Arzt – Gespräch – Patient
Verrückte Zellen
Feldstudien und Lektüren zum Arzt-Patienten-Gespräch in Thomas Manns Der Zauberberg und das Wissen der Humanmedizin
Das Gespräch einer Ärztin oder eines Arztes mit Patient*innen ist von hoher lebenspraktischer und gesellschaftlicher Relevanz. Meistens beginnt es so, dass ein Mensch wegen irgendwelcher Beschwerden oder auch nur Unregelmäßigkeiten am Körper zu einer Ärztin oder einem Arzt geht. Er will darüber sprechen, was ihn beunruhigt. Es gibt eine große, schier endlose Bandbreite von Erkrankungen, die auftreten können. Wie die richtigen Worte finden? Wenn es sich nicht um einen plötzlichen Unfall oder Zusammenbruch handelt, wird die Patient*in sich bzw. ihren Körper bereits beobachtet haben und ein ungefähres Wissen über das, was nicht stimmt, entwickelt haben. Sie muss die richtigen Worte artikulieren, um ins Gespräch mit der Ärztin oder dem Arzt zu kommen. Heute könnte sich jede und jeder mit einer Gesundheitsapp wie z.B. Ada vorbereiten. Ada gibt es im App Store oder bei Google Play.

Wie funktioniert das Arzt-Patienten-Gespräch? Die Linguistinnen Elisabeth Gülich und Gisela Brünner haben 2002 den Band Krankheit verstehen herausgebracht.[1] Sie konzentrierten sich auf die „Sprache in Krankheitsdarstellungen“, insbesondere auf „Verfahren der Veranschaulichung in der Experten-Laien-Kommunikation“.[2] Sie untersuchten, „wie Experten mit Laien über Krankheit sprechen“.[3] Das linguistische Verfahren hatte Einfluss auf die Sprache von Ada bzw. deren Programmierung. „Pass gut auf Dich auf(.) Dein Körper sendet Dir wichtige Signale über Deine Gesundheit. Mit Ada verstehst Du Deine Symptome in nur wenigen Minuten.“[4] Doch das Arzt-Patienten-Gespräch ist, obwohl es meistens kurz ausfällt, komplex. Schon in Thomas Manns Roman Der Zauberberg gehört es zur Eröffnungssequenz. In dieser Besprechung soll das Arzt-Patienten-Gespräch zwischen App, Klinik und Roman untersucht werden.

Ada ist freundlich. Sie kümmert sich um die User*innen. „Fangen wir mit dem Symptom an, das Dich am meisten beunruhigt.“[5] Sie spricht als eine Kümmerin. Ada ist eine AI bzw. KI, also genau das, wovon derzeit alle Medien schreiben. Eine Künstliche Intelligenz, die durch die Startseite der App als Kümmerin spricht. Sie ist allerdings derzeit nur als Schreib-Lese-Programm verfügbar. Doch wäre es nur ein kleiner Schritt, sie mit einer warmen, zugewandten, weiblichen oder männlichen Stimme sprechen zu lassen. Etwa wie Alexa, Siri oder Cortana etc. Ada wäre also so etwas wie eine Superärzt*in im Gespräch mit „Dir“. Du tippst Dein Symptom ein: verstopfte Nase. Ada stellt dann im kollegialen Du-Modus ca. 10 Fragen von „Wie lange hast Du die Beschwerden?“ bis „Sind die Beschwerden besser geworden?/… schlechter geworden?/… gleich geblieben?“. Ada zeigt eine Auswahl möglicher Krankheiten an. Aus versicherungstechnischen Gründen rät Ada als App zum Arztbesuch.

Die Gesundheitsapp heißt aus linguistischen Gründen nicht Krankheitsapp. Krankheit klingt schon krank. Bereits in den 70er Jahren wurde NLP (Neuro-Linguistisches Programmieren) als Kommunikationstechnik entwickelt: Formuliere positiv, was Du sagen willst! Bei Ada wird der Körper zum Sender: „Dein Körper sendet Dir wichtige Signale über Deine Gesundheit.“ Ada vermeidet den Begriff Krankheit. Es gibt auch eine ganze Reihe von digitalen, programmierten Uhren, die einen Teil Deiner Körperfunktionen registrieren und auswerten, also überwachen und vor Verletzungen oder Schaden warnen. Die Sprache dieser Künstlichen Intelligenzen ist stets emphatisch: „Du machst das toll! Dein Training langsam zu steigern, ist genau das Richtige.“ (Polar) Ada kann auch von Medizinern genutzt werden und hat ein breites Netz von Unternehmen im Bereich der Gesundheitsversicherung und der Pharmaindustrie, die „Kosten“ sparen können: „Nutze unsere Enterprise-Lösungen für fundierte medizinische Entscheidungen und niedrigere Kosten.“[6]

Ada bietet neben der Symptomanalyse eine Art Medizinblog, in dem „medizinisch überprüft(e)“ Artikel wie Was bedeuten meine Kopfschmerzen? von Harry oder von Ada Seltene Krankheiten erkunden und verstehen vom 21. Februar 2025 um 9:00 Uhr veröffentlicht werden. „Am 28. Februar ist „Internationaler Tag der seltenen Erkrankungen“.“ Ada klingt schnell so vertraut und vertrauenswürdig wie Alexa oder Siri. Doch der Name der App geht auf Ada Lovelace(-Byron) zurück, die mit Charles Babbage 1843 eine Analytical Engine entwickelte und als Mathematikerin mit ihren Aufzeichnungen eine Art erstes Computerprogramm schrieb. Sie war die Tochter des englischen Dichters Lord Byron. 1980 wurde eine Programmiersprache nach ihr benannt. Im Namen Ada überschneiden sich insofern der Name einer historischen Frau, die auch gesellschaftlich aktiv war, und eine Programmiersprache. Ada hilft dabei Symptome und Krankheiten zu verstehen, indem sie medizinisches Wissen an ihre Nutzer*innen weitergibt.

Zwischen Adas Symptom und Krankheit verstehen hat sich seit 2002 eine Veränderung der Sprache in der medizinischen Praxis abgespielt, die Elisabeth Gülich und Gisela Brünner untersucht haben. Sie analysierten vor allem Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Anfallskrankheiten auf empirischer Grundlage, um herauszufinden, „wie ExpertInnen/ÄrztInnen und LaiInnen/PatientInnen einander krankheitsbezogenes Wissen vermitteln und dabei komplexe Sachverhalte durch verschiedene interaktive Verfahren veranschaulichen“. Sie reagierten damit auf eine wachsende „Unzufriedenheit (in der Öffentlichkeit, T.F.) mit der technisch orientierten, nicht-sprechenden Medizin“.[7] Die Rede von einer „nicht-sprechenden Medizin“ lässt sich bedenken. Denn beispielsweise spielt sich Ada einzig und allein in der Sprache der Medizin mit Begriffen wie Körper, Gesundheit, Symptom bei Grundfragen ab. Und die vermeintlich „technisch orientierte() … Medizin“ ließe sich ebenso gut als Symptomatik formulieren. Denn zur Sprache der Medizin in der Moderne gehört ein ständiges Messen der Körperfunktionen auf der Suche nach Symptomen.[8]

Die Kritik an einer „technisch orientierten“ Medizin, die den Körper des Menschen als Maschine beschreibt, wird von Elisabeth Gülich bezüglich der Rede von Herz-Kreislauf-Erkrankungen als eine der „vier zentralen Metaphernsysteme für das Herz-Kreislauf-System“ formuliert.[9] Das Metaphernsystem des Herzens als „ein Motor“ ließe sich als verwandt zur „Pumpe“ und dem Herz-Kreislauf-System als „Rohr- oder Heizungssystem“ und „Verkehrssystem“ auffassen. Sie schließt aus sechs Beispielzitaten, „dass das Herz nicht nur als der Motor des Kreislaufs veranschaulicht wird (…), sondern auch in einem weiteren Sinne als Motor des Menschen (…) und – noch abstrakter – des Lebens“.[10] Im Arzt-Patienten-Gespräch wird das Herz des Menschen insofern zum Motor, der den Menschen am Leben hält. Probleme am Herzen werden wie die an einem Motor formuliert und behandelt. Die Technik eines Herzschrittmachers hakt an der Wahrnehmung als Motor ein. Und er bringt den Schrecken mit sich, dass der Motor nicht aufhören könnte zu laufen, obwohl der Patient das möchte. Die Patient*in könnte sich insofern von einem Motor bestimmt wahrnehmen.

Handelt es sich beim Herzen als Motor um eine linguistische Metapher? Oder war der Mensch als Maschine, den ein Motor antreibt, seit der Aufklärung in Europa ein Freiheitsversprechen? Wie könnte ein Arzt anders als über das Herz in medizinischer Hinsicht sprechen? Von wem wird der Mensch am Leben gehalten? Im Alten Testament wird der Mensch nicht nur von Gott erschaffen, vielmehr wird er durch ein komplexes System von Regeln, Geboten und Verboten durch ihn am Leben erhalten. Deus ex machina bezeichnet seit der europäischen Antike ein Walten der Götter oder Gottes über den Menschen. Der französische Arzt Julien Offray de La Mettrie veröffentlichte nicht nur kritische Schriften zur Medizin seiner Epoche wie 1746 Politique du medecin de Machiavel, ou Le chemin de la fortune ouvert aux medecins…[11] (Machiavellis Ärztepolitik oder Der den Ärzten offenstehende Weg zum Glück. Auf die Form eines Ratschlags reduziertes Werk von Doktor Fum-Ho-Ham, übersetzt aus dem chinesischen Original von einem neuen Meister der Künste von St. Cosme. Teil eins. Es enthält Porträts der berühmtesten Ärzte Pekings.) Vielmehr publizierte er im Jahresrhythmus ebenfalls anonym L’Homme-Machine[12] und ein L’Homme-Plante[13] folgte.[14]

Das Arzt-Patienten-Gespräch spielt sich über Narrative ab, die anstatt einer barrierefreien Vermittlung medizinischen Wissens immer auch den Körper verfehlen. Denn Krankheiten sind selbst Krankheitsbilder und deshalb Konstruktionen. Während der Erstbegegnung Hans Castorps mit den Ärzten des Sanatoriums, Hofrat Behrens und Dr. Krokowski, kommt es zu einem ebenso aufschlussreichen wie untypischen Arzt-Patienten-Gespräch. Thomas Mann lässt im Zauberberg-Roman die Vettern Joachim und Hans mit den Ärzten ineinanderlaufen. Denn Behrens als eine Art Direktor und Chefarzt hat es in seiner „Sanatorium“ genannten Klinik eilig. „»Hoppla, Achtung die Herren! sagte Behrens.“ Mann gestaltet, das Arzt-Patienten-Verhältnis dadurch, dass er den Arzt Behrens Hans Castorp als Patient definieren lässt. Der Arzt macht Castorp zum Patienten und schätzt sein „Talent“ dazu ein:
„Sie wären ein besserer Patient als der, da möcht ich doch wetten. Das sehe ich jedem gleich an, ob er einen brauchbaren Patienten abgeben kann, denn dazu gehört Talent, Talent gehört zu allem, und dieser Myrmidon hier hat auch kein bißchen Talent. Zum Exerzieren, das weiß ich nicht, aber zum Kranksein gar nicht.“[15]

Die Klinik als eine Organisationsform „der Elemente, die das pathologische Phänomen konstituiert (…), als Definition der linearen Reihen der Krankheitsereignisse (…); als Einfügung der Krankheit in den Organismus“[16] wurde von Michel Foucault beschrieben. Thomas Mann hat in seinem Roman Der Zauberberg ein gutes Gespür für die sprachliche Verfassung des Sanatoriums als Klinik gehabt und sie Behrens sagen lassen. Sie wirkt nicht zuletzt bis in den aktuellen Klinikalltag fort. Einerseits bezeichnet Behrens Joachim, der Arzt den Patienten als „Myrmidon“, andererseits nimmt seine Rede einen befehlsförmigen Ton oder Modus an. Wie mit Krankheitsbegriffen aus dem Altgriechischen wird Joachim zu einem „Myrmidon“. Das Geschlecht der Myrmidonen ist selbst Kundigen der altgriechischen Literatur und Mythologie eher unbekannt. Es ließe sich somit sagen, dass ein Begriff beiläufig fallen gelassen und eingeführt wird, der in erster Linie Wissen ausstellt. Das exklusive Wissen darf allerdings nicht nachgefragt werden, weil der Patient dann sein Unwissen entblößen müsste.

Das Sprechen in der Klinik und die Sprache der Klinik generieren einen Raum des Wissens vom Körper, der nicht zuletzt durch den Sprachmodus Befehl geregelt wird. Behrens befiehlt den Patienten Joachim und Hans ein strenges Zeitregime, das heute aus vielerlei Gründen von den Essenszeiten und dem Klinikessen bis zum regelmäßigen Messen durch Pflegekräfte fortwirkt. Der Zeitplan wirkt als Organisationsform normalisierend und natürlich. Die Organisation der Klinik erscheint kaum anders möglich. Die meisten Patient*innen empfinden an der Klinik ein Unbehagen, das sie schwer oder nur falsch artikulieren können.
„Also nun mal los mit dem Lustwandel! Aber nicht mehr als ´ne halbe Stunde! Und nachher die Quecksilberzigarre ins Gesicht gesteckt! Immer hübsch aufschreiben, Ziemßen! Dienstlich! Gewissenhaft! Sonnabend will ich die Kurve sehen! Ihr Vetter soll auch gleich mitmessen. Messen kann nie was schaden. Morgen, die Herren! Gute Unterhaltung!“[17]

Ist eine Unterhaltung ein Gespräch? Wünscht Behrens Joachim Ziemßen und Hans Castorp eine „Gute Unterhaltung!“? Oder fand er seine Rede eine „Gute Unterhaltung!“ mit den Patienten. Der Begriff lässt für den Ironiker Mann beide Gebrauchsweisen zu. „1. auf angenehme Weise geführtes (längeres) Gespräch, Plauderei 2. angenehmer Zeitvertreib, Amüsement (durch Gespräch, Scherz, Spiel)“[18] Die Unterhaltung erweist sich als doppelbödig, weil Behrens sich famos unterhalten hat, ohne dass die Patienten zu Wort gekommen wären. Die serielle Häufung von Ausrufezeichen unterstreicht das befehlsförmige Sprechen des Klinikdirektors. Ob es die Zeit für den „Lustwandel“, das scherzhaft „Quecksilberzigarre“ genannte Thermometer zum Fiebermessen oder das Aufschreiben betrifft, in der Klinik herrscht ein Regime, dass nicht zuletzt eine „Kurve“ als mit Foucault eine „lineare() Reihe() der Krankheitsereignisse“ generieren soll.

Wie funktioniert Diagnostik? Wie kommt der Arzt zu seiner Diagnose? Unter dem Titel Das Thermometer am Ende des 4. Kapitels im Zauberberg wird medizinisches Wissen – γνῶσις: gnosis – generiert und bestimmt.[19] Nachdem Hans Castorp einen immer stärkeren Wunsch verspürt hatte, zur Gesellschaft der Kranken im Sanatorium zu gehören, er sich bei der Visite durch die Nichtbeachtung der Ärzte, Behrens und Krokowski, ausgeschlossen gefühlt, diverse Krankengeschichten kennengelernt und gehört hatte, legt er sich ein Thermometer im „rote(n) Etui“ zu. „Schmuck wie ein Geschmeide lag das gläserne Gerät in die genau nach seiner Figur ausgesparte Vertiefung der roten Samtpolsterung gebettet.“[20] Durch Manns Formulierung wie zuvor in den erzählten Episoden bleibt mehrdeutig, ob das Thermometer für Castorp ein Schmuckstück oder ein diagnostisches Instrument ist. Der Ursprung des Fiebers und der damit verbundenen Krankheit wird von Mann offengehalten. Doch es kommt zur erhöhten Temperatur, die sich nun genauestens messen und vergleichen lässt:
„Joachim machte kurz kehrt und ging ins Zimmer. Als er zurückkehrte, sagte er zögernd:
»Ja, das sind 37 Komma 5 ½.«
»Dann ist es etwas zurückgegangen!» versetzte Hans Castorp rasch. »Es waren sechs.«“[21]

Hans Castorp begehrt eine Diagnose durch Hofrat Behrens, die nach einer kurzen Untersuchung durch eine Anamnese während des Arzt-Patienten-Gespräch gerahmt wird. Die Diagnose des Arztes, die von Dr. Krokowski protokolliert wird, fällt in der für Behrens charakteristischen Redeweise aus, die bereits bei der Erstbegegnung eingeführt worden war. Sie wird als ein intuitives Vorwissen des Arztes formuliert. Das ist bedenkenswert, insofern das Wissen damit doppelbödig wird. Findet Behrens ein Wissen nur bestätigt, das er bestätigt finden möchte?
„Ich habe Sie auf dem Strich gehabt, Castorp, nun kann ichs Ihnen ja sagen, – von vornherein, schon seit ich zuerst die unverdiente Auszeichnung hatte, Sie kennenzulernen, – und ziemlich sicher vermutet, daß Sie im stillen ein Hiesiger wären und das auch noch einsehen würden, wie schon so mancher, der zum Spaß hier heraufkam und sich mit erhobener Nase umsah und eines Tages erfuhr, daß er gut täte – und bloß >gut täte<, bitte mich wohl zu verstehen – hier ganz ohne unbeteiligte Neugiersallüre eine etwas ausbiebigere Station zu machen.«
Hans Castorp hatte sich verfärbt, …“[22]

Bis auf den heutigen Tag gehört die Anamnese zum Bestandteil des Arzt-Patienten-Gesprächs oder es wird als Fragebogen vorgelegt. Die Frage nach Vorerkrankungen wie nach solchen in der Familie fügt die „Krankheit in den Organismus“ (Foucault) ein, der als Erbe formuliert wird. Von Thomas Mann wird diese Genealogie der Krankheit und ihre Vererbung auf auch komische Weise zur Verwandtschaft der Vettern in der Krankheit. Castorp leugnet das Vererbungswissen zunächst, um dann von Behrens überzeugt zu werden.
„»Er ist aber nur ein Stiefvetter von mir, Herr Hofrat.«
»Nanu, nanu. Sie werden doch Ihren Cousin nicht verleugnen wollen. Stief oder nicht, er bleibt doch immer ein Blutsverwandter. Von welcher Seite denn?«
»Von mütterlicher, Herr Hofrat. Er ist der Sohn einer Stief-«
»Und ihre Frau Mama ist vergnügt?«
»Nein, sie ist tot. Sie starb, als ich noch klein war.«
»Oh, warum denn?«
»An einem Blutpfropf, Herr Hofrat.«
»Blutpfropf? Na, es ist ja schon lang her. Und Ihr Herr Vater?«
»Der ist an der Lungenentzündung gestorben –,« sagte Hans Castorp, »und mein Großvater auch –,«, setzte er hinzu.
»So, der auch? Na, soviel von Ihren Vorfahren.“[23]

Die Diagnose fällt als Urteil aus. Behrens sagt zu Castorp nicht direkt, dass er Tuberkulose habe. Doch im Sanatorium Berghof oberhalb von Davos haben alle Gäste-Patienten die Tuberkulose. Sie schwebt als Urteil über allen Patienten. Denn die Tuberkulose verläuft zwischen Thomas Manns Besuch bei seiner lungenkranken Frau in Davos 1912 und der Erstveröffentlichung 1924 häufig tödlich. Die durch Robert Koch entwickelte Tuberkulin-Impfung hatte sich 1890 als wirkungslos erwiesen. Die bakterielle Lungenerkrankung konnte durch Aufenthalte in Sanatorien mit besserer Luft als in den Großstädten, guter Ernährung und strenger Ruhe durch „Liegekur“[24] oft geheilt werden. Das Medizinwissen von der Tuberkulose wird von Behrens im Arzt-Patienten-Gespräch mit „Bakterien“ diskret formuliert:
„»Sofort waren Sie wahrscheinlich beschwipst«, bekräftigte der Hofrat. »Das sind die löslichen Gifte, die von den Bakterien erzeugt werden; die wirken berauschend auf das Zentralnervensystem, verstehen Sie, und dann kriegt man heitere Bäckchen. Sie gehen nun erst einmal in die Klappe, Castorp; wir müssen sehen, ob wir Sie durch ein paar Wochen Bettruhe nüchtern kriegen. Das Weitere kann nachher kommen. Wir nehmen eine schöne Innenansicht von Ihnen auf – es wird Ihnen Spaß machen, so Einblick zu gewinnen in Ihre eigene Person…«“[25]

Das Urteil wird von Hofrat Behrens in eine euphemistische Rede vom Rausch und seiner Ursache gekleidet. Hans Castorp wird gar Spaß durch eine „Innenansicht“ seines Brustkorbs versprochen. Natürlich geht es bei der „Innenansicht“ um ein Sichtbarwerden der Krankheit und keinesfalls nur um die Veranschaulichung des Expertenwissens. Die Röntgenaufnahme von der Brust zur Diagnose der Tuberkulose lässt sich als ein erstes bildgebendes Verfahren beschreiben. Denn Wilhelm Conrad Röntgen hatte das Untersuchungsverfahren mit den unsichtbaren Röntgenstrahlen erst 1895 erfunden. Zur Handlungszeit des Romans 1914 ist das Röntgenbild als „Innenansicht“ von geradezu berauschender Neuigkeit. Der Besuch Castorps im „Durchleuchtungslaboratorium“[26] wird von Thomas Mann ausführlich inszeniert. Das zu erwartende Wissen schwankt zwischen Rausch und Todesdrohung:
„»Nächster Delinquent!« sagte Behrens und stieß Hans Castorp mit dem Ellenbogen. »Nur keine Müdigkeit vorschützen! Sie kriegen ein Freiexemplar, Castorp. Dann können Sie noch Kindern und Enkeln die Geheimnisse Ihres Busens and die Wand projezieren!«
Joachim war abgetreten; der Techniker wechselte die Platte. Hofrat Behrens unterwies den Neuling persönlich, wie er sich zu setzen, zu halten habe.“[27]

Das Sichtbarwerden der inneren Krankheit, wie es vor gut einhundert Jahren von Thomas Mann formuliert und beschrieben wird, nimmt mit verfeinerten bildgebenden Verfahren wie Sonographie (Ultraschall), CT und MRT weiterhin einen breiten Raum im Medizinwissen ein. Es ist wahrscheinlich noch wichtiger geworden. Doch was wird sichtbar? Im „Durchleuchtungsraum“ wird Joachims Brustkorb nicht nur als Röntgenbild, vielmehr noch als zu studierende Live-Projektion sichtbar. Doch Behrens muss Castorp erst einmal sagen und zeigen, was er sehen soll. Denn da sind vor allem „Flecke“. Sie müssen erst einmal gesehen werden, um dann benannt werden zu können.
„Er studierte die Flecke und Linien, das schwarze Gekräusel im inneren Brustraum, während auch sein Mitspäher nicht müde wurde, Joachims Grabesgestalt und Totenbein zu betrachten, dies kahle Gerüst und spindeldürre Memento. Andacht und Schrecken erfüllten ich. »Jawohl, jawohl, ich sehe«, sagte er mehrmals. »Mein Gott, ich sehe!« (…) So sah nun Hans Castorp den guten Joachim, wenn auch mit Hilfe und auf Veranstaltung der physikalisch-optischen Wissenschaft, so daß es nicht zu bedeuten hatte und alles mit rechten Dingen zuging, zumal er Joachim Zustimmung ausdrücklich eingezogen.“[28]

Die Flecken, das Amorphe auf dem heute meistens in einer Computertomographie (CT) unter Einsatz eines Kontrastmittels generierten Bild gilt als verdächtig. Was genau man in den Flecken sieht, lässt sich häufig schwer sagen. Aber es gibt Flecken, wo keine Flecken sein sollten. Man muss das Sehen wie Hans Castorp erst einmal lernen.[29] In Schichten wird durch Kontrastmittel und Röntgenstrahlen ein möglichst deutliches Bild z.B. in der hämatologischen Onkologie generiert. Das Problem der Überlagerung und Unschärfe beim Röntgen durch Fettleibigkeit, das Behrens ausdrücklich formuliert – „Ich habe hier Wänste gehabt, – undurchdringlich, beinahe nichts zu erkennen.“[30] –, wird heute mittels der schichtweisen, computergenerierten Bildgebung gelöst. Doch die Flecken bleiben Flecken. Wird nun von einem Arzt gezeigt, dass die Flecken ein spezielles Lymphom sind, so korrigiert der zuständige Professor und Experte das Lymphom-Wissen des Patienten, dass es sich um Millionen von Zellen handele, die dort „verrückt“ geworden seien. Einzelne Lymphome lassen sich mit dem CT nicht sichtbar machen, weil sie zu winzig sind. Doch die Formulierung von den „verrückt(en)“ Zellen als onkologisches Lymphom-Wissen ist weiter zu bedenken.

Was sind Zellen? Und wie können sie verrückt werden? Die „Zellenlehre“ wird von Rudolf Virchow 1855 mit dem Satz „Omnis cellula a cellula“ als Prosektor und Professor am Institut für Anatomie der Universität Berlin formuliert.[31] Als Prosektor an der Charité seit 1846 gehörte es zu Virchows Aufgaben, die Körper Verstorbener zu sezieren. Beim Öffnen der Körper durch das Zerschneiden fielen ihm Abnormitäten in und an den Leichen auf. Daraus entwickelte er nicht nur seinen Lehrsatz „Jede Zelle stammt aus einer Zelle“, vielmehr legte er eine umfangreiche Präparate-Sammlung an, die noch heute teilweise im Medizinhistorischen Museum Berlin zu sehen ist. Die Präparate sollten einerseits zeigen, was den Ärzten sonst verborgen blieb, andererseits bildeten sie sozusagen das Ausgangswissen für seine Zellenlehre. Das Wissen von den Zellen und ihrem Wachstum bildete für Virchow nicht nur ein medizinisches Fachwissen, vielmehr identifizierte er sich soweit mit diesem, dass er 1902 ein Exlibris mit einem aufgeschlagenen Buch hinter dem die Sonne aufgeht und mit einem Lorbeerzweig links wie mit einem Eichenzweig rechts sowie auf den Seiten „Omnis cellula a cellula“ anfertigen ließ.[32] In seinem Tagebuch soll er den heute problematischen Satz geschrieben haben: „Die Päparate-Sammlung ist mein liebstes Kind.“[33]

Für die Frage nach dem Arztwissen im Gespräch mit dem Patienten ginge es hier zu weit, Virchows Zellentheorie, die er in Vorlesungen am „neuen pathologischen Institute der Universität gehalten“ zur „Cellularpathologie“[34] weiterentwickelt hatte, genauer in der Verschränkung von Fach- oder Expertenwissen und persönlicher Rede zu untersuchen. Durch den knappen Exkurs soll allein darauf hingewiesen werden, dass Rudolf Virchow durch sein Arztwissen zugleich während der Revolution von 1848 politisch aktiv geworden ist, so dass er vorübergehend aus Berlin fliehen musste.[35] Die abnorme Erscheinung, dass sich viele Lymphom-Zellen an einer Körperstelle sichtbar machen lassen, sonst allerdings durch ein CT nicht sichtbar gemacht werden können, als eine Verrücktheit zu formulieren, entspricht, obwohl fraglich wie eine Zelle verrückt werden kann, zutiefst nicht nur der „Zellenlehre“ Rudolf Virchows, vielmehr noch der sprachlichen Elastizität des Medizinwissens. Das Wissen vom Menschen als Humanwissenschaft, Human Science oder Science humaine in der Humanmedizin ist zugleich höchst elastisch und dynamisch. In der Praxis der Klinik muss dann doch oft flexibel entschieden werden.
Torsten Flüh
[1] Brünner, Gisela; Gülich, Elisabeth (Hgg.): Krankheit verstehen. Interdisziplinäre Beiträge zur Sprache der Krankheitsdarstellungen. Bielefeld: Aisthesis Verlag, 2002.
[2] Dies.: Verfahren der Veranschaulichung in der Experten-Laien-Kommunikation. S. 18-64.
[3] Ebenda S. 18.
[4] Ada: Startseite: Deutsch: ada.com/de/
[5] Ebenda.
[6] Ebenda.
[7] Brünner, Gisela; Gülich, Elisabeth: Verfahren … [wie Anm. 2]
[8] Zum Messen im Sanatorium siehe bereits: Torsten Flüh: Das Gespenst der Epidemie. Zur Abwesenheit der Epidemie im Roman Der Zauberberg von Thomas Mann. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. Januar 2021.
[9] Brünner, Gisela; Gülich, Elisabeth: Verfahren … [wie Anm. 2] S. 26.
[10] Ebenda.
[11] Julien Offray de La Mettrie: Politique du medecin de Machiavel, ou Le chemin de la fortune ouvert aux medecins … Amsterdam: Bernard, 1748. (Gallica)
[12] Ders.: L’Homme-Machine. Leyden: Elie Luzac, 1748. (Gallica)
[13] Ders.: L’Homme-Plante. Potsdam: Voss, 1748. (Gallica)
[14] Zu de La Mettrie siehe u.a.: Torsten Flüh: Müssen wir Menschlichkeit neu bestimmen? Zur Konferenz Humanity Defined: Politics and Ehtics in the AI Age des Aspen Institute Germany. In: NIGHT OUT @ BERLIN 13. April 2019.
[15] Thomas Mann: Der Zauberberg. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, 2012, S. 73-74.
[16] Michel Foucault: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, 1988, S.16.
[17] Thomas Mann: Der … [wie Anm. 15] S. 75.
[18] DWDS: Unterhaltung.
[19] Thomas Mann: Der … [wie Anm. 15] S. 245-278.
[20] Ebenda S. 256.
[21] Ebenda S. 262.
[22] Ebenda S. 275.
[23] Ebenda S. 275-276.
[24] Ebenda S. 21.
[25] Ebenda S. 278.
[26] Ebenda S. 320.
[27] Ebenda S. 328.
[28] Ebenda S. 332.
[29] Zum Sehen und Sichtbarwerden oder grafischen Darstellungen in der Medizin siehe: Torsten Flüh: Sputnik 5 und Hegels Weltgeist. Georg Wilhelm Friedrich Hegel zum 250. Geburtstag und die Wiederkehr des Sputniks. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. August 2020.
[30] Thomas Mann: Der … [wie Anm. 15] S. 331.
[31] Sinje Gehr, Judith Hahn, Thomas Schnalke. Jens Steinbrink (Hgg.): Der Zellenstaat. Rudolf Virchow und die Charité der Zukunft. (Ausstellungskatalog) Berlin: Charité, 2021, S. 12. (Digitalisat)
[32] Ebenda.
[33] Auf dem Schreibtisch im Medizinhistorischen Museum der Charité lag bei einem Besuch um 2002 ein Zettel mit dem hier aus der Erinnerung zitierten Satz.
[34] Rudolf Virchow: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. 20 Vorlesungen. Berlin: Hirschwald, 1859, S. V. (Digitalisat)
[35] Zur Revolution 1848 siehe auch: Torsten Flüh: Der europäische Bogen der Revolution. Zu Christopher Clarks brillant erzähltem Frühling der Revolution – Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. Oktober 2023.