriften und Büchern von z.B. von Matthias Claudius – „18. Erreurs et verité.“ – über Immanuel Kant – „63. An Kant.“ – und – „385. David Hume“ – wie der ziemlich despektierlichen Wissenschaft – „62. Wissenschaft.“ – in aphoristischer Form gelesen werden.[23] Die Kritik hat aus der knappen zweizeiligen und pointierten Form heraus einen ebenso zeitlich aktuellen wie räumlich bibliothekarischen Modus, wenn Claudius und Kant ebenso wie Hume aufgegriffen werden. Die Kant-Kritik zielt auf den bürgerlich-mathematischen Diskurs, wenn von Goethe und/oder Schiller mit „Rotüre“ der französische Begriff für „Bürgerpack“ gebraucht wird: „Vornehm nennst du den Ton der neuen Propheten? Ganz richtig,/Vornehm philosophiert heißt wie Rotüre gedacht.“ Sie hatten daher Kants Anknüpfung an die Bürger- und Kaufleute durchaus gelesen. Die „Wissenschaft“ wird in der vorausgegangen Xenie als Broterwerb kritisiert: „Einem ist sie die hohe, die himmlische Göttin, dem andern/Eine tüchtige Kuh, die ihn mit Butter versorgt.“ Was sich im Modus der Xenien schreiben lässt, kritisiert die Begriffsarchitektur Kants in mehreren aufeinander folgenden Kritik-Büchern, Kritik der reinen Vernunft (1781), Kritik der praktischen Vernunft (1788) und Kritik der Urteilskraft (1790).

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Die Kritik wird zur Frage einer elastischen Ironie durch die Xenien, indem „An Kant“ die „Rotüre“ adressiert wird. Denn der vornehme Ton des Philosophierens, der dem Adel zugerechnet wurde, wird nun dem „Nichtadel“ bzw. abwertend dem „Bürgerpack“ zugestanden. Damit verändert sich der vornehme Ton des Philosophierens zwar abwertend, aber zugleich in politischer Hinsicht demokratisierend. Die Formulierungen der Xenien bleiben mehrdeutig. Auf diese Weise werden sie zu einem Gegenentwurf zur Begriffsliteratur Kants. Sie bringen die Begriffe und das Wissen als mehrdeutige Formulierung ins Schwanken. So auch mit der „Preisfrage der Academie nützl. Wissenschaften.“, die ironisch in eine orthografische Frage verkehrt wird: „Wie auf dem Ü. fortan der theure Schnörkel zu sparen?/Auf die Antwort sind dreißig Dukaten gesetzt.“ Goethe und Schiller geraten in eine bissige Formulierungskunst, wenn die Lateingelehrten mit der „Rechtsfrage.“ eine ironische Kritik an Kants »Sapere aude!« über das „Riechen“ schreiben: „Jahre lang schon bedien ich mich meiner Nase zum Riechen,/Hab ich denn wirklich an sie auch ein erweisliches Recht?“ Denn schon in der vorausgegangenen Xenie zu David Hume wird vor Kant gewarnt: „Rede nicht mit dem Volk, der Kant hat sie alle verwirret“.  

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Während Kant in den Xenien 1797 zu einem wichtigen Adressaten wird, formuliert Goethe spätestens seit 1809 mit „Aus Ottiliens Tagebuch“ in den „Wahlverwandtschaften“ wie „längere Prosatexte oder Briefe“ Passagen, die als Sprüche gesammelt, zunächst 1823 als Älteres, beinahe veraltetes und schließlich in Maximen und Reflexionen[24] als Wissens- wie Wissenschaftsprobleme veröffentlicht werden. In Älteres, beinahe veraltetes wie auch in Maximen und Reflexionen macht Goethe „das Problematische“ zum Leitfaden seiner Wissenschaft. Denn es gehe darum „alles zu beachten, was irgend auf eine Art zur Sprache kommt, am meisten dasjenige was uns widerstrebt: denn dadurch wird man am ersten das Problematische gewahr, welches zwar in den Gegenständen selbst, mehr aber noch in den Menschen liegt“.[25] Was „zur Sprache kommt“ und gebracht worden ist, lässt sich im Laboratorium der Sprache für den Büchersammler, Leser und so gebildeten Dichter mit anderen Formen formulieren. Dennoch geht es ihm durch Anschauung darum, dass „das Problematische gewahr“ wird. Wie sieht Goethes Labor nun aus? Wie richtete er es sich ein?

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1790 erscheint in Jena Johann Friedrich August Göttlings Vollständiges Chemisches Probir-Cabinet zum Handbrauche für Scheidekünstler, Aerzte, Mineralogen, Metallurgen, Technologen, Fabrikanten, Oekonomen und Naturliebhaber entworfen, das als Laborbeschreibung in Goethes Bibliothek gelangt.[26] Einerseits gehört die Universität Jena mit dem außerordentlichen Professor für Philosophie und seinem Lehrauftrag für Chemie Göttling zu Goethes Wissenschaftsumfeld, sodass auch denkbar wäre, dass Göttling ihm das Buch überreicht oder zugesandt hatte, andererseits wird das Handbuch an eine breite Leserschaft adressiert, die nicht aus Chemikern besteht, bei denen er aber „etwas Chemie voraussetzen kann“[27]. Das „Probir-Cabinet“ beschreibt ein Labor für „Untersuchungen auf dem nassen Wege“ in einer Phase, in der sich der Begriff Labor im Gebrauch seit 1600 noch nicht durchgesetzt hat. Er kursiert erst seit 1900 in einer hohen Gebrauchsfrequenz. Im Zeitraum von 1790-1799 wird er exakt einmal nachgewiesen.[28] Das richtige Labor nach dem Philosophieprofessor Göttling ist für die „Wiederholung dieser Versuche“ angelegt, die richtige Erscheinungen generieren:
„Es kann sich also jeder durch die Wiederholung dieser Versuche, durch die im Cabinette befindlichen Mittel, sogleich von der Richtigkeit der Erscheinungen überzeugen, den Erfolg davon zugleich auf die Untersuchungen der Körper anwenden, und sie auch bey vorfallenden Untersuchungen gleichsam als Probe gebrauchen.“ (S. V-IV)   

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Das Labor wird mit dieser Beschreibung vor allem auf den Modus der „Wiederholung“ und der Wiederholbarkeit ausgerichtet. Es geht mit dem Laborhandbuch vor allem um die Wiederholung und Überprüfbarkeit durch „Erscheinungen“ als Einübung einer wissenschaftlichen Methode für weitere „Untersuchungen“. Deshalb schreibt Göttling von einem „Probir-Cabinett“, in dem das Probieren Erfahrungswissen generieren soll. Die „Probe“ als Praxis der Wiederholung in einem abgesteckten Rahmen oder Raum wird zwischen 1790 und 1799 dreihundertsechsundneunzigmal so häufig wie Labor gebraucht.[29] Das methodische Erfahrungswissen wird durch wiederholte Anschauung generiert. Anders mit Foucault gesagt: Es wird ein Blick trainiert. Göttling kommt es auf die richtigen „Probirmittel“ an, um Fehlerquellen zu vermeiden. (S.VIII) Das Labor als Raum der Wiederholung wird nicht zuletzt bei Goethe zum Wissensort und in der der Chemie verwandten „Farbenlehre“ als Gegenargumentation zu Isaac Newtons „Brechnungsgesetz“[30] in Stellung gebracht.

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Während Newton ein streng mathematisches „Brechnungsgesetz“ formuliert, setzt Goethe ihm eine „Bilderpolemik“[31] als Anschauung entgegen. Denn die chemischen Aquarellfarben und das Schwarz der Aquatinta[32] als chemisches Ätzverfahren sollen allererst in Tafeln zur Farbenlehre durch Anschauung Newtons Gesetz widerlegen. „Während die bunten Farben des gebrochenen Lichts in Aquarellfarben aufgetragen sind, ist das Schwarz des Schattens in Aquatinta gedruckt und das Weiß des Lichts ist die Farbe des Papiers der Tafel.“[33] Im Unterschied zu Newtons rein geometrischer Illustration seines „Brechungsgesetzes“ als Kupferstich verwendet Goethe mit den Aquarellfarben und der Aquatinta neue chemische Verfahren, um das Gesetz zu widerlegen. Die farbigen Tafeln werden auf diese Weise zum Labor, an dem der Blick des Gesetzes bricht, und Goethe mit seinen Mitteln eine Ganzheit aus Anschauung behaupten kann. Die „Farbenlehre“ kursiert nicht zuletzt in Waldorfschulen weiterhin als Lehrinhalt.[34]

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Die Ausstellung „Was ist Aufklärung?“ mit ihren prominenten Kurator*innen und Kooperationspartner*innen eröffnet vielfältige Fragen an den seit dem 18. Jahrhundert bahnbrechenden Begriff, der weiterhin als diffuses Wissen in der Öffentlichkeit und den Medien kursiert. Für den Artikel 1 des Grundgesetzes zur Unantastbarkeit der Menschenwürde und damit der Grundlage der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland ist die Aufklärung nach Immanuel Kant in ihrer Ambivalenz weiterhin verbindlich, was leider in der Ausstellung nicht erwähnt wird. Das wäre ein starker Einstieg gewesen gerade in Zeiten menschenverachtender Hassreden in digitalen Medien und des neuen, widergängerischen Präsidenten, der Enlightment höchstens mit FOX-News und Scheinwerfern unterkomplex in Verbindung bringen kann. Die weithin verbindlichen Werte der Aufklärung/Enlightment, die nicht zuletzt der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen hervorgebracht haben, werden von Vladimir Putin, Benjamin Netanjahu, Donald Trump und dem Regime in Teheran etc. konkret missachtet, verhöhnt und für Null und Nichtig erklärt. Weil sich die Ausstellung zu sehr in ihren Ausstellungsobjekten verliert und Fragen als Probleme nicht ernst nimmt, sollte man sie sich anschauen, aber keine Genauigkeit erwarten.

Torsten Flüh         

Was ist Aufklärung?
Fragen an das 18. Jahrhundert
bis 6. April 2025
Mo-So 10-18 Uhr
Geschlossen 24.12.2024
Deutsches Historisches Museum
Pei-Bau
Hinter dem Gießhaus 3
101177 Berlin
Barrierefreier Zugang

Was ist Ausstellung?
Fragen an das 18. Jahrhundert

Hg. Raphael Gross, Liliane Weissberg für das Deutsche Historische Museum
Beiträge von H. Böhme, H. Bredekamp, U. Chakravarty, R. Chartier, P. Cheek, R. Darnton, E. Décultot, P. Franks, D. Fulda, V. Gerhardt, P. E. Gordon, P. Guyer, J. Habermas, M. Hagner, G. Hindrichs, J. Israel, M. Jacob, A. Lilti, P. Maciejko, M. Mulsow, A. Norton, K. Ospovat, E. Rothschild, U. J. Schneider, M. Suarez, A. Sutcliffe
336 Seiten, 130 Abbildungen in Farbe
17 x 24 cm, Klappenbroschur
ISBN: 978-3-7774-4413-0
€ 39,90


[1] Otto Krätz: Goethe und die Naturwissenschaften. München: Callwey, 1992, S. 69.

[2] Ebenda z.B. S. 139.

[3] Ebenda S. 17 und S. 115.

[4] Siehe Torsten Flüh: „Atlantik-Bläser“ und „Schneewirbel“. Marianne Schuller und Michael Gamper in der Ringvorlesung Source Code der Technischen Universität Berlin In: NIGHT OUT @ BERLIN 23. Dezember 2012.

[5] So noch Romy König: Getrieben von Neugier und der Lust am Leben. In: Goethe Institut Australien Januar 2021.

[6] Siehe Torsten Flüh: Cancel Kant? – Cancel Culture und Kants Begriff der „Menschenrace“. Zu Kants bevorstehendem 300. Geburtstag und der Reihe „Kant – Ein Rassist?“ im Livestream und in der Mediathek. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. Februar 2021.

[7] Gunnar Hindrichs: Der lange Marsch zur Mündigkeit. In: Raphael Gross, Liliane Weissber (Hg.): „Was ist Aufklärung?“ Fragen an das 18. Jahrhundert. München: Hirmer, 2024, S. 59.

[8] Siehe Wikipedia: Sapere aude!

[9] Liliane Weissberg: Fragen stellen. In: Raphael Gross, Liliane Weissber (Hg.): „Was … [wie Anm. 7] S. 13.

[10] „Jeder Mensch ist deshalb wertvoll, weil er ein Mensch ist. Darum sagt Kant: Alles hat einen Wert, der Mensch aber hat eine Würde.“ Zitiert nach Bundeszentral für Politische Bildung: Die Würde des Menschen ist unantastbar. 03.09.2020.

[11] Stefan Martini: Die Formulierung der Menschenwürde bei Immanuel Kant und die „Objektformel“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. In: Arbeitskreis kritischer Jurist*innen Rechtswissenschaften Humboldt Universität zu Berlin ohne Jahr (nach 2005)

10  Hervorhebung durch Fettdruck im Original. Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Riga, 1785, S. 60

[13] Urvashi Chakravarty: Aufklärung und Rassismus. In: Ebenda S. 241.

[14] Siehe Torsten Flüh: Schlaf und Verstand als politisches Problem. Zu Hartmut Böhmes Mosse-Lecture zum Semesterthema Sleep Modes – Über Wachen und Schlafen. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. Januar 2024.

[15] Silke Förschler, Nina Hahne: Das Methodenwissen der Aufklärung. In: dies. (Hg.): Methoden der Aufklärung. Ordnungen der Wissensvermittlung und der Erkenntnisgenerierung im langen 18. Jahrhundert. München: Wilhelm Fink, 2013. S. 7.

[16] Ulrich Johannes Schneider: Wissen fördern, Wissen ordnen. In: Raphael Gross, Liliane Weissberg (Hg.): „Was … [wie Anm. 7] S. 108.

16 Silke Förschler, Nina Hahne: Das … [wie Anm. 15] S. 10.

[18] Ebenda.

[19] Johann Wolfgang Goethe:  Faust (Urfaust). In: Bibliotheca Augustana der Universität Augsburg.

[20] Friedrich Schiller Archiv: Xenien von Goethe und Schiller – Ursache, Entstehung und Reaktionen auf den Xenienalmanach. Weimar (ohne Jahr).

[21] Jutta Eckle: „Irren heißt, sich in einem Zustande befinden, als wenn das Wahre gar nicht wäre; den Irrthum sich und andern entdecken, heißt rückwärts erfinden“: Zu Goethes anschauendem Erkennen in Reihen in den Maximen und Reflexionen. In: Silke Förschler, Nina Hahne: Das … [wie Anm. 15] S. 11.

[22] Stefan Höppner: Die Welt im Regal: Die materielle Dimension der Naturwissenschaften in Goethes Bibliothek. In: Jutta Eckle, Aeka Ischihara: Anschauen und Benennen. Beiträge zu Goethes Sammlungen und Studien zur Naturwissenschaft. Heidelberg: Winter, 2022, S. 47.

[23] Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller: Xenien. (48 Seiten) Leipzig und Wien: Bibliographisches Institut, 1900. (Projekt Gutenberg)

[24] Jutta Eckle: „Irren …“ [wie Anm. 21] S. 11.

[25] Ebenda S. 23.

[26] Siehe Suchergebnis „Labor“ in Goethe Privatbibliothek Online im Online-Katalog der Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar.

[27] Johann Friedrich August Göttling: Vollständiges Chemisches Probir-Cabinet zum Handbrauche für Scheidekünstler, Aerzte, Mineralogen, Metallurgen, Technologen, Fabrikanten, Oekonomen und Naturliebhaber entworfen. Jena: Mauke, 1790, S. IV.

[28] DWDS: Verlaufskurve Labor.

[29] Ebenda: Verlaufskurve Probe.

[30] Haru Hamanaka: Präsenz der Farbe. Materialität des Bildes in Goethes Farbenlehre und Newtons Opticks. In: Jutta Eckle, Aeka Ischihara: Anschauen … [wie Anm. 15] S. 117.

[31] Ebenda.

[32] Zum Verfahren der Aquatinta siehe: Torsten Flüh: Trauma und Bildfindungen der Teilung. Zur Ausstellung Zweimal Berlin – Blicke auf eine geteilte Stadt in der Salongalerie »Die Möwe«. In: NIGHT OUT @ BERLIN 13. Juni 2013.

[33] Haru Hamanaka: Präsenz … [wie Anm. 30] S. 123.

[34] Siehe: Van James: Der Malunterricht der Unterstufe: Die Entwicklung des Farbsinns. In: Waldorf Resources 29.03.2015.

Architektonische Wissensmaschinen und die Lebenswissenschaften

Wissen – Humanmedizin – Architektur

Architektonische Wissensmaschinen und die Lebenswissenschaften

Zum Brutalismus der ehemaligen Zentralen Tierlaboratorien und des Instituts für Hygiene und Mikrobiologie der Freien Universität Berlin

Im September fand das Festival für urbanes Wohlergehen mit der Webadresse urbanepraxismaeusebunker.berlin rund um die sonst seit Jahren abgesperrte im Berliner Jargon Mäusebunker genannte Ikone des Brutalismus statt. Der Mäusebunker liegt an der Krahmerstraße zwischen Hindenburgdamm und Teltowkanal gegenüber dem ehemaligen Institut für Hygiene und Mikrobiologie in ebenfalls brutalistischer Architektur. Beide Forschungseinrichtungen wurden in den 60er Jahren im Kontext humanmedizinischer Forschung an der Freien Universität als Ergänzungen zum nahen Klinikum Steglitz, dem heutigen Charité Campus Benjamin Franklin[1], geplant und erbaut. Auf welche Weise visualisieren sie das in ihnen generierte Wissen vom Menschen?

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Das programmatisch von Le Corbusier formulierte Haus als Maschine wird für beide Bauwerke auf unterschiedliche Weise mit großen Betonflächen als Fassaden konzipiert. Einerseits knüpft das Architekturbüro Fehling+Gogel 1966 mit abgerundeten Flächen zur Krahmerstraße an eine Ästhetik des Screens von Curtis & Davis für das Klinikum an, anderseits entwerfen Gerd und Magdalena Hänska 1967 eine multifunktionale Maschine, deren Funktionen wie Belüftungsrohre und Techniketagen, Abfallbeseitigungstore und Wissenszellen hinter Tetraeder-Fenstern Architektur werden. Vor allem die heftigen Reaktionen in der Berliner Öffentlichkeit erregenden ehemaligen Zentralen Tierlaboratorien geben einen Wink auf Wissensverschiebungen der letzten 60 Jahre in der Humanmedizinforschung.

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Forschungseinrichtungen wie Laboratorien und Institute, aber auch andere Großbauten sollen Wissen generieren. 2021 feierten die Berliner Festspiele den International Congress Center Berlin (ICC) mit dem David Bowie-Zitat The Sun Machine is Coming Down[2] durch eine künstlerische Intervention. Die Architektin Ursulina Schüler-Witte wurde besonders gewürdigt. Die Planungen reichten ebenfalls bis in die 60er Jahre zurück. Es wurde 1979 eröffnet. Das ICC als Raummaschine generierte mit Kongressen, Messen und Konzerten ebenso wie Shows unterschiedliche Formen von Wissen. Ähnlich wie die humanmedizinischen Bauprojekte war das ICC in politische Debatten um den Status West-Berlins eingebunden. Die Kooperationen von Architektinnen und Architekten in Büros förderten neuartige Arbeitsweisen. Die Berliner Architektenpaare Ursulina Schüler-Witte und Ralf Schüler sowie Gerd und Magdalena Hänska mit weiteren Kooperationspartnern sind erst in jüngerer Zeit ins Interesse gerückt worden. Das Modell der Maschine wurde in den 60er Jahre auf unterschiedliche Bereiche der Wissensgenerierung von der Forschung bis zur Unterhaltung architektonisch angewendet.

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Das ehemalige Institut für Hygiene und Mikrobiologie wurde im Januar 2021 unter Denkmalschutz gestellt. Der Berliner Landeskonservator Christoph Rauhut begründete den Denkmalschutz: „Dieses Institut ist ein Gesamtkunstwerk, ein Bau von internationalem Rang und ein bedeutender Beitrag zur ‚organischen‘ und ‚brutalistischen‘ Architektur der Nachkriegsmoderne!“[3] Prof. Dr. Axel Radlach Pries, Dekan der Charité, ordnete das Institut in die Berliner Medizingeschichte ein: „Das Berliner Hygiene-Institut, 1885 von Robert Koch gegründet, ist Teil der Berliner Geschichte. Ohne die hier geleistete Forschungsarbeit wäre Berlin nie Millionenstadt geworden.“[4] Dabei sollte allerdings nicht unter den Tisch fallen, dass Robert Koch als Entdecker des Milzbrandbakterium bei Kühen und der Tuberkulose eher der Vater der Mikrobiologie ist, während sein konzeptueller Gegenspieler und Zelltheoretiker Rudolf Virchow stärker in der Hygienepraxis engagiert war. Insofern führte das Nachkriegsgebäude die beiden humanmedizinischen Stränge der bevölkerungspolitischen Hygiene und mikrobiologischen Forschung zu Bakterien und Viren zusammen.

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Das Landesdenkmalamt erklärte das Gebäude der ehemaligen Zentralen Tierlaboratorien der Freien Universität Berlin im Rahmen des Modellverfahrens „Mäusebunker“ 2023 zum Denkmal.[5] Einen wichtigen Anstoß für die neue Wertschätzung des Bauwerks gab die Ausstellung „Suddenly Wonderful Westberliner Großbauten der 1970er Jahre“.[6] Damit wurde nicht zuletzt ein Paradigmenwechsel vollzogen, der das ICC wie den „Mäusebunker“ nicht mehr als Auswüchse des Modernismus in Form des Brutalismus aus dem Stadtbild durch Sprengung tilgen will, sondern urbane Nutzungsformen entwickelt. Die vor allem aus konservativ-reaktionären Kreisen betriebenen Versuche der Tilgung werden schon durch die exorbitant hohen Beseitigungskosten vereitelt. Die Betonmassen des Brutalismus lassen sich nicht einfach wegsprengen. Medizinhistorisch bedacht sind die Zentralen Tierlaboratorien mit der Humanmedizin eng verknüpft, weil Robert Koch am Milzbrand der Kühe mit Hilfe der Fotografie 1876 überhaupt die Mikrobiologie entwickelte. Ohne genaues Wissen des Erregers hatte bereits Ernst L. Wagner 1865 im Handbuch der Pathologie u.a. mit dem Milzbrand die Zoonose als Übertragung von Krankheiten vom Tier auf den Menschen beobachtet und konzipiert.[7]

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Die reinen Betonflächen beider Forschungsstätten bieten Projektionsflächen an der Schnittstelle des Wissens vom Tier und vom Menschen. Sie wirken wie ein Screen zwischen verbergendem Vorhang und Bildschirm.[8] Es wird ein Wunsch nach Wissen geweckt, das gleichsam verbergend ausgestellt wird. Doch der Name wirkt wie ein Screen. Mit dem vereinfachenden Neologismus Mäusebunker als ebenso niedlicher wie massiver Bunker für Versuchsmäuse lässt sich eine Mehrdeutigkeit im Verhältnis des Menschen zum Tier lesen. Der zum Kernnamen gewordene Mäusebunker für das Bauwerk überschreibt die massenhaft tödlichen Tierversuche in den universitären Tierlaboren zum Wohle des Menschen. Zugleich ist ein Bunker landläufig ein massiver Schutzraum für Menschen in Kriegen und Katastrophen. Schützte der Mäusebunker die Mäuse? Bunker erleben gar in den USA einen Hype als Immobilien für Reiche, wie wortreich und bildstark in den Medien berichtet wird. Der massive Mäusebunker kann visuell zugleich an ein interstellares Schlachtschiff zur Verteidigung der Menschheit erinnern.

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Die Zentralen Tierlaboratorien der FU wurden spätestens um die Jahrtausendwende zum Schauplatz für Proteste von Tierschützern. Damit kehrte sich zumindest die Wahrnehmung des Tieres im Verhältnis zum Menschen in der breiten Öffentlichkeit tendenziell um. „Früher protestierten die Tierschützer noch leibhaftig am Steglitzer „Mäusebunker“ der Freien Universität, in dem bis 2020 Versuchstiere gehalten wurden“, erinnerte Helmut Höge in der Taz 2023.[9] Der Mäusebunker bot einen „zentralen“ Ort für Tierschutzproteste. Doch Tierversuche in den Diensten der Humanmedizin sind nicht aus Berlin verschwunden, vielmehr wurden sie durch Dezentralisierung normalisiert. Für Versuchstiere „gibt es mehrere neue „Mäusebunker“ in Berlin-Buch. Dort werden allein im Max-Delbrück-Centrum durchschnittlich 105.403 Tiere pro Jahr „vernutzt“. Daneben gibt es auch noch den Charité-Campus Buch, wo man die Wirt-Virus-Beziehung bei Vampirfledermäusen erforscht, die mit einem neuartigen Morbillivirus infiziert wurden.“[10]

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Hinter dem geschwungenen Betonschirm zur Krahmerstraße des ehemaligen Instituts für Hygiene und Mikrobiologie verbargen sich ebenso Labore mit Sicherheitsschleusen wie Büros, Unterrichtsräume und ein Auditorium zur Wissensvermittlung. „Der zentrale, verhältnismäßig linear ausgebildete Bauteil beherbergt Büros und Labore. Die Labore sind als Sicherheitsbereich ausgeführt, da hier unter anderem unerforschte Krankheitserreger untersucht wurden.“[11] Das Gebäude und die in ihm ausgeführten Funktionen für die Humanmedizin wurden von Fehling+Gogel in differenzierender und variierender Formensprache durch den Sichtbeton ausgestaltet. Das Auditorium als Ort der Wissensvermittlung hinter dem geschwungenen Betonschirm wurde gar mit einer futuristischen Spitze ausgeführt. Zwischenzeitlich wird das Gebäude als Paul-Ehrlich-Haus für Allergieforschung genutzt, was nicht zuletzt einen Wink gibt auf die hohe Dynamik der humanmedizinischen Diskurse gibt.

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Während sich die Architektur des Klinikums Steglitz, Charité Campus Benjamin Franklin, mit seinen Funktionen als hoch anpassungsfähig erwiesen hat, lässt sich vor allem das Gebäude für die Zentralen Tierlaboratorien als ein Paradox vom brutalistischen Großbau mit seinen prognostizierten Funktionen und den Dynamiken in der Humanmedizin bedenken. Dieses Paradox des zu Architektur gewordenen Funktionswissens als Architekturwissen führt aktuell zu den Debatten der urbanen Praxis für eine Umnutzung. In den 60er bis 80er Jahren funktionierte ein gigantisches Schlachtschiff für Tierversuche noch als Verteidigungsversprechen der menschlichen Gesundheit, seither wurden die Theoreme ins Wissen vom Winzigen in Nanobereiche verschoben, wie bereits Marianne Schuller und Gunnar Schmidt in Mikrologien 2003 mit der Formulierung, dass das „Kleine in technischer Form … kein schöner Schmetterling“ sei, es sei vielmehr „eine verstreute Großtechnologie“, zu bedenken gegeben haben.[12] Andererseits wird das Wissen vom Kleinen und Kleinsten beispielsweise bei hoch ausdifferenzierten Lymphomen in der Praxis der Onkologie erfolgreich angewandt.

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Die Größe und die Funktionen des Mäusebunkers orientierten sich an dem Wissen nicht zuletzt der Zoonose und der Bevölkerungsgesundheit nach den Katastrophen des I. und II. Weltkriegs. Es war nicht zuletzt die Entwicklung eines Impfstoffs gegen die epidemische Kinderlähmung in den 1950er Jahren, die neue massenhafte Tierversuche anregte, worauf Hubert Steinke 2022 aufmerksam gemacht hat. Bereits Paul Ehrlich(!) stützte seine Behandlung der Syphilis in den 1900er Jahren auf „Versuche mit Tausenden Tieren (vor allem Mäuse). In noch weit grösserem Masse wurden Tiere (einige Millionen Makaken) in den 1950er-Jahren zur Erforschung, Entwicklung und Produktion des Polio-Impfstoffs verwendet, der zur Ausrottung der Kinderlähmung führte.“[13] Den Höhepunkt der Tierversuche für moderne Pharmakotherapien sieht Steinke nach dem Zweiten Weltkrieg in den 1970er Jahren. Die Kinderlähmung war in West-Berlin in der Planungsphase der Tierlaboratorien präsent.[14] Die sogenannte Schluckimpfung für Kinder auf einem Stück Würfelzucker gegen Polio in den 1960er Jahren bevölkerungsgesundheitliche Praxis. Die Dimension der Zentralen Tierlaboratorien und ihre Ähnlichkeit mit einem Schlachtschiff korrelierte insofern mit dem Wissen und den Versprechen der Humanmedizin.

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Die Funktionalität der Architektur und Fassadengestaltung der Zentralen Tierlaboratorien ist wiederholt herausgestellt worden. Unter den Architekturen der Wissenschaft in Berlin fällt das Bauwerk als ein Extrem aus.[15] Der Zuversicht der medizinischen Forschung spielt die Angst vor einer Biogefährdung bzw. einem Biohazard entgegen, vor dessen Gefahren seit 1966(!) mit einem einheitlichen Symbol gewarnt wird. „Fenster gibt es nur wenige, die Zu- und Abluft wird durch ein komplexes Röhrensystem geleitet. Mit Betonplatten verkleidet und abgeschottet, um Hygiene und Sicherheit zu garantieren, gehen Wand und Dach ineinander über.“[16] Während im oberen Forschungs- und Bürobau Fenster als spitze Tetraeder auf drei Etagen gestaltet wurden, finden sich die Tetraeder im unteren Bauteil in drei Reihen aus Beton wieder. Das hervorstechende Element der Tetraeder aus Glas und Stahl für die Fenster und Beton zur Gestaltung der Fassade verstärkt zusätzlich zu den Belüftungsrohren auf der schrägen Betonfassade das Sicherheitsversprechen und die Angst vor einer unkalkulierbaren Gefahr. Durch die „architektonisch geprägte Prozesshaftigkeit von Wissen koppelte sich die Entwicklung der Architektur von Universitäts- und Wissenschaftsbauten an die der Wissenschaft selbst“, schreiben Arne Schirrmacher und Maren Wienigk.[17]

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Die nachträglich schwierig zu verifizierende Planungsphase des Gebäudes und ein kleiner, zwischenzeitlich abgerissener Versuchsbau an der nahen Bäkestraße geben einen Wink auf Wissensprozesse in der Universität wie in der Architektur. „Der Planungsbeginn der Forschungseinrichtung ist nicht eindeutig belegbar. Angaben in der Literatur nennen als Planungsbeginn 1965, 1966 oder 1967. Ein vollständiger Gebäudeentwurf lag spätestens 1967 vor. Baubeginn war 1971, jedoch wurde der Bauprozess wegen hoher Kostenüberschreitung von 1975 bis 1978 unterbrochen. Fertigstellung war erst 1981.“[18] Da das Bauwerk wiederholt wegen Form und Größe als „Betonpyramide“[19] bezeichnet worden ist, ergeben sich sowohl Assoziationen zur kosmologischen Architektur der Pyramiden wie die auf eine Funktion ausgerichtete Architecture parlante der französischen Revolution.[20] Die Großarchitektur im eher beschaulichen Lichterfelde am Industriewasserweg Teltowkanal, erbaut 1900-1906, sollte nicht nur für den Fortschritt der Wissenschaft in der Humanmedizin sprechen. Sie glitt vielmehr in ein psychotisches Weltbild aus Gefahren, Ängsten und Versprechen, das unvorhergesehen hohe Geldmengen verschlang.

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Die Zentralen Tierlaboratorien als Name der Forschungseinrichtung verfehlt nicht weniger als der des Mäusebunkers die Ausmaße und die weit über Tierversuche hinausweisenden Wissensprozesse und das Begehren, vom Menschen wissen zu wollen. In singulärer Weise wird der Baukörper zu einer Ausformung der Wissenschaften, ihrer Versprechen und ihrer Dynamiken zwischen 1960 und 1980. Wann und wie genau sich die Pyramide in ein Raumschiff als ultimatives Wissensprojekt verwandelte, lässt sich schwer rekonstruieren. Doch die zeitliche Nähe zum Apollo-Raumfahrtprogramm 1961 bis 1972 hinterließ ihre Spuren im Baukörper. Das Labor indessen wurde vom Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger als „Experimentalsystem“ für die moderne Wissenschaft untersucht. Das als Zentrale Tierlaboratorien konzipierte Bauwerk mit seinem massiven Baukörper gibt einen Wink auf das Labor in der Wissenschaft vom Menschen:
„… meine eigene Erfahrung, die ich aus dem Labor mitgenommen habe, als ich mich auf den Weg gemacht habe, Wissenschaftshistoriker zu werden, ist die gewesen, dass die Objekte, die Wissensobjekte, mit denen man dort umgeht, doch sagen wir mal, so viel Widerständigkeit aufweisen, dass man sich an ihnen abarbeiten muss.“[21]

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Tierversuche im Labor hat Hans-Jörg Rheinberger nicht näher untersucht. Doch das „Verhältnis von Labor und Klinik“[22], wie es in Steglitz mit dem Klinikum, dem Institut und den Zentralen Tierlaboratorien zu einem ganzen Ensemble Architektur geworden ist, sieht er als eine Verknotung „von staatlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen vorgegebene(r) Leitvorstellungen über Gesundheit und Krankheit, die Implementierung medizinischer Programme, die Umsetzung von Forschungsstrategien in Diagnoseverfahren, die Wiedereinsetzung diagnostischer oder therapeutischer Routinen in andere Forschungskontexte mit Fragen der institutionellen Allokation, des sozialen Status von Spezialdisziplinen vertretenden Forschungsgruppen bis hin zur räumlichen, architektonischen Gestaltung des Verhältnisses von Grundlagenforschung und medizinische Praxis“.[23] Er macht darauf aufmerksam, dass „das Spannungsfeld von Labor und Klinik ein immenses Reservoir für Fragen nach Status, Bedeutung und Auswirkungen des Experiments“ biete.[24] Anders formuliert: das Lichterfelder Ensemble wurde nicht nur als Schnittstelle der Lebenswissenschaften geplant, vielmehr werden insbesondere am kolossalen Mäusebunker „Experimentalsysteme“ und ihre Neujustierung bedenkenswert.

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Die biologischen und humanmedizinischen Wissenschaften werden von Rheinberger mit der Frage nach dem Labor und seiner Verknotungen mit anderen Wissensbereichen epistemologisch befragt. Welche Rolle Ängste für die Wissenschaften spielen, fragt er nicht. Doch „(f)ührt uns das Experiment nicht gerade in einen Raum, in dem von Wahrheit in einem traditionellen Sinne gar nicht mehr die Rede sein kann? Kommt hier möglicherweise Jacques Lacans eigentümlich anmutende Bemerkung zu ihrem Recht, daß die unglaublichen Hervorbringungen der modernen Wissenschaften gerade in ihrem Charakter begründet liegen, „nicht-wissen-zu-wollen von der Wahrheit als Ursache“?“[25] Rheinbergers Schwenk auf Lacan als Wissenschaftskritik kann zugespitzt werden. Denn es ist Jacques Lacan, der Mitte der 50er Jahre in seinem Seminar zu den Psychosen, darunter der Paranoia das verstandesmäßige Wissen der Wissenschaften befragt. Er tat das in eloquent geführter Rede, die erst nachträglich als gedruckter Text hergestellt wurde.
„Es gibt eine Prüfung, die Sie bei der Lektüre Freuds und fast aller Autoren anstellen können – Sie werden da über die Paranoia Seiten, mitunter ganze Kapitel finden, lösen Sie sie aus ihrem Kontext heraus, lesen Sie sie laut, und Sie werden die großartigsten Abhandlungen über das Verhalten von aller Welt sehen. Es fehlt nicht viel und was ich Ihnen gerade von Kraepelins Definition der Paranoia vorgelesen habe, würde das normale Verhalten definieren. Sie werden dieses Paradox ständig wiederfinden, und noch bei Autoren, die Analytiker sind“.[26]

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Lacan schlägt seinen Hörer*innen eine Praxis des lauten Lesens vor, die mit seinem Sprechen im Seminar korreliert. Das laute Lesen hat den Effekt, dass sich das Verhalten in der Paranoia kaum von einem „normale(n) Verhalten“ unterscheiden lässt: „Sie werden die großartigsten Abhandlungen über das Verhalten von aller Welt sehen“. Das sich vermeintlich neben dem Verstand abspielende Verhalten wird „normal“. Für Lacan wurde die Paranoia epistemologisch für die „“closure“ of science“ wichtig.[27] Die Frage nach der Wissenschaft bleibt nach Walter Seitter eine „optative Dimension“.[28] Das performative Sprechen Lacans in seinen Seminaren ist wiederholt thematisiert worden u. a. in dem Film Lacan parle (1972) von Françoise Wolff.[29] Die Performanz der Sprache und das Erlernen von Fachsprachen gehören nach wie vor nicht zuletzt neben dem Labor zum Körper der Wissenschaften. Die Wissenschaften, insbesondere Lebens- und Humanwissenschaften werden in den Laboratorien en passant von einer Angst des Nicht-Wissens getrieben. In der historischen Konstellation der 60er bis 80er Jahre nehmen die Ängste eine extreme Form an.

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Das Ensemble aus Laboratorien und Klinik, Diagnostik und Maschinen, Hörsälen und Seminarräumen nach dem Modell des Brutalismus in Steglitz kann als eine Art Zeitkapsel der Wissenschaften gesehen werden. Gerade mit den Elementen, die an die Weltraumfahrt erinnern, lässt sich heute bedenken, dass das Wissensprojekt zu einem großangelegten Tourismusgeschäft für sehr reiche Menschen geworden ist. Die Angst, trotz Vermögen, nicht im Weltraum gewesen zu sein, generiert heute mit Elon Musk Milliarden an US-Dollar. Jeff Bezos ist abhängig von Staatsmilliarden, um Raumfahrtprojekte durchzuführen. Big Money hat längst das Interesse an neuem Wissen abgelöst. Was als Vehikel und Symbol der Wissenschaften zur Definition der Nation und ihres systemischen Vorsprungs konzipiert wurde, hat sich verflüchtigt in Finanzströme.

Torsten Flüh


[1] Siehe Torsten Flüh: Modernismus für die Medizinmaschine. Zur Architektur als Bild vom Menschen anhand des Benjamin Franklin Campus‘ der Charité. In: NIGHT OUT @ BERLIN 12. Oktober 2024.

[2] Siehe Torsten Flüh: Die Raummaschine. Über die Erkundung des ICC zur Feier von 70 Jahre Berliner Festspiele mit THE SUN MACHINE IS COMING DOWN. In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. Oktober 2021.

[3] Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt: Institut für Hygiene und Mikrobiologie unter Denkmalschutz. Pressemitteilung 20.01.2021.

[4] Ebenda.

[5] Landesdenkmalamt Berlin: Neu unter Denkmalschutz: „Mäusebunker“ im Rahmen des Modellverfahrens Mäusebunker unter Schutz gestellt. Kurzmeldung 2023.

[6] Berlinische Galerie: Suddenly Wonderful – Westberliner Großbauten der 1970er Jahre. 26.5.23 – 18.9.23.

[7] Zum Konzept der Zoonose siehe: Torsten Flüh: Fledermäuse, Pangoline, Labore und die Gattung Homo sapiens sapiens. Wie Verschwörungstheorien Sinn stiften und Narrative vom Patient Zero bis zur Artengrenze übertragen werden. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. April 2020.

[8] Zum Screen siehe: Torsten Flüh: Modernismus für die Medizinmaschine. Zur Architektur als Bild vom Menschen anhand des Benjamin Franklin Campus‘ der Charité. In: NIGHT OUT @ BERLIN 12. Oktober 2024.

[9] Helmut Höge: Alte und neue Mäusebunker. Onkomäuse, Zebrafische und Meerschweinchen: Kaum jemanden interessiert noch, wie viele Tierversuche es in Berlin gibt, kritisiert unser Kolumnist. In: taz 6.6.2023 9:05 Uhr.

[10] Ebenda.

[11] Zitiert nach: Wikipedia: Institut für Hygiene und Mikrobiologie.

[12] Siehe auch: Torsten Flüh: »ça a été« Zur Tagung Lesen und Schreiben. Figuren des Kleinen zu Ehren von Prof. Dr. Marianne Schuller in der HFBK, Hamburg. In: NIGHT OUT @ BERLIN 12. August 2024.

[13] Hubert Steinke: Die lange Geschichte der Tierversuche. In: uni aktuell – Das Online-Magazin der Universität Bern. 12. Januar 2022.

[14] Zur Kinderlähmung siehe: Torsten Flüh: Von der Fiktionalität der Epidemie. Zu Philip Roths Roman Nemesis über eine fiktionale Polio-Epidemie in Newark 1944. In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. Januar 2021.

[15] Arne Schirrmacher, Maren Wienigk (Hg.): Architekturen der Wissenschaft. Die Entwicklung der Berliner Universitäten im städtischen Raum. Berlin: jovis, 2019.

[16] Maren Wienigk: Campus Benjamin Franklin, Lichterfelde. Ebenda S. 241.

[17] Ebenda S. 13.

[18] archINFORM: Zentrale Tierlaboratorien der Freien Universität Berlin. (Link)

[19] Ebenda.

[20] Staatliche Kunsthalle Karlsruhe: Architecture parlante.

[21] Eva Feyerabend: Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas. In: Deutschlandfunk 10.09.2001.

[22] Hans-Jörg Rheinberger und Michael Hagner: Die Experimentalisierung des Lebens. Experimentalsysteme in den biologischen Wissenschaften 1850/1950. Berlin: Akademie Verlag, 1993, S. 12.
Zu Hans-Jörg Rheinberger siehe auch: Torsten Flüh: Vom Wissen und der aufgeschobenen Übersetzung.
Marcel Beyer kuratiert Sprache und Wissen im Haus der Kulturen der Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. April 2016.

[23] Ebenda

[24] Ebenda.

[25] Ebenda S. 8.

[26] Jacques Lacan: Das Seminar von Jacques Lacan, Buch III (1955-1956) DIE PSYCHOSEN. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, übers. Michael Turnheim. Weinheim/Berlin: Quadriga, 1997, S. 28.

[27] Thomas Lepoutre, Manoel L. Madeira, Thomas Lepoutre, Manoel L. Madeira, Nicolas Guerin: The Lacanian Concept of Paranoia: An Historical Perspective. In: Front. Psychol., 15. September 2017.

[28] Walter Seitter: Die Wissenschaft der vier Diskurse. In: Ivo Gurschler, Sándor Ivády, Andrea Wald: Lacan 4 D. Zu den vier Diskursen in Lacans Seminar XVII. Wien/Berlin: Turia, 2013, S. 10.

[29] Françoise Wolff: Lacan parle (intégrale) – Conférence de Louvain 1972. (YouTube)

Maximalistic Queerness Mythology

Mythos – Queerness – Show

Maximalistic Queerness Mythology

Zu Taylor Macs & Matt Rays Europapremiere der umwerfenden Show Bark of Millions bei der Performing Arts Season

Die Europapremiere von Bark of Millions am 9. Oktober im Haus der Berliner Festspiele wurde frenetisch gefeiert. Taylor Mac und Matt Ray zauberten eine vierstündige, vielschichtige und funkelnde Show mit 54 Songs ohne Pause auf die Große Bühne des Hauses. Als begnadeter Entertainer moderierte Taylor Mac die Show zum Piano von Matt Ray als eine Show von queer lovers an. Das Publikum dürfe sich frei fühlen, während der Show den Zuschauerraum für einen Drink oder eine Zigarette verlassen oder zum Pinkeln gehen. Die Show sollte gleichsam eine Übung der Befreiung von einengenden Regeln sein. Queerness als Freiheitsversprechen. Bark of Millions wurde vom Sydney Opera House und von den Berliner Festspielen in Auftrag gegeben und von weiteren Stiftungen und Institutionen unterstützt. Im Oktober 2023 fand die Weltpremiere im ikonischen Sydney Opera House statt.

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Taylor Mac mit dem Pronomen Judy und die anderen Drag Queens der Show, Chris Giarmo, Dana Lyn, El Beh, Gary Wang, Greg Glassman, Jack Fuller, Joel E. Mateo, Machine Dazzle, Mama Alto, Matt Ray, Mel Hsu, Sean Donovan, Shirazette Tinnin, Steffanie Christi’an, Stephen Quinn, Taylor Mac, Viva DeConcini, Wes Olivier, machen dem Pronomen drag der Queens alle Ehre. Denn das mehrdeutige to drag heißt auch mitreißen. Sie reißen in ihren Roben von Machine Dazzle, was sich mit Glitzermaschine übersetzen ließe, und den Songs von Matt Ray das Publikum mit. Sie springen ins Publikum und verteilen Songtexte wie Bark of Millions: „The Bark of Millions/Brings the sun/Victorious Again.“ Das heißt zugleich, dass es nicht um das Bellen (bark) von Millionen, sondern um eine Barke für Millionen aus der ägyptischen Mythologie geht. Queerness als Mythologie für Millionen nach dem Gott Atum.

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Das Glitzern und die Sonne gehören in der revueartigen Show Bark of Millions zusammen. Damit die Kostüme, die Schminke und Strasssteine glitzern können, braucht es die Sonne oder wenigstens die künstlichen Sonnen der Scheinwerfer. Der zweite, titelgebende Song nach dem eröffnenden Atum – „I make myself … Crossing heaven on a vessel/Called the Bark of Millions” – rückt die Sonne ebenso wie die Selbstkreation programmatisch ins Interesse. Taylor Mac und Matt Ray verwerfen zwar den Anspruch Historiker, Lehrer oder Wissenschaftler sein zu wollen, aber sie schreiben, singen und performanen nicht weniger als eine unterhaltsame Mythologie der Queerness. Aus was schafft sich Atum, der später Re heißen und als Auge durch die Hieroglyphenschrift wandern wird?

© Fabian Schellhorn

Die Skizze im Fan Deck[1] mit allen Songs zeigt eine ägyptisch gewandete Person, Atum, mit einer Schlange auf sein Smartphone blickend. Obwohl sich Atum wohl eher aus Nichts als „genderneutrale Gottheit“ erschuf, sitzt er für Taylor Mac am Smartphone und scrollt sich durch Instagram, TicToc etc. Geschlechter und Vorbilder werden für die jungen Generationen über Social Media generiert. Geschlechterwechsel, Pronomen, Transformationen und Namensänderungen werden z. B. auf Facebook publiziert, debattiert und mit Likes versehen. Je nach Community und Grad der Öffentlichkeit kann es auch zu Hassattacken kommen. Atum am Smartphone gibt einen Wink auf Praktiken der Queerness und Feindseligkeiten gegen sie.

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Die Übersetzungen der Hieroglyphe für Atum aus dem Alten Reich 2.700 bis 2.200 vor Christus variieren von Sprache zu Sprache. Im Deutschen wird ihm der Beiname „der sich selbst erschaffen hat“[2] gegeben, wobei bereits eine männliche Geschlechtung vorausgesetzt wird. Im Englischen wird die Hieroglyphe mit „to complete or to finish“[3] übersetzt und im Französischen wird die Genese ex nihilo verworfen und Atum als Masturbierer[4] beschrieben, ohne auf das Problem der Hieroglyphen einzugehen.  Die Darstellungen oder Verkörperungen des Atum reichen vom pharaonischen Gott über Schlange, Ichneumon, Widder, Löwe und Affe bis zum Skarabäus, Auge und Vogel. Erst durch seine Teilung entstehen die Geschlechter. Insofern wäre seine Genderneutralität eine Vorgeschlechtlichkeit. Die Vielgestaltigkeit gibt einen Wink auf das Problem der Geschlechtung, die mit Judys (Taylor Mac) queerer Geschlechtung durch Glatze und Glitter korrespondiert. Atums Herkunft aus nichts als aus sich selbst lässt sich ebenso mit der Ausdifferenzierung der Hieroglyphen über die Jahrtausende bedenken. Je weiter sich die Hieroglyphenschrift des Alten Reiches mit der 3. bis 6. Dynastie im Neuen Reich und bis zur 26. Dynastie ausdifferenziert, desto mehr Verkörperungen entstehen.[5]   

© Fabian Schellhorn

Atum ist durch unzählige Pharaonenfilme seit Beginn der Filmindustrie längst zu einem Popstar geworden. Taylor Mac knüpft insofern an einen Ägyptenmythos der Moderne an, mit dem seit Napoleons Ägyptenfeldzug von 1798 als Gegennarrativ zum monotheistischen Schöpfergott eine Schöpfung aus sich selbst ermöglicht wird.[6] Die Kostüme von Machine Dazzle machen aus den Drag Queens nicht einfach weibliche Göttinnen oder Hyperwomen, vielmehr werden die weiblichen Attribute der toupierten Frisuren, der aufgeklebten Wimpern, der ultraroten Lippen, der Mieder und Rüschen bis ins Groteske verstärkt und mit Schnurrbärten konterkariert. Die mythologische Barke, mit der seit Stonewall 1969 durch 54 Jahre queere Songs gesegelt und gesungen wird, erinnert nicht zuletzt an ein Narrenschiff der abweichenden Sexualitäten. Das Narrenschiff und die Parade als queere Aktionen ziehen sich durch die Show. Das lässt sich durchaus mit dem Untertitel der Show lesen:
„A Parade Trance Extravaganza for the Living Library of the Deviant Theme”

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Von Atum bis Oscar Wilde und You & Me werden „queere Personen“ oder einfach Queers aufgerufen und in Songtexten verarbeitet, die eine große Bandbreite von Queerness vorschlagen. Mit Taylor Mac: „Something you heard/will hear in the show (but in case you miss it) is that each song in the piece was inspired by a different queer person from world history. Some you’ll know. Some you won’t. Sometimes we tell you the names. Sometimes we don’t. The intention is not to teach you about them, represent them, honour them (some are real assholes), or even acknowledge their existence. The intention is to ground our considerations (and songwriting) in queerness.”[7] Queerness wird auf diese Weise zu einer Praxis, Überzeugungen und Liedtexte zu generieren. Queerness muss nicht verstanden werden. Es kann sogar sein, dass sie Wissensformationen unterläuft. Die Namen der Queers aus der Weltgeschichte wie James Baldwin, Giovanni di Giovanni, Mary Shelley, Audre Lorde, Yukio Mishima oder Leonardo DaVinci werden in verschiedenen Liedgenres von Pop über Country und Arie etc. besungen.

© Fabian Schellhorn

Selbst mit 54 Songs in 4 Stunden non stopp bleibt die Weltgeschichte (world history) zwischen USA (Herman Melville & Nathaniel Hawthorne), Italien (Leonardo DaVinci), Burma (Shwe Shwe), Griechenland (Sappho & the Amazonians) etc. fragmentarisch und ausbaufähig. Da in der Show die Namen, sofern sie nicht im Liedtext vorkommen, nicht genannt werden, entweder das Wissen einer Weltgeschichte der Queers vorausgesetzt oder ein solches Wissen zumindest mit den Liedtexten generiert wird, bleibt das Wissen im Vagen. Taylor Mac sieht das Wissen nicht als Voraussetzung für den Unterhaltungsgenuss der Show und der Liedtexte. Doch im Vorbeiziehen der Songs könnte der eine oder andere explizite Hinweis helfen. Dass der Roman Moby Dick etwas mit dem Dick (Penis) von Nathaniel Hawthorne zu tun haben könnte, war mir zuvor nicht bekannt.
„Is there a reason Moby Dick’s so long and the middle,
with such excessive fishing like a man who’s lost at
sea when the days are all a’blending
Is there a reason
Oh
There’s a reason
Is there a reason when a love won’t be returned
Though he peppers you with such unspoken longing
Is there a reason
Oh
There’s a reason
Nathaniel
Unrequited
You fucker
Nathaniel
So I’m lost at sea
In the cold
In the cold
Masterpiece.“[8]

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Von Herman Melville sind leidenschaftliche Liebesbriefe an Nathaniel Hawthorne erhalten, die über ein freundschaftliches Verhältnis unter Schriftstellern hinausgehen.[9] Taylor Mac verwandelt die Liebesbriefe in ein queeres Verhältnis von Melville zu Hawthorne, wobei Nathaniel seinem Familiennamen Hathorne das sinnstiftende w hinzufügte. Hawthorn, zu Deutsch Weißdorn, ist mythologisch hoch aufgeladen und wird mit besonderer Stärke assoziiert. Die Queerness des Nathaniel Hawthorne gewidmeten Romans Moby Dick, in dem es bei der Erstpublikation kritisierte homoerotische Sequenz zwischen Ishmael und Queequeg mit der Umschreibung „marriage bed“ gibt, wurde nicht zuletzt von Benjamin Britten in Melvilles Erzählung Billy Budd gelesen, so dass er daraus seine Oper komponierte.[10] Queerness entsteht mit anderen Worten durch eine Überschreitung heteronormativer Narrative und den abweichenden Gebrauch von Worten und Formulierungen.

© Fabian Schellhorn

Bark of Millions lässt ein neues Format der Show entstehen. Die Queerness wird in den Lyrics oder Songtexten auf vielfältige Weise durchgespielt und bleibt doch unbestimmt. Die Show bleibt offen für weitere Songs, die mit jedem neuen Jahr hinzugefügt werden können. Das Kollaborative und die Offenheit werden von Taylor Mac und Matt Ray besonders als Konzept hervorgehoben. Queerness wird zu einem Prozess, der immer wieder neu angestoßen werden kann. Für die Performer*innen sind die vier Stunden Show eine Herausforderung, weil sie eben nicht wie das Publikum kurz einmal die Bühne verlassen können. Nur durch den Applaus nach den Songs unterbrochen reiht sich ein Song an den anderen in ständig wechselnden Liedgenres. Das Timing und die Abfolge der Songs sind perfekt.

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Torsten Flüh

Taylor Mac
Bark of Millions
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[1] Fan Deck: Bark of Millions (Vollansicht)

[2] Wikipedia: Atum.

[3] en.wikipedia: Atum.

[4] fr.wikipedia: Atoum.

[5] Zur Frage der Hieroglyphen und Schriften im alten Ägypten siehe auch: Torsten Flüh: Vom Vorteil des Schlafens auf der Nilinsel Elephantine. Zur begeisternden Ausstellung Elephantine. Insel der Jahrtausende in der James Simon Galerie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. Juli 2024.

[6] Siehe zum Ägyptenfeld 9 Jahre nach der Französischen Revolution: Torsten Flüh: Vor und nach dem Schlaf. Zu den Mosse-Lectures von Samantha Harvey und Michael Hochgeschwender sowie zur Berliner Missionsbewegung als Erweckung. In: NIGHT OUT @  BERLIN 21. Februar 2024.

[7] Taylor Mac: A Note from Taylor Mac. In: Berliner Festspiele: Taylor Mac & Matt Ray Bark of Millions 9., 11. & 12.10.2024. Berlin 2024, Seite 7 und 9.

[8] Fan Deck: Bark … S. 40.

[9] U.a. Maria Popova: Herman Melville’s Passionate, Beautiful, Heartbreaking Love Letters to Nathaniel Hawthorne. In: The Marginalian 2019/02/13.

[10] Torsten Flüh: Der Terror des Gesetzes und das Versprechen des Rechts. Donald Runnicles und David Aldens grandioser Billy Budd von Benjamin Britten an der Deutschen Oper (6. Juni 2014)

Modernismus für die Medizinmaschine

Beton – Humanmedizin – Screen

Modernismus für die Medizinmaschine

Zur Architektur als Bild vom Menschen anhand des Benjamin Franklin Campus‘ der Charité

Das als Klinikum Steglitz, in Universitätsklinikum Benjamin Franklin und schließlich Charité Campus Benjamin Franklin umbenannte Krankenhaus lässt sich als Inkunabel des Modernismus beschreiben. Es ist ein Schnittpunkt der Moderne. In Berlin kursieren eher Geschichten von Krähen, die in angebrochenen Wirbelsäulen nisten, als dass gefragt wird, welches Bild vom Menschen mit dem Klinikbau, der sie umgebenden Wiesen- und Parklandschaft und den bei der Eröffnung 1969 in Europa Rekorde brechenden Ausmaßen verknüpft wurde und wird. Generationen von Berliner und angereisten Patient*innen nutzen das Gebäude seit 55 Jahren. Doch die Geschichten erschöpfen sich in Mäkeleien und RTL- bzw. Sternreporte unter der Gürtellinie, die sich „investigativ“ nennen.

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Der Klinikbau ist von keinem großen Namen der Architekturgeschichte entworfen worden, sondern vom Architekturbüro Curtis and Davis Architects and Engineers aus New Orleans, Lousiana. Ab 1947 entwarfen Nathaniel Cortland Curtis Jr. und Arthur Quentin Davis zunächst in New Orleans Central Business District dann in 40 Staaten der USA mehr als 400 Gebäude. Es existiert lediglich ein amerikanischer Wikipedia-Eintrag, der nicht einmal in Deutsch übersetzt worden ist. Ein derartiges Architekturbüro erweckt nicht das Interesse der Geschichtsschreibung aus großen Architektennamen. Dabei lassen sich im Klinikbau ebenso Anklänge an den flächigen Brutalismus im Sockel wie an die Transparenz in den Bettenhäusern Le Corbusiers oder Oskar Niemeyers finden. Zugleich visualisiert die Architektur eine Klinik als Maschine.

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Das Architekturbüro, wie es mit Curtis and Davis, auch Curtis & Davis, als ein hoch arbeitsteiliges Unternehmen betrieben wurde und bis 1978 existierte, lässt den großen Namen verschwinden. Denn die Gründer des Architekturbüros kooperierten schon bald in ihrer „architectual practice“[1] mit anderen Architekten und Designern. So auch in Berlin. Das Architekturbüro wird selbst zu einer Produktionsmaschine von großen Gebäuden vom IBM Building in Pittsburgh (1963) über das fast programmatische Hotel America in Hartford, Connecticut (1964), der Embassy of the United States in Saigon (1967) bis zum Klinikum Steglitz (1968) und späteren Großbauten. Die zeitliche Nähe der Bauten, ihrer Entwürfe wie Modelle und ihrer Verbreitung von New Orleans bis Saigon spricht für eine verknüpfende Praxis diverser Architekturbereiche. Doch insbesondere am Klinikum Steglitz treffen sie zu einer Inkunabel der Architektur zusammen.

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Das Bauprojekt Klinikum Steglitz entsprang einer breit gefächerten Debatte aus West-Berliner Nachkriegspolitik, Gesundheitsversorgung, Architektur als Politik vor allem durch das Engagement der Benjamin-Franklin-Foundation, die bereits zuvor den Bau der Kongresshalle an der Spree, die heute das Haus der Kulturen der Welt[2] beherbergt, gefördert hatte, und der universitären Lehre und Forschung in der Medizin an der Freien Universität Berlin, wie Andreas Jüttemann zum 50jährigen Jubiläum des Baus erforscht hat.[3] Bei ihm findet sich eine weitere rudimentäre Würdigung von Curtis & Davis mit einer ausführlicheren Würdigung des deutschen Architekten Franz Mocken, der für das Projekt in Berlin hinzugezogen wurde. Davis arbeitete nach dem gemeinsamen Studium mit Curtis an der Tulane University New Orleans in Harvard „auch mit Walter Gropius zusammen()“.[4] Auf einem Foto des Architekturbüros steht der etwas kleinere Davis mit dem linken Arme hinter dem Rücken und lehnt seinen Kopf seitlich auf die Schulter von Curtis.[5]

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Abgesehen vom hohen Grad der Aufgabenteilung im Architekturbüro ist es der in Berlin prominent und über 10.000 Quadratmeter mit über 200.000 Betonspitzen im Flachbau verwendete Screen, der als originäre Invention von Curtis und Davis hervorgehoben werden kann.[6] Der Screen, was nur verfälschend mit Bildschirm und Vorhang übersetzt werden kann, war von Curtis und Davis beim Bau des Caribe Building (1954) in New Orleans als Sonnenschutz für das Bürogebäude erfunden worden.Curtis und Davis verwendeten den Screen in mehreren Abwandlungen bei weiteren Gebäuden. Ziel war es, die Raumtemperatur in den Büros zu senken. Zugleich kann er als ein erster Ansatz zu klimafreundlichem Bauen gesehen werden. In New Orleans verwendeten sie noch Terrakotta als Material für den Screen.
„Wir waren überzeugt, dass ein Tonziegel-Screen ein guter Ansatz zum Sonnenschutz war, deshalb wurde diese Idee an allen vier Fassadenteilen unseres eigenen Bürogebäudes genutzt.“[7]     

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Der Screen am Klinikum ist aus rohem Beton statt aus Terrakotta und knüpft damit an die Programmatik des Brutalismus an[8], obwohl er grazil und feingliedrig wirkt. Denn im Brutalismus soll das Baumaterial Beton unbehandelt für sich selbst sichtbar werden. Während üblicherweise im Brutalismus der flächige Beton wie in den Trägerkonstruktionen der Bettenhäuser ausgestellt wird, entsteht mit dem Screen ein ästhetischer Kontrapunkt. Er lockert die Masse des Flachgebäudes auf und die Bettenhäuser beginnen visuell zu schweben. Der Screen erhält insofern eine weitere visuelle Funktion. Er soll nicht nur vor Sonne schützen, die Temperatur im Büro senken oder die Sicht behindern für die Untersuchungs- und Verwaltungsräume im Flachbau, vielmehr schweben durch ihn die Fensterfronten der Bettenhäuser aus einer luftigen Stahlbetonkonstruktion. Die Fassade der Bettenhäuser präsentiert sich nicht als flächige Fensterfront, sondern durch eine Anwinkelung der Zimmerfester und Verbreiterung des Baukörpers nach außen als ebenso dynamisch wie luftig.

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Curtis und Davis beziehen sich mit dem Namen ihres Architekturbüros stärker auf Le Corbusier, als bislang beachtet worden ist. Der Name des Architekturbüros „Curtis and Davis Architects and Engineers“ dockt beispielhaft an die Programmatik von Le Corbusiers Text Argument von 1923 an, in der er den Architekten zum Ingenieur macht. Im Text wird bei Le Corbusier das Gebäude und Haus zur „machine à habiter“: „La mécanique porte en soi le facteur d’économie qui sélectionne. La maison est une machine à habiter.“[9] (grob: Die Mechanik trägt den Faktor der Ökonomie, der selektiert, in sich. Das Haus ist eine Maschine zum Wohnen.) Der ebenso poetisch formulierte wie mit der Mathematik als wissenschaftlich geschriebene Text wird unterschätzt. Er erschien in der Zeitschrift L’Esprit Nouveau, die ein neues an der Mathematik ausgerichtetes Denken der Moderne in den vor 100 Jahren entwickelte. Der neue Geist, für den auch das Klinikum stehen sollte, lässt ein Spiel entstehen aus Masse, Fläche, großer Zahl, Berechenbarkeit und einer dynamischen Flüchtigkeit.

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Die Ökonomie, die mit économie im Französischen nicht nur als Wirtschaftlichkeit, Wirtschaft oder Sparsamkeit, sondern auch als Einsparung und Rücklage gebraucht werden kann, ist eine mathematisches Prinzip, das der Ingenieur besser ausübt als der Architekt. Le Corbusiers Brutalismus lässt sich nicht zuletzt im Kontext dieser Ökonomie bedenken. Die Pointe liegt beim Klinikum Steglitz darin, dass sich die Ökonomie in der Verzahnung mehrerer Gebäude, unterschiedlicher Aufgaben wie Krankenversorgung, Lehre und Forschung zu einem Baukomplex verdichten lässt, um eine effiziente Medizinmaschine aus diversen Praktiken für den Menschen zu schaffen. Was in der Forschung zur Krankenhausarchitektur als amerikanisches „Departmentsystem“ beschrieben wird, entspricht der Programmatik der Ökonomie Le Corbusiers. Heinz Goerke, der Ärztliche Direktor, übersetzte Le Corbusiers Maschine 1969 bei der Eröffnung mit dem Begriff der „Integrierung“:
„Aufgrund seiner architektonischen Lösung und der Arbeitsorganisation mit ihrem hohen Maß an Integrierung bietet das Klinikum Steglitz ein interessantes Beispiel für ein modernes Zentrum der medizinischen Forschung und Lehre, dem besondere Bedeutung deshalb zukommt, weil hier die Vorstellungen und Erfahrungen amerikanischer und kontinentaleuropäischer Krankenhausplaner und sachverständiger Berater gemeinsam verwertet worden sind.“[10]

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In der Planung wurde der Funktionsablauf durch ein Gutachten für das „Universitäts-Klinikum Berlin“ genau geplant, wie Jüttemann im Universitätsarchiv der Freien Universität finden konnte.[11] Die zwei Geschosse des Flachbaues liegen über dem Untergeschoss, dass vom Eingang Hindenburgdamm mit einer Auffahrt verdeckt wird. Im Untergeschoss wurden Speisesäle, Küche und Apotheke neben mehreren Therapieeinrichtungen vorgesehen. Im Erdgeschoss sollten sich die Aufnahme und Lehreinrichtungen befinden. Die Zentrale Aufnahme befindet sich noch heute dort. Im 1. Obergeschoss wurde vor allem die Röntgendiagnostik angesiedelt, wo sie tatsächlich heute noch ausgeübt wird und sich weiter ausdifferenziert hat. Die Strukturierung der Funktionen hat sich ein wenig verschoben, wird allerdings weiterhin in gleicher Weise ausgeführt. Die „Graphisch-isometrische Übersicht über die Fachklinken“ weicht ebenfalls von der heutigen Nutzung ab, da sich die humanmedizinischen Fächer permanent verändern. Indessen wird im Funktionsablauf der Klinik ein Körpermodell angeschrieben, das dem der Humanmedizin selbst zumindest ähnelt. Eine Art Herzfunktion übernimmt dabei die Diagnostik, die den Funktionsablauf von Behandlung und Pflege in Gang setzt.

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Der Screen von Curtis & Davis hat heute mit dem Screening als Praxis eines systematischen Testverfahrens in der Humanmedizin für Vorsorge und Datenerhebung einen weiteren Aspekt für die Sprache der Architektur bekommen. Die Praxis des Screenings läuft mehr oder weniger permanent durch die Charité auf dem Campus Benjamin Franklin und an anderen Standorten wie dem Neugeborenen Screening oder Mammographie Screening. Screenings sind in der Humanmedizin zu einem entscheidenden Wissensgenerator geworden.  Doch schon bei der Konzeption changierte der Screen zwischen maurischen Architekturmustern, Sonnenschutz, Sichtschutz und Wirbelsäule als Hauptnervenstrang des menschlichen Körpers. Die kleinteilige Anordnung der Sreen-Stränge in großer Zahl generiert eigene visuelle Effekte. Er verleiht dem Wissen der Humanmedizin, das dahinter generiert und praktiziert wird, eine Aura. Von innen funktioniert er als Sonnen- und Hitzeschutz und von außen als Vorhang um das Wissen vom Menschen. Dadurch eignet er sich nicht zuletzt als Projektionsfläche von Wünschen und Ängsten. Wenn man sich dem Screen nähert, löst er sich auf in Einzelteile. Betonknochen.

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Maschinen und maschinell-serielle Produktionen funktionieren in Deutschland seit der Etablierung des Vereins zur Beförderung des Gewerbefleißes in Preußen durch Peter Beuth und Friedrich Schinkel 1821 über normierte Formen. Peter Beuth hat damit formalisiert, was später in der Deutschen Industrie Norm, kurz DIN, die heute in der Europäischen Norm (EN) weiter existiert, institutionalisiert worden ist. Der Screen passte nicht in die Deutsche Industrie Norm (DIN) 5034 für „Innenraumgestaltung mit Tageslicht“. Er wurde durch ein Gutachten des Bundesgesundheitsamtes von 1961 medizinisch abgelehnt:
„Schließlich darf in einer hygienischen Beurteilung der psychische Eindruck, den ein solches Gitterwerk mit einem Öffnungsverhältnis von nur rd. 50 % auf eine repräsentative Mehrzahl gesunder und kranker Rauminsassen machen würde, nicht unerwähnt bleiben.“[12]    

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Am Screen scheidet sich die Norm als Verfahren der Vermessung. Was sich als Satire lesen ließe, ist schon deshalb nicht belanglos, weil es in der Humanmedizin ebenfalls immer um Normen, Normalität und Abweichungen geht. Das regelmäßige Messen von Blutdruck, Temperatur und Puls gehört nicht nur zur Pflege, vielmehr werden berechenbare Normen für den Menschenkörper überprüft. Über die DIN 5034 konnten sich die Architekten bei ihrer Planung nicht einfach hinwegsetzen, obwohl die Produktion des Screens mit den Betonknochen bereits angelaufen war. „Mocken und Davis entwickelten einen Alternativvorschlag, um trotz Installation des Screens den Lichteinfall in die Zimmer nicht zu sehr zu begrenzen“, schreibt Jüttemann.[13] Damit rückt allerdings noch einmal der Architekt Franz Mocken als Scharnier und Mitproduzent ins Interesse des Bauprojektes. Denn Mocken hatte den Screen bereits wegen der Kosten(!) in Frage gestellt. Der Screen widersprach der Ökonomie des Klinikumbaus insofern, als ihm unter Berliner Klimaverhältnissen kein direkter Nutzen abzugewinnen war. Berlin ist glücklicherweise nicht New Orleans. Aber als Design konnte Davis offensichtlich den Screen durchsetzen. 

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Die Humanmedizin ist nicht erst seit dem 19., vielmehr seit dem 18. Jahrhundert durch eine Geste der Befreiung mit dem Denken der Maschine verknüpft. Man könnte sagen, das modellhafte Klinikum Steglitz sei eine späte Materialisierung des L’homme-Machine (1748) von Julien Offray de la Mettrie aus dem Umfeld Friedrich des Großen. Der Arzt, Pamphletist und Philosoph de la Mettrie entwickelt aus seinem humanmedizinischen Wissen ein Argument zur Befreiung vom Theismus. « CONCLUONS donc hardiment que l’Homme est une machine; & qu’il n’y a dans tout l’Univers qu’une seule substance diversement modifié. »[14] (Ziehen wir also kühn den Schluss, dass der Mensch eine Maschine ist und dass es im ganzen Weltall nur eine Substanz gibt, die freilich verschieden modifiziert ist.) Der Mensch als Maschine wird von de la Mettrie kurzerhand als ein Neologismus – L’homme-Machine – formuliert, was bei der Übersetzung in andere Sprachen immer wieder zu Problemen und Fehlübersetzungen geführt hat.

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Der L’homme-Machine wird vom Arzt und quasi Maschinisten de la Mettrie nicht zuletzt als Wollust-Maschine formuliert. An die Stelle Gottes als Kreator und Lebensgestalter tritt La Volupté als Antrieb für die Maschine. Die Maschine Mensch, an der sich auch heute noch kritisch abgearbeitet wird, fällt mit der Wollust als Antrieb relativ einfach aus im Text de la Mettries. Ihr Funktionsablauf, um den Begriff wieder zu gebrauchen, ist keinesfalls ausdifferenziert, wenn es in der Widmung an den Professor der Medizin Haller in Göttingen mit großer Geste heißt:
„La Volupté des sens, quelque aimable & chérie qu’elle ſoit, quelques éloges que lui ait donnés la plume apparemment reconnoiſſante d’un jeune Medecin françois, n’a qu’une seule jouïssance qui est son tombeau.“[15]
(Die Wollust der Sinne, so liebenswürdig und lieb sie auch sein mag, welches Lob ihr auch die anscheinend erkennbare Feder eines jungen französischen Arztes gegeben haben mag, hat nur ein Vergnügen, nämlich ihr Grab.)

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Die Medizin wird um 1748 in der Verknüpfung mit der Philosophie-Literatur Voltaires am Hof Friedrich II. von Preußen zum Modell des Wissens vom Menschen. La Volupté (Wollust) und la jouïssance (Genuss/Vergnügen) sind derart wichtige Begriffe Voltaires, dass selbst Friedrich II. sie in seinem programmatischen, lange unter Verschluss gehaltenen Gedicht La Jouïssance preist.[16] L’homme-Machine ist nicht nur in philosophischer oder neurowissenschaftlicher Hinsicht das entscheidende Scharnier für den Menschen als Maschine aus zwischenzeitlich unendlich fein ausdifferenzierten Prozessen, die den menschlichen Körper ausmachen, am Leben erhalten oder ihn krank machen und absterben lassen. Die Maschine basiert dabei nicht zuletzt auf sprachliche Prozesse in der Vermittlung und Transformation von medizinischem Wissen. Theoriebildungen mittels (sprachlich) codierter Bildgebungsverfahren, die in Arztberichte übersetzt werden, Empfehlungen aussprechen und Therapien einleiten, finden in der Maschine Charité Campus Benjamin Franklin permanent statt.

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In der großen Maschine ist die Rohrpost-Anlage aus der Zeit der Eröffnung 1968 fast in Vergessenheit geraten. Sie wird nicht mehr benutzt. Doch weil sie sich nicht einfach aus dem Baukörper entfernen lässt, kann man sie wenigstens an einer Stelle noch heute hinter Glasscheiben in einem Wartebereich sehen. Die Rohrpost-Anlage als, fast möchte ich sagen, Kernstück der Medizinmaschine taucht in keiner Denkmaldatenbank und auch nicht in Jüttemanns Alles unter einem Dach auf. Dabei dürfte es 1968 nicht nur die modernste Rohrpost Europas gewesen sein. Ob die Rohrpost nur im Flachgebäude für Verwaltung und Diagnostik eingebaut wurde oder bis in die Kliniken (Stationen) und die Lehre reichte, ließ sich nicht ermitteln. Doch die Rohrpost mit ihren zylindrischen Behältern für Papiere, Proben und wahrscheinlich auch Präparate durchzog das Klinikum und regelte seine Kommunikation. Obwohl heute digitale Technologien die Wissensabläufe in der Charité Campus Benjamin Franklin in Bewegung halten, erinnert die analoge Rohrpost an hochvernetzte und fein ausdifferenzierte Prozesse in der Humanmedizin, die die Maschine weiterhin am Laufen halten.

Torsten Flüh


[1] En.wikipedia.org: Curtis and Davis Architects and Engineers.

[2] Zur Kongresshalle und der Benjamin-Franklin-Foundation siehe auch: Torsten Flüh: Feuerwerk der Welten zwischen Quilombismo und Pluriversum. Zur Wiedereröffnung des HKW in der Intendanz von Bonaventure Soh Bejeng Ndikung mit Ausstellung und Freiluftkonzert. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. Juni 2023.

[3] Andreas Jüttermann: Alles unter einem Dach. 50 Jahre: Vom Klinikum Steglitz zum Campus Benjamin Franklin der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Berlin: Orte der Geschichte e.V., 2019.

[4] Ebenda S. 39.

[5] Ebenda S. 38.

[6] Ebenda S. 44-47.

[7] Curtis und Davis zitiert nach: Andreas Jüttermann: Alles … [wie Anm. 3] S. 44.

[8] Zum Brutalismus siehe: Torsten Flüh: The Beauty and The Logic of Brutalism. Zur Zukunft der Wissenschaft anhand des Brutalismus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 28. Februar 2021.

[9] Le Corbusier: Vers une architecture. Collection de „L’Esprit Nouveau“, Paris: Éditions Crès, 1923. (Fondation Le Corbusier)

[10] Ärztlicher Direktor Heinz Goerke zitiert nach Andreas Jüttermann: Alles …  [wie Anm. 3] S. 32.

[11] Beilage 2 zur Gutachtlichen Äußerung zu den vorliegenden Bauplänen für das Universitäts-Klinikum Berlin hinsichtlich des Funktionsablaufes in grundsätzlicher Hinsicht. In: Ebenda S. 17.

[12] Zitiert nach Ebenda S. 50.

[13] Ebenda.

[14] Julien Offray de la Mettrie: L’homme-Machine. Leyden: Elie Luzac et fils, 1748. (Wikisource)

[15] Ebenda.

[16] Zu Friedrich II. siehe Torsten Flüh: Für eine Kulturforschung der Sexualitäten. Zu Tim Blannings neuer „Biographie“ FRIEDRICH DER GROSSE. König von Preußen. (25. Februar 2019)

Komponieren Frauen anders?

Frau – Komposition – Amerika

Komponieren Frauen anders?

Zu den Konzerten des Ensembles Modern mit Werken der Komponistinnen Ruth Crawford Seeger, Tania León, Johanna Magdalena Beyer und Katherine Balch beim Musikfest Berlin 2024

Das Ensemble Modern steuerte gleich drei Konzerte mit Komponistinnen aus den USA zum Musikfest bei. Mit dem Portrait Ruth Crawford Seeger und ihrer Schülerin Johanna Magdalena Beyer standen zwei Komponistinnen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf dem Programm, die mit den Zeitgenossinnen Tania León (*1943) und Katherine Balch (*1991) ergänzt wurden. Ähnlich wie die Figur des Dirigenten wurde die des Komponisten bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts fast ausschließlich von Männern ausgeführt. Beim Musikfest Berlin 2022 hatte Yannick Nézet-Séguin mit den Philadelphians auf Florence Price aufmerksam gemacht.[1] Beim 2. Konzert des Ensembles Modern unter der Leitung von David Niemann waren am frühen Samstagabend vor dem Konzert der Wiener Philharmoniker mit Unsuk Chin und Allision Loggins-Hall u.a. gar Komponistinnen im Publikum. Tania León und Katherine Balch wurden auf dem Podium des Kammermusiksaals gefeiert.

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Die Wiederentdeckung und Aufführung von Florence Prices Symphonie Nr. 1 durch Yannick Nézet-Séguin 2021 wurde zu einer Sensation in den von Männern dominierten Kompositionspraktiken. Das Komponieren von Ruth Crawford vor allem in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts knüpft an zeitbedingte Strömungen an, bevor sie in ihrer Ehe mit Charles Seeger Folksongs arrangierte und Musikunterricht im Kindergarten ihrer Tochter erteilte. Die Geschlechterrollen waren ihr nicht fremd. Doch welche Auswirkungen haben Geschlechtermodelle auf das Komponieren? Was passierte, wenn eine Frau die Geschlechterrolle der Klavier- und Musiklehrerin verließ? Was entsteht heute, wenn Katherine Balch anlässlich des Charles Ives-Jubiläums sich seines Central Parc in the Dark annimmt? Ausgerechnet im weiblichen Feld der Musik dominieren Modelle der Maskulinität. Das hat weiterhin viel mit den vorherrschenden Konzepten von Musik zu tun.

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Die Geschlechterrollen Ehefrau, Mutter, im Glücksfall Gefährtin für Frauen im ausgehenden 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren begrenzt. Ruth Crawford Seeger, Jahrgang 1901, steht da in mancher Hinsicht an einer beispielhaften Schnittstelle von Aufbruch und Konvention. Sie studiert in Chicago, nutzt die gesellschaftlichen und künstlerischen Umbrüche der 20er und 30er Jahre aus einem privilegierten Hintergrund heraus und erhält später ein Guggenheim-Stipendium für Europa. So wird sie Ende der 30er Jahre in New York gar zur Kompositionslehrerin für die 12 Jahre ältere Johanna Magdalena Beyer. Die Folksong-Forschungen und -Arrangements mit Charles Seeger waren in gewisser Weise amerikanische Pionierarbeit. Selbst in der Mutterrolle wird Ruth auf progressive Weise im Kindergarten aktiv. Komponieren und eine Komposition sind insofern nicht nur durch die häufig bemühte Exzeptionalität des Genies gerahmt, vielmehr tragen gesellschaftliche Strukturen und ihre Umbrüche ebenfalls zu den Praktiken des Komponierens bei.

© Fabian Schellhorn

Es sind die Umbrüche, in denen mehr oder weniger plötzlich andere Möglichkeiten erprobt werden können. Johanna Magdalena Beyers Suiten aus verschiedenen Kammermusikwerken, die das Ensemble Modern unter der Leitung von David Niemann in der Zusammenstellung von Hermann Kretzschmar spielte, fallen wie das Allegretto aus dem Streichquartett II fast klassisch aus und erinnert, weshalb auch immer, den Berichterstatter an Mozart. Nach 5 weiteren Sätzen aus unterschiedlichen Kammermusikwerken setzt Kretzschmar das Allegro quasi Presto (4. Satz) aus dem gleichen Streichquartett. Dadurch wird eine gewisse Bandbreite der Kompositionen, aber auch eine strukturelle Ähnlichkeit hörbar, die die traditionelle Ausbildung und Kompositionslehre von Ruth Crawford anzeigt. Das von Hermann Kretzschmar verwendete, innovative Format der Montage – ausschneiden und montieren – hat seine Vorzüge und gibt doch einen Wink auf die Frage danach, ob Frauen anders komponierten. Denn Crawford und Beyer orientieren sich an den tradierten Kompositionspraktiken.

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Man könnte eine Geschichte des Komponierens auch als eine der Zitate und Modulationen von Motiven schreiben. Im Rahmen der Kompositionsschemata kommt es plötzlich, vielleicht muss man sogar konkret für die Moderne sagen, bei Ludwig van Beethoven in den 32 Klaviersonaten zu einer gewissen Permanenz der Brüche und Umbrüche, die zu einer folgenreichen Veränderung des Komponierens führen und Material bis in die Popmusik werden.[2]  Mit ihrer Suite Nr. 1 (1927) für fünf Bläser und Klavier knüpft Crawford an die Rhapsody in Blue (1924) von Gershwin an. Jazzelemente kommen vor und es ließe sich an Korngold denken. Am Schluss des 4. Satzes Allegro con brio wird ein Ton gespielt von der Querflöte (Dietmar Wiesner), der an einen Witz denken lässt. Crawford experimentierte offenbar leidenschaftlich beim Komponieren. Im Vorgriff auf das 3. Konzert des Ensembles Modern am Sonntagvormittag lässt sich gar sagen, dass sie das Material der Kompositionsschemata gern neu kombinierte wie in Kaleidoscopic Changes on a Original Theme Ending with a Fugue(1924).

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In den 20er Jahren, also z.B. als 25jährige komponiert Ruth Crawford mit einer großen Experimentierfreude mit neuartigen Modi wie in Music for Small Orchestra (1926), wenn sie den ersten Satz als „Slow, pensive“ und den zweiten als „In rougish humor. Not fast“ komponiert. Die „Music“ kann mit Fagott, Bassklarinette, Bassflöte, Flöte und Klavier an eine Art Schauspielmusik erinnern. Doch hier steht die Musik für sich allein und doch nicht ganz. Denn der dominierende Rhythmus und eine Art Läuten im Klavier mit Crescendo können an einen Totentanz oder Griegs Peer-Gynt-Suite erinnern.[3] Der langsame (slow) und nachdenkliche (pensive) erste Satz, wird vom schelmischen oder auch schwarzen Humor in einem schnelleren, aber nicht schnellen Tempo des zweiten abgelöst. Das Experimentieren bringt bei Crawford fast aus einer Unbekümmertheit neue Musik hervor.

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Tania León und Katherine Balch wurden für ihre recht unterschiedlichen Stücke Héchizos (1995) und Country Radio (2024) im Kammermusiksaal regelrecht gefeiert. Es war nicht zuletzt eine Hommage an die 1943 in Havanna geborene Komponistin León, die nach Studien an Konservatorien in Kuba in der New Yorker Tanzszene der Schwarzen ihre Kompositionen entwickelte. Insofern kann man bei diesen Kompositionen von einer entschiedenen körperbetonten Musik sprechen. Der Anspruch auf Gleichberechtigung beschäftigt Tania León nicht nur als Frau, sondern ebenso als Schwarze mit afrikanischen, französischen, spanischen und kubanischen Einflüssen. Nach der Ermordung Martin Luther Kings am 4. April 1968 gründete sie mit dem ersten African American Tänzer des New York City Ballet (1955), Arthur Mitchell (1934-2018), das nicht nur schwarze, sondern besonders innovative Dance Theatre of Harlem 1969. Die Innovation kamen nicht zuletzt durch die Kompositionen von Tania León. Sie leitete das DTH bis 1978 als Musikdirektorin, um danach als Dirigentin, Musikberaterin und eifrige Komponistin Karriere zu machen.

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Die beiden kurzen jüngeren Kompositionen Héchizos und Rhítmicas (2019) lassen die frühe Auseinandersetzung mit dem Tanz und anderen, außer-europäischen Quellen des Tanzes noch spüren. Héchizos kann im Spanischen sowohl Zauber wie Zaubersprüche heißen. Für Zaubersprüche ist der Modus der Wiederholung wichtig, wie er in Tania Leóns Komposition mit einem eröffnenden Thema und seinen Wiederholungen praktiziert wird. Doch im weitergefassten rituellen Zauber spielen zugleich geheimnisvolle Körperbewegungen eine entscheidende Rolle für die Praxis des Zaubers. Rituelle, wiederholbare Köperbewegungen wecken den Zauber und ermöglichen seine Übertragung auf Anderes und Andere. Bei León bekommt der Zauber einen tumultartigen Zug durch Schlagzeug, hohe Streicher und Bläser. Danach breitet sich der Zauber mit der Bassklarinette in einer „rhythmisch gezackte(n), komplexe(n) Linie“[4] aus. In Rhíthmicas (rhythmisch) werden auf durchaus witzige Weise verschiedene Rhythmen angespielt. Denn nicht nur die Rhythmusinstrumente des Schlagzeugs oder das Klavier wollen hier rhythmisch sein, vielmehr bemüht sich das Saxophon (Lutz Koppetsch) ebenfalls rhythmisch werden zu wollen. Auf diese Weise spielt Tania León mit dem Musikwissen und montiert es witzig.

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Das Generationelle kam im Portrait Ruth Crawford Seeger mit Katherine Balchs (*1991) Bearbeitung von Charles Ives‘ Central Parc in the Dark deutlich zum Zuge. Denn Balch interessiert sich in ihrer Komposition Country Radio für die mediale Übertragung des Stückes von Ives und den daraus entstehenden akustischen Effekten. Im Programm des von Winrich Hopp kuratierten Musikfestes passte Ives‘ Komposition sehr gut, weil sie beim Eröffnungskonzert mit dem São Paulo Symphony Orchestra unter Thierry Fischer zu hören gewesen war.[5] Gegenüber Ruth Crawford Seeger hat sich das Komponieren bei Katherine Balch insofern von männlichen Praktiken emanzipiert. Modulares Ensemble und Feldaufnahmen erforschen die medialen Effekte beim Autofahren. Die alltagsweltliche Praxis wird zum Material von Musik. Katherine Balch formuliert das als mediale Hörpraxis:
„Auf dem Weg von der Arbeit nach Hause, von der Stadt New Haven in die ländliche Gemeinde Bethany, Connecticut, wird der klassische Radiosender 90.1 FM zu einer herrlichen avantgardistischen Collage von Interferenzen benachbarter Kanäle. Mendelssohn wird mit den Top 40 vermengt, eine Scarlatti-Sonate untermalt den Bibel-Talk-Sender, atmosphärische Störungen schieben sich zwischen die sanften Klänge eines Chopin-Walzers. Es ist einfach herrlich und musikalisch perfekt.“[6]

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Country Radio transformiert Charles Ives’ Musik nicht zuletzt mit Referenzen an die ländliche Region wie an die Country Music als Popmusikgenre in ein vielfältiges Klangereignis. Einerseits lässt sich dabei sowohl an Kompositionspraktiken wie bei George Gershwins Rhapsody in Blue denken[7], andererseits wird damit das Komponieren geöffnet für eine breite, aber sensible Alltagswahrnehmung und Musik als Begleitung. Balch lässt durch die Feldaufnahmen mehr geschehen in ihrer Musik, als dass sie einem Schema folgt. Diese Praxis konterkariert nicht zuletzt den maskulinen Schöpfungsanspruch, der das Komponieren über Jahrhunderte durchzogen hat und häufig von Musikkritiker*innen als Maßstab weiterhin formuliert wird. Über Jahrhunderte wurden Kompositionsschulen entwickelt und Stücke nach ihrer Ausführung bewertet, was noch bei den Kompositionen von Ruth Crawford Seeger und Johanna Magdalena Beyer nachklingt. Doch Katherine Balch stellt mit Country Radio mit Referenz an Charles Ives als Eigenwilligen diese Tradition in Frage.
„Das Stück ist stark von Charles Ives‘ Central Parc in the Dark und allgemein von seiner Musik inspiriert und orientiert sich strukturell daran.“[8]

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Die Frage nach dem Geschlecht spielt in Country Radio insoweit eine Rolle, als die Geschlechter in ihrer dem Deutschen eigenen Gebrauchsbreite von Herkunft, Rasse, Genre etc. von Balch unterlaufen werden. Mendelssohn, Top 40, Scarlatti-Sonate, Bibel-Talk, atmosphärische Störungen und Chopin-Walzer werden kaum abgrenzbar, sondern zum „Miteinander“. Doch Katherine Balch legt sich nicht einfach auf ein Weibliches fest, sondern lässt mit den Interferenzen die Differenz aufblitzen. Sie komponiert aus einem zeitgenössischen Diskurs heraus, der von Konzepten der Männlichkeit als Bedrohung bekämpft wird. In ihrem Kommentar situiert sie sich als Ich stärker als Empfängerin, denn als Schöpferin:
„Schon öfters habe ich versucht, das aufzunehmen. Wenn ich aus meinem Auto aussteige, nimmt ein stärkeres Miteinander von Kanälen Gestalt an: ein breites Klangspektrum des betriebsamen Naturorchesters. Country Radio möchte dieser Erfahrungen musikalisch einfangen und ein wenig damit experimentieren.“[9]

© Fabian Schellhorn

Mit dem dritten Konzert des Ensemble Modern erprobte Hermann Kretzschmar am Sonntagvormittag ein neuartiges Programmkonzept. Eröffnet mit der Sonate für Violine und Klavier wurde es ein „Kaleidoscop(e)“ der Kompositionen in unterschiedlichen Formaten wie Sonate, Suite, Walzer, Wiegenlied, Caprice, Präludien, Streichquartett, Thema und Variationen sowie Kanons, nicht zu vergessen Kaleidoscopic Changes on an Original Theme Ending with a Fugue gespielt. Der Kammermusiksaal wurde mit im Raum verteilten Spieler*innen und farbiger Beleuchtung genutzt. Bedauerlicherweise herrscht bei Konzertbesucher*innen immer noch ein Wissensanspruch vor, den nur interessiert, was er kennt. – Was ich nicht kenne und weiß, dem will ich mich nicht aussetzen. – Die Musikindustrie zwischen Thielemann und Taylor Swift, zwischen Igor Levit und Adele wird von Wissensformaten bis zu Adeles Cocktails und Swifts Freundschaftsarmbändern beherrscht. Adeles Konzerte in München mit Erlebniswelt waren gigantische Wissensgeneratoren und darin vor allem Weltspitze.

© Fabian Schellhorn

Das Konzertformat der Matinée weckt zudem seit Jahren kaum noch Interesse. Die Bereitschaft und Sensibilität für die Entdeckung einer Komponistin wie Ruth Crawford Seeger am Sonntagvormittag wird durch etliche mentale Hürden eingeschränkt. Der Tod der Matinée scheint absehbar. Das Konzertformat der Matinée ist anscheinend wenig erforscht. Die französische Herkunft des Namens Matinée im frühen 19. Jahrhundert und sein ansteigender Gebrauch bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts[10] sprechen dafür, dass die Matinée eng mit dem Salon verknüpft war und später bürgerlich institutionalisiert wurde. Vielleicht wird sie weiter in mehr oder weniger alternativlosen Kurorten und Jahreszeit-Festspielen ein Schattendasein führen. Doch dort wird sie kaum so innovativ und inspirierend wie im Kammermusiksaal mit dem Ensemble Modern ausfallen. Die bereitgestellten Pressefotos lassen einerseits die konzeptuelle Brillanz wie die musikalische Qualität und andererseits die Leere im Saal erahnen. Verpasst! Lässt sich damit nur dem Publikum entgegenrufen.

© Fabian Schellhorn

Die große Bandbreite der Kompositionen von Ruth Crawford als junge, unverheiratete Komponistin wurde mit dem dritten Konzert deutlich. Sämtliche Musikformate werden in oft nur kurzen Stücken ausprobiert und bisweilen neu kombiniert. In den Titeln wie Mr. Crow and Miss Wren go for a walk – a little study in short trills (1923) blitzt bisweilen ein jugendlicher Witz auf. Die Krähe und der Zaunkönig machen einen Spaziergang, der von der 24jährigen mit dem Klavier akustisch durch Triller begleitet wird. 2020 hat Emily Baumgart von der Music Division der Library of Congress The Experimentation of Ruth Crawford Seeger insbesondere in Hinblick auf ihr Streichquartett von 1931 in einem kurzen Video diskutiert[11], das ebenfalls vom Ensemble Modern in der Matinée gespielt wurde. Emily Baumgart betont, wie Ruth Crawford verschiedene Techniken ausprobiert. Sie geht detailliert auf die einzelnen Sätze und ihre Kombination ein, die sich mit Rubato assai, Leggiero, Andante, Allegro possibile an klassische Vorgaben halten, aber Ruth mache daraus etwas Neues. Das Allegro possible hebt Baumgart besonders hervor.

© Fabian Schellhorn

Das Ensemble Modern hat eng mit der Library of Congress, in der der Nachlass von Ruth Crawford Seeger als Teil des Seeger Family Nachlasses aufbewahrt wird, zusammengearbeitet. Die Komponistin Ruth Crawford lässt sich insofern nur und erst über den American Folklife Center und die Seeger Family wiederentdecken. Das ist keine zufällige Pointe, sondern eine Frage der Institutionalisierung von Geschlecht. Die Kompositionen der jungen Frau gehen in der Familie und in älteren Jahren in einer eher konventionellen Kompositionspraxis auf. Pete Seeger (1919-2014) – We shall overcome Where Have all the Flowers GoneIf I had a hammer –, Songs die mein Amerika-Bild noch durch Peter, Paul and Mary in den 70er Jahren geprägt haben, war nicht der Sohn von Charles Seeger und Ruth Crawford, sondern von Constance de Clyver Edson, mit der er bis 1929 verheiratet war. Insofern irrte Alexandra Klobouk in ihrem schönen Wimmelbild, als sie We shall overcome mit Ruth Crawford Seeger assoziierte und ein wenig in der Familie verschwinden lässt, Pete war schon 12 und wurde vermutlich von seiner Mutter erzogen, als die Komponistin in die Familie kam. Das Ensemble Modern hat sich auf höchstem musikalischen Niveau die Wiederentdeckung einer marginalisierten Komponistin erarbeitet und darum verdient gemacht. – Eigentlich müsste es mit dem Programm wenigstens als Matinée ins Weiße Haus eingeladen werden. – Und wenn dann in den deutschen Medien davon berichtet wird, werden sich alle ärgern, die nicht im Kammermusiksaal waren.

Torsten Flüh    


[1] Siehe: Torsten Flüh: Starke Geschlechter über Grenzen hinweg. Zum gefeierten Konzert des Philadelphia Orchestras mit Lisa Batiashvili unter der Leitung von Yannick Nézet-Séguin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. September 2022.

[2] Zu den Beethoven-Klaviersonaten siehe: Torsten Flüh: Igor Levits umjubelter Beethoven-Feier nachdenken. Über die 32 Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven gespielt von Igor Levit beim Musikfest Berlin 2020. In: NIIGHT OUT @ BERLIN 19. September 2020.

Und: ders.: Igor Levits intensive Sonate Nr. 32 in C-Moll op. 111. Eine Nachlese zu Igor Levits Spiel der 32 Sonaten von Ludwig van Beethoven beim Musikfest Berlin und Thomas Manns Roman Doktor Faustus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. September 2020.

[3] Siehe Torsten Flüh: Denkwürdig! Peer Gynts Suche nach sich selbst. Kurt Masur dirigiert die Bühnenmusik zu Peer Gynt mit dem Orchester der Komischen Oper Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. November 2010.

[4] Arno Lücker: Im magischen Sog der Unmittelbarkeit. In: Berliner Festspiele: Musikfest  Berlin Abendprogramm 13.9., 14.9., 15.9.2024 Ensemble Modern I-III Potrait Ruth Crawford Seeger. Berlin: 2024, S. 20.  

[5] Siehe Torsten Flüh: Brasiliens Mythen der Moderne. Zum Eröffnungskonzert des Musikfestes Berlin mit dem São Paulo Symphony Orchestra und der São Paulo Big Band. i

[6] Katherine Balch zitiert nach Arno Lücker: Im … [wie Anm. 4] S. 21.

[7] Zur Rhapsody in Blue siehe Torsten Flüh: Tradition und Frische. The Cleveland Orchestra, Kansas City Symphony und Filarmonica della Scala beim Musikfest Berlin 2024. In: NIGHT OUT @ BERLIN 3. September 2024.

[8] Katherine Balch zitiert nach Arno Lücker: Im … [wie Anm. 4] S. 21.

[9] Ebenda.

[10] DWDS: Verlaufskurve 1600 bis 1900: Matinée.

[11] Library of Congress: The Experimentation of Ruth Crawford Seeger. Washington, D.C. : Library of Congress, 2020-12-03.

Figuren des Dirigenten

Dirigent – Orchesterapparat – Klang

Figuren des Dirigenten

Zum Konzert der Oslo Philharmonic mit Klaus Mäkelä und der Wiener Philharmoniker mit Christian Thielemann beim Musikfest Berlin 2024

Mehr noch als erstklassige Orchester wie die Wiener oder Berliner Philharmoniker vermögen Dirigenten – und seit geraumer Zeit Dirigentinnen – zu faszinieren und Konzertsäle zu füllen. Während das Oslo Philharmonic nicht zu den bekanntesten Orchestern Europas gehört, sind die Wiener Philharmoniker eines der wenigen Weltspitzenorchester. Doch erst die Figur des Dirigenten und das Versprechen seiner Leistung, sein Feilen an der Phrasierung, am Tempo, am Klang vermag das Publikum in die Konzertsäle zu locken. Die Figur des Dirigenten ist hoch aufgeladen. Ein Mythos. Während des Musikfestes konnten schon Thierry Fischer, Franz Welser-Möst und Matthias Pintscher ansatzweise besprochen werden. Klaus Mäkelä und Christian Thielemann gehören derzeit zu den Stars, wenn nicht Weltstars ihres Metiers und könnten dabei kaum unterschiedlicher auftreten. Auf dem Wimmelbild von Alexandra Klobouk reitet Klaus Mäkelä mittig auf einem Plastik-Einhorn im Pool umgeben von Pinguinen und Schwänen.

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Dass das Oslo Philharmonic mit Klaus Mäkelä bzw. dessen Chefdirigent und Künstlerischer Leiter mit dem Orchester auf Tournee geht, darf nicht nur wegen seines Alters von 28 Jahren als eine Sensation wahrgenommen werden. Was hat der junge Stardirigent, der die 5. Sinfonie von Dimitri Schostakowitsch aus dem Kopf und Körper dirigiert, aus dem Orchester im hohen Norden gemacht? Füllt das Orchester oder eher Klaus Mäkelä die Konzertsäle? Die Musikpreisträger*innen im Publikum wollen ihn sehen und hören. Schon vor dem ersten Ton in der Philharmonie ist klar, dass es anders als bei Mäkelä und Oslo mit den Wiener Philharmonikern unter Christian Thielemann um ein nicht zuletzt gesellschaftliches Ereignis geht. Das sieht der Berichterstatter daran, dass Lea Rosh, Monika Grütters, Angela Merkel und Herr Sauer neben etlichen Politiker*innen, Diplomat*innen und höheren Berliner Funktionsträger*innen meist im Block A der Philharmonie sitzen. Was wird erwartet?

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Klaus Mäkelä tritt mit einer beneidenswerten Unbefangenheit auf. Das Oslo Philharmonic ist sein Orchester noch vor seiner Rolle als Musikdirektor des Orchestre de Paris, designierter Chefdirigent des Royal Concertgebouw Orkest und designierter Musikdirektor des Chicago Symphony Orchestra, das zu den Big Five der USA gehört. Denkwürdig wurde sein Dirigat der 6. Symphonie von Gustav Mahler mit dem Concertgebouworkest als Eröffnungskonzert des Musikfestes Berlin 2022. Da war er gerade einmal 26. Obwohl er in einer Musikerfamilie in Helsinki aufgewachsen ist, konnte man kaum erwarten, dass er die Tiefen der 6. Symphonie werde ausloten können. Doch er verzauberte nicht nur die Mitglieder des Traditionsorchesters und führte sie zu Höchstleistungen, vielmehr explodierte der Beifall des Publikums förmlich, Standing Ovations und die Staatsministerin für Kultur und Medien Claudia Roth warf sich ihm beim anschließenden Empfang fast zu Füßen.[1]

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Ein offizielles Ranking der weltweit führenden philharmonischen Orchester gibt es nicht. Der Microsoft Copilot weist auf unterschiedliche Kriterien für ein solches Ranking hin, dennoch belegen die Berliner Philharmoniker laut künstlicher Intelligenz Platz 1. Den zweiten Platz halten die Wiener Philharmoniker und auf dem 3. Platz folgt das Royal Concertgebouw Orchestra. Chicago, Los Angeles und The Cleveland Orchestra finden sich noch unter den ersten 8 ein. Das Oslo Philharmonic wird zwar als ein vergleichbares Orchester von der KI genannt und vor allem für das innovative Programm gelobt. Mit 108 Musiker*innen im Vergleich zu den 124 Vollmitgliedern der Berliner Philharmoniker, den 148 der Wiener Philharmoniker und 100 puls des Cleveland Orchestra gehört es zu den größten. Nach der Kritiker*innenumfrage von bachtrack ändert sich im Ranking der Orchester nichts. Oslo Philharmonic ist nicht unter den besten 10 besten Orchestern der Welt. Doch Klaus Mäkelä belegt auf dem 9. Rang den vor Christian Thielemann.[2] Kirill Petrenko und Sir Simon Rattle belegen den 1. und 2. Platz vor dem fast hundertjährigen Herbert Bloomstedt aus Springfield, Massachusetts.

© John Halv

Gerade im Bereich der philharmonischen Orchester und ihrer Dirigent*innen besagt ein internationales Ranking fast nichts und doch nicht Nichts. Aber bei den Orchestern tut sich an der Spitze seit vielen Jahren wenig. Vor der großen Anzahl der symphonischen Orchester in Europa versagt selbst die KI mit dem Hinweis, dass die Musikszene äußerst lebhaft sei und unter den hunderten von Orchestern ständig Neugründungen und Umbenennungen stattfänden. Dennoch kristallisiert sich eine Spitze heraus. Und tendenziell hat der Jungstar Mäkelä den besonders geschätzten Christian Thielemann mit seiner symphonischen Klangintelligenz, die man schon hier als harte Klangdisziplin benennen kann, eingeholt. Es dürfte sich dabei um eine Art Paradigmenwechsel handeln. Der bisweilen höchst unkonventionelle Yannick Nézet-Séguin belegt in der Umfrage übrigens Platz 8 vor Mäkelä.[3]

© John Halv

Solange führende Musikkritiker*innen mit einem derart abgedroschenen Begriff wie Genie aus dem 19. Jahrhundert gegenwärtige Dirigent*innen bewerten, muss man jedes Ranking für fragwürdig halten. Zweifelsohne ist Klaus Mäkelä ein erstaunliches Talent. Die Dirigentenkarriere von Sir Simon Rattle verlief nicht ganz so kometenhaft, als er mit 25 Jahren 1980 Erster Dirigent des City of Birmingham Orchestra wurde. Doch dafür mögen nicht zuletzt veränderte Mechanismen im, nennen wir es einmal, Klassikbetrieb beitragen. Sir Simon Rattle versteht es noch heute, längst bekannte Repertoirekompositionen so zu dirigieren, als hörte und verstünde sie zum ersten Mal. Mäkelä hatte sich für das Musikfest zwei zeitgenössische finnische Komponist*innen, Einojuhani Rautavaara mit Cantus Arcticus und Kaija Saariaho mit Vista, sowie Dmitri Schostakowitsch mit der Sinfonie Nr. 5 d-Moll aufs Programm gesetzt. Der Cantus Arcticus (1972) mit seinen atmosphärischen Einspielungen vom Tonband funktionierte dabei als ein perfekter Einstieg und Ohrenöffner.

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Als Auftragswerk der Arctic University of Oulu gibt der arktische Gesang sogleich einen Wink auf eine sinnliche wie wissenschaftliche Wahrnehmung der Arktis durch Musik in den drei Sätzen Der Sumpf, Melancholie, Ziehende Schwäne. Durch die Feldaufnahmen aus der Arktis und den Schwänen wird eine Wahrnehmung von Natur mit den Satztiteln produziert, die mit dem zweiten Satz Melancholie ein mehr oder weniger regionales Lebensgefühl formuliert. Finnische, schwedische oder norwegische Melancholie ist allemal verbreiteter als Melancholie im Süden Europas. Feldaufnahmen vom Tonband in einem symphonischen Konzertformat waren in den 70er Jahren revolutionär. Für den Berichterstatter stellten sich eingedenk der Reden und Bilder vom Klimawandel mit der finnischen Universitätsstadt Oulu auf dem 65. Breitengrad Nord problematischere Töne ein. Die Natur der Arktis wird von Einojuhani Rautavaara eher als eine unberührte, intakte, romantische komponiert, während heute dieses Arktis- und Finnland-Bild durchaus brüchig ist.

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Die Auftraggeber für Kaija Saariahos Orchesterwerk Vista von 2019 geben durchaus einen Wink auf die Qualität der Komponistin und ihre internationale Anerkennung. Denn Vista wurde vom Helsinki Philharmonic Orchestra, den Berliner Philharmonikern, dem Oslo Philharmonic und der Los Angeles Philharmonic Association in Auftrag gegeben. Es stellt höchste Ansprüche an die Spielpraktiken der Orchester. Neuartige Klangregister werden angestimmt. Die finnische Komponistin arbeitete am von Pierre Boulez gegründeten Musikforschungsinstitut Ircam in Paris nicht zuletzt mit elektronischer Musik. Vista arbeitet (nicht) mit Elektroakustik, erzeugt indessen Klangfelder, die an elektroakustische Musik erinnern. Ob und in welcher Weise sie in Paris mit Éliane Radique aus dem weiteren Umfeld des Ircam in Kontakt kam, entzieht sich der Kenntnis des Berichterstatters. Doch die Kompositionspraxis und die Wechselwirkungen mit der Elektroakustik geben einen Wink.[4] Wie Auftraggeber und Konzertformat mit Horizons: Calmo, espressivo. Attaca. Targets: Audace anklingen lassen, entstehen bei Vista klangliche Transformationen aus der Kenntnis der elektroakustischen Forschung. Klaus Mäkelä dirigierte das Orchesterwerk der 2023 verstorbenen Komponistin In memoriam und hielt beim Applaus die Partitur als Geste der Wertschätzung in die Höhe. Das Oslo Phiharmonic hatte damit durchaus seine Qualität bewiesen.

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Mit der Sinfonie Nr. 5 d-Moll op. 47 aus dem in der Sowjetunion hochbrisanten Jahr der Kulturpolitik 1937 von Dmitri Schostakowitsch schlug Klaus Mäkelä allein schon deshalb ein anderes Register auf, weil er nun das symphonische Großwerk aus dem Kopf anstatt vom Blatt dirigierte. Schostakowitsch komponierte seine 5. Sinfonie in dem Bewusstsein, dass er ruiniert, er verurteilt werden könnte, wenn seine Komposition nicht der kulturpolitischen Leitlinie der KPdSU unter der diktatorischen Führung Josef Stalins entsprechen würde. Der Verriss seiner 4. Sinfonie durch die linientreue Musikkritik war eine unverhohlene Drohung während der „Großen Säuberung“ ab 1936 gewesen. Sollte seine Musik noch einmal als „Chaos statt Musik“[5] ausfallen, hätte er mit dem Gulag rechnen müssen. Die musikologische und kulturpolitische Todesdrohung bestimmt insofern und nach Ansicht einiger Historiker die Komposition der 5. Sinfonie. Die Musik durfte auf keinen Fall in irgendeiner Weise nach Chaos klingen. Die chaotische kulturelle Debatte sollte als kontrolliert erscheinen.

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Die Rhetorik der Drohung, die seit dem 21. Februar 2022 durch Wladimir Putin, in die Weltpolitik zurückgekehrt ist[6], steht hinter der Komposition der Sinfonie Nr. 5 d-Moll von Dmitri Schostakowitsch. Eine ganze Reihe politischer Praktiken Wladimir Putins bis hin zur Rehabilitierung Josef Stalins wiederholen dessen nicht zuletzt kulturpolitische Handlungsweisen. Dem eingedenk erhält die Interpretation und Akzentuierung der Sinfonie eine aktuelle Dimension. Wie soll die Sinfonie Nr. 5 d-Moll klingen? Mit der Tonart d-Moll knüpft Schostakowitsch nicht nur gestisch an Beethovens 9. Symphonie an. Das große Werk wird auch an die Musikkritiker und deren Kampfbegriff „Musik“ adressiert. Doch dann wird in deren Erwartung etwas anderes daraus. Mit den Worten von Olaf Wilhelmer:
„Allein die Abfolge der Sätze langsam-schnell-langsam-schnell muss als unkonventionell eingestuft werden, und die ostentative Sprachähnlichkeit des einleitenden Rezitativs – das kanonische Thema kehrt immer wieder zurück – wirft die Frage auf, wer da was sagt.“[7]

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Muss die Sinfonie Nr. 5 d-Moll Brüche hörbar machen, so dass die „Musik“ nicht mehr gut klingt? Brüche erinnern an das „Chaos“ oder gehen mit ihm einher. Die Interpretation der Sinfonie spielt sich an dieser Frage ab. Ein hochgeschätzter Expertenfreund meinte, dass Klaus Mäkelä noch lernen könne, dass Musik nicht immer schön klingen müsse. Mäkelä achtete fast peinlich genau darauf, dass es schön und am Schluss großartig klingt, so dass das Publikum augenblicklich in einen Jubel ausbrach. Sie hörten die Drohung nicht! Die Drohung schwingt noch in den schönsten Klängen mit. Der Berichterstatter brauchte eine gewisse Zeit, um die Mehrdeutigkeit des Schlusses unter Klaus Mäkelä zu verdauen. – Ja, so jubeln sie. So werden womöglich die stalinistischen Musikkritiker innerlich gejubelt haben: Er hat sich unterworfen! Genaueres weiß man nicht und Schostakowitsch hat es nicht aufgelöst. – Die Naivität, es sich mit einer Drohung der Vernichtung bequem einzurichten, kann man aus politischem Kalkül gerade bei mehr als der Hälfte der Wähler*innen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg beobachten. Ich denke, dass der Finne und Weltstar Klaus Mäkele sich ganz genau entschieden hat, es gut, aber bedrohlich klingen zu lassen.

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Das Konzert der Wiener Philharmoniker unter der Leitung von Christian Thielemann war mit den beiden Sinfonien Nr. 1 von Robert Schumann in B-Dur op. 38 „Frühlingssinfonie“ und von Anton Bruckner in c-Moll in der Wiener Fassung (1890/91) schon deshalb anders konzipiert, weil zwei Klassiker mit einer Steigerung nacheinander aufgeführt wurden. Man könnte schon von der Konzeption und dem Erscheinungsbild des Orchesters sagen, dass es entschieden konservativer als das des Oslo Philharmonic war. Die Wiener Fassung der 1. Sinfonie ist zudem nach Bruckners 8. Sinfonie von 1887, 1890 als seiner letzten vollendeten, überarbeitet worden. Während es sich bei Schumanns 1. Sinfonie um eine frühe Arbeit am Format der Sinfonie handelt, wird die Erste bei Anton Bruckner in der Wiener Fassung zu einem Spätwerk der Kompositions- und Instrumentationskunst. Die Entwicklung der Sinfonie als Großwerk stand insofern im Interesse des Konzerts und seines Dirigenten. Während die Schumann-Sinfonie beschwingt erklingt, wird die Bruckner-Sinfonie zur Maximalausarbeitung des Genres.

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Die hohe Perfektion im Klang der Dirigate von Christian Thielemann gehört zu seinem Ruf.[8] Sollte es in der 1. Sinfonie von Robert Schumann Brüche geben, dann finden sie nicht die Aufmerksamkeit des Dirigenten.[9] Christian Thielemann versteht sich womöglich als Klangzauberer gerade in den klassischen Formaten wie der Oper, wenn er z. B. Die Meistersinger von Nürnberg in der Semperoper dirigiert, und der Sinfonie. War bereits in den Dresdner Meistersingern eine Art Mechanik hörbar geworden, so erhält die Wiener Fassung der Ersten von Bruckner ebenfalls eine zunehmende Mechanik bzw. „(r)ollende und stampfende Motive drehen sich um die eigene Achse“[10]. Thielemann interessierte schon in den Meistersingern, was das für eine „Musik“ sei. Die Frage der Musik als makelloses Klangereignis schimmert auch bei Schumann und Bruckner durch. Die 1. Sinfonie von Robert Schumann wird zu einem ebenso fein ausgearbeiteten wie emphatischen Ereignis des Wohlklangs. Thielemann dirigiert beide Sinfonien aus dem Kopf und mit eher sparsamen Gesten.  

© Fabian Schellhorn

Die Frage der Musik wird mit der Wiener Fassung besonders zugespitzt. Denn dem Organisten und Sinfonie-Komponisten schwebte mit einer Sinfonie für den lieben Gott auch ein Maximum an Musik aus sich selbst heraus vor. In der Wiener Fassung wird mit wiederholtem Crescendo nach der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Wiener Universität eine Art Gipfel ohne Ironie klanglich aufgebaut. Zu den frühen, herausragenden Konzerterlebnissen des Berichterstatters gehört die Erinnerung an die 8. Sinfonie von Bruckner unter Günter Wand mit dem NDR-Sinfonieorchester in der Hamburger Laeizhalle. Der fast achtzigjährige Dirigent bestieg das Podium und dirigierte 80 Minuten in höchster Konzentration mit minimalen Gesten und großer Leichtigkeit, als flöge er. Er dirigierte vom Blatt und ohne besondere Anstrengung. Bei Christian Thielemann ist das anders. Mit den Wiener Philharmonikern gelingt ihm, die Musik aus der nackten Partitur heraus zu formen. Es liegt darin auch eine Überwältigungslogik durch den Orchesterapparat. Die Musik wird, wie der Berichterstatter beim Hören notierte, eine „Überwältigungsmaschine“ zwischen Reminiszenzen an Lametta und Totentanz.

© Fabian Schellhorn

Die Großartigkeit der Musik in der Wiener Fassung durch das Dirigat von Christian Thielemann erzeugte Jubelstürme und Standing Ovations, während der Bericht erstattende Hörer nach völliger Erschöpfung erst einmal zu sich kommen musste. Die musikalische Großartigkeit lässt sich nicht zuletzt als ein Effekt strengster Disziplin und herausmodellierter Reinheit des Klangs bedenken. Der liebe Gott nach Bruckner und die Überwältigungsmaschine gehören zusammen. Wer zu früh aufspringt, hat sich schon verraten. Denn die Musik als Kunst der Komposition winkt hinüber zur Kunst als Religion, wie sie von Richard Wagner im Parsifal konzipiert wird. Bruckner komponiert anders und macht doch aus seiner Musik eine Religion. Die Ergriffenheit der Standing Ovations für den Dirigenten Christian Thielemann als Priester der Musik gibt einen Wink auf das Begehren des Publikums, einen großen Kontrolleur zu sehen und zu hören.

Torsten Flüh

Musikfest Berlin 2024
Mediathek
Oslo Philharmonic
Klaus Mäkelä
Konzert vom 1. September 2024
bis 5. Oktober 2024

Wiener Philharmoniker
Christian Thielemann
Konzert vom 15. September 2024
bis 19. Oktober 2024 


[1] Siehe Torsten Flüh: Vom Zauber der Jugend und der Musik. Zur fulminanten Eröffnung des Musikfestes 2022 mit dem Concertgebouworkest Amsterdam unter der Leitung von Klaus Mäkelä. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. August 2022.

[2] Bachtrack: Critics’ Choice 2023: Wer sind die zehn besten Dirigenten und Orchester der Welt? 11. September 2023.

[3] Siehe Torsten Flüh: Starke Geschlechter über Grenzen hinweg. Zum gefeierten Konzert des Philadelphia Orchestras mit Lisa Batiashvili unter der Leitung von Yannick Nézet-Séguin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. Sepember 2022.

[4] Zu Éliane Radigue siehe: Torsten Flüh: Das Schicksal der Wellen. Zur Erforschung der Electronic Works von Éliane Radique bei MaerzMusik 2022. In: NIGHT OUT @ BERLIN 25. März 2022;
Und: Zur Radikalität der Instrumente. Erwan Keravec mit Dudelsack und Lucia Dlugoszewski mit To Everybody Out There bei MaerzMusik 2024. In: NIGHT OUT @ BERLIN 8. April 2024.

[5] Zitiert nach Olaf Wilhelmer: Über die Grenze hinaus. In: Berliner Festspiele: Abendprogramm 1.9.2022 Oslo Philharmonic. Berlin 2024, S.12.

[6] Zur Rhetorik der Drohung siehe: Torsten Flüh: Das Putin-Rätsel. Zur großen Demonstration „Stoppt den Krieg“ und den dezentralen Protesten. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. März 2022.

[7] Olaf Wilhelmer: Über … [wie Anm. 5] S. 12.

[8] Zu Christian Thielemann siehe: Torsten Flüh: Richard Wagners Späße mit dem Bürgertum. Zur Neuinszenierung Die Meistersinger von Nürnberg an der Semperoper unter der Leitung von Christian Thielemann. In: NIGHT OUT @ BERLIN 18. Februar 2020.

[9] Zu Robert Schumann siehe: Torsten Flüh: Natur und Intelligenz bei Menschen, Göttern und Schwärmen – Gustavo Dudamel dirigiert Robert Schumann und Richard Wagner mit den Berliner Philharmonikern in der Waldbühne. In: NIGHT OUT @ BERLIN 13. Juli 2017.

[10] Olaf Wilhelmer: Anfänge ohne Ende. In: Berliner Festspiele: 15.9.2024 Wiener Philharmoniker. Berlin 2024, S. 13.

Charles Ives‘ Kunst des Ritornells auf der Schwelle der Moderne

Lied – Forschung – Ritornell

Charles Ives‘ Kunst des Ritornells auf der Schwelle der Moderne

Zum Liedkonzert von Anna Prohaska und Pierre-Laurent Aimard beim Musikfest Berlin

Am 1. September versprach das Konzert von Anna Prohaska und Pierre-Laurent Aimard mit Liedern von Charles Ives, Igor Strawinsky und Claude Debussy im Kammermusiksaal ein ebenso hochkarätiges, wie durchdachtes Ereignis. Die Sopranistin Anna Prohaska ist bekannt für ihre ausgeklügelten Konzertformate. Mit höchster Perfektion wird sie zur Liedforscherin. Traditionelle Liedzyklen beispielsweise aus der Romantik, wie man für Schubert, Schumann oder Brahms sagt, wecken eher nicht ihr Interesse. Am Sonntagnachmittag ging es ihr vielmehr darum, das Lied, wie es von Charles Ives in den 114 Songs in vielfältiger Weise komponiert wird, in Korrespondenz mit Igor Strawinskys Quatre Chants Russes und Full Fadom Five sowie mit Claude Debussys Proses lyriques auszuloten.

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Bereits die Veröffentlichungspraxis von 114 Songs unterschiedlicher Kompositionsweisen bricht mit einer Praxis des Liedzyklus‘. 114 Songs lassen sich nicht nacheinander an einem Abend singen. Eine wie auch immer formulierte autobiographische Erzählung in 114 Lieder zerfällt allein wegen der großen Zahl ins Fragmentarische. Die Ordnung der Liedblöcke in „Erinnerungen … Herbstimpressionen“, „Stadt versus Natur“, „Claude Debussy und der Impressionismus“ sowie „Kindheit … Krieg“ gibt einen Wink auf die Vielfalt und das Fragmentarische. Als Charles Ives 1922 die 114 Songs veröffentlichte, war es für den mittlerweile zu Wohlstand gelangten Versicherungsunternehmer eine Art Befreiungsschlag mit den Worten im Nachwort: „“Why do you write so much -, which no one ever sees?“ There are some good reasons, none of which are worth recording.“[1] Auf dem Wimmelbild für das Musikfest 2024 von Alexandra Klobouk sitzt Charles Ives unten rechts ein wenig abseits auf einer Parkbank. 

©  Fabian Schellhorn

Anna Prohaska und Pierre-Laurent Aimard eröffneten das Konzert mit Witz und Traurigkeit durch die beiden so unterschiedlichen Songs, die unter dem Titel Memories (102 Page 236) nacheinander erschienen sind. Einer sehr angenehmen und witzigen Erinnerung (very pleasant) an den Beginn einer Aufführung im Opernhaus folgt eine ziemlich traurige (rather sad) Erinnerung. Während die Aufregung vor dem Beginn der Aufführung in ein Pfeifen mündet, schließlich kurz in ein Ruhe gebietendes „Sh!..s‘..s‘..s‘._“ und fast im aufgeregt schnellen Parlando (As fast as it will go.) gesungen wird, erinnert Charles Ives einen Ton auf der Straße jenen, den sein Onkel summte. Der Ton wird mit der Erinnerung an den Onkel nicht ohne Witz, doch als traurig im Adagio aufgeladen. Es war ein fulminanter Auftakt, der unterschiedliche Stimmungen von der überdrehten Erwartung und Ekstase scharf gegen die eher traurige Erinnerung an den Onkel schneidet.

©  Fabian Schellhorn

Die beiden unterschiedlichen Erinnerungen als Modi der Wiederholung geben einen Wink auf Ives‘ Kompositionsverfahren. Memories ist um die 2:35 Minuten lang bzw. kurz, wovon die Erinnerung an den Beginn im Opernhaus ca. 35 Sekunden dauert. Bereits 2012 hatten Chen Reiss und Thomas Hampson mit dem Mahler Chamber Orchestra unter der Leitung von Kent Nagano zur Eröffnung des Musikfestes auf die Lieder von Charles Ives aufmerksam gemacht.[2] Im Rahmen jener Aufführung wurde der Komponist und häufige Librettist seiner mit der Frage zitiert, ob „ein Lied immer ein Lied“ sein müsse. Die Frage nach dem Lied bei Ives überschneidet sich mit der Wiederholung, wie sie in den beiden Memories vorgeführt wird. Die traurige Erinnerung fällt entschieden liedhafter aus als die Erwartung und Ekstase. Anna Prohaska knüpft insofern mit ihrem Arrangement der Lieder an eine entscheidende des Librettisten und Komponisten selbst an.

©  Fabian Schellhorn (Ausschnitt)

Was ist ein Lied? Auf die Memories folgte Remembrance von 1921 (12 Page 27) als ein weiterer Modus der Erinnerung. Das vorangesetzte Zitat von Wordsworth – „The music is my heart I bore / long after it was heard no more.“ – unterstützt. Dabei handelt es sich wiederum um ein äußerst kurzes Lied mit einem Text von lediglich 3 Verszeilen. Wiederum löst ein Ton bzw. der Klang eines Horns aus der Ferne eine Erinnerung aus, die Charles Ives als „My father’s song!“ auflöst. Ist das schon ein Lied? Zum Lied (song) wird hier der Klang eines fernen Horns über einem verschatteten See (lake). Dabei ist das Lied von äußerster Kürze, so dass man kaum von einem Lied sprechen kann. Doch dadurch dass die drei Verse gesungen werden, behauptet sich Remembrance als Lied. Während die Opernhauserinnerung textreich auf 35 Sekunden kommt, fällt Remembrance kaum länger aus. Entscheidender als der autobiographische Hintergrund, der wohl bei den drei unterschiedlichen Erinnerungen gegeben sein mag, lässt sich an Ausloten der Möglichkeiten der Gattung Lied denken.

©  Fabian Schellhorn

Entschieden später im Programm kam Anna Prohaska nach mehreren Gedichtkompositionen mit The New River von 1921 (6 Page 13) wieder auf einen Erinnerungstext als Lied von Ives zurück. Diesmal ist es ein Geräusch (noise), das von Menschen gemacht wird. „Der neue Fluss“ formuliert einen Medienwechsel, wenn man genau liest. Der Medienwechsel nach 1900 vom „hunting horn“ zu „Phonographs and gasoline,/Dancing halls and tambourine“ kann als ein romantischer Protest gegen die Stadt gelesen werden. Doch das „hunting horn“ ist ebenso von Menschen gemacht. Und für den mehr oder weniger Opernkenner Ives dürften die „river gods“ von der Bühne bekannt sein. In den 114 Songs ist es nicht ganz so einfach, den Liedkomponisten festzulegen. Vielmehr gibt es eine Ebene er Ironie, die in der Auswahl der komponierten Gedichte und Erinnerungen mitschwingt. Dafür lässt sich auch das „glorious noise“ in The Circus Band (56 Page 128) in Anschlag bringen, wobei das Tempo mit Dancing-Hall-quickstep-time vorgegeben wird.

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Die Heterogenität der 114 Songs gibt im Programm mit Soliloquy einen weiteren Wink auf Charles Ives‘ komponierende Forschung zum Lied. Einerseits knüpft er an ein Gedicht von Ralph Waldo Emerson an, andererseits wird damit der Modus des Selbstgespräches zum Titel. Im Essay Self-Reliance von 1841 verwendet Ralph Waldo Emerson den Begriff soliloquy. Die von Emerson formulierte Eigenständigkeit hat viel mit dem Selbst und dem Modus der Wiederholung zu tun. Das Lied als eine Art Selbstgespräch verweist indessen auf das Ritornell wie es von Gilles Deleuze und Félix Guattari formuliert worden ist:
„… das Lied selber ist bereits ein Sprung: es springt aus dem Chaos zu einem Beginn von Ordnung im Chaos, und es läuft auch jederzeit Gefahr zu zerfallen…
Das Ritornell enthält diese Aspekte, es macht sie simultan oder vermischt sie: mal so, mal so, mal so. Mal ist das Chaos ein riesiges schwarzes Loch und man versucht, einem labilen Punkt in ihm als Zentrum zu fixieren. Mal organisiert man um das Zentrum eine ruhige und in sich gefestigte „Haltung“ (weniger eine Form): das schwarze Loch ist ein Zuhause geworden. Mal erweitert man diese Haltung um eine Fluchtbewegung, heraus aus dem schwarzen Loch.“[3]

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Das von Deleuze und Guattari formulierte Ritornell, das von einem Kind ausgeht, „das im Dunklen Angst bekommt“[4], gibt einen Wink auf die 114 Songs nicht zuletzt mit Soliloguy. Mit dem Ritornell kommt man dem Lied bei Charles Ives in seiner Heterogenität näher als mit der autobiographischen Musikerzählung von Wolfgang Rathert.[5] Das äußerst kurze Rememberance schlägt das Lied vom Vater nur kurz an, weil die Erzählung ihn auch verfehlen müsste. Soliloguy wird zum Lied von und für sich selbst wie Ives es geschrieben hat, weil es nicht zuletzt eine Selbsttäuschung wie ein Nicht-Verstehen formuliert.
„When a man is sitting before the fire on the hearth,
He says, “Nature is a simple affair!”
Then he looks out the window and sees a hailstorm,
And he begins to think that
“Nature can’t be so easily disposed of!””[6]

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Die große Zahl der „rund 400 Lieder“ in Charles Ives‘ Musikschaffen, die in ihrer „Breite und Tiefe (ein) beispiellose(s) musiksprachliche(s) Vokabular()“[7] hervorbringt, lässt sich mit der Funktion des Ritornells bedenken. Er verwandelt Töne, Texte, Lektüren, Erinnerungen, Ängste in Lieder für sich und publiziert mit 114 Songs einen Teil, nur damit sie andere „sehen“ können. Das Chaos nicht zuletzt der Stadt oder eines Hagelschlags (hailstorm), das Chaos der Gefühle zum Vater wird zur Rememberance als Ritornell. Es ließen sich viele andere Aspekte finden, die immer wieder zum Ritornell für ihn werden müssen. Auch das von Anna Prohaska ausgewählte und vorgetragene Evidence (58 Page 133) von 1910 gibt einen Wink auf die Funktion des Ritornells bei Charles Ives. Denn die Sonne soll, ja, muss immer nach den Schatten scheinen. Natur? Oder Angst? Treffender lässt sich die Funktion des Ritornells vor Schatten kaum für sich selbst singen:
„There comes o’er the valley a shadow,
The hilltops still are brigth;
There comes o’er the hilltop a shadow,
The mountain’s bathed in light;
There comes o’er the mountain a shadow,
But the sun ever shines through the night!”[8]

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Durch die Kombination der Lieder von Igor Strawinsky und Claude Debussy mit Charles Ives wurden im Konzert die Unterschiede allererst deutlich. Strawinsky sucht mit „melodisch-rhythmischem Stottern“ eher musikhistorische Ursprünge, die einem Ritornell ähneln könnten, wenn man bedenkt, dass „Milieus und Rhythmen“ nach Deleuze und Guattari aus dem Chaos geboren werden.[9] Bei Strawinsky geht es bekanntlich ganz entschieden um den Rhythmus und die abgewandelten altrussischen Walfahrerlieder als Orientierung lassen sich nicht weniger mit dem Ritornell bedenken. Doch für den Komponisten selbst erfüllen sie keine vergleichbare Funktion, weil er sich selbst als Komponist verortet. Mit Claude Debussys Proses lyrique wird ein geradezu sich selbst beruhigendes Erzählen angeschlagen.

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Igor Strawinsky komponierte 1953 Full Fadom Five (fünf Faden tief) aus William Shakespears The Tempest (Der Sturm) ebenfalls als ein Akustikereignis zum Lied. Die Totenglocke (knell) wird hier von den Meer-Nymphen (sea-nymphs) angeschlagen. Doch wenn jemand die Totenglocke hört, wie bei Shakespeare der Luftgeist Ariel – „Hark! Now I hear them,/Ding dong bell.“ –, dann soll sie nicht nur Ferdinand, den Sohn des Königs von Neapel an den Tod des Vaters erinnern, vielmehr auch an den eigenen. Zugleich komponierte Strawinsky damit Shakespeares Gedicht mit einem Stottern am Ende, während Robert Johnson nach 1609 Full Fadom Five als Inbegriff des Lautenliedes komponiert hatte.[10] Durch das rhythmische Stottern bei Strawinsky am Schluss wird das Lied, wenn nicht in Frage gestellt, so doch entschieden gegen das Lautenlied ausgespielt.

Torsten Flüh


[1] Zitiert nach: About. In: Charles Ives. In: Song of America. Siehe auch: UNT Digital Library: 114 Songs Page 276.

[2] Siehe Torsten Flüh: Die Lieder des Charles Ives. Eröffnung des Musikfestes Berlin 2012 mit Charles Ives, dem Mahler Chamber Orchestra, Kent Nagano, Chen Reiss und Thomas Hampson. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. September 2012.

[3] Gilles Deleuze/Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin: Merve, 1992, S. 424-425.

[4] Ebenda S. 424.

[5] Wolfgang Rathert: Neue Zeiten, neue Lieder. In: Musikfest Berlin: Abendprogramm 1.9.2024 Anna Prohaska I & Pierre-Laurent Aimard I. Berliner Festspiele, 2024, S. 5-10.

[6] Zitiert nach ebenda S. 21.

[7] Ebenda S. 5.

[8] Ebenda S. 26.

[9] Gilles Deleuze/Félix Guattari: Tausend … [wie Anm. 3] S. 426.

[10] Villa musica: Robert Johnson: Full fadom five.

Die Heilung des Naturbildes

Natur – Bild – Schmerz

Die Heilung des Naturbildes

Zu Jinran Kims Ausstellung Nature Morte im Project Space Kimgo in der John-Schehr-Str. 1

Jinran Kim hat mit ihrer Ausstellung Nature Morte mit Bildern von der Natur aus dem Naturstoffgewebe Gaze, das in der Medizin für Wundverbände verwendet wird, ihre Gazebildpraxis verdichtet. 2018 stellte Jinran Kim ihre Bildarbeiten mit Gaze erstmals in der Kunstgalerie im Boulevard Berlin in der Steglitzer Schlossstraße aus. Die Arbeiten mit Gaze wurden kombiniert mit Asche als Farbmaterial. Die Materialien sind für die Künstlerin immer entscheidend. Schon ihre Trümmerfrauen, mit Aschetusche gemalt, verwiesen auf die Zerstörung durch Brände im Krieg. Waldbrände auf dem ganzen Globus – Kanada, Brasilien, Sibirien etc. – sorgen heute für Angst und Schrecken. Doch ein Krieg war in Europa wie in Südkorea 2014 kaum denkbar. Zwischenzeitlich gibt es Trümmerfrauen wieder in Europa – in der Ukraine. Gaze als Verbandsmaterial hat wieder an Bedeutung zu genommen.

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Die Materialität der Bilder in der Ausstellung Nature Mort zeitigt dreidimensionale Effekte. Soll die sterbende Natur, die Berggipfel, der Wasserfall, das Meer mit Gaze ins Plastische gehen? Oder müssen die sterbenden Gletscher im Hochgebirge verbunden werden? Die Verwendung der Gaze eröffnet mehrere Sichtweisen. Landläufig ist Nature Morte in der Malerei ein Genre, das im Deutschen Stillleben genannt wird. Doch Jinran Kim hält sich nicht an den Begriff als Genre Bezeichnung. Vielmehr erweitert sie dessen Gebrauchsweise. Die schäumenden Wellen des Meeres wären kein Stillleben, sondern eher Landschaftsmalerei. Doch schon das Stillleben mit seiner reichhaltigen Ausgestaltung sollte zugleich als ein Memento Mori betrachtet werden. Die Vergänglichkeit der Früchte, Fische, des Fleisches und der Blumen sollte als Bild die Betrachter*innen an den eigenen Tod erinnern.

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Das Genre der Nature Morte wird sowohl für die Malerei wie für die Literatur in Anschlag gebracht, wenn Rebekka Schnell es 2016 im Plural für die „Arbeit des Bildes bei Proust, Musil, W.G. Sebald und Claude Simon“ in Anschlag bringt.[1] Bedenken lässt sich, dass auch der französische Begriff für Stillleben auf die niederländische Malerei im 17. Jahrhundert zurückgeht.[2] Er diente der Benennung eines Bildsujets, auf dem stillstehende  Gegenstände, Blumen, Pflanzen, Geschirr wie Gläser als Faszinosum, Meeresfrüchte, Fische etc. zu sehen sind. Umso verblüffender wirkt dann das Klavierstück Stillleben von Philipp Scharwenka, das 1887 in Breslau erschien.[3] Scharwenka betont in seinen Spielanweisungen wiederholt den „Ausdruck“: „Nicht zu schnell, mit Ausdruck.“, „ausdrucksvoll“, „ruhig mit Ausdruck“, „sehr ausdrucksvoll“.

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Die Unbewegtheit des Bildes bzw. der Dinge im Bild ist durch die erste hohe Gebrauchsfrequenz des Stilllebens zwischen 1880 und 1890 einer Ausdruckslogik gewichen, ließe sich mit Scharwenkas Klavierstück sagen.[4] Bis ca. 1950 nimmt die Gebrauchsfrequenz wieder ab, um sich dann bis 1999 geradezu inflationär als Wissen vom Bildgenre durchzusetzen. Nach 2000 nimmt die Gebrauchsfrequenz wieder ab. Der Gebrauch des Begriffs Stillleben bzw. Nature Morte für künstlerische Produktionen in der Malerei über die Videokunst bis zur Klavierkomposition gibt einen Wink über den Gebrauchswandel. Nach wiederholtem Crescendo endet Scharwenkas ebenso ausdrucksstarkes wie kitschiges Klavierstück bedeutungsvoll „verhallend“. Bürgerliches Sentiment hatte das Stillleben kursieren lassen, bevor es zum geläufigen Fachbegriff wurde.

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Ulrich Baron hat den Begriff Nature morte 2020 in den Frankfurter Heften zum Titel für eine Besprechung von zwei Büchern zum Artensterben gemacht.[5] Im Kontext der Besprechung von Jinran Kims Ausstellung erscheint Barons Begriffsverschiebung erwähnenswert, weil dadurch der Fachbegriff stärker mit dem vom Menschen verursachten Sterben in der Natur verkoppelt wird. Baron rezensiert vor allem Matthias Glaubrechts 1.000seitige Studie Das Ender der Evolution. Der Mensch und die Vertreibung der Arten.[6] Der Evolutionsbiologe und Biodiversivitätsforscher Glaubrecht beschreibt in seinem Buch die odysseische Situation, politisch zwischen Skylla und Charybdis hindurch zu navigieren. Eine Situation wie sie durch das Heizungsgesetz der Grünen zum Menetekel geworden ist.
„Dieses Wachstum aber läuft auf einen globalen Kollaps zu, den Glaubrecht in einer »Rückschau auf 2062« antizipiert: Überschwemmungen aufgrund des steigenden Meeresspiegels haben Großstadtregionen unbewohnbar gemacht; die auf wenige Getreidesorten konzentrierte Landwirtschaft hat sich nicht auf Dauer gegen Infektionen durch Pilze, Bakterien und andere Schädlinge schützen lassen. Neben der Grundversorgung mit Nahrung ist auch die mit Trinkwasser zusammengebrochen. Die einen Menschen sind verhungert oder verdurstet, die »anderen an den Folgen der Knappheit, von gräulichen Krankheiten bis zu den ewigen Verteilungskämpfen und -kriegen« gestorben.“[7]

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Baron fordert, dass Glaubrechts Prognosen politisch mit den Wähler*inneninteressen in Einklang gebracht werden müssen. Nature Morte visualisiert ein nicht zuletzt globales politisches Dilemma. Lässt sich die Gletscherschmelze noch stoppen, wenn wir zugleich von einer neuen internationalen Art Instagram-Klettertourismus am Mount Everest lesen müssen.[8] Nicht nur wurde der Berg der Berge vom Klettertourismus schon vor 11 Jahren verdreckt, vielmehr kostet er Menschen das Leben. Am Mount Everest gibt es ein gigantisches Müllproblem, wie BILD im Juni 2023 kolportierte.[9] Chinesen, Deutsche, Südkoreaner etc. sind am Mount Everest zu Tode gekommen, weil sie ihn, wie es so schön heißt, „bezwingen“ wollten:
„Unser Team ist am Mount Everest, um an diese Expedition vor 50 Jahren zu erinnern. Doch wir müssen erleben, dass der Berg der Berge zum Symbol für alles geworden ist, was mit dem Alpinismus falschläuft. 1963 waren nur sechs Bergsteiger auf den Gipfel gelangt – im Frühjahr 2012 schafften es mehr als 500. Als ich am 25. Mai den Gipfel erreichte, drängten sich dort so viele Leute, dass ich kaum Platz zum Stehen fand. Weiter unten, am Hillary Step, war die Schlange so lang, dass Kletterer auf dem Weg nach oben zwei Stunden warten mussten.“[10]

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Der Mount Everest ist nur der Gipfel des Instagram-Tourismus, der jedes Naturbild in mehrfacher Hinsicht zur Nature Morte macht. Ob Wasserfall, Meeresstrand, Kirschblüte oder Berggipfel per Mobile-Selfie wird die Natur stillgestellt und zur Staffage für ein sich aus Nature Shots auf Instagram generierendes Subjekt. Mögen Dich die Followers lieben. Das Naturbild ist verletzbar geworden. Die Verletzlichkeit des Naturbildes schwingt in den Arbeiten mit Gaze von Jinran Kim mit. Denn sie hat sich immer für Grenzbereiche des Lebens zum Tod interessiert, wie schon 2009 mit Last Matress und dem 108 Stufen Tempel im Kunstraum Mausoleum auf dem St.-Matthäus-Kirchhof deutlich wurde.[11] 2014 kamen in der Galerie im Körnerpark in der Ausstellung After the Rain ihre Trümmerfrauen und Malerei mit Asche zur Geltung.[12] Die Arbeiten mit Verbandsgaze kamen 2018 zum ersten Mal an die Öffentlichkeit.[13] Und während der Covid19-Pandemie gab es im November 2020 in der Galerie Z22 schon mit PAINSTAKING einen mehrdeutigen Hinweis auf die psychische und physische Wundbehandlung mit Gaze.[14]

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Das Naturbild hat sich seit und mit Sigmund Freuds Trauma-Forschung bei Jinran Kim immer stärker zu Bild der Heilung entwickelt. Ihre Naturbilder vom Meer sollen beruhigen und seelische Wunden heilen. Die Rede von der verletzten Natur hat sich zwischenzeitlich zugespitzt. Hitzerekorde bedrohen Flora wie Fauna und den Menschen. Im Caspar David Friedrich-Jahr mit seinen Männern am Meer und auf dem Berggipfel wie Mönch am Meer aus der Zeit von 1808 bis 1810 oder Wanderer über dem Nebelmeer von 1818 bewundern im 250. Jubiläums Jahr tausende, zehn-, ja, hunderttausende Museumsbesucher*innen die Leere der Naturbilder, vor die bei Friedrich lange nur ein Mann gestellt wird. Bei Jinran Kim bleiben die Naturbilder menschenleer und nur die Betrachter*innen müssen ihre Haltung vor den Gazebildern finden. In Heinrich von Kleists Bildbesprechung Vor Friedrichs Seelandschaft in den Berliner Abendblättern vom 13. Oktober 1810 nennt der Rezensent das Meer eine „unendliche Wasserwüste“.

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Eine „unendliche Wasserwüste“, wie es Kleist für Friedrich formuliert, kann seit Ewald von Kleist nicht nur ein Überschwemmungsgebiet[15] benennen, vielmehr gibt die Kombination von unendlich und Wüste einen Wink auf die Leere, die als Einsamkeit empfunden werden kann. „Seelandschaft“ wie „Nebelmeer“ sind nach Caspar David Friedrichs eigener Formulierung vorm „geistigen Auge“ entstanden. Die Bilder der Leere des jungen Mannes haben viel mit ihm selbst zu tun. Später kommen Frauen und Kinder in die Bilder des Malers. Gegen Ende seines Lebens verschwinden sie wieder. Die Gaze-Bilder von Jinran Kim haben mit den Bildern der Naturzerstörung zu tun, von denen wir hören und die uns gezeigt werden, um sich in uns festzusetzen.
„Schließe dein leibliches Auge, damit du mit dem geistigen Auge siehest dein Bild. Dann fördere zutage, was du im Dunkeln gesehen, dass es zurückwirke auf andere von außen nach innen.“

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Jinran Kims Ausstellung Nature Morte im Projekt Space Kimgo bringt die Betrachter*innen vor die Bilder, sie konfrontiert sie mit zunächst ansehnlichen Bildern vom Meer, von den Berggipfeln, vom Wasserfall etc. um dann mit dem Verbandsmull den verstörenden Schmerz, der in ihnen gespeichert ist, erahnbar zu machen. Nature Morte ist eine Reise in die Bilder und die Diskurse, die sie hervorgebracht haben. Sie sind eine Reise ins Innere wert.

Torsten Flüh

Nature Morte
verlängert bis 28. September 2024
Open FR 4-7 PM and by appointment 
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Tel 0176 6705 1098 
Projetraum KIMGO
John-Schehr-Str. 1
10407 Berlin

BACH, BENJAMIN BRITTEN, E.MORRICONE
Concert 8. September  4pm   Entrance Free
Musician Youjung Lee   Solo Oboe


[1] Rebekka Schnell: Natures Mortes: zur Arbeit des Bildes bei Proust, Musil, W.G. Sebald und Claude Simon. Paderborn: Wilhelm Fink, 2016.

[2] Wikipedia: Stillleben.

[3] Philipp Schawenka: Clavierstücke: Stillleben. Breslau: Julius Hainauer, 1887. (Digitalisat)

[4] DWDS: Stillleben: Verlaufskurve 1600 bis 1999.

[5] Ulrich Baron: Nature morte. Vom Artensterben. In: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte. Die Zeitschrift für Politik und Kultur. Ausgabe 3 2020, 10.03.2020.

[6] Matthias Glaubrechts Studie Das Ende der Evolution. Der Mensch und die Vertreibung der Arten. München: Bertelsmann, 2019.

[7] Ulrich Baron: Nature … [wie Anm. 5]

[8] Anna-Kathrin Hentsch: Instagram-Tourismus: Warum sich immer mehr Orte wehren. In: National Geographic 6. August 2021, 18:03 MESZ.

[9] Bild: Müll-Problem auf dem Mount Everest: Sherpa zeigt dreckigstes Camp 1. Juni 2023.

[10] National Geographic: Not am Mount Everest. Der Klettertourismus schadet dem Everest und gefährdet Menschenleben. Heft 06 / 2013, Seite(n) 108 bis 127.

[11] Torsten Flüh: Unter Spinnweben. Ausstellung Kunstraum Mausoleum auf dem St.-Matthäus-Kirchhof mit Jinran Kim und ihrem 108 Stufen Tempel. In: NIGHT OUT @ BERLIN 20. September 2009.
Siehe auch: „Die Matratze war noch warm“ – Ein Interview mit Jinran Kim über Last Mattress in der Galerie Förster. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. September 2010.

[12] Torsten Flüh: Reinigungsrituale, Ruinen und Korean Soulfood. Zur Ausstellung After The Rain von Jinran Kim in der Galerie im Körnerpark. In: NIGHT OUT @ BERLIN 14. Mai 2014.

[13] Torsten Flüh: Koreas Wunden unter Gaze. Jinran Kim zitiert Sigmund Freud und macht Landschaftsbilder aus Verbandsgaze. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. Februar 2018.

[14] Torsten Flüh: Von der Poesie des Naturbildes. Zu Jinran Kims visueller Poesie in ihrer Ausstellung PAINSTAKING in der Galerie Z22. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. November 2020.

[15] Siehe Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm: Wasserwüste.

Tradition und Frische

Orchester – Klang – Hammer

Tradition und Frische

The Cleveland Orchestra, Kansas City Symphony und Filarmonica della Scala beim Musikfest Berlin 2024

Das Musikfest Berlin entfaltet eine Vielfalt an erstklassigen, internationalen Orchestern von der kontrabassdunklen Tradition bis zur jugendlichen Frische und Offenheit. Die Vielfalt der Orchester wurde gleich in der ersten Woche hörbar mit The Cleveland Orchestra unter Franz Welser-Möst, der Kansas City Symphony unter der Leitung von Matthias Pintscher und der Filarmonica della Scala mit Riccardo Chailly am Pult. Genau darin besteht die Faszination des Musikfestes Berlin der Berliner Festspiele und der Berliner Philharmoniker. Als das jüngste der Big Five blickt das Cleveland Orchestra auf eine Geschichte seit 1918 zurück. 1778 wurde das Teatro alla Scala eröffnet. KC Symphony wurde 1982 gegründet.

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Die amerikanischen Orchester befinden sich vor dem eigentlichen Saisonbeginn auf Europatournee und die Filarmonica della Scala kam als Vorprogramm zu Italien als Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2024 nach Berlin. Mit ihren Konzertprogrammen schärfen die Orchester ihr Profil, so dass The Cleveland aus Ohio mit der Deutschen Erstaufführung der Composer in Residence 2022/2023 Allison Loggins-Hall mit der Frage Can You See? aufwartete. Die folgende Kombination aus John Adams Guide to Strange Places mit Sergej Prokofjews Sinfonie Nr. 2 stellte den Klang des Orchesters unter Beweis. KC Symphony setzte mit Charles Ives Decoration Day und The Fourth of July sowie George Gershwins Rhapsody in Blue bemerkenswerte Akzente, um im zweiten Teil Aaron Coplands Symphony No. 3 folgen zu lassen. Die Filamonica della Scalla akzentuierte ihr Programm mit Luciano Berios Quatre dédicaces und Wolfang Rihms Dis-Kontur buchstäblich mit einem riesigen Holzhammer, um im zweiten Teil in Maurice Ravels Daphnis et Chloé zu schwelgen.

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Die in New York lebende Allison Loggins-Hall gehört aktuell wohl zu den engagiertesten Komponistinnen der USA. Der Titel ihres 2023 für das Cleveland Orchestra abermals umgearbeiteten und erweiterten Ensemblestückes zitiert den Anfang der Nationalhymne The Star Spangled Banner, in der es heißt: „O! say can you see[1]/by the dawn’s early light,/What so proudly we hailed/at the twilight’s last gleaming,/Whose broad stripes and bright stars/through the perilous fight,/O’er the ramparts we watched,/were so gallantly streaming?” Doch die zitierte Eingangsfrage wird nicht zuletzt als Reaktion auf die „Phase rassistischer Polizeigewalt der Nach-Corona-Zeit“[2] vertieft, indem sie die Komponistin nach eigenen Worten weitertreibt: „Sind die Dinge klar? Sind sie konzentriert? Tun wir das, von dem wir sagen, dass wir es tun sollen, das, worum es uns geht? Ist das wahr?“[3] Die melodisch emphatische Hymne als Selbstvergewisserung nationaler Identität, wenn man z.B. nur einmal an ihre Zelebrierung beim jährlichen Super Bowl denkt, wird insofern an ihrem Anspruch gemessen.

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Die Flöte spielt in der melodischen, doch zerklüfteten Komposition schon deshalb eine entscheidende Rolle, weil Allison Loggins-Hall selbst Flötistin ist und sie ihre Komposition von daher denkt. Mit dem Cleveland Orchestra unter der Leitung von Franz Welser-Möst erhält Can you see? durch die Streicher eine besonders wolkige Umgebung, die von der Komponistin als Unschärfe gedacht wird. Diese Unschärfe könnte man auch das mit der Hymne imaginierte Amerika nennen. Loggins-Hall erweitert die Spielpraktiken nicht nur für die Streicher, wenn diese in kreisende Bewegungen auf den Saiten gleichsam als in eine ständige Wiederholung verfallen. Doch es kommt durch unterschiedlichen Druck und Schlagzeug auch zu Verzerrungen. Im Soloinstrument der Flöte lassen sich durch erweiterte Spieltechniken Klänge der amerikanischen indigenen Bevölkerung hören, die sonst in der philharmonischen Musik verdrängt werden. Auf diese Weise geht Allison Loggins-Hall in ihrer mehrfach erweiterten und überarbeiteten Komposition vom Modus der Frage aus, um dadurch an eben jene zu erinnern, die weder gesehen noch gehört werden.

©  Fabian Schellhorn

Die Deutsche Erstaufführung von Can you see? in Anwesenheit der Komponistin fand stürmischen Beifall. Denn gerade die emphatische Frage nach dem Sichtbaren des von Francis Scott Key im September 1814 formulierten, sich reimenden Gedichtes knüpft an das Sichtbarkeitsparadigma an, das sich um 1800 durchsetzt. Im Original hat die Frage eine rhetorische Funktion, von Allison Loggins-Hall wird sie zur entscheidenden Frage in der amerikanischen Demokratie und Gesellschaft zugespitzt. Das Versprechen der Hymne als Sieg nicht zuletzt über die Dämmerung und Dunkelheit entspricht dem Freiheitsnarrativ der Aufklärung. Doch hörbar werden nun jene in der Flöte, die als indigene Bevölkerung und farbige Sklaven unsichtbar bleiben sollten. Der dezidiert europäische Klang nicht nur des Orchesters, vielmehr noch das Visuelle des Klangzauberers Franz Welser-Möst im Frack mit weißer Fliege und Taktstock stand optisch ein wenig im Widerspruch zur Komposition.

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John Adams Guide to Strange Places vermochte mit seinen Anklängen an die Minimal Music, besonders zu faszinieren. Mit dem paradoxen Reiseführer zu seltsamen Orten wird bereits ein geheimnisvoller Modus in der Musik angeschlagen. Adams hat die Entstehungsgeschichte als die Erfahrung, einen Reiseführer in der Provence zu nutzen, formuliert. In derartigen Reiseführern wird jeder Ort genau mit unterschiedlichen Wissensformaten beschrieben. Über die Landschaft legt sich ein Netz des Wissens aus Geologie, Zoologie, Botanik, Archäologie[4] und Geschichte, Vermessungen und Verkartungen: „in this location there was a strange geological formation; in another unusual climactic occurrences; somewhere else a horrific historical event had taken place or perhaps a miracle had been witnessed“.[5] Wie lässt sich das Reiseführerwissen in Musik transformieren bzw. befragen? Denn die Landschafts- und Witterungsbeschreibung hat in der Musik eine lange Tradition beispielsweise in der Pastorale, in der quasi eine idyllische Landschaft klanglich gebaut wird oder in Richard Strauss‘ hoch ironischer Alpensinfonie.[6]

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Das Reiseführerwissen wird von John Adams in Guide to Strange Places befragt und hinterfragt. Die unterschiedlichen Wissensbereiche werden, wie Adams sagt, mit besonderen Symbolen versehen im Reiseführer. Strange Places oder „paysages insolites“ entziehen sich als das Ungewöhnliche oder Seltsame der Einordnung, die sich als schon gewusst auffassen ließe. „In a sense, all of my pieces are travel pieces, often through paysages insolites – it’s the way I experience musical form”[7], sagt der Komponist. Insofern sind es geheimnisvolle, sich im Klandestinen vorantastende Reisen des Komponierens. Es werden weniger die philharmonischen Modi der Landschaftsbeschreibungen erfüllt, als vielmehr mit der minimalistischen Musik entfaltet und eben auch im Seltsamen belassen. Martin Wilkening hat in seiner Einführung mit dem Titel „Geprägt von Krisenangst“ vorgeschlagen, dass John Adams eine „Folge vorbeiziehender Bilder in einer Art Road-Movie-Ästhetik“ komponiert habe.[8] Hörbar wurden für mich rhythmische Phasen wie ein perpetuum mobile oder das Schwungrad einer Dampfmaschine, zugleich kommt der ganz große Orchesterappart des Cleveland Orchestra zum Einsatz. Gar an einen Totentanz oder Dantes Inferno lässt sich hörend denken.

©  Fabian Schellhorn

Die Sinfonie Nr. 2 d-Moll op. 40 von Sergej Prokofjew aus der Zeit von September 1924 bis Mai 1925 ermöglichte dem Cleveland Orchestra unter der Leitung von Franz Welser-Möst, die ganze Klangentfaltung vorzuführen. Mit den Sätzen Allegro ben articolato und Tema con variazioni beschreitet Prokofjew neue Wege der sinfonischen Komposition, indem er an Beethovens Klaviersonate 32 in c-Moll op. 111 anknüpft. Die schöne Artikulation lässt sich als eine starke durch zahlreiche Dissonanzen bedenken. Indem der russische Komponist im Pariser Exil von einem Eisen-und-Stahl-Charakter der Sinfonie sprach, spielt er nicht nur auf einen Mythos der industriellen Moderne an, vielmehr noch schwingen die Mythen der Männlichkeit und des starken Subjekts mit, wie mit der entscheidenden Funktion der Klaviersonate für Thomas Manns späteren Roman Doktor Faustus zu bedenken wäre.[9] Insbesondere Beethovens 5. Variation im 2. Satz kann als ein wichtiger Bruch in der Sonatenkomposition wahrgenommen werden. Franz Welser-Möst lässt das Marschthema fast ins Brutale ausführen, um dann wieder die Violinen versöhnliche Töne anstimmen zu lassen.

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Das Konzert der Kansas City Symphony unter der Leitung von Matthias Pintscher wird ganz gewiss als eines der überraschendsten Orchester nicht nur der Musikfest-Ausgabe 2024 in Erinnerung bleiben. Nicht nur die Kombination von zwei kurzen Kompositionen von Charles Ives, dessen 150. Geburtstag sich am 20. Oktober jährt, George Gershwins Rhapsody in Blue, die vor 100 Jahren uraufgeführt wurde, und Aaron Coplands Symphony No. 3, vielmehr noch die Zugabe von Count Basies Li’l Darling, das 1958 auf dem Album The Atomic Mr. Basie veröffentlicht wurde, sprengte den üblichen Konzertrahmen. Insbesondere an der Interpretation der Rhapsody in Blue, diesem amerikanischen Konzertkracher mit internationalen Folgen[10], durch den jungen Pianisten und Komponisten Conrad Tao ließ an die Widersprüchlichkeit der Großstadthymne denken. Denn in seinem Solo phrasiert Tao und setzt Pausen, die an Einsamkeit im Furor der Großstadt denken lassen. Das hatte der Berichterstatter so noch nicht gehört.

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Die beiden kurzen Stücke Decoration Day und The Fourth of July von Charles Ives verarbeiten die Kindheitserinnerungen an die beiden amerikanischen Feiertage. Es sind insofern biographische Kompositionen in einer für Charles Ives ebenso eigenwilligen wie einzigartigen Weise. Einerseits erinnert den Berichterstatter die Eröffnungssequenz von Decoration Day als Feiertag am letzten Montag im Mai an Central Parc in the Dark[11], andererseits wird ein militärisches Trompetensignal hörbar. Das Heraufsteigen der Erinnerung und die damit verknüpften Gefühle werden von Ives gleichsam als Thema eingeführt. Brian Coffill hat die Komposition von 1912 stärker in den Kontext von Charles Ives‘ Bewunderung für seinen Vater gestellt, der in einer Militärkapelle eher glücklos spielte: „Despite this checkered service history, Charlie seemingly saw George as a hero, not a deserter, a sentiment he carried into adulthood.“[12] Der auch Memorial Day genannte Decoration Day wird auf diese zu einem mehrdeutigen Tag der Auszeichnung.

©  Fabian Schellhorn

The Fourth of July als Erinnerungstag an die Unabhängigkeitserklärung bietet ein musikalisches Panorama des Volksfestes. Mit wiederholten Dissonanzen wird ein Tumult, wenn nicht gar Chaos hörbar. Ein Glöckchen und Schüsse sind zu hören. Eine allgemeine Aufregung und Freude der Massen wird von Dissonanzen durchbrochen, was Ives Kritik eintrug. Doch bereits in einer Notiz des Komponisten an seinen Kopisten bestand er auf die vermeintlich falschen Noten bzw. Töne: „Please don’t try to make things nice! All the wrong notes are right. […] I want it that way.”[13] Der Independence Day als amerikanische Selbstvergewisserung sollte also in ca. 6 Minuten nicht nur schön (nice) klingen. Vielmehr wird die Massenveranstaltung in ihrer Widersprüchlichkeit vorgeführt, was mit Kindheitserinnerungen und einem Erfahrungswissen von 1912 in New York bedacht werden kann. Matthias Pintscher, der selbst in New York lebt, machte die Widersprüchlichkeit mit Genauigkeit und großer Empathie für die überwiegend jungen Orchestermitglieder der KC Symphony akzentuiert wahrnehmbar. Überhaupt konnte man den Eindruck gewinnen, dass der neue Musikdirektor und Chefdirigent sein Orchester oder umgekehrt gefunden hat.

©  Fabian Schellhorn

Die Musiker und der Dirigent haben offenbar ihre Freude am gemeinsamen Musizieren. Dieser Eindruck setzte sich auch bei der Rhapsody in Blue und der Symphony No. 3 von Aaron Copland durch. Wobei Aaron Copland Ives als ein Produkt Amerikas schätzte: „Only America could have produced a Charles Ives.“ Die Symphony No. 3 fällt dann auch 1946 (revidiert 1966) als eine amerikanische Mythologie der Erhabenheit, Größe, des Optimismus und der Euphorie aus. Einem amerikanischen Mythos wie er heute beispielsweise mit Allison Loggins-Halls Can you see? schwerlich denkbar ist und nur noch befragt werden kann. Im Finale baute Copland seine Fanfare for the Common Man ein, die 1942 als Beitrag „to the war effort“ entstanden war. Coplands Symphonie ist mit dem Wissen, auf der richtigen Seite im Weltkrieg gegen den Faschismus zu stehen, komponiert und instrumentiert. – Die USA waren am 11. Dezember 1941 nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour in den 2. Weltkrieg gegen die faschistischen Machthaber in Deutschland, Japan und Italien eingetreten. Die Symphony No. 3 ist insofern dezidiert politisch gerahmt.

©  Fabian Schellhorn

In der Programm-Konstellation von Charles Ives Decoration Day und den „wrong notes“ von The Fourth of July mit der nicht nur krachenden Rhapsody in Blue im systemischen wie ideologischen Wettstreit zwischen den USA unter Richard Nixon und der Volkrepublik China unter Mao Zedong[14] bekam die Third Symphony mit ihrem „grand manner“ etwas Bedenkliches. Die ganz große Orchestermaschine mit 4 Hörnern, 4 Trompeten, 2 Posaunen und Bassposaune, etc. 2 Harfen, Celesta, Glockenspiel und Klavier, aber nicht ganz so zahlreich besetzten, fetten Streichern wie im Cleveland Orchestra lässt sich wohl als eine große Komposition wiederentdecken. Doch sie ist eben auch mit dem Krieg und dem Anspruch einer Dominanz als Weltmacht verknüpft, die nicht mehr ganz so euphorisch rezipiert werden kann. Sie lässt einen durchaus fragwürdigen Amerika-Mythos erklingen, der durch desaströse Politiken gelitten hat. Es gibt kaum einen Mythos, der sich stärker hält als der, dass die Musik unpolitisch sei.

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Der Auftritt der Filarmonia della Scala als Vorspiel zur Ehrengast-Rolle Italiens auf der Frankfurter Buchmesse darf durchaus mit gemischten Gefühlen wahrgenommen werden, weil der parteilose, italienische Kulturminister Gennaro Sangiuliano der Regierung der Postfaschistin Giorgia Meloni angehört. Darüber lässt sich schwerlich hinwegdenken, wenn das Flaggschiff der italienischen Philharmonie-Orchester mit seinem hochdekorierten Chefdirigenten Riccardo Chailly beim Musikfest auftritt. Schließlich lässt sich Giorgia Meloni eher mit Björn Höcke als mit Jörg Meuthen vergleichen. Dennoch oder gerade deshalb fiel das Konzert nicht identitär italienisch aus, worauf man nach der Fraktion der rechtspopulistischen, nationalistischen und rechtsextremen Parteien im Europäischen Parlament unter der neuen Führung von Jordan Bardella des Rassemblement National oder zuvor Marco Zanni der Lega aus Italien gefasst sein müsste. Faschistische Politiker*innen (mit Sternchen und immer mit Sternchen) wollen nicht nur einen irgendwie abstrakten Diskurs verändern, sondern zielen auf die Sprache und die Musik. 

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Mit Luciano Berio, dessen 100. Geburtstag im nächsten Jahr zu feiern sein wird und der sich im 2. Weltkrieg einer antifaschistischen Widerstandsgruppe angeschlossen haben soll[15], Wolfgang Rihm und Maurice Ravel wurde zumindest ein Bogen zwischen Berio und dem kürzlich verstorbenen Rihm geschlagen. Denn 1969 habe dieser bei den Donaueschinger Musiktagen als 17jähriger im Publikum gesessen und die Sinfonia von Luciano Berio gehört. Wolfgang Rihm erinnerte sich später, „etwas Brillantes, im Grunde aber ,Unerlaubtes‘ gehört zu haben“.[16] Es waren nicht zuletzt in der Musik revolutionäre Zeiten, die das Unerlaubte der Grenzüberschreitungen praktizierten. Mit den postum zusammengestellten Quatre dédicaces von Luciano Berio, die zwischen 1978 und 1989 entstanden zwischen 60 und 112 Takten lang sind, kultiviert er einen überaus reichen Orchesterklang, mit dem Orchester zwischen dem Rotterdams Philharmonischen Orkest und dem Dallas Symphony Orchestra durch Kompositionsaufträge brillieren konnten. Die Filarmonica della Scala stellte also mit Fanfara, Entrata, Festum, Encore ihr musikalisches Können unter Beweis.

©  Giovanni Haennin (Unten links der Holzhammer im Einsatz)

Besonderes Furor machte der riesige Holzhammer in Wolfgang Rihms Dis-Kontur. Höchstwahrscheinlich 4 jüngere Italienerinnen zückten im Block E Rechts ihre Smartphones, um den mehrfachen Einsatz des Holzhammers zu Filmen. Der Holzhammer mit einem nicht minder konstruierten Holzblock und einer kreisrunden Öffnung nach vorne bzw. dessen dumpfer Ton kann für vieles stehen. Seit Gustav Mahlers 6. Sinfonie von 1904 wird in den Sinfonieorchestern mit dem Hammer und am Klang des Hammers gearbeitet[17]. Gustav Mahler schwankte in seiner Entscheidung, wie oft der Hammer am Schluss zu hören sein sollte. Wolfgang Rihm lässt in Dis-Kontur die Musik aus dem Hammerschlag entstehen. Heute kann man selbst in der Philharmonie Berlin nicht sicher sein, ob eher der visuelle oder der akustische Effekt des Holzhammers das Publikum fasziniert. Rihm setzt den „große(n) Hammer“ bestimmt 5 bis 6 Mal ein. Der Berichterstatter hat nicht rechtzeitig mitgezählt.

Holzhammer mit Unterbau

Der Titel Dis-Kontur von 1974 mit einer Revision von 1984 ist ein bedenkenswerter Neologismus, der in eine Zeit fällt, in der der Begriff Kontur seine höchste Gebrauchsfrequenz hatte.[18] Für den 22jährigen Wolfgang Rihm dürfte mit der Vorsilbe dis- wie nicht zuletzt in Disharmonie als Verneinung eine Gegenposition zum Modewort Kontur eine Rolle gespielt haben. Gleichzeitig wird mit dem Dis in der Musik an die Halbtonart z.B. im dis-Moll oder dis-Dur erinnert[19], womit Dis-Kontur mehrdeutig wird. Mehrdeutigkeit generiert indessen eine Unschärfe im Unterschied zur Kontur. Rihm knüpft zweifellos an den Hammerschlag in der 6. Sinfonie Mahlers an, wobei eben auch jener permanent diskutiert und interpretiert wird. Der Hammerschlag, so ließe sich mit Rihms Dis-Kontur formulieren, muss keinesfalls ein Ende der Musik bedeuten. Oder reagiert Mahlers Hammerschlag in der 6. Sinfonie nicht schon auf die allzu zuversichtlichen Hammerschläge in Richard Wagners Ring des Nibelungen? Sie bringen vielmehr höchste industrielle Produktion in die Musik, was seit dem sogenannten Jahrhundertring mit Pierre Boulez klar ist.[20]

© Giovanni Haennin

Die schon im 18. Jahrhundert bei Jean-Philippe Rameau in der Suite des vents verwendete Windmaschine als Musikinstrument[21], die maschinell Wind hörbar machen soll, feiert in Maurice Ravels Daphnis et Chloé 1911 im Nocturne ihren großen Auftritt. Mit der Windmaschine und aus der Akustik des Luftstroms entsteht die nicht zuletzt erotische Hitze der Liebenden. Die Sinfonischen Fragmente Suite Nr. 1 (1911) und Nr. 2 (1912) entfalten sich weniger als eine Natur-Maschine als vielmehr eine Lust-Maschine für die Ballets russes von Sergei Diaghilew im Nocturne, Interlude, Danse guerrière und Lever du jour, Pantomine, Danse générale. Die beiden Sinfonischen Fragmente werden eher selten aufgeführt. Riccardo Chailly lässt die Filarmonica della Scalla in den impressionistischen Farben schwelgen, was sich auf das Publikum übertrug und zu einem Beifallssturm führte.

Torsten Flüh

Musikfest Berlin 2024
bis 18. September 2024


[1] Unterstreichung Torsten Flüh.

[2] Martin Wilkening: Can You see? In: Abendprogramm 26.8.2024: The Cleveland Orchestra. Berlin: Berliner Festspiele 2024, S. 8.

[3] Allison Loggins-Hall zitiert nach ebenda.

[4] Zur auditiven Archäologie siehe auch die “Ortsbestimmungen“ in: Torsten Flüh:  Auditive Kraftfelder. Zu Ann Cleare und Enno Poppe mit dem Ensemble Musikfabrik beim Musikfest Berlin 2021. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. September 2021.

[5] John Adams: Guide to Strange Places: Notes.

[6] Zur Alpensinfonie siehe: Torsten Flüh: Vom Sonnengesang, der Trauermusik und dem Alpengipfel ironisch. Zur Uraufführung des Cantico delle Creature durch das Ensemble Modern Orchestra, dem Boston Symphony Orchestra und dem Bayrischen Staatsorchester beim Musikfest Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 14. September 2023.

[7] John Adams: Guide … [wie Anm. 5].

[8] Martin Wilkening: Can … [wie Anm. 2] S. 10.

[9] Siehe: Torsten Flüh: Igor Levits intensive Sonate Nr. 32 in C-Moll op. 111. Eine Nachlese zu Igor Levits Spiel der 32 Sonaten von Ludwig van Beethoven beim Musikfest Berlin und Thomas Manns Roman Doktor Faustus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. September 2020.

[10] Siehe: Torsten Flüh: Zerspringende Identitäten. Ming Wongs Rhapsody in Yellow im Haus der Berliner Festspiele. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. Januar 2023.

[11] Zu Central Parc in the Dark siehe: Torsten Flüh: Brasiliens Mythen der Moderne. Zum Eröffnungskonzert des Musikfestes Berlin mit dem São Paulo Symphony Orchestra und der São Paulo Big Band. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. August 2024.

[12] Brian Coffill: Charles Ives’s Decoration Day: A Conductor’s Guide. In: SAGE open March 29, 2019.

[13] Charles Ives zitiert nach Olaf Wilhelmer: Aus vielem eines, aus einem vieles. In: Berliner Festspiele: Abendprogramm 28.8.2024. Berlin 2024, S. 9.

[14] Torsten Flüh: Zerspringende … [wie Anm. 10]

[15] Musik der Jahrhunderte: Luciano Berio.

[16] Zitiert nach: Lotte Thaler: Fest der Farben. In: Berliner Festspiele: Abendprogramm 29.8.2024 Filarmonica della Scala. Berlin, 2024, S. 8.

[17] Siehe zur Frage wie oft der Hammerschlag eingesetzt werden soll: Torsten Flüh: Vom Zauber der Jugend und der Musik. Zur fulminanten Eröffnung des Musikfestes 2022 mit dem Concertgebouworkest Amsterdam unter der Leitung von Klaus Mäkelä. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. August 2022.

[18] Siehe Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache: Kontur.

[19] Ebenda: dis-.

[20] Zur Frage der Industrialisierung bei Richard Wagner siehe auch: Torsten Flüh: Richard Wagners Späße mit dem Bürgertum. Zur Neuinszenierung Die Meistersinger von Nürnberg an der Semperoper unter der Leitung von Christian Thielemann. In: NIGHT OUT @ BERLIN 18. Februar 2020.

[21] Siehe: Torsten Flüh: Silvesterstimmung. Das Silvesterkonzert 2012 der Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle mit Cecilia Bartoli. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. Januar 2013.

Brasiliens Mythen der Moderne

Musik – Brasilien – Mythos

Brasiliens Mythen der Moderne

Zum Eröffnungskonzert des Musikfestes Berlin mit dem São Paulo Symphony Orchestra und der São Paulo Big Band

Die Temperaturen in Berlin am 24. August waren den Gästen aus São Paulo würdig. Noch spät am Abend herrschten 27° C wie sonst im Februar in São Paulo. Mit ca. 12 bis 13 Millionen Einwohnern ist die Stadt im subtropischen Klima am Rio Tietê, der fast dreimal so lang ist wie die Spree, natürlich viel größer. Das São Paulo Symphony Orchestra wurde vor 70 Jahren gegründet und befindet sich derzeit als eines der besten Orchester Südamerikas auf Europatournee. Thierry Fischer ist seit 2020 sein Musikdirektor und Chefdirigent. Er ist nicht in Südamerika geboren, sondern als Sohn schweizerischer Eltern in der südafrikanischen Föderation von Rhodesien und Njassaland. Über Hamburg und Zürich begann er seine internationale Musikerlaufbahn, um nun in São Paulo mit seinem Orchester Erfolge zu feiern. Beifallssturm in der Philharmonie nach Amériques.

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Als zweiter Teil des Eröffnungsabends trat die São Paulo Big Band unter der Leitung von Daniel D’Alcântara mit einem Programm der Música Popular Brasileira auf. Das Konzert begann um 21:30 Uhr und forderte nach einem Nachmittag auf der Landzunge zwischen Heiliger See und Jungfernsee im Neuen Garten in Potsdam den Berichterstatter in seinen Kapazitäten heraus. Bereits die Bildunterschrift im Programm des Musikfestes zu einem Foto des einst höchsten Gebäudes Südamerikas dem Martinelli-Hochhaus in São Paulo, spielt auf Claude Levi-Strauss mit einer Verneinung an: „Keine traurige Tropen“. Doch der Begründer des ethnologischen Strukturalismus prägte nach seinen Aufenthalten in São Paulo und dem Amazonasgebiet auch einen neuen Mythenbegriff für Kulturen. Während Levi-Strauss das mondäne Martinelli-Hochhaus mit Palast in den obersten Stockwerken bekannt gewesen sein dürfte, erforschte er mit Tristes Tropique das Menschliche und Ursprüngliche.

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Nicht zuletzt das Konzertprogramm mit Charles Ives, Alberto Ginastera, Heitor Villa-Lobos und Edgar Varèses Amériques (1918-1922, rev. 1927), wohlgemerkt im Plural, stellte die Frage nach dem Mythos Brasilien bzw. den Mythen Brasiliens. Claude Levi-Strauss war in São Paulo und im Amazonasgebiet in der Zeit von 1934 bis 1939 mit Unterbrechungen auf das engste mit der Suche Brasiliens nach sich selbst verknüpft. Heitor Villa-Lobos komponierte 1917 nicht nur seine Symphonische Dichtung Amazonas, sondern auch die Dichtung von einem glückbringenden Urwaldvogel Uirapurú, die der Komponist auf 1934 nachdatierte, damit sie am 25. Mai 1935 in Buenos Aires vom Komponisten selbst als ursprünglich brasilianisch uraufgeführt werden konnte. Der imaginäre Mythos vom Primitiven und Ursprünglichen, der von Heitor Villa-Lobos mit seinen artifiziellen Symphonischen Dichtungen vor dem Hintergrund nationalistischer Politik äußerst erfolgreich gesetzt wurde, lässt sich mit Tristes Tropique bedenken.

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Claude Levi-Strauss ging es in seiner ethnologischen Studie zu den lange fast sprichwörtlichen Nambikwara im Amazonasgebiet, die von der Ausrottung durch Europäer und internationale Wirtschaftsinteressen bedroht waren, nicht nur um ein primitives Naturvolk, sondern um die Frage nach dem Menschen. Die Funktion der Sprache für das Menschliche spielte eine wichtige Rolle. Nach der menschenverachtenden Katastrophe der Shoa fand Claude Levi-Strauss um 1955 „den“ Menschen am Amazonas, der sich ihm zugleich „entzog“:
„Was mich betrifft, so war ich auf der Suche nach dem, was Rousseau ‚die kaum merklichen Fortschritte der Anfänge‘ nennt, bis ans Ende der Welt gegangen. Hinter dem Schleier der allzu weisen Gesetze der Caduveo und der Bororo hatte ich meine Suche […] fortgesetzt … [dann] glaubte ich, diesen Zustand bei einer im Sterben liegenden Gesellschaft entdeckt zu haben […] Doch sie war es, die sich mir entzog. Ich hatte eine auf ihren einfachsten Ausdruck reduzierte Gesellschaft gesucht. Die der Nambikwara war so einfach, daß ich in ihr nur den Menschen fand.“[1]

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Die einfachsten Menschen, die Nambikwara, die Claude Levi-Strauss in Brasilien fand, sollten nicht nur primitive Menschen nach dem rassistischen Konzept des Primitivismus sein, der in den Kompositionen von Heitor Villa-Lobos anklingt. Vielmehr ringt Levi-Strauss nach 1945 überhaupt, um eine Definition des Menschen, nicht im Imaginären aufgeht, sondern sich der Bestimmung „entzog“, nachdem nicht nur in Deutschland faschistische Regime den Juden und anderen Menschen ihre Menschenwürde abgesprochen hatten. Die Moderne, auch die brasilianische Moderne in der Musik mit Heitor Villa-Lobos ist zutiefst in die nationalistische Politik des „diktatorisch agierenden brasilianischen Präsidenten Getúlio Vargas“ verstrickt.[2] Denn er begleitete Vargas im Mai 1935 in der Funktion eines „Staatskomponisten“[3] nach Buenos Aires, wo Uirapurú gleichsam als Staatskomposition Brasiliens erklang. Vargas pendelte so lange als möglich zwischen einer Allianz mit Hitler-Deutschland und den USA hin und her. Brasilianische Juden wurden als unbrasilianisch markiert.

©  Fabian Schellhorn

Doch das Konzertprogramm begann gerade nicht im Amazonas, sondern in New York und dem Central Park in the Dark (1906-09, rev. Ca. 1936) von Charles Ives. Anders gesagt: für die brasilianische Moderne gaben Spuren der Musik in New York, Paris und Berlin den Takt an. Denn Edgar Varèse hielt sich ab 1907 wenigstens zeitweilig in Berlin auf, um Kontakte zu Busoni, Richard Strauss, Arnold Schönberg herzustellen und zu pflegen, während Villa-Lobos und Varèse ab 1928 einen persönlichen Kontakt pflegten. Das Konzertprogramm, das sich ab 30. August in der Mediathek des Musikfestes Berlin nachhören lassen wird, schlägt insofern keine chronologischen, sondern motivische Spuren vor. Denn Central Park in the Dark des Autodidakten und zu Reichtum gekommenen Versicherungsunternehmers Charles Ives passt in keine akademische Schule der Komposition. Was und wie er komponiert hatte, schimmert in der umständlichen und mehrdeutigen Titelgebung zwischen „A Contemplation of Nothing Serious or Central Park in the Dark in The Good Old Summer Time““ durch.

©  Fabian Schellhorn

Die kurze, ca. 6minütige Komposition als ein Nachdenken über nichts Ernstes oder den Central Park im Dunkeln etc. gibt zumindest mit dem „Nothing Serious“ einen Wink auf eine, sagen wir, amouröse Begegnung. In Liebesdingen wird zu jener Zeit zwischen Ernstem und Nicht-Ernstem unterschieden. Ebenso dürfte der New Yorker Central Park im Dunkeln als ein Ort für ein Rendezvous denkbar werden. Die Kürze der Komposition deutet wenigstens etwas Erinnerns wertes, aber schwer zu formulierendes an. Überhaupt wurde die Komposition zwar noch zu Lebzeiten von Charles Ives, aber doch erst am 11. Mai 1946 in der Juilliard Graduate School aufgeführt. In Kenntnis der europäischen Kompositionspraktiken emanzipiert er sich indessen auch von diesen, um nicht nur ein städtisches Naturidyll klingen zu lassen. Immerhin dürfte Ives die Künstlichkeit der großstädtischen Parklandschaft bewusst gewesen sein. Thierry Fischer und das São Paulo Symphony Orchestra ließen mit den Klangfarben des Stücks aufhören.

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Das Konzert für Violine und Orchester op. 30 von Alberto Ginastera von 1963 mit Roman Simovic als Solisten setzte mit seinen eröffnenden Kadenzen sogleich auf die Virtuosität, um im dritten Satz Niccolò Paganinis berühmtes 24. Caprice a-Moll zu zitieren. Ginastera knüpft in seiner Komposition an einen durchaus unzeitgemäßen Expressionismus starker Gefühlsausbrüche an. Zugleich wird die Expressivität als südamerikanisch bzw. argentinisch kultiviert. Wolfgang Rathert weist daraufhin, dass Ginastera im Violinkonzert an „Sergej Prokofjews 2. Klavierkonzert mit einer zerklüfteten mehrminütigen Solo-Kadenz“ musikhistorisch anknüpft.[4] Zugleich wird der zweite Teil mit dem Orchester in sechs „Studi“ höchst virtuos ausgearbeitet, so dass die Komposition nicht nur dem Solisten, vielmehr noch den Solisten im Orchester erlaubt ihr virtuoses Können unter Beweis zu stellen. So konnten der Roman Simovic und das Orchester unter der Leitung von Thierry Fischer derart brillieren, dass der Solist als Encore Eugène Ysayes Sonata No.3 in D minor „Ballade“ spielte.

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Nach der Pause folgten Uirapurú und Amériques, die in ihrer motivischen Kompositionspraktik gegenübergestellt wurden. Uirapurú wird von Heitor Villa-Lobos als eigenständig nationale Musik des „Brasilianismo“[5] konzipiert, indem er Strawinskys L’oiseau de feu ins Brasilianische transformiert. Der Wechsel von Melodischem und Rhythmischen, der in eine Emphase mündet, als Ballettmusik und bei Villa-Lobos als Symphonische Dichtung mit brasilianischem Klangmaterial orientiert sich an der akustischen Konstruktion des vermeintlich Russischen bei Strawinsky.[6] Man kann Villa-Lobos-Kompositionspraktik und nationale Rahmung kritisieren oder gar verwerfen. Strawinsky durchbrach mit seinen Kompositionen nicht zuletzt ein klassisches Musikwissen. Dass sich die Musik im „Brasilianismo“ verfangen konnte und bereitwillig als musikalische Identität aufgenommen wurde, ist nicht allein dem Komponisten anzukreiden. Vielmehr lebt davon eine Musikrezeption, die die Arbitrarität der Klänge festlegen will. Vom Publikum in der Philharmonie wurde nicht unbedingt nur die musikalische Exzellenz bejubelt, vielmehr wollte es das Brasilianische hören.

©  Fabian Schellhorn

Mit fast noch größerem Jubel wurde Edgar Varèses Amériques belohnt, während doch manche akustische Nuance der Moderne wie das Hupen, ja, Krach, den es in der Komposition gibt, zurückgenommen wurde. Insbesondere der Einsatz der Sirene, der Bootspfeife und der Windmaschine steht im krassen Gegensatz zu Charles Ives‘ Central Park in the Dark. Gleichwohl dockt auch Varèse an Strawinsky an. Die wiederholte Praxis des Crescendos reißt die Hörerinnen mit. Wie die anschwellende Größe der amerikanischen Kontinente und nicht zuletzt ihrer Großstadtarchitektur baut sich die Komposition zu einem überwältigenden Klangerlebnis aus. Insofern das Stück als Abschluss und Höhepunkt des Programms gut gesetzt. Doch in welche Richtung soll man die Amerikas akzentuieren? In den Tumult der Großstadt New York und das 1922 für São Paulo geplante und 1929 fertiggestellt Martinelli-Hochhaus, das sich mit New York messen will? Oder in den überwältigenden Urwald des Amazonas? Seit den 1920 wuchs die Stadt São Paulo zur führenden Industrieregion Brasiliens. Vielleicht ließe sich der Programmablauf auch so hören, dass ähnliche Kompositionspraktiken unterschiedlich gerahmt worden waren.

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Die São Paulo Big Band trug bis hin zur Tropicana die Música Popular Brasileira mit reichen Improvisationen so sehr zum Erfolg, dass nahezu jede Improvisation vom Publikum beklatscht wurde. Die Improvisation im Jazz knüpft an das Virtuosentum des 19. Jahrhunderts an. In der südamerikanischen Musik erinnert durch die unzeitgemäße Überschneidung von Expression als Virtuosität ausgerechnet Alberto Ginasteras Violinkonzert an die Kunst der Improvisation. Die Unterscheidung von ernster und unterhaltender Musik, die in der Música Popular Brasilieira mitschwingt, war immer eine trügerische, die Traditionskonzepte heraufbeschwört. Es war übrigens die in Paris geborene Deutsch-Italinierin Caterina Valente, die in Brasilien und International mit der Música Popular Brasileira Welterfolge feierte. Doch beide Musik- und Konzertformen geben vielmehr einen Wink auf Kombinationspraktiken, die immer etwas Neues hervorgebracht haben, das nachträglich als nationale oder subjektive Identität verortet wurde.

© Fabian Schellhorn

Im globalen Konzertbetrieb funktionieren Identitäten als Alleinstellungsmerkmal noch immer, obwohl die Orchester höchst internationalisiert sind. In den Spitzenorchestern spielen Musiker*innen aus vielen bis sehr vielen Nationen und von unterschiedlichen Herkünften, um einen Klangkörper zu erzeugen. Das gilt auch für das São Paulo Symphony Orchestra mit Thierry Fischer, vielleicht allein schon wegen der Größe weniger in der Big Band. Auch die Música Popular Brasileira hat sich aus dem Showbusiness, Caterina Valente, und Mythen herausgebildet. In der Berliner Philharmonie bleibt das Publikum auf seinen Sitzen, während man sich ebenso gut hätte vorstellen können, in den Sitzreihen zu tanzen. Doch im Konzert als Gemeinschaftspraxis herrschen nun einmal bestimmte kulturelle Regime, die das Tanzen verhinderten.

Torsten Flüh

Musikfest Berlin 2024
bis18. September 2024

Mediathek
Eröffnungskonzert
São Paulo Symphony Orchestra mit Thierry Fischer
Verfügbar ab 30. August 2024, 16:00 bis 29. September 2024

São Paulo Big Band
Verfügbar bis 25. September 2024


[1] Claude Levi-Strauss: Traurige Tropen.  (dt. v. Eva Moldenhauer) Frankfurt am Main: Suhrkamp wissenschaft, 1978, S. 314.

[2] Wolfgang Rathert: Klingende Brücke über den Atlantik. In: Musikfest Berlin: Abendprogramm 24.8.2024, São Paulo Symphony Orchestra … Berlin 2024, S. 12.

[3] Ebenda.

[4] Ebenda S. 11.

[5] Ebenda S. 12.

[6] Vgl. zu Strawinsky Torsten Flüh: Visuelle Musik. Kompositionen von Igor Strawinsky als Schwerpunkt beim Musikfest Berlin mit Isabelle Faust, Dominique Horwitz, dem Rundfunkchor Berlin und Les Siècles unter der Leitung von François-Xavier Roth. In: NIGHT OUT @ BERLIN 25. September 2021.
Siehe zur Konstruktion nationaler Musik insbesondere an der verspäteten Russlands auch: Torsten Flüh: Sehnsucht nach einem Ich und Du. Zu Lieder und Dichter*innen: Nur wer die Sehnsucht kennt mit Yoko Tawada im Foyer der Deutschen Oper. In: NIGHT OUT @ BERLIN 7. März 2024.