Visionäre Meere

Leben – Literaturen – Bilder

Visionäre Meere

Zu Lektüre- und Lebenspuren im visuellen Schaffen des Malers und Zeichners August Jankowski anlässlich der Ausstellung im Galerieraum erstererster

Zu Beginn des neuen Jahres 2025 passt der Galerieraum erstererster in der Pappelallee 69 im Prenzlauer Berg. Ich beginne am 1. Januar 2025 diese Besprechung zu schreiben, ohne dass ich wüsste, wohin mich die Zeichnungen und Gemälde von August Jankowski führen werden. Was lässt sich schon an einem Ersten Ersten über das Jahr wissen! Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt, trifft meistens zu. Kürzlich stellte Marco Wehr in der NDR-Sendung DAS! auf dem roten Sofa sein Buch Komplexe neue Welt – und wie wir lernen, damit klarzukommen vor. Er riet in etwa, sich nicht von allen Nachrichten kirre machen zu lassen. Vielmehr solle man unterscheiden, was man selbst beeinflussen könne, und was nicht. Magdeburg und New Orleans und Elon Musk können wir nicht ändern.

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Im Galerieraum erstererster stechen für mich zuerst die Bilder und Objekte von August Jankowski ins Auge, die mit dem Meer assoziiert werden. Eine Möwe oder ein Albatros hängt von der Decke, daneben eine Fischfigur, die an einen kleinen Wal erinnern könnte. Dann die blauen Wellen in mehreren Gemälden. Blauer Himmel, weiße Wolken und Möwen, Ruder, Boote, Schiffe, Dampfschiffe und eine ungestüme Maschine wie ein Bagger im Meer. „PORT BOU“ prangt in Rot auf einem Gemälde mit Buchstabenhaufen. Darüber ein Vogel, der eine Taube oder Eule sein könnte. Ein Klavier wie angeschwemmt an einer Küste. Dann kommen immer wieder Dampflokomotiven im visuellen Schaffen als Objekt, Zeichnung oder Gemälde vor. Michael Pfänder hat die Ausstellung kuratiert. Welche Korrespondenzen gehen die oft wiederkehrenden Figuren in einzelnen Bildfindungen ein? August Jankowskis Bildwelten regen zu Fragen an.

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Wann genau August Jankowski mit dem Zeichnen und Malen begann, ist bislang nicht gefragt geworden. Vielmehr wurde es in Kontexte der Sinneswahrnehmungen eingebunden und frühzeitig mit Literaturen von Eduard Mörike und Herman Melville eingebunden. Die Ursprünge des Zeichnens allerdings bleiben ungesagt, vielleicht unsagbar. Möglicherweise begann das Zeichnen und Malen August Jankowskis mit seiner Fluchtgeschichte durch den Zweiten Weltkrieg des 1942 in Bielitz Geborenen. Bielitz lag in Schlesien an der Grenze zu Galizien, wie eine Karte des Königreichs Galizien und Lodomerien in der Zeit von 1846 bis 1918 zeigt. Bielitz gehörte zum Einzugsgebiet des sogenannten „Dreikaiserecks bei Myslowitz“, das der Marburger Literatur- und Kulturforscher Jürgen Joachimsthaler in seinem Standardwerk Text-Ränder – Die kulturelle Vielfalt in Mitteleuropa als Darstellungsproblem deutscher Literatur (2012) erforscht hat. Er beschreibt es als „imaginäre Mitte eines (etwas zittrig gezeichneten) Halbkreises Lemberg, Budapest, Wien und Prag, aber auch zentral auf einer Linie Berlin-Czernowitz“.[1] 

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Das Darstellungsproblem der deutschen Literatur in Mitteleuropa, das Jürgen Joachimsthaler in seinem zweibändigen Werk Text-Ränder beschreibt, lässt sich auf die wenigen noch kaum bewusst erlebten Jahre des Zeichners und Malers August Jankowski übertragen. Da der Vater bereits vor seiner Geburt im Zweiten Weltkrieg starb und die verwitwete Mutter spätestens 1945 mit ihrem Sohn nach Westdeutschland floh, wo er über mehrere Flüchtlingslager schließlich in Bielefeld ankam, um bis 1962 dort zur Schule zu gehen, übten Dampflokomotiven auf August Jankowski bestimmt eine große Faszination aus. Das Verkehrsmittel der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren Eisenbahnen mit Dampflokomotiven, die die Handels-, Reise- und Kommunikationswege entschieden veränderten und Mitteleuropa durch Bahnlinien mit den Metropolen verbanden, worauf Joachimsthaler hinweist.

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Bielitz bildet heute mit der Stadt Biala Bielsko-Biała im Schlesischen Vorgebirge in der Woiwodschaft Schlesien in Polen. Es gehörte schon um 1940 zum Oberschlesischen Industriegebiet, wohin der Großvater und Textilfabrikant Jankowski nach der Oktoberrevolution aus St. Petersburg geflohen war. Die politisch-territorialen Verschiebungen in Mitteleuropa wirken nach und hinterlassen Spuren in Erzählungen für August Jankowski. Obwohl oder gerade, weil weder Bielitz noch Bielefeld oder Ochsenwang, wo der Zeichner und Maler seit 1975 lebt, am Meer liegen, begann das Meer als Imaginäres eine wichtige Rolle für ihn zu spielen. Um 1985 schlägt August Jankowski mittlerweile als Gymnasiallehrer für Kunst und Englisch den Bogen zur Literatur von Eduard Mörike und Herman Melville. Besonders Mörike und sein Haus in Ochsenwang verknüpfen für den Maler das Meer mit dem Kalksteinablagerungen aus dem Jura der Schwäbischen Alb:
„Mein Haus verwandelt sich
eilig zum Schiffe,
sich zur Kajüte die Kammer,
ich fühle das Schwanken
des Fahrzeugs,
des Matrosen Pfeife
vernehm‘ ich,
die dumpfe Bewegung
auf den Verdecke,
man eilet vor meine Tür –“[2]

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Die traumartige Verwandlung von Mörikes Haus in Ochsenwang in ein Schiff gibt sowohl einen Wink auf das Imaginäre der Lyrik wie geologisches Wissen vom Ort, an das Jankowski für sein visuelles Schaffen anknüpft. Denn Ochsenwang liegt auf einer Berghalbinsel zwischen Zipfelbachschlucht und Bissinger Tal auf der Hochfläche der Schwäbischen Alb aus dem Jura. Der erdgeschichtliche Name Jura wurde von Alexander von Humboldt 1795 für Gesteinsschichten im Juragebirge in Frankreich eingeführt. Es ist nicht zuletzt einer der Namen, der Humboldtian Science, wie sie Otmar Ette formuliert hat.[3] Als Bergbauassessor mit der Berechtigung amtliche Gutachten zu erstellen, war Humboldt 1795 zum Oberbergrat aufgestiegen und besetzte damit eine Schlüsselfunktion in der Erstellung geologischen Wissens von den Ursprüngen der Erde. Die erdgeschichtlichen Gesteinsschichten wurden daraufhin als Kalkablagerungen des Tethysmeeres gelesen. Auf diese Weise lag für Mörike und liegt für Jankowski Ochsenwang am Meer.

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Ochsenwang liegt mit dem modernen, geologischen Wissen des 19. Jahrhunderts am Meer, das von dem evangelischen Pfarrer Eduard Mörike (1804-1875) um 1832, als er in Ochsenwang wirkte, lyrisch übersetzt wird. 1981 wurde in Ochsenwang das Mörike Haus im alten Schulhaus, wo der Pfarrer und Lyriker für kurze Zeit lebte, eingerichtet. Literatur- und Regionalgeschichte finden in Jankowskis Mörike- und Meer-Bezug ihren Widerhall und Übertragungen. 1985 zitiert Jankowski gleichzeitig Herman Melville[4], um die literarisch-visionäre Transformation einer Schneelandschaft in den Atlantik zu beschreiben.
„Jetzt, da alles mit Schnee bedeckt ist, habe ich hier auf dem Lande das Gefühl, als wäre ich auf See. Morgens, wenn ich aufstehe, schaue ich aus meinem Fenster wie aus dem Bullauge eines Schiffes auf dem Atlantik. Mein Zimmer gleicht einer Schiffskajüte, und des Nachts, wenn ich aufwache und den Wind heulen höre, bilde ich mir beinah ein, es wären zuviel Segel auf dem Hause und eigentlich müsse ich aufs Dach entern und den Schornstein reffen.“[5]  

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August Jankowski kam über das Kunststudium in Swansea und Dublin zur englisch-sprachigen Literatur, in der Herman Melville und James Joyce für ihn eine entscheidende Rolle spielen. Die beiden frühzeitigen Zitate zum Meer aus der Literatur und weniger aus der Bildgeschichte des Meeres in der Kunst lassen einen individuellen Zug des Malers und Zeichners August Jankowski erkennen. In der Kunst bezieht er sich en passant auf die Gemälde und Aquarelle von Seestücken des Malers William Turner, in denen das Meer auf neuartige Weise fast als eine Traumlandschaft gemalt wird. Doch er malt nicht wie Turner. Vielmehr kommen Literaturen von Eduard Mörike über Herman Melville, James Joyce und Franz Kafka sowie Marcel Proust bis Walter Benjamin in seinen Bildkompositionen zum Zuge, was sich in der Ausstellung im Galerieraum erstererster beobachten lässt. Die zeichnerische und malerische Praxis generiert aus komplexen Prozessen Bildkompositionen, die eine Art heterogener Multiperspektivität entstehen lassen.

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Das Acrylbild mit dem Titel Hagana von August Jankowski öffnet sich für eine Vielfalt von Assoziationen. Der Titel als Sprachakt rahmt das Bild, zielt auf Darstellung und begrenzt die potenzielle Vielfalt auch. Jacques Derrida hat in den Texten zur Malerei in seinem Buch La Vérité en peinture – Die Wahrheit in der Malerei auf das Problem des Titels hingewiesen: „Was geschieht, wenn man einem „Kunstwerk“ einen Titel verleiht?“[6] – Ausstellungsbesucher*innen suchen oft zuerst nach dem Titel und dem Namen der Maler*in, bevor sie sich z.B. auf ein Acrylbild einlassen. Die Materialität des Bildes ist nicht nur die Acrylfarbe auf der Leinwand, vielmehr wird sie praktisch in den Wissensmedien von Titel, Maler*in, Entstehungszeit etc. zu lesen gesucht. Die Bildelemente von Rudern, Booten, einem Dampfer mit Segel in der Ferne, Wellen, Meer, einem Paket, einem ungestümen baggerähnlichen Fahrzeug, einem weißen mit Tauen mehr denn Bändern verschnürten Paket, zwei Männern mit Vollbärten, einer zierlicheren Figur mit längerem Haar, die den Betrachter*innen im Boot den Rücken zuwendet, einer wohl männlichen Figur, die das verschnürte Paket hochhält, korrespondieren miteinander, grenzen sich indessen auch voneinander ab.

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Ohne den Titel beginnen wir bereits mit der Benennung der Bildelemente vor dem Acrylbild, von anderem als der Malerei zu sprechen. Die Wahrheit der Malerei von August Jankowski lässt sich kaum fassen oder als Palimpsest entschlüsseln. Er schabt nicht nur alte Schichten seiner Bilderschrift ab, um sie in neue Konstellationen zu bringen, vielmehr werden Boot, Meer, Paket neu verschnürt oder vertäut, um in der Sprache der Seemänner zu bleiben. Schiffe werden an Anlegern vertäut. Das Paket wird zum hervorstechenden Element des Acrylbildes. Was das Paket enthält, sehen und wissen wir nicht. Es ist allemal ein Geschenk und Geheimnis. Als Geschenk wird es hoch gehalten auf dem schwankenden Boot auf den Wellen. Wer wird das Paket annehmen? Wird es angenommen werden? Wird es angenommen werden wie das Acrylbild? Es ist vertäut, wird gehalten am Anleger. Der Bärtige im zweiten Boot zeigt mit dem Ruder auf das Paket, könnte man sagen. Oder will er es mit dem Ruder ins Boot holen? Im Bild bleibt das Paket hochgehalten. Mehr sehen wir nicht!

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Wie viel können wir uns von dem Bild mit dem Titel Hagana erzählen? Wollen wir den Titel als Benennung öffnen? Welche Erzählungen werden sich dann über das Bild ergießen? Zunächst einmal gibt uns der Maler August Jankowski ein Bild als Geschenk. Es fasziniert uns. Aus dieser Besprechung wissen wir bereits, dass es bei dem Maler wiederkehrende Elemente gibt: Meer, Boot, Haus, Blau, Weiß, Dampfschiffe, Ufer, Maschinen etc. Vor allem immer wieder die Transformation zum imaginären Meer. Die schmale Figur im Boot wendet sich ab, von der Aktion mit dem Paket und dem Ruder. Sie verhüllt uns ihr Gesicht. Desinteresse kann es bei diesem aufgewühlten Seestück nicht sein, kann man denken. Da passiert allerhand. Gibt die Figur im Bild also einen Wink auf das, was wir in ihm nicht zu sehen bekommen? Geht es um das Bild als Vorhang, hinter den wir schauen wollen? Das Bild als Screen?[7] Die Funktion des Screens lockt uns, wissen zu wollen und verhüllt Wissen zugleich.

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Bleiben wir auf der Leinwand, auf die August Jankowski gemalt hat. Die Leinwand war leer, so wie Blätter in den Skizzenbüchern leer waren, die eine eigene Kategorie in seinem Schaffen und auf seiner Homepage ausmachen. Einerseits sind die Leinwände und Skizzenblätter immer leer, andererseits malt und zeichnet der Maler nicht aus dem Leeren, vielmehr machen Wiederholungen und Transformationen, das Palimpsestische seines Bilderapparates, Literaturen und Lektüren einen wesentlichen Zug seines Malens und Zeichnens aus. Seine Sinneswahrnehmungen treffen immer schon auf eine komplexe Konstellation, die im Machen zum Zuge kommt. Wahrscheinlich weiß er zu Beginn am wenigsten, was er auf Leinwand oder Blatt gemalt haben wird. Doch er stützt, das von dem er nichts weiß, mit Titeln und Texten wie Hagana Anlandung und Rettung der Gesetzestafeln[8] und einem Zitat aus Othmar Keels Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament. Am Beispiel der Psalmen.
„Die klassische Manifestation der Chaoswasser aber ist das Meer.
[…]
Da der ursprüngliche Lebensraum des Menschen nicht das Meer ist, galt in der Antike das Befahren der „tödlichen Salzflut“ grundsätzlich als gefährlich. Bei den Israeliten als einem Volk, das aus der Steppe ins Kulturland gekommen und starke Bindungen an seine Vergangenheit bewahrt hatte und zudem über keinen bedeutenden Hafen verfügte, war das in besonderem Maße der Fall.“[9]    

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Der katholische Theologe und Bibel- wie Religionswissenschaftler Othmar Keel bezieht sich mit seiner Bildsymbolik des Meeres am ehesten auf Psalm 93 und die Querverweise zum Meer im Alten Testament z.B. in der Übersetzung der Lutherbibel Vers 3 und 4: „3 HERR, die Fluten erheben, / die Fluten erheben die Stimme, die Fluten erheben ihr Brausen. 4 Mächtiger als das Tosen großer Wasser, mächtiger als die Wellen des Meeres ist der HERR in der Höhe.“[10] Kombiniert wird das Meer im Titel mit der Anlandung und Rettung der Gesetzestafeln. Mit anderen Worten: Das Malen schafft bei August Jankowski andere Bilder als die Bildsymbolik, die Keel in Anschlag bringt. Kursieren bereits zu Psalm 93 unterschiedliche Übersetzungen, die um „die Wellen des Meeres“ kreisen, indem sie einen Gegensatz von Meer als Chaos und Gesetz des monotheistischen Gottes als Weltordnung formulieren, so wird die Anlandung auf dem Meer bei Jankowski zu einer rätselhaften Szene, weil das Meer dominiert. Denn auch die Figur, die das Paket entgegengenommen (?) hat, steht weniger auf einem festen Anleger als auf einem im Meer schwankenden Boot, wenn man die beiden Ruder am unteren Bildrand in Betracht zieht. Das Symbolische wird beim Malen vom Imaginären transformiert.

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Und „PORT BOU“ im Acrylbild mit dem Titel Walter Benjamin, die Eule der Minerva, beginnt erst mit einbrechender Dämmerung ihren Flug? – August Jankowski schreibt in den Titel und malt in das Bild assoziativ viel hinein. Ist der Angelus Novus von Paul Klee, an den Walter Benjamin mit seinem Engel der Geschichte andockt, eine Eule der Minerva? In seiner Vorrede zu Grundlinien der Philosophie des Rechts formuliert Hegel den viel zitierten Satz: „die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug“.[11] Walter Benjamin wird bei ihm zur Eule der Minerva, indem er ihr dessen Gesichtszüge einmalt. Traumwandlerisch oder visionäre wird mit dem Bild, das an Walter Benjamin adressiert wird, eine komplexe Szene gemalt, die sich nicht nur in PORT BOU abspielt. Der Ort Portbou am Meer der Costa Brava unweit der spanisch-französischen Grenze wurde für den Flüchtenden 1940 zum Ort seines Suizids. Jankowski nennt sein Bild selbst ein „Bilderrätsel oder Vexierbild“.[12] Das gilt ganz gewiss für die Praxis seines Malens, für die mir die Formulierung eines literarisch-visionären Surrealismus einfiel. Im Ringen um die Darstellung in der Malerei kommen immer andere Spuren hinein, die das Dargestellte traumartig durchkreuzen.

Torsten Flüh

erstererster
Ausstellungen, Lesungen, Pop-ups
Pappelallee 69
10437 Berlin


[1] Joachimsthaler, Jürgen:  Text-Ränder – Die kulturelle Vielfalt in Mitteleuropa als Darstellungsproblem deutscher Literatur. Heidelberg: Winter, 2012, S.5.

Siehe auch: Torsten Flüh: Europas und der Texte Ränder. Zu Jürgen Joachimsthalers Text-Ränder – Die kulturelle Vielfalt in Mitteleuropa als Darstellungsproblem deutscher Literatur. In: NIGHT OUT @ BERLIN 7. November 2012. (PDF)

[2] Zitiert nach August Jankowski: Mittelmeer 21. März 2017 zuvor in E. Katzmeier: Der Maler August Jankowski stellt aus. In: Weilheimer Monatsblättle 3/85, S. 11.

[3] Zur Humboldtian Science siehe: Torsten Flüh: Wasserzeichen vom Orinoco. Zum 2. Alexander von Humboldt-Symposium „Forschen & Edieren“. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. Mai 2015. (PDF)  
Zur Frage des geologischen Wissens und dessen Implikationen bei Alexander von Humboldt siehe: Torsten Flüh: Leben und Tod in der Platovskischen Steppe. Zu Alexander von Humboldt und Russland in der Botschaft der Russischen Föderation. In: NIGHT OUT @ BERLIN 25. Juni 2015. (PDF)

[4] Zu Herman Melville siehe auch: Torsten Flüh: Maximalistic Queerness Mythology. Zu Taylor Macs & Matt Rays Europapremiere der umwerfenden Show Bark of Millions bei der Performing Arts Season. In: NIGHT OUT @ BERLIN 25. Oktober 2024.

[5] Obwohl es sich hierbei eher um Prosa (Brief oder Tagebuch) als um Lyrik handelt, setzt Jankowski den Text mit Zeilenumbrüchen, wie für ein Gedicht. Zitiert nach August Jankowski: Atlantik 27. April 2017 zuvor wie Anm. 2.

[6] Jacques Derrida: Die Wahrheit in der Malerei. Wien: Passagen, 1992, S. 41.
Zur Wahrheit in der Malerei siehe auch: Torsten Flüh: Praktiken der Moderne beim Malen. Zu Peter Grosz‘ Ausstellung ZitronenBlau in der Galerie des Kunsthauses Artes. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. August 2022.

[7] Zur Funktion des Screens siehe: Torsten Flüh: Modernismus für die Medizinmaschine. Zur Architektur als Bild vom Menschen anhand des Benjamin Franklin Campus‘ der Charité. In: NIGHT OUT @ BERLIN 12. Oktober 2024.

[8] Zitiert nach August Jankowski: Hagana 14. Dezember 2018.

[9] Ausschnitt nach ebenda.

[10] Siehe Lutherbibel 2017: Psalm 93.

[11] Siehe Torsten Flüh: Fragen der Intelligenz. Zu Our Space to Help in der Neuen Nationalgalerie und Putins Intelligenz als Streitfall. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. März 2020.

[12] Siehe August Jankowski: Walter Benjamin Die Eule der Minerva 11. Oktober 2019.

Schloß Berlin Zimmer Nr. 669 und der private Kolonialismus des Kaisers

Kaiser – Kolonialismus – Kotau

Schloß Berlin Zimmer Nr. 669 und der private Kolonialismus des Kaisers

Zum ORTS-Termin Die koloniale Weltsicht Wilhelm II. mit Gästen des Museums Huis Doorn

Das Private und das Politische überschneiden einander in der kolonialen Weltsicht des letzten deutschen Kaisers Wilhelm II. auf unappetitliche Weise mit dem kunsthandwerklich bearbeiteten Elefantenfuß, den er im privaten Sternsaal unter einer Vitrine aufstellen und 1919 ins Exil nach Huis Doorn bringen ließ. Insbesondere an den privaten Besitztümern und deren Aufstellung in den Privaträumen Wilhelm II. im Berliner Schloss, die er mit seiner Familie nur wenige Wochen im Jahr nutzte, springt ein koloniales und rassistisches Gedankenensemble hervor. Die privaten Besitztümer ließ der Kaiser nach seiner Absetzung 1919 vom Hofmarschall und seiner Gattin aus Berlin güterwagonweise in sein Exil Huis Doorn bringen. Erstmals haben die Mitarbeiter*innen des Exil-Kaiser-Museums und der Universität Utrecht systematisch The Kaiser’s Colonial Worldview erforscht.

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In der Reihe ORTS-Termin fand nun ein Gespräch mit den Leiter*innen und Forscher*innen des Huis Doorn und der Universität Utrecht zum Kolonialismus Kaiser Wilhelm II. im Saal 6 des Humboldt Forums statt. Herman Sietsma, der Direktor von Huis Doorn, war mit seinem Team auf Einladung des Humboldt Forums aus den Niederlanden und dem kleinen Ort Doorn bei Utrecht angereist. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das kleine Schloss, wo der letzte deutsche Kaiser am 4. Juni 1941 verstorben war, von den Niederlanden konfisziert und in ein Museum verwandelt. Der Privatbesitz, den Wilhelm II. aus dem Neuen Palais und dem Berliner Schloss nach Doorn hatte bringen lassen, wird seither im Museum geschlossen aufbewahrt und wie zu Lebzeiten ausgestellt. Die Debatte um den Kolonialismus der Niederlande erreicht mit dem Forschungsprojekt Huis Doorn.

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Britta Schilling und Cornelis van der Bas haben mit Student*innen der Universität Utrecht durch ein Praktikum im Huis Doorn die Studie The Kaiser’s Colonial Worldview zusammen gestellt und im März 2024 veröffentlicht. Durch das Praktikum zum Studiengang Geschichte und Geschichte der Kunst wurde die „material culture“ des Kaisers in Haus Doorn stärker in den Fokus gerückt.[1] Die „material culture“ arbeitet mit Dingen und Bedeutungen, die ihnen zugeschrieben werden. Die Dinge in den 64 Wagons, die der Kaiser als persönlichen Besitz ins Exil bringen ließ, stammten aus seinen Privaträumen in Berlin und Potsdam und bildeten dort eine Form der Selbstinszenierung, die ihm so wichtig war, dass er sie im Huis Doorn auf ähnliche Weise arrangierte. Einerseits ging es um monetäre Werte für eine unsichere Zukunft, andererseits werden den Dingen Werte zugeordnet, die im Feld des Privaten und Persönlichen liegen.
„This value was not necessarily monetary; it could well be historical (relating to family or national history), contextual (relating to other objects) or personal and sentimental (relating to the self an personal identity). This collection of material culture gives us a basis from which to assess what was important to the Kaiser.”[2]     

© Huis Doorn

Die materielle Kultur Wilhelm II. wurde von Historikern als Quelle bislang wenig erforscht. Historiker und Biografen stützen sich eher auf Texte und Schriftstücke, um dem letzten deutschen Kaiser und seinen Denkweisen näher zu kommen. Doch Wilhelm II. inszenierte sich mit seinen Nordlandreisen wie mit dem Bau der Matrosenstation Kongnæs im Drachenstil am Jungfernsee oder dem Ankauf von Gemälden Adelsteen Normanns über Dinge, Paradeuniformen wie seiner der Gardes du Corps mit funkelndem Adlerhelm und Bauten, deren persönlicher Wert für ihn unverkennbar war.[3] Er stieß damit Moden an. Das Cover des Forschungsbandes aus Huis Doorn zeigt die aktuelle Ansicht von einer Tafel mit Gläsern, Karaffen und anderem Geschirr für ein festliches Essen. Zentral ist ein Tafelaufsatz aus Silber platziert.[4] Die antike Figur des Atlas, der das Himmelsgewölbe trägt.

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Die Männerfigur des Atlas erlebte um 1900 eine prominente Wiederkehr im öffentlichen Leben.[5] Bei der Eröffnung des Hamburger Hauptbahnhofs am 6. Dezember 1906 zierte eine 2,8 Meter hohe und 270 Kilogramm schwere Atlas-Skulptur sein Dach am Glockengießerwall.[6] Kaiser Wilhelm II. erhielt die Atlas-Figur 1895 als Geschenk von Oscar II., König von Norwegen und Schweden. 1933 fertigte J. Gutschmidt das Foto halbgedeckter Tisch mit dem Tafelaufsatz in Huis Doorn an.[7] Während die Darstellungen des mythologischen Atlas‘ als unter der Last knienden Träger des Himmelsgewölbes sich vor allem am römischen Farnese Atlas aus dem 2. Jahrhundert orientieren, fand der Stockholmer Goldschmied C. G. Hallberg eine neuartige Lösung. Atlas trägt nunmehr aufrecht schreitend eine Silberkugel auf seiner Schulter, in der sich nicht nur die Tafel, vielmehr die Tischgesellschaft spiegelte. Erde und Himmelsgewölbe überschneiden einander in der Silberkugel und bieten der Tischgesellschaft um Kaiser Wilhelm II. ein narzisstisches Spiegelbild. Auf der Kugel wurde eine weitere kleine Figur platziert, die in einer dynamisch laufenden Bewegung in ein langes Horn bläst.

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Die Transformation des unter der Last leidenden Titanen-Sohns Atlas in eine dynamische Figur verwandelt den antiken Mythos am Ende des 19. Jahrhunderts in ein Eroberungsprogramm mit Spiegeleffekt. Die Himmelskugel wird zum Globus mit dem Anspruch diesen aus der Perspektive der Kolonialmächte zu beherrschen. Obwohl Schweden kein Hauptakteur des Kolonialismus war, besaß es mit der Schwedischen Ostindien-Kompanie ab dem 17. Jahrhundert einzelne Kolonien und beteiligte sich am Sklavenhandel. Hallberg hatte bei seiner Transformation des Atlas, insofern einen kolonialpolitischen Hintergrund in Stockholm. Britta Schilling übersieht in ihrer Deutung die Spiegelfunktion der neuartigen Atlas-Figur:
„Though a copy of a globe from 1620, it also embodies a particular worldview of the late nineteenth century, a worldview that the Kaiser himself helped to construct. It was a view in which Germany, long reluctant to support colonial endeavours, was shouldering its colonial ‘burden’ and becoming a strong player on the world stage.”[8]

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Obwohl Wilhelm II. im Volksmund den Namen „Reisekaiser“[9] verliehen bekam, weil er zwischen den Fjorden Norwegens und Jerusalem, Kiel und Korfu, Wiesbaden und Berlin etc. ständig reiste, besuchte er weder die Kolonien in Afrika noch China. Stattdessen sah er sich am 20. Juni 1908 die Menschenschau mit Afrikanern und Menschen aus Siam in Carl Hagenbecks Tierpark in Hamburg Stellingen an.[10] In domestiziert-theatraler Weise als koloniales Unternehmen des Hamburger Tierhändlers und Zoounternehmers Hagenbeck war der koloniale Blick des Kaisers auf die Menschen von anderen Kontinenten abgesichert. Doch China nahm für Wilhelm II. eine fixe Funktion in seiner Weltsicht ein. Angst, Neid und Überheblichkeit generieren seinen Blick auf China, der darin gipfelte, dass Prinz Chun als Abgesandter des Kaisers von China am 4. September 1901 im Grottensaal des Neuen Palais zum Kotau gezwungen wurde.[11] Wilhelm II. ging es mit der Inszenierung der Demütigung in seiner Paradeuniform der Gardes du Corps auf einem Thron sitzend um eine stark persönlich geprägte Revanche. 

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Der Kotau im Grottensaal des Neuen Palais‘ erhält nicht zuletzt dadurch seinen persönlichen, um nicht zu sagen, psychologischen Kontext, weil Wilhelm II. die persönlichen Gastgeschenke des Kaisers Guangxu 光绪帝 von Prinz Chun nicht entgegennahm. Prinz Chun und seine Begleiter wurden nach dem Kotau als Staatsgäste in der Berliner Gesellschaft herumgereicht. Die Nichtannahme der Gastgeschenke wie der halboffizielle Ort des Grottensaals im Neuen Palais geben einen Wink auf die für Wilhelm II. charakteristische Verquickung von privatem Ressentiment und politischem Handeln. Prinz Chun und sein Hofstaat werden nicht anders als die Menschen in den Völkerschauen behandelt und wahrgenommen. Als Vorgeschichte zum Kotau hatte Wilhelm II. 1895 persönlich eine Federzeichnung angefertigt, die vom Historienmaler Hermann Knackfuß umgearbeitet wurde, und am 26. September 1895 seinem Verwandten Zar Nikolaus hatte schicken lassen.[12] Japan hatte China im japanisch-chinesischen Krieg von August 1894 bis April 1895 besiegt.

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Die persönliche Zeichnung Wilhelm II., die sich heute im Huis Doorn befindet, entwirft ein ebenso persönliches wie machtpolitisches Szenario der Angst von der kolonial formulierten und mit der Farbe Gelb rassistisch geprägten „Gelben Gefahr“. Im Hintergrund scheint das christliche Kreuz auf, vor dem sieben weibliche Gestalten mit Speeren und geflügelten Helmen an einer Felskante stehen. Die germanisch ausstaffierten Frauen mit langen Kleidern werden von schwarzen Vogelgestalten umschwirrt, die an Goyas Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer erinnern können.[13] Die Hauptfigur mit Schild, auf dem ein Kreuz prangt, hat ihren linken Arm in Richtung einer Landschaft mit Rauchwolken ausgestreckt. Das Symbol des Christentums wird mit der germanischen-deutschen Mythologie nach Richard Wagners Ring des Nibelungen (1876) und/oder dem mittelalterlichen im 19. Jahrhundert rezipierten Nibelungenlied kombiniert. Es könnte sich um Walküren und die Göttin der Nation, Germania, wie sie zu jener Zeit in vielen deutschen Städten als Göttin aufgestellt wurde, handeln.

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Das vom Hobbyzeichner Wilhelm gezeichnete Germaniabild, ein Bild des deutschen Reiches, das später unter dem Titel „Völker Europas, wahrt eure heiligsten Güter!“ mit propagandistischer Geste bekannt werden sollte, indem Knackfuß nationale Frauenfiguren vor dem Erzengel Michael anordnete und einen Buddha deutlich in den Rauchwolken erscheinen ließ, ist weitaus diffuser. Beide Bildversionen befinden sich heute im Haus Doorn, wohin sie als persönlicher Besitz gelangten. Bei Wilhelm bezieht sich die Angst vor einer Bedrohung aus dem Osten stärker auf ein christliches Deutsches Reich. Bei Knackfuß wird die imaginäre Bedrohung zu einer der Herrschaft Europas über die Welt. Die nahezu surreale Bildfindung mit ihren Unschärfen bei Wilhelm II. erinnert an einen Albtraum mehr denn an ein durchdachtes Propagandabild. Die christliche Symbolik passt 1895 zu des Kaisers Bemühungen, sich als Schutzherr des Protestantismus in der Welt zu inszenieren. 1898 wird er die evangelische Erlöserkirche in Jerusalem für die evangelische Mission unter anderem von arabisch-palästinensischen Waisen einweihen. Seit 1894 wird gegenüber dem Berliner Schloss der neue Dom mit stilistischen Verweisen auf den Petersdom in Rom gebaut.

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Das Angstszenario der Gelben Gefahr, die nach der Zeichnung unmittelbar an den Grenzen der christlich-germanischen Welt, steht, inszeniert sowohl den protestantischen Machtanspruch der preußischen Könige und deutschen Kaiser seit 1824 als die Berliner Mission für Jerusalem gegründet wurde[14], wie eine persönliche Angst vor dem Unbekannten. Die Beherrschungs- und Ausbeutungsphantasien, die nicht nur zum Kotau, vielmehr noch zu einer Sammelleidenschaft der Kunstschätze des von deutschen Soldaten geplünderten Kaiserpalastes, der Verbotenen Stadt, aus Peking führen, nehmen groteske Züge an. Die Serie von kunstvollen Lackbildern historischer Schlachten aus der Qing Dynastie oder der kaiserliche Thron mit Armlehnen und Schubladen ebenfalls aus der Qing Dynastie wandelt Wilhelm II. nicht nur in seinen persönlichen Besitz um und nimmt sie mit ins Exil, vielmehr wird der kaiserliche Thron zum privaten Möbel für (vielleicht) Socken.

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Durch den Kaiser und seine „Hunnenrede“ mit dem Strafbataillon ausgesandten Major Sigismund von Foerster[15] gelangte Thron mit kaiserlichen Drachen in Gold 1901 nach Berlin. Er wurde jenseits des Museums, wo er heute im Ethnologischen Museum steht, von Wilhelm II. genutzt. Annelore de Kruif sieht in dem Ankauf und der Nutzung der Lackarbeiten nicht nur eine Kunst- und paradoxerweise China-Leidenschaft des Kaisers, vielmehr diente ihm chinesische Kunst als Aneignung und Darstellung von persönlicher Macht:
„The lacquerware work certainly have suited Wilhelm II’s tastes. Given the Kaiser’s desire to bring the Chinese to their knees, he may have relished the idea of displaying war booty, a symbol of victory. (…) Or perhaps, in displaying these panels, he was displaying an affinity from one emperor to another, thus confirming his own position as head of state.”[16]

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Abgesehen von den persönlichen Verwicklungen in den Kolonialismus als Weltsicht wird der Kaiser als Staatsoberhaupt zum Adressaten von Verbänden, Schaustellern wie Carl Hagenbeck, seiner Kolonialsoldaten, von Handeltreibenden wie den Kaufleuten und Reedern der Hansestadt Hamburg und Reisenden wie Otto Ehlers. Otto Ehrenfried Ehlers starb bereits am 3. Oktober 1895 in Kaiser-Wilhelm-Land, wie die deutsche Kolonie auf Neuguinea hieß. Vermutlich 1893, als er nach längerer Reise durch Länder Südostasiens nach Deutschland zurückkehrte, traf er Wilhelm II. in Berlin und schenkte ihm einen kunsthandwerklich aufbereiteten Elefantenfuß aus dem Königreich Siam. Der Elefantenfuß wurde im Sternsaal als Vorzimmer und Ausstellungsraum im Berliner Schloss aufgestellt. Im Huis Doorn konnte der Elefantenfuß im Lager mit der Notiz „Vom reisenden Herrn Otto Ehlers erlegt in Siam“ gefunden werden. Erst 1927 wurden Reisebilder aus Siam von Otto Ehlers in Voigtländers Volksbücher veröffentlicht. Den Aufenthalt in Deutschland bzw. Berlin hatte Ehlers offenbar dazu genutzt, seine Bücher An indischen Fürstenhöfen und Im Sattel durch Indo-China, beide 1894, im „Allgemeinen Verein für Deutsche Litteratur“ zu veröffentlichen.

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Das prominente Geschenk Otto Ehlers‘ wird keinesfalls zufällig dem Kaiser überreicht, vielmehr werden Kaiser und Kaiserreich zu Adressaten des Reisenden und seiner deutschen, kolonialen Reiseliteratur. Der in Hamburg 1855 geborene Sohn eines Architekten wird nach seiner Einleitung von An indischen Fürstenhöfen zum Reisenden, weil er von seinem Jugendfreund Gustav Ehlers, dem General-Konsul des Deutschen Reichs in Sansibar, eingeladen wird.[17] Schon auf den ersten Seiten entfaltet sich für Otto Ehlers ein Netzwerk aus Konsuln, „Deutsch-Ostafrikanischer Gesellschaft“ und „Missionsstation“ etc. Geschenke werden sogleich an den Kaiser adressiert. Der Kaiser wird für Ehlers nicht nur Adressat von Geschenken, vielmehr noch der kolonialen Reisen selbst, bei denen „die deutsche Flagge“ an verschiedenen Plätzen gehisst wird.
„Nahezu sieben Monate ich hier (am Kilimanscharo, T.F.) hier in den verschiedenen Dshaggastaaten, deren mächtige Fürsten, Mandara, ich veranlaßte, mir eine Gesandschaft mit Geschenken für Sr. Majestät den deutschen Kaiser anzuvertrauen. Die Leute wurden in Berlin huldvollst empfangen und reich beschenkt in ihre Heimat entlassen, während ich im Auftrage Sr. Majestät einige Wochen später nach Ostafrika zurückkehrte, um Mandara die kaiserlichen Gegengeschenke zu überbringen und an verschiedenen Plätzen, die deutsche Flagge zu hissen.“[18]

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Der Elefantenfuß aus Siam lässt sich nach der Reiseliteratur Otto Ehlers‘ und seinen erholten Treffen mit Kaiser Wilhelm II. in Berlin exakt in den deutschen Kolonialismus in Deutsch-Ostafrika, heute Tansania einordnen. Indem „Geschenke“ und „Gegengeschenke“ ausgetauscht werden, geht es im Reisebericht vor allem darum, mit der deutschen Flagge „Plätze()“ zu kolonisieren. Siam, heute Thailand, war zwar keine deutsche Kolonie und das multiethnische Indien Teil des kolonialen Britischen Weltreiches, aber der Elefantenfuß wird für den Kaiser zu einem bedeutungsvollen, persönlichen Objekt, mit dem mehr koloniales Denken verknüpft ist, als es auf den ersten Blick scheint. Die Bücher, die Ehlers zu seinen Lebzeiten veröffentlichen konnte, wären noch einmal genauer auf ihre kolonialen Narrative hin zu lesen. Der Allgemeine Vereine für Deutsche Litteratur war eine Buchgesellschaft, die zugleich als Verlag operierte und 1873 unmittelbar nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs in der Berliner Kronenstraße u.a. von Prinz Georg von Preußen gegründet worden war. 1894 gehörte die Kronenstraße zum Berliner Zeitungsviertel, in dem auch Zeitungen der deutschen Kolonien und deutschen Niederlassungen in der Welt verlegt wurden.

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Britta Schilling fragt in dem reich illustrierten Forschungsband, wieweit der Kaiser für die extreme Gewalt in Peking und den Genozid Südwest-Afrika verantwortlich war.[19] Wie bereits an dem Reisenden und Schriftsteller Otto Ehlers deutlich wird, geht es um ein mehr oder weniger klandestines, gewiss aber, elitäres Netzwerk von Deutschen im Ausland und Berlin, die sich „Sr. Majestät“ verpflichtet fühlen und durch die Zirkulation von Geschenken ein persönlich verpflichtendes Verhältnis zum Kaiser aufbauen. Die Annahme oder wie bei Prinz Chun Nichtannahme von Geschenken spielt für Wilhelm II. eine bisweilen subtile, aber entscheidende Rolle. Im Kontext der militärischen Aktionen in China – „Kommt ihr vor den Feind, so wird derselbe geschlagen! Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht!“ 27. Juli 1900 – in Südwest-Afrika hat der sich oft in Uniform präsentierende Kaiser die Funktionen des obersten Befehlshabers und der moralischen Legitimation.
„We need to consider the nature of relationships between Wilhelm II as supreme military commander and other state and military functionaries, many of whom had their own agendas within the colonial system. And we need to understand the wider political and cultural context in which all of these agents were working, the elements that made up their colonial worldview.”[20]

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Die Dinge – von der Lackarbeit aus der Qing Dynastie über den Tisch aus dem Zimmer 669 im Berliner Schloss bis zum Elefantenfuß aus dem Sternsaal – wurden mit Etiketten und Listen weitgehend inventarisiert. Heute helfen die Etiketten dabei, die Dinge im Huis Doorn zu kontextualisieren und auf ihre koloniale Aufladung hin zu befragen. Kolonialismus ist dabei nicht nur eine Frage der Ausbeutung, vielmehr lässt sich die Zirkulation von Geschenken als eine wichtige Praxis identifizieren. Wie beispielsweise die Replik der Nofretete im Haus Doorn in den persönlichen Besitz gelangte, entzieht sich bislang der Kenntnis des Berichterstatters. Doch von Wilhelm II. und seinem Umfeld wird sie zusammen mit Familienfotos und Feuerzeugen mit Diamanten aus der einzigen deutschen Diamantenmine etc. als Einblick ins Private arrangiert.

Torsten Flüh

ORTS-Termin
Diskurs im Humboldt Forum   

Britta Schilling, Cornelis van der Bas:
The Kaiser’s Colonial Worldview
Doorn: Aspekt, 2024.
108 Seiten
€ 14,95


[1] Britta Schilling: Ghosts of the Past. In: Britta Schilling, Cornelis van der Bas: The Kaiser’s Colonial Worldview. Doorn: Aspekt, 2024, S. 11.

[2] Ebenda.

[3] Zu Adelsteen Normann und Kongnæs siehe: Torsten Flüh: Verstörend statt bezaubernd. Zur Ausstellung Edvard Munch – Zauber des Nordens in der Berlinischen Galerie. In NIGHT OUT @ BERLIN 18. November 2023.

[4] Siehe: Huis Doorn: Webshop: The Kaiser’s Colonial Worldview.

[5] Siehe auch den Atlas im Bilderatlas Mnemosyne Aby Warburgs: Torsten Flüh: Zur Intelligibilität des Bilderatlas Mnemosyne. Über die Ausstellung und das Buch „Aby Waburg: Bilderatlas Mnemosyne – Das Original“ im Haus der Kulturen der Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. Oktober 2020.

[6] Siehe Deutsche Bahn: Die Rückkehr der Atlas-Skulptur. (Pressemitteilung 2023)

[7] Britta Schilling: Colonies, Empires and the German Colonial Imagination. In: Britta Schilling, Cornelis van der Bas: The … [wie Anm. 1] S. 18.

[8] Ebenda.

[9] Britta Schilling: Ghosts … [wie Anm. 1] S. 8.

[10] Annewil Nieuwenhuizen: Völkerschauen. In: Ebenda S. 24 und 25.

[11] Siehe: Stiftung Preussische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg: Neues Palais / 1901. Kotau vor dem deutschen Kaiser. Der Grottensaal als Ort einer inszenierten Demütigung. In: Schauplätze der Geschichte.

[12] Siehe: Monique Anker: Die Gelbe Gefahr. In: Britta Schilling, Cornelis van der Bas: The … [wie Anm. 1] S. 32-35.

[13] Siehe zu Goya: Torsten Flüh: Schlaf und Verstand als politisches Problem. Zu Hartmut Böhmes Mosse-Lecture zum Semesterthema Sleep Modes – Über Wachen und Schlafen. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. Januar 2024.

[14] Zur Berliner Missionsbewegung siehe: Vor und nach dem Schlaf. Zu den Mosse-Lectures von Samantha Harvey und Michael Hochgeschwender sowie zur Berliner Missionsbewegung als Erweckung. In: NIGHT OUT @ BERLIN 21. Februar 2024.

[15] Siehe Deutsche Digitale Bibliothek: Porträt des Majors Sigismund von Förster.

[16] Annelore de Kruif: From the Chinese emperor tot he German Kaiser: Chinese Lacquer Panels. In: Britta Schilling, Cornelis van der Bas: The … [wie Anm. 1] S. 40.

[17] Otto E. Ehlers: An indischen Fürstenhöfen. Berlin: Allgemeiner Verein für Deutsche Litteratur, 1894, S. 3. (Digitalisat)

[18] Ebenda S. 3-4.

[19] Britta Schilling: Working towards the Kaiser? In: Britta Schilling, Cornelis van der Bas: The … [wie Anm. 1] S. 54.

[20] Ebenda S. 56.

Im Körperkosmos und im Rausch

Theater – Parkinson – Körper

Im Körperkosmos und im Rausch

Zu Kater der Zukunft als Gastspiel von Mass & Fieber Ost im Theater Discounter

Für den Kater wird der Theaterabend ein Fest. Applaus! Wer ist der Kater? Der Kater ist nicht nur eine männliche Katze, vielmehr hat die Theaterfigur der Schauspieler Hans-Jörg Frey mitentwickelt. Es geht auch um einen Kater als körperliches und mentales Unwohlsein nach einem Rausch. Der Kater spielt, tanzt und singt mit seinen Mitspielerinnen Kali (Nica Heru) und Fox (Antonia Labs) in einer Drei-Generationen-Version Good Day Sunshine von den Beatles. Er hat einen Körper, einen Schauspielerkörper mit einem „Untermieter“ alias „Katerson“ alias Parkinson. Parkinson spielt dem Muskel für Muskel trainierten Schauspielerkörper Streiche. Oder Parkinson wird medikamentiert, damit er Ruhe gibt? Die Zeit des Theaterabends im Theater Discounter in der Klosterstraße 44 wird dem Kater, Kali und Fox mit prominenten Freundinnen wie die Schauspielerin Daniela Ziegler im Publikum zum Freudenfest. 

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Theaterspielen mit Parkinson? Parkinson sitzt im Gehirn des Schauspielers Hans-Jörg Frey, wie die Diagnose sagt. Der lebenslange Menschenverkörperer weiß nicht, wann „Katerson“ was macht. Das ist höchst beunruhigend für einen Menschen mit 72, der es gewohnt war, auf den Brettern, die die Welt bedeuten, zu liefern: Text, Gesten, Gefühle, Unterhaltung. Brigitte Helbling (Text) und Niklaus Helbling (Regie) haben mit Hans-Jörg Frey Parkinson mit seiner tickenden „Parkinsonuhr“ auf die Theaterbühne geholt, wo er sonst nicht vorkommt. Er oder es ist zugleich da im Körper, wird Text, Diagnose und ist nicht da, weil medikamentiert oder mit Stabilität weggespielt. Für den Regisseur Niklaus Helbling wurde seit den 90er Jahren der Körper der Schauspieler*innen immer wichtiger. Kater der Zukunft ist nicht zuletzt ein Stück über das Theater, über Körper und Kontrolle, über Dionysos und Choreographie.

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Kater der Zukunft ist die Silber-Jubiläums-Produktion der schweizerisch-hamburgischen Theatergruppe Mass + Fieber Ost um Niklaus und Brigitte Helbling sowie Antonia Labs. Mit Fall Out Girl von Brigitte Helbling gastierte Mass + Fieber im November 2012 im Ballhaus OST, in der Hauptrolle Antonia Labs. Felix Huber, der die „Katermusik“ gemacht hat, arbeitete bereits an der Musik für Fall Out Girl mit. 2020 wurde die Lecture Performance Die Mondmaschine (Brigitte Hebling) im LIVE TALK als Hauptsache Online #2 beim Festival Hauptsache Frei diskutiert.[1] Mehrdeutig, aber lakonisch geht die Theatergruppe mit dem Kater ihrer „Lust an Fiktionen nach und zieht Bilanz aus 25 Jahre Theaterarbeit“, wie es im Programm heißt.[2] Um welche Fiktionen geht es?

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Das Stück ist ein Schauspielerstück, denn Kater, Kali und Fox sind Schauspieler*innen. Sie helfen einander, sprechen miteinander und denken über das Theater seit Dionysos nach. Den Dionysos, wie er von Euripides im Drama Die Bakkchen hineingeschrieben worden ist, um ihn aus der Geschichte des Dramas hinauszuschreiben, gibt es im Kater. Dionysos gehört zum Theater des Unkalkulierbaren. Mit Dionysos tickt da etwas aus im und mit dem Theater. Es kommt der Rausch. Das Theater macht etwas mit einem. Es hat mit Kater viel gemacht.
„Die schwarzen Tage des Dionysos, natürlich! Das fängt ganz harmlos an. „Es war öd, öd, öd, der Tag war blöd, blöd, blöd…“ Und dann steigert sich alles in den Wahnsinn. Am Ende sind die Söhne zerfleischt und die Töchter geschändet und der Goldfisch japst in der Teekanne. – Dingens, wird Zeit für meine Pillen. Die roten. Wo sind die?“[3] 

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Mit Michel Foucault ließe sich fragen, ob das Unkalkulierbare, das Zittern mit Parkinson, der Kontrollverlust im Gehirn nicht immer schon jene Kraft im Theater war, die ausgegrenzt werden musste. Die Bakkchen zerfleischen ihre Söhne. Da muss ein Riegel vorgeschoben werden.[4] Der fundamentale Rechtsbruch des Kannibalismus, des Zerfleischen-Essens, das über die Körper herfallen, musste reguliert werden. Auch das Inzest-Verbot zwischen Müttern und Söhnen wird in den Bakkchen angespielt. Es ist alles da im Text. Wenn man beispielsweise im Deutschen an das Tätigkeitswort verschlingen denkt. Das Verschlingen muss ein Missgeschick gewesen sein. Man denke beispielsweise an Heinrich von Kleists Penthesileas „Küsse, Bisse.“ – „– So war es ein Versehen. Küsse, Bisse,/Das reimt sich, und wer recht von Herzen liebt,/Kann schon das Eine für das Andre greifen.“ – Denn im Theater werden nicht nur die Körper miteinander verschlungen.
„Das war sie irgendwann auch. Anfangs nicht, die Frau war eine Kanone, so high war ich nie wieder. Wir haben uns verschlungen, das Publikum hat uns verschlungen, das Theater hat uns nochmal als Paar besetzt und nochmal und wir waren total elektrisch, bis sie irgendwann in der Psychiatrie landete. Die Psychopharmaka haben’s dann wieder gerichtet.“[5]

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Im Theater geht es mit der Ambiguität ums Verschlingen. Das Publikum will die Menschen auf der Bühne ineinander verschlungen sehen. Im Guten wie im Bösen. Doch zugleich schwingt dabei das Dionysische der Verwechslungen im Verb mit. Plötzlich verschlingt eine/r eine/n Andere/n. Das Theater frisst Körper auf. Ein regelrechter Körperfresser! Und bringt sie hervor. Die Grenze zwischen begeisterndem Theater zum Verschlingen und Psychiatrie ist dünn, sagt Kater. Doch heute lässt sich das Gefährliche der Verschlingungen mit „Psychopharmaka“ wieder einrichten, wie Kater so sagt. Mit großer Leichtigkeit durch Konzentration wird das Schauspielerstück zu einer flotten Tiefenbefragung der Theaterpraktiken. Parkinson agiert wie Dionysos, ließe sich sagen. Auf der Bühne steht ein begeisterndes Trio – Kater, Kali, Fox –, das ändert alles:
„Einander zugewandt müssen die drei schon sein, miteinander zu tun haben wollen, weil sie einander brauchen, weil sie sich mögen. Weil sie zu dritt so viel weiterkommen als allein, im schnellen Wechsel der Konstellationen. Da kommt die Dynamik her, die Beschleunigung, die Euphorie. Die keine Grenzen kennt. Sagt der Regisseur.“[6]

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Es gibt das Theater als Praxis der Schauspieler*innen. Und es gibt Praktiken im Theater, die variieren können, doch in der deutschen Stadttheater-Betriebslandschaft selten variiert werden. Kater kommt aus dem Stadttheater in Deutschland. Stadttheater ist schon anders als Staatstheater oder gar freies Theater wie von Mass + Fieber. Kategorien, Budgets, Mass an Freiheit, Kultur- und Finanzpolitik, gerade in Berlin mit Theater Discounter (TD) und Deutschem Theater (DT). Es geht immer um Trennlinien, um Linien im Theater. Eine Choreographie der Auftritte. Wo verlaufen die Trennlinien? Von der Bühne als gefeierte/r Schauspieler/in in die Psychiatrie? Es gibt sehr berühmte Schauspieler, die früher und heute gar nicht ohne psychiatrische Begleitung spielen können. Was heißt dieser Raumwechsel dann für die gesellschaftlichen Mechanismen nicht zuletzt eines hoch ausdifferenzierten Gesundheitssystems, das allererst von einer Minute auf die andere den Wechsel zwischen Bühne und Psychiatrie, zwischen Gesundheit und Krankheit, zwischen Sinn/Sinnlichkeit und Wahnsinn ermöglicht und strukturiert?

© Kerstin Schomburg

Im Körper auf dem Theater lassen sich die Trennlinien nicht so gut aufrechterhalten. Das 9. Szenenbild des Stückes trägt den Titel „Der Körper auf der Bühne“. Der Körper und das Theater als Bühne werden seit der Antike diskutiert. In seinem Theater der Grausamkeit/Théâtre de la cruauté (1938) rückt Antonin Artaud den Körper in ein neuartiges Verhältnis zur Bühne. Doch der Regisseur Niklaus Helbling knüpft mit seiner Inszenierung nicht nur an die Artaudsche Theatertheorie an, gibt mit Indonesien und dem indonesisch anmutenden, aber älteren Brettspiel Hunde- und Schakalspiel als Requisite nicht nur einen Wink auf Artauds balinesisches Theater, vielmehr noch wurde er durch Beobachtungen von Schauspieler*innen, gar Feldstudien zu einem mikrologischen Leser der Schauspielerkörper wie den „Fesseln“ einer Schauspielerin:
„Ich habe Schauspielerinnen und Schauspieler befragt, wie sie ihren Beruf an ihrem Körper erleben und wie sie das, was sie erleben, beschreiben würden. Da ging es um die Entwicklung über die Berufsjahre hinweg, sicher auch um die gängigen Themen wie: Welche Rolle spielen Hierarchie, Übergriffe, und so weiter, aber doch mehr noch: Wie spielst du, welche Rolle spielt dein Körper bei der Reproduktion eines Stücks über viele Aufführungen hinweg, wie stellst du Intimität her mit Partnerinnen, Partnern, usw. Themen, die jetzt auch im Stück ein bisschen vorkommen, ohne dass sie besonders vordergründig sind. Mir gefällt sehr die Idee, dass es eine Art Körperkosmos im Theater gibt.“[7]

© Kerstin Schomburg

Da das Theater über das Körpertheater, den „Körperkosmos“ nicht „vordergründig“ sein darf, weil es dann als Theatertext mit seinen Hakenschlägen, Wortspielen, Vieldeutigkeiten, mit seinem Rhythmus und dem Suspense nicht funktionieren würde, wird im Trio wie in einem Schneeballspiel jeder Ballsatz blitzschnell formuliert, zielgenau geworfen und erwidert.
„KALI
Und die Typen von der Regie? Was macht ihr, wenn die euch anschauen, als wärt ihr die Kirsche auf dem Sahnetörtchen?
KATER
Mich freuen?
FOX
Mit oder ohne Anfassen? Und wenn mit: Auf der Bühne oder bei der Nachbesprechung? Bei der Premierenfeier? Macht er einen auf Verführer? Schickt er dir nachts SMS? Oder spielt er Therapeut? Nutzt er einen Moment der Schwäche aus und umarmt dich zu lang? Und wie ist es mit den Körpern unter Kollegen? Für mich ist es eines der größten Privilegien im Theater, dass man von Kunst wegen Körperkontakt haben darf. Aber sicher ist nichts.
KATER
Die Bühne ist das Gegenteil von einem Safe Space.“[8]

© Kerstin Schomburg

Die Komplexität des „Körperkosmos“ und der Körperpraktiken auf der Bühne hat sich beispielsweise seit der MeToo-Debatte in den letzten 25 und mehr Jahren entschieden verschoben. Die „Typen von der Regie“ vor und auf der Bühne oder vor der Kamera, was noch einmal anders ist, haben immer auch mit ihrer institutionalisierten Macht über die Schauspieler*innen-Körper bestimmt. Die Choreographin Swanhild Kruckelmann hat im Gespräch mit Niklaus und Brigitte Helbling ausführlich über ihre Tänzerinnenausbildung und professionelle Arbeit als Tänzerin gesprochen. Was im Ballett als Inbegriff von Körperlichkeit, Körperschönheit und Körperbeherrschung auf der Bühne präsentiert wird, war für Swanhild Kruckelmann ein ganz anderes Theater der Grausamkeit, des Rausches und der Verletzungen.
„Einen gesunden Umgang mit dem Körper habe ich da nicht gelernt. Das lag auch an den Lehrerinnen, man musste funktionieren, es war ein reines Funktionieren, obwohl, es waren alles Pina Bausch Tänzerinnen, und die waren alle sehr… – natürlich auch Diven. Nicht unbedingt die besten Pädagoginnen, vor allem nicht für mich, die gerade erst angefangen hatte. Und deswegen bin ich da mit sehr vielen Verletzungen durch, wollte mehrmals auch aufgeben, weil ich merkte, ich kann nicht mehr – aber irgendwie war ich immer auch so getrieben. Dann doch. Das war wie ein Rausch.“[9]

© Kerstin Schomburg

Der Rausch am Theater, der Rausch auf der Bühne ist verführerisch, weil er „sehr viele() Verletzungen“ hervorbringt. Doch der Rausch spielt/e gewiss auch für Kater/Frey eine wichtige Rolle, wenn er seine Schwester vorwurfsvoll sagen lässt: „Es war das verdammte Theater!“ Doch Kater antwortet trotzig: „Ich habe es geliebt! Ich habe es gemacht! Ich habe es gewollt!“ Könnte das Theater am Parkinson Schuld sein? Oder andersherum? Das Theater nimmt Parkinson mit und Kater/Frey vergisst ihn und bekommt viel „Sicherheit“ im Spiel. Die Choreographin wechselt in ihrer Erzählung fast in die Sprache einer Physiotherapeutin, wenn sie von den Proben mit Hans-Jörg Frey berichtet:
„Am Beginn der zweiten Probephase hatte ich das Gefühl, dass er anfangs weniger beweglich war, vielleicht sogar leicht verunsichert im Vergleich zum Abschluss der ersten. Aber dann ist in den zwei Wochen wieder wahnsinnig viel passiert. Da war mehr Stabilität. Die war wieder da. Ich weiß auch in der ersten Probephase, da fand ich es erstaunlich, wie schnell er sehr viel Sicherheit bekommen hat. Viel Spiel in den Bewegungen. Das ist noch nicht ganz, aber schon auch wieder da.“[10]  

© Kerstin Schomburg

Wie viel dionysischer Rausch im Spiel steckt, lässt sich schwer sagen. Doch die Choreographin formuliert eine Wahrnehmung von „Stabilität“ und „Sicherheit“, die durch die ärztliche Diagnose Parkinson in Frage gestellt worden war. In der Vorstellung im Theater Discounter wird die Lust am Spiel des Trios derart präsent, dass die blaue, vierfächerige Tablettenbox für „Morgen Mittag Abend Nacht“ als Requisite für Kater fast ein Fremdkörper wird. Braucht er die Tabletten wirklich? Kater der Zukunft ist ganz großes Schauspielertheater mit Hans-Jörg Frey, Nica Heru und Antonia Labs. Schauspieler*innen, die Schauspieler spielen, die ständig an die Grenzen ihrer Schauspielerexistenz stoßen.
„Der eine Satz vom Kater, nach dem Arztbesuch: „Ich spiel den Katerson, aber ich hab den Katerson auch.“ Als Hans-Jörg ihn gestern sagte, war es für mich das erste Mal so, als würde er ihn für sich denken und für den Kater sagen. Der Satz fand statt in dieser Bühnenzeit, und dadurch wurde diese Bühnenzeit nochmal spezieller.“[11]

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KATER DER ZUKUNFT Spiel: Hans-Jörg Frey, Antonia Labs, Nica Heru / Text: Brigitte Helbling / Regie: Niklaus Helbling / Musik: Felix Huber / Choreographie: Swanhild Kruckelmann / Bühnenbild, Kostüme: Georg & Paul / Technik, Licht: Björn Salzer / Artwork: Thomas Rhyner / Video: Philipp Haupt / Regieassistenz: Till Vonderlage / Produktionsleitung: Manuela Wießner

Die Schauspielerexistenz wird in der Überzahl von Ängsten vor prekären Lebensumständen und dem Traum vom Ruhm möglichst gleich auf der Ebene von Taylor Swift begleitet. Ohnmacht und Macht liegen in der Existenz von Schauspieler*innen oft haarscharf nebeneinander. Auf der Suche nach neuen Engagements kommen Kater, Kali und Fox auf ein Luxuskreuzfahrtschiff, eine Yacht auf dem Weg von Bali (!) nach Auckland. Doch sie kommen nicht weit. Während sie auf der mit abgestelltem Motor dümpelnden Yacht „unter dem Zitronenmond“ die Szene von Silvius (Kater) und Phoebe (Fox) aus Shakespeares As you like it/Wie es euch gefällt spielen, wird das Kreuzfahrtschiff von indonesischen Piraten gekapert und eine Lösegeldforderung von „fünfhundert Millionen Dollar“ gestellt. Bei allem Stabilitätstraining erweist sich der Luxus der Kreuzfahrt als schwankend für die Schauspielerexistenz.

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Worin die Macht des Schauspielers Kater genau besteht, der als Schäfer Silvius in einem Kostüm steckt, das mit Blumen, Weinreben und Trauben an den Rauschgott Dionysos erinnert, lässt sich schwer sagen. Ist es die Macht der „Samen“, die er auf das Deck wirft? Ist es die Macht der Worte, die Kali und Fox erzählerisch die Yacht in Bewegung setzen lassen, bis die Piraten fliehen? Es gibt nichts als die Erzählung vom Schiff im Präsens. Die macht Präsenz. Die Szene heißt Dionysos Calling. Die Symbole des Dionysos wie z.B. der Efeu, Hedera helix, der aus den Fugen kriecht, werden diskret genannt:
„Die Piraten gucken blöd, und dann sehen wir es alle. Die Planken verziehen sich, wölben sich, etwas fängt an aus dem Holz zu brechen, Triebe, Äste, Blätter schlagen aus, Efeu kriecht aus den Fugen, Wurzeln sprengen das Deck, überall breiten sich grüne Pflanzenarme aus. Das Schiff ächzt und regt sich –“

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In Dionysos Calling kommt die „Katermusik“ in ihrer Vielschichtigkeit als Soundtrack mit brechendem Holz etc., Trancemusik und Nietzsche-Zitaten zum Zuge. Vielleicht arbeitet der Soundtrack mit am dionysischen Zauber der Erzählung, die mit mythologischen Winks an der Halluzination arbeitet. „Baum auf Schiff – Soundtrack aus Geräuschen (Samenknistern, berstendes Holz), einem ravigen trancigen Track (für die kreisende Ekstase), Stimmaufnahmen mit Nietzsche-Texten zu Dionysos, am Ende Eskalation mit Orchesterclustern“, notiert Felix Huber zu Dionysos Calling. Die Gegenwart des „Boy-God“ Dionysos, wie Wystan Hugh Auden und Chester Kallman mit Hans Werner Henze als Komponisten, den Naturgott nannten[12], wird audio(visuell) erzeugt, weil wir alle dazu aufgerufen werden, was wir sehen sollen:
„KALI
Siehst du den Jüngling mit dem Weinlaub im Haar – siehst Du ihn? Umlagert von Tigern und Luchsen –

FOX
Ich seh ihn!
Den wehrlosen Knaben, dem nicht Fehde behagt,
das Haar mit Myrrhen gesalbt und weibisch bekränzt,“

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Hans-Jörg Frey, Nica Heru und Antonia Labs haben mit Brigitte Helbling und Niklaus Helbling sowie Swanhild Kruckelmann, aber auch mit Felix Huber und George & Paul (Bühne + Kostüme) einen fulminanten Theaterabend erarbeitet. Und was ist mit der Kunst des Betrugs? Das rote Buch des Katers, das von Niklaus Helbling angelegt wurde, spielt auch eine Rolle. Und dann wäre da noch die Frage der Selbstfiktion für die Schauspieler-Existenz. Schwester, Arzt sowie Schäfer Silvius und Schäferin Phoebe mögen Rollen sein. Bei Kater, Kali und Fox wird das schon schwieriger die Rolle des Schauspielers vom Schauspieler abzustreifen. Den Inhalt macht der Prozess mit seinen witzigen Winks.

Torsten Flüh

Mass & Fieber Ost
Kater der Zukunft
Theater, Parkinson und Die Kunst des Betrugs
(Weitere Vorstellungen sind für 2025 geplant.)


[1] Siehe: Torsten Flüh: Dizzy, dizzy, dizzy. Huuuuu! Oder: Das Erbe der Menschheit. Antonia Labs und Johannes Geißer in Brigitte und Niklaus Helblings FALL OUT GIRL (16. November 2012)
und: Unheimlich unheimlich. Zum „bakterielle(n) Live Talk des Mondmaschine-Teams mit … Claudia Reiche“ via zoom. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. April 2020.

[2] Mass + Fieber/OST: Kater der Zukunft. Theater, Parkinson und Die Kunst des Betrugs. Zürich/Hamburg 2014, S.4. (Programmblatt)

[3] Brigitte Helbling: Kater der Zukunft. Theater, Parkinson und Die Kunst des Betrugs. Berlin: Rowohlt, 2024, 8. Szene: Love is a fever.

[4] Zum Queering des Dionysos-Mythos‘ siehe auch: Torsten Flüh: Queering the Classics. Zu Wystan Hugh Audens, Chester Kallmans und Hans Werner Henzes moderner Antiken-Oper The Bassarids in der Komischen Oper. In. NIGHT OUT @ BERLIN 16. November 2019.

[5] Brigitte Helbling: Kater … [wie Anm. 3].

[6] Brigitte Helbling: Das Trio und die Utopie. In: Mass + Fieber/Ost: Kater… [wie Anm. 2] S. 15.

[7] Niklaus Helbling in: Ein Gespräch zwischen Regisseur Niklaus Helbling und Choreografin Swanhild Kruckelmann zum Probenprozess. In: Ebenda S. 7.

[8] Brigitte Helbling: Kater … [wie Anm. 3].

[9] Swanhild Kruckelmann: Ein … [wie Anm.7] S. 8.

[10] Ebenda S. 9.

[11] Niklaus Helbling: Ein … Ebenda S. 13.

[1] Siehe: Torsten Flüh: Unheimlich unheimlich. Zum „bakterielle(n) Live Talk des Mondmaschine-Teams mit … Claudia Reiche“ via zoom. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. April 2020.

[2] Mass + Fieber/OST: Kater der Zukunft. Theater, Parkinson und Die Kunst des Betrugs. Zürich/Hamburg 2014, S.4. (Programmblatt)

[3] Brigitte Helbling: Kater der Zukunft. Theater, Parkinson und Die Kunst des Betrugs. Berlin: Rowohlt, 2024, 8. Szene: Love is a fever.

[4] Zum Queering des Dionysos-Mythos‘ siehe auch: Torsten Flüh: Queering the Classics. Zu Wystan Hugh Audens, Chester Kallmans und Hans Werner Henzes moderner Antiken-Oper The Bassarids in der Komischen Oper. In. NIGHT OUT @ BERLIN 16. November 2019.

[5] Brigitte Helbling: Kater … [wie Anm. 3].

[6] Brigitte Helbling: Das Trio und die Utopie. In: Mass + Fieber/Ost: Kater… [wie Anm. 2] S. 15.

[7] Niklaus Helbling in: Ein Gespräch zwischen Regisseur Niklaus Helbling und Choreografin Swanhild Kruckelmann zum Probenprozess. In: Ebenda S. 7.

[8] Brigitte Helbling: Kater … [wie Anm. 3].

[9] Swanhild Kruckelmann: Ein … [wie Anm.7] S. 8.

[10] Ebenda S. 9.

[11] Niklaus Helbling: Ein … Ebenda S. 13.

[12] Felix Huber: Einige Notizen zur Katermusik. In: Ebenda S. 18 Zu Auden, Kallman und Henze siehe: Torsten Flüh: Queering … [wie Anm.4]

Von der Poesie des Circus‘

Circus – Dokumentarfilm – Artisten

Von der Poesie des Circus‘

Zur Aufführung von Anna Peins und Claudia Reiches offenen C.R.I.C.U.S.F.I.L.M. im Hamburger Metropolis

Am Metropolis bin ich zu meinen Hamburger Zeiten bestimmt hunderte Male vorbeigegangen, weil es von der Dammtorstraße neben der imposanten Fassade der Staatsoper nur einen schmalen Eingang zu einem Hinterhof hatte. Unweit des Gänsemarktes, wo Lessing einst seine Hamburgische Dramaturgie schrieb und heute noch das neorokokoartige Denkmal für den Aufklärer-Dichter von Nathan der Weise (1779) steht, lag und liegt das Kommunale Kino der Hansestadt zentral. Das Metropolis als Kinosaal, früher unter dem Namen Filmtheater Dammtor aus den 50er Jahren, ging 1979 aus der Initiative einiger Filmemacher und Filmenthusiasten um Heiner Roß als Kommunales Kino hervor. Der Kinosaal im Untergeschoss wurde von der Initiative detaillegetreu in die 50er Jahre renoviert und neue Filmvorführgeräte wurden angeschafft.

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Martin Aust, Geschäftsführer und Programmverantwortlicher des Metropolis, stellte am 9. November persönlich den C.R.I.C.U.S.F.I.L.M. von Anna Pein und Claudia Reiche als ein einzigartiges und poetisches Filmdokument von 1988 vor. Im Film kommen eine Vielzahl von Fragen zum Medium als Dokument wie z.B. das historische Filmmaterial von VHS-Kameras, Schwarzweiß-Film-Fotografie und Tonspur zusammen. Doch die jungen Hamburger Filmstudentinnen stürzten sich furchtlos in das Abenteuer, den Circus Royal mit seinem Direktor Ewald Sperlich in seinem Winterlager aufzusuchen. Circus im Winterlager war das Gegenteil von Zirkus im Fernsehen mit Prominenten. Fasziniert und mit der Kamera forschend passierte den Filmerinnen eine Verwandlung, fortan wurde „Circus“ für sie zu einer Chiffre, die sie freundschaftlich teilten, aber weder erzählen noch zeigen wollten, wie Claudia Reiche in Erinnerung an Anna Pein zur Einführung mitteilte.

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Circus mit C haben Anna Pein[1] und Claudia Reiche als Schreibweise gewählt, weil das C die Form einer Manege hat, wenn man auf sie von oben blickt. Das C statt Z erinnert an den Blick der Artist*innen in der Zeltkuppel auf die Manege. Auf ihre Weise werden die Filmemacherinnen zu Artist*innen mit dem Medium VHS-Film. Im Unterschied zu Smartphone-Clips möglichst noch im LIVE-Modus auf TicToc oder Instagram etc. waren die Kameras und Videofilmkassetten Ende der 80er Jahre eine praktische Herausforderung. Zirkusfilme, Zirkusfilmserien und Zirkusshows zur Weihnachtszeit gaben die Formate für Erzählungen und Bilder vom Zirkus vor. Prägend war in Deutschland das Versprechen Menschen-Tiere-Sensation, das sich seit dem gleichnamigen Spielfilm von und mit Harry Piel aus dem Jahr 1938 ableitete. Bis 1997 fand in der Berliner Deutschlandhalle alljährlich eine Zirkusshow mit dem gleichen Titel statt. Seit 1999 läuft die „Circusschau“ als „M-T-S“ im Dezember als „Weihnachtscircus“ im Circus Berolina.[2]      

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Im visuell-narrativen Gedächtnis vom Zirkus der Bundesrepublik Deutschland wirkte in den 80er Jahren die Fernsehserie Salto Mortale – Die Geschichte einer Artistenfamilie von 1969 bis 1972 in der ARD nach.[3] Die griffige Titelformel Menschen-Tiere-Sensationen zerschellt am C.I.R.C.U.S.F.I.L.M. der jungen Filmemacherinnen schon deshalb, weil die Sensationen visuell anders vermittelt werden. Die Menschen und Tiere werden ganz abgesehen vom matschigen Zeltplatz anders ins Bild gerückt. Das Netz der Circus-Familie wird nicht als dramatische Geschichte einer durch die Großstädte Europas von Hamburg bis Wien reisenden Artistenfamilie erzählt, vielmehr wird die nomadische Existenz des Circus‘ thematisiert. Der kleine Circus Royal zieht umher, nicht um an einem Ort anzukommen, vielmehr wird das Winterlager nur eine längere Unterbrechung seiner Bewegung im Raum.

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Die Visualisierungen vom Zirkus in seiner Existenz sind obwohl typisierend ambivalent. Die Figur des Clowns als Visualisierung des Zirkus‘ auf Plakaten ist selbst bei Berolinas M-T-S als ein Versprechen auf Spaß unerlässlich. Zugleich beherrscht die Figur des Clowns und des Zirkus‘ aktuell die Karikaturen zur Wiederwahl Donald Trumps als Präsidenten der USA und seines designierten Kabinetts.[4] Als ob es darum ginge, das Bild des Zirkus‘ und des führenden Clowns zu bestätigen, besuchte der gewählte Präsident eine zirkushafte Kampfsportveranstaltung im Madison Square Garden, um danach Fastfood im Privatjet zu verschlingen.[5] Mehr Zirkus-Klischee, als eine Wrestling-Show-Unternehmerin zur Bildungsministerin zu machen, geht eigentlich gar nicht, selbst wenn es Verbrecher als Tarnung benutzen. Das gerade wiederkehrende Bild vom Zirkus in Form der Wrestling-Show in den Mainstream-Medien gibt einen Wink auf die Abgründe des Zirkus-Narrativs bis hin zur Figur des Jokers in den Batman-Comics und -Filmen oder gar in Horrorfilmen wie Es (1990), Clown (2014) oder Terrifier III (2024).

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Die Figur des Artisten in der Circus-Kuppel erhält bei Anna Pein und Claudia Reiche eine überraschende filmische Umsetzung. Der geheimnisvollen Verwandlung der Royal-Familie um Ewald Sperlich und Nicki Heilig von Menschen im Winterlager in Artisten in der Circus-Kuppel ließe sich als das Hauptthema des Films formulieren. Denn sie lässt sich in ihrer Faszination nur mit den visuellen Konventionen von Spiel-, Fernsehfilm oder Fernsehzirkus verraten. Im Film und in der medial-gesellschaftlichen Wahrnehmung wendet Reiche im Schnitt ein geradezu artistisches Verfahren an. Sie nimmt ein Foto vom Artisten in der Circus-Kuppel und dreht das Foto wie einen, sagen wir, Salto mortale. Mit diesem Verfahren wird die vorherrschende Sichtbarkeit in den Medien durchbrochen. Mit Jacques Rancières Aisthesis, in dem es ihm mit „14 Szenen“ oder „Scènes du régime esthétique de l’art“[6] um gesellschaftliche Umbrüche durch ästhetische Inventionen geht, gesagt, wird das artistische Foto zum gesellschaftlichen Augenblick: der Dreh respektiert das Faszinosum gegen dessen visuelle Ausbeutung. – Der Clown ist im C.I.R.C.U.S.F.I.L.M. keine Hauptfigur. Sie erscheint eher an den Rändern.  

© Claudia Reiche

Die ambige Figur des Clowns hat heutzutage die der Artisten oder „Stuntman Clowns“ verdrängt.[7] Die visuelle Verschiebung des Zirkus generiert sich an Rancière andockend aus ästhetischen Praktiken. Ein poetischer Artist, der in der Zirkuskuppel unter Einsatz seines Lebens – Salto mortale – Gesetze der Schwerkraft neu praktiziert, um sie mit Geschick außer Kraft zu setzen, ist Donald Trump nie gewesen. In der Figur des Clowns mit den Täuschungs- und Betrugspraktiken der Wrestling-Show und -Scripts, wohl auch bestimmter Kampfsportveranstaltungen als populäres Narrativ, entscheiden heute Wrestling-Managerinnen, Machtkalkül und Manipulationen statt ein poetischer Aufschwung. In der französischen Netflix-Serie Der Käfig (La Cage) wird derzeit die Karriere des jungen Mixed Martial Arts-Kämpfers Taylor (Melvin Boomer) als Erfolgsgeschichte zum Profisportler erzählt. Er kämpft sich gegen Widerstände z.B. von bösen, clownartigen Figuren durch, während im Madison Square Garden für Trump und Musk das abgekartete Spiel von vornherein entschieden war. Die Figur des Clowns legitimiert Rechtsbrüche, die 1988 noch undenkbar waren.

© Claudia Reiche

Jeder mediale Wechsel beispielsweise zu VHS und deren Handhabung in einem Misslingen generiert eine „ästhetische Revolution“, die eine „gesellschaftliche Revolution“ nach sich zieht. Nach Rancière habe die gesellschaftliche Revolution die ästhetische „nur verleugnen können, indem sie den strategischen Willen, der seine Welt verloren hatte, in eine Polizei der Ausnahme verwandelte“.[8] Die Ästhetik des Tramp im Amerikanischen bzw. Charlot im Französischen ist der des Clowns verwandt und wird durch ihre Handlungen in The Circus (1928) wie an der Maschine in Modern Times (1936) zu einer gesellschaftlichen Revolution. In Charlie Chaplins Figur des „Charlot“, eines komischen Vogels, kommen Maschine und Misserfolg zusammen:
„Die Maschine bewirkt Kunst, sofern ihre Erfolge und die ihrer Benutzer ebenso auch Misserfolge sind und ihre Funktionalität sich ständig gegen sie selbst wendet. Auf den Zeichnungen, die Warwara Stepanowa für die Sonderausgabe der Zeitschrift Kino-fot anfertigt, verwandelt sich ein ungeschickter Charlot, der auf den Rücken fällt, in eine Flugzeugschraube und schließlich in einen Mechaniker. Der Text von Alexander Rodtschenko, dem Ehemann der Zeichnerin, erhebt den Clown mit den Automatengesten in den Rang der Helden der neuen mechanischen Welt, zwischen Lenin und Edison.“[9]

© Claudia Reiche

Die Maschine in Form der VHS-Kamera bewirkt im C.I.R.C.U.S.F.I.L.M. eine poetische Kunst des sichtbar Unsichtbaren zwischen den Bildern. Anna Pein und Claudia Reiche forschten mit den Kameras der Hochschule für Bildende Kunst in Hamburg[10] nach den Rändern dessen, was im Zirkusnarrativ und den visuellen Medien nicht vorkam und -kommt. Sie führten Interviews mit der Royal-Familie, fragten, wie nomadisch lebende Zirkuskinder in die Schule gehen, wenn sie nur für ein oder zwei Wochen an einem Ort bleiben. Sie ließen die Mitglieder der Familie wie Nicki Heilig immer wieder einzeln vor dem Circus-Zelt agieren. Zu sehen sind die Artist*innen, wie sie in ihren Kostümen durch einen Schlitz im Zelt verschwinden. Der Circus in der Manege wird ausgespart, was einerseits mit den Kameras und der sich gegen ihre Funktionalität wendende Bild- und Ton-Qualität zu tun hatte, andererseits soziale Geflecht aus Körperdarstellung, erotischen Versprechen, Kunststücken, Tieren wie dem Elefanten und den Circus-Kindern etc. bedachte. Jenseits der Sensationen ist der nomadische Circus bis heute harte, schlecht bezahlte Arbeit an den Rändern der Gesellschaft.

© Claudia Reiche

Filme entstehen nicht aus der Bewegung der Bilder, vielmehr durch Schnitte. Der Schnitt wird von den meisten Betrachter*innen nicht gesehen. Er entscheidet alles. Claudia Reiche hat wiederholt und lange am Schnitt ihres Films gearbeitet. Wie den Film vom Circus schneiden? Aus dem Bildmaterial mit seinen Mängeln entsteht durch die aufeinanderfolgenden Schnitte eine Syntax. Jeder Schnitt eine Entscheidung, was folgen soll. Heute gibt es digitale Schnittprogramme. 1988 war der Schnitt im VHS-Format auch eine Frage des Verlusts. Jederzeit konnte sich die Funktionalität des Formats gegen den Wunsch nach dem Film wenden. Andererseits erlaubte das Format VHS allererst die kostengünstige Produktion von viel Bildmaterial, um es danach zu schneiden. Das Dilemma von Bildmaterial und Schnitt, auch der Rhythmus der Schnitte war eine Herausforderung die jungen Filmemacherinnen. Die Antwort eines Passanten, dass er Zirkus nur im Fernsehen sehe, wird auf das Winterlager geschnitten.

© Claudia Reiche

Es ließen sich die Schnitte des C.I.R.C.U.S.F.I.L.M. in ihrer visuellen Vielfalt und Schnitt-Rhetorik genauer analysieren. Denn mit ihnen kommen all jene Fragen wie Tiere im Zirkus zum Zuge, die zwischenzeitlich in größeren Debatten verhandelt worden sind. Ist der Zirkus tiergerecht? Wie müssen Tiere im Zirkus gehalten werden? Im Winterlager 1988 sind die Menschen und Tiere keine Sensationen, sondern krank. Nicht zuletzt beschäftigte die Frage der Herkunft der Zirkusmenschen die Filmemacher*innen. Einerseits wurden sie sehr offen als Begleiterinnen aufgenommen, andererseits gehörten sie nicht zur Royal-Familie. Die deutschen Namen Sperlich und Heilig verraten wenig über die Herkunft. Doch der nomadische Circus war immer auch eine Existenzform für Roma in Deutschland. Wie viel sollte im Film von der Herkunft sichtbar werden? In der Diskussion mit dem Publikum nach der Vorführung kam punktgenau die Frage der Herkunft zur Sprache. Die nomadische Circus-Existenz wird selbst im Kommunalen Kino Metropolis 2024 noch in ethnischen Abgrenzungen zu fassen begehrt!  

© (Claudia Reiche)

Auf der Schwelle zur in den 80er Jahren diskutierten Digitalisierung der Bildmedien bot das analoge VHS-Format erste erweiterte Möglichkeiten. Das Video Home System (VHS) war ein analoges Aufzeichnungsverfahren auf Magnetbändern in Kassetten von unterschiedlicher Länge bis zu 10 Stunden. Einerseits waren VHS-Kameras bzw. der Camcorder seit 1976 eine erhebliche Popularisierung des Filmens, weil sie günstiger als Schmalfilmkameras mit kurzen Filmrollen waren und mit dem Namen Video ein neues Sehen für jeden versprach. Mit der Tonspur waren sie eine erhebliche Weiterentwicklung zum Schmalfilm. Andererseits war das Schneiden der Magnetbänder war aufwendig. Das große Versprechen von VHS vom Leben, vom Urlaub, von der Familienfeier, vom Zirkus endlich einen Tonfilm machen zu können, stieß bestimmt hunderte Millionenfach an seine Grenzen. Pein und Reiche machten daraus Poesie.

© Claudia Reiche

Zusätzlich zum VHS-Videomaterial fotografierte Claudia Reiche mit einer Spiegelreflexkamera in analogem Schwarz-Weiß-Film den Circus und die Circusmenschen. Einen New Circus gab es noch nicht einmal in Ansätzen.[11] Im Unterschied zu der filmischen Fotosequenzen mit Nicki Heilig, der nicht nur eine Pistole ausprobiert und schließlich der Elefantenrüssel ins Bild drängt, sind die VHS-Materialien unscharf und stark verblasst über die Jahre. VHS hatte eine mangelhaftes Farbspektrum, das sich durch Streifen und andere Bildstörungen zwischenzeitlich fast aufgelöst hat. Dennoch gibt es den einzigartigen C.I.R.C.U.S.F.I.L.M., der mit seiner Frage der Sichtbarkeit nicht nur den Film vom Zirkus revolutioniert hat, vielmehr eine gesellschaftliche Revolution in der Sichtbarkeit von Circus mit eingeleitet hat.

© Claudia Reiche

Torsten Flüh

C.I.R.C.U.S.F.I.L.M.
D 1988, 42 min
Regie, Kamera, Ton, Schnitt: Anna Pein, Claudia Reiche
mit: Circus Royal (Direktor: Ewald Sperlich), Verwandten, Gästen, Mitreisenden


[1] Zu Anna Pein siehe auch: Torsten Flüh: „Im Moment höre ich Hörfunk…“ Zu Anna Peins Hörspiel Liebesbriefe ans Personal (2013) bei der Hans Flesch Gesellschaft im La bohème. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. Juni 2024.

[2] Menschen-Tiere-Sensation: M-T-S.

[3] Wikipedia: Salto Mortale (Fernsehserie).

[4] Beispielsweise: Süddeutsche Zeitung: „Clown“: Robert De Niro kritisiert erneut Trump. 29. Mai 2024, 10:18 Uhr.
Claudia Reiche hat 2017 für CulturMag als Reaktion auf Trumps 1. Präsidentschaft einen Text zum Clown geschrieben: Claudia Reiche: FUNNYSORRYANGRYANONYMOUS. Clowns Variante eines Manifests. CulturMag 2. April 2017.

[5] Deutschlandfunk: Trump und Musk bei Kampfsport-Spektakel in New York. 18.11.2024.

[6] Jacques Rancière: Aisthesis. 14 Szenen. Wien: Passagen, 2013.

[7] Ebenda S. 113.

[8] Ebenda S. 21.

[9] Ebenda S. 257.

[10] Siehe auch: Torsten Flüh: »ça a été« Zur Tagung Lesen und Schreiben. Figuren des Kleinen zu Ehren von Prof. Dr. Marianne Schuller in der HFBK, Hamburg. In: NIGHT OUT @ BERLIN 12. August 2024.

[11] Zum New Circus vor allem ohne Tiere siehe z.B.: Torsten Flüh: Verliebt ins Display. Zur gefeierten New Circus Show The Mirror im Chamäleon Theater. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. September 2023.

Aufklärung als Wissensprojekt und die Erfindung des Labors

Labor – Aufklärung – Wissenschaft

Aufklärung als Wissenschaftsprojekt und die Erfindung des Labors

Zur allzu didaktischen Ausstellung Was ist Aufklärung? Fragen an das 18. Jahrhundert im Deutschen Historischen Museum

Das nackte Auge aus einem Behältnis mit einem halbkugelförmigen Deckel, das um 1700 in Nürnberg als ebenso kunstvolle Handwerksarbeit wie kenntnisreich medizinischem Wissen über das menschliche Organ hergestellt wurde, ziert das Plakat zur Ausstellung Was ist Aufklärung? Fragen an das 18. Jahrhundert, die bis 6. April 2025 gezeigt wird. Liliane Weissberg hat die Ausstellung kuratiert und die „Grundthese der Ausstellung“ formuliert, dass es keine simple Antwort auf die Frage gebe, „sondern Probleme, die gezeigt werden,“ wichtig seien. Dafür wird die Ausstellung in 9 Abschnitte wie „Suche nach Wissen und der neuen Wissenschaft“, „Ordnung der Welt“, „Staatskunst und politische Freiheit“ und „Die Lehren der Antike“ sequenziert. Ausstellungen leben weniger von Texten als von faszinierenden Objekten.

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Das Auge des Nürnberger Drechslers und Handwerkskünstlers Stephan Zick fasziniert als Ausstellungsobjekt ebenso wie eine Große Scheiben-Elektrisiermaschine aus dem Besitz Goethes. Auf der aufgeschlagenen ersten Seite der Berlinischen Monatsschrift der Dezemberausgabe von 1784 beantwortet Immanuel Kant wortgewandt die vom Verleger gestellte Frage „Was ist Aufklärung?“. Doch statt an Antworten knüpft die Ausstellung stärker an den Modus der Frage an. Sie lässt die Besucher*innen über die vielfältigen und faszinierenden Objekte vom Dornhai-Präparat in Alkohol bis zu Stühlen aus Goethes Haus am Frauenplan als Inszenierung eines Salons stolpern. Die entscheidende Transformation des Labors als Raum zur Wissensgenerierung mit z.B. Elektrisiermaschine oder Messgeräten wird konzeptuell kaum beachtet.

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Im Zuge der Aufklärung und Kants formelhaft-vielversprechender Beantwortung der Frage – „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ – werden eine Vielzahl von Apparaten wie Goethes Elektrisiermaschine, „Weltmaschinen“, wie Goethe sie aus dem Laboratorium des Herzogs Ernst II. von Gotha[1] kannte, oder Luftpumpen[2] entwickelt. Goethe hat mehrere Elektrisiermaschinen angeschafft[3], die ihn faszinierten und zu Experimenten angeregten. Doch die Elektrisiermaschine in der Ausstellung wird bis auf den Hinweis, dass Goethe sie gesammelt und z.B. eine Farbenlehre als wissenschaftliches Projekt betrieben habe, wenig kontextualisiert. Unterschlagen wird geradezu, dass Goethe Wolken interessierten und Meteorologie auf dem Ettersberg mit einer Wetterstation betrieben hat.[4] Im Katalog zur Ausstellung „Was ist Aufklärung?“ Fragen an das 18. Jahrhundert fehlt die Elektrisiermaschine. Während gerade Goethe lange Zeit als sogenanntes „Universalgenie“[5] galt und damit das Projekt Aufklärung für einen germanistischen Horizont verkörperte, bleibt er in der Ausstellung mit der blitzenden und spiegelnden Maschine im Stillstand konturlos.

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Die Besucher*innen der Ausstellung über 2 Etagen im Pei-Bau des DHM können fasziniert und befriedigt an der in den Scheinwerfern blinkenden Elektrisiermaschine vorübergehen. Ah, Goethe! Ah, Wissenschaft! Ja, ja, Aufklärung! Und so setzt sich der Parcours über eine „Robe à la française mit Ballonmotiven, vermutlich Frankreich, ca. 1783“, „Geisblatt mit Granatrother Blume aus der Schildbach’schen Xylothek (Holzbibliothek), Kassel, 1780–1800“ und „Figurengruppe Friedrich II. und Voltaire, Volkstedt, nach 1767“, durchkalkulierten Lagerungsplänen von liegenden Sklaven auf Sklavenhandelsschiffen, „Steinschlossgewehr“, „172 Kaurischnecken“ und „Beineisen von Versklavten“ aus dem Ethnologischen Museum Berlin bis zum großformatigen Ölgemälde Jupiter und Ganymed von Johann Joachim Winckelmanns Malerfreund Anton Raphael Mengs aus Privatbesitzt fort. Aufklärung in ihrer widersprüchlichen Vielfalt.

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Die Ausstellung feiert mit ihrem Titel nicht zuletzt Immanuel Kant als Aufklärer im Kant-Jahr zu seinem 300. Geburtstag. Große Debatten zu Kant sind eher ausgeblieben. Wenig Nachdenkliches hallt nach dem 22. April 2024 durch das Feuilleton. Fast schon selbstverständlich wird im Abschnitt 8 zur „Gleichheit des Menschen“ der blinde Fleck des von Bristol aus blühenden Sklavenhandels im 18. Jahrhundert mit einer widerlichen Fußangel für einen Sklaven auf einem Schiff, soll man sagen, repräsentiert? 2021 war im Vorfeld zum Kant-Jahr des Philosophen Begriff von „Menschenrace“ kontrovers diskutiert worden.[6] Insbesondere im Kontext vom „Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ und europäischem Sklavenhandel wird die große Geste der Befreiung prekär. Die Mündigkeit wurde den Menschen aus Afrika als Ware abgesprochen. Aus Afrika verschleppte Menschen ohne ein Recht auf Mündigkeit waren materielles Eigentum europäischer Herren, Kaufleute.

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Im reich bebilderten Katalog zur Ausstellung wird zwar viel über Kant geschrieben. Doch die Frage zum Begriff der „Menschenrace“ in der Königsberger Schreibstube wird nicht näher erörtert. Gunnar Hindrichs schreibt, dass Kant einen Imperativ formuliert habe. „»Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.« Sapere aude! – »Wag zu wissen!« ist der Imperativ, alle inneren und äußeren Verhältnisse der Entmündigung umzuwälzen.“[7] Doch um welches Wissen geht es hier? Hindrichs nimmt mit dem Imperativ „»Wag zu wissen!«“ eine leichte Verschiebung vor. Denn die geläufige Übersetzung mit „Wage weise zu sein“ für das mehrdeutige Verb sapere gibt einen Wink auf ein länger zusammengetragenes Erfahrungswissen als auf ein eher mathematisch schließendes Verstandeswissen. Das Wissen des sapere für „schmecken“, „riechen“(!), „merken“ und erst metonymisch verstehen bringt stärker das Sinnliche des Verstehens in Spiel, von dem es bei Kant mit akademischer Geste gereinigt wird.[8] Wissen und Wissenschaft oszillieren in den Wissenspraktiken der Aufklärung.

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Obwohl Immanuel Kant 1784 vom rassistisch legitimierten Sklavenhandel in der Hauptstadt des Herzogtums Preußen wie seit 1701 Krönungsort der Preußischen Könige, seit 1544 nach der Philipps-Universität in Marburg 1727 zweiten lutherischen Universitätsstadt im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nationen und seit der Zeit der Hanse herausragenden Handelsstadt Königsberg gehört und gelesen haben dürfte, bleibt die „Menschenrace“ ein blinder Fleck. Freilich wurde Königsberg schon im 18. Jahrhundert als Universitätsstandort und Hauptstadt des Herzogtums Preußens marginalisiert, weil in Berlin und eben nicht in Königsberg bahnbrechende Medien, d.h. Zeitschriften- und Buchverlage entstanden. Der verlegerische „Werbeerfolg“ (Liliane Weissberg)[9] mit der Frage „Was ist Aufklärung?“ war von dem lutherischen Pfarrer an der Hauptkirche St. Nikolai Johann Friedrich Zöllner im Dezember 1783 ins Komische gezogen worden. Die mit verlegerischem Gespür formulierte Frage stieß vor allem in den Debattenräumen von Berlin und dann bei Kant in Königsberg eine rege Schreibtätigkeit an. Königsberg als bürgerliche Universitätsstadt nahm an der Debatte teil, weil, was selbst von den Ausstellungsmacher*innen wenig berücksichtigt wird, es mit seiner Universität und Philosophie-Professor Immanuel Kant zum bürgerlichen Debattenraum gehörte. In Berlin wurde die Universität erst 1809 gegründet. Schon 1787 war Kant in die Berliner Akademie der Wissenschaften aufgenommen worden.

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Immanuel Kant formuliert die Menschenwürde nicht so formelhaft wie es beispielsweise die Bundeszentrale für Politische Bildung es gern hätte[10], vielmehr wird der Kategorische Imperativ, kurz KI(!)[11], in den Grundlagen zur Metaphaysik der Sitten (1785) von Kant für die Prinzipien der Freiheit die „Idee der Würde eines vernünftigen Menschen“(!) vor einem mathematisch-kaufmännischen Hintergrund von Äquivalenz formuliert: „Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder einen Wert. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“[12] Würde hat im Unterschied zur Ware keinen Äquivalent. Sie ist unvergleichlich und unveräußerlich. Doch gerade die Begriffsformulierung der „Würde eines vernünftigen Menschen“ im System Kant zeitigt an anderer Stelle Widerspruch. Urvashi Chakravarty geht im Essay Aufklärung und Rassismus stärker auf dessen „spannungsgeladene(s) Verhältnis“ ein:
„Einerseits ist das der Aufklärung nachgesagte Bekenntnis zu Freiheit und Autonomie ein zentraler Bezugspunkt in der Geschichte des Denkens; andererseits ist die Epoche der Aufklärung auch die Zeit, in der die Sklaverei massiv zunimmt, sich rassistische Hierarchien festigen und Racial Capitalism als ein System entsteht, das bis in unsere Gegenwart fortwirkt.“[13]

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Die Emphase über die neuen Funktionen von Vernunft und Verstand für die Freiheit generiert zugleich Schattenseiten. Kants Wortwahl von „Zweck“ und „Preis“ aus dem bürgerlichen Handel, in dem alles seinen „Preis“ hat und ein „Äquivalent“ gefunden werden kann, bekommt mit der „Würde“ eine preislose Ausnahme, wodurch die Menschenwürde den Prinzipien nicht nur des Handels, vielmehr noch des Kapitalismus im System Kant entzogen wird.  Praktisch geschieht allerdings mit dem Racial Capitalism genau das Gegenteil. Aufklärung bei Kant, so ließe sich formulieren, schließt im Namen einer „Metaphysik“ aus, was an anderer Stelle permanent wiederkehrt. Im Eingangsbereich der Ausstellung wird dies mit der Wissenschaftsinszenierung des Bildes Ein Philosoph hält einen Vortrag über das Tellurium aus dem Jahr 1768 von William Pether nach Joseph Wright of Derby erahnbar, wenn dazu seitlich etwa Francisco de Goyas El sueño de la razón produce monstruos (1799; Der Schlaf der Vernunft erzeugt Ungeheuer) oder Johann Heinrich Füssli Der Nachtmahr (1795) projiziert werden.

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Harmut Böhme hatte bereits in seiner Mosse-Lecture auf den Schlaf und Traum als Gegenbewegung zur Vernunft (la razón) hingewiesen.[14] Weit weniger als in einer philosophisch-historischen Begründung von nicht zuletzt kaufmännischem Vernunftwissen lassen sich die Wissensformen der Aufklärung vereinheitlichen, obwohl sich die mathematische Methode durchsetzen sollte. Chrétien Frédéric Guillaume Roths „Wissensbaum“ von 1769 der im Ergänzungsband zu Band 1 der Encyclopédie von Diderot und d’Alembert veröffentlicht wurde, gibt nach Silke Förschler und Nina Hahne „Auskunft über das Methodenwissen der Aufklärung“.[15] Doch dieses wird von Ulrich Johannes Schneider in seinem Katalogaufsatz Wissen fördern, Wissen ordnen nicht berücksichtigt, obwohl Roths „Wissensbaum“ abgedruckt wird.[16] Einerseits sehen dagegen die Autorinnen in der „Anordnung der Wissensgebiete“ eine „natürliche“ Repräsentation, die aber nicht als „statisch“ dargestellt wird. Andererseits stellt „der Wissensbaum als genealogisches Ordnungsmuster … die Hierarchie im Prozess der Vermittlung von Wissensfelder … durch seinen ästhetischen Eigenwert selbst in Frage“.[17]

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Das Methodenwissen geht einher mit einem „Methodenbewusstsein der Aufklärung“, „das die ganze Spannbreite von heteronom angelegten didaktischen Konzepten der Wissensvermittlung und autonomeren ästhetischen Verfahrensweisen der Erkenntnisgenerierung umfasst“.[18] An dieser Stelle kommt J. W. Goethe ins Spiel, wie er in der Ausstellung nicht vorkommt. Denn Goethe formuliert sein Wissen nicht in philosophischen Begriffstexten wie Kant, vielmehr schreibt er es in einer Bandbreite literarischer Formen von der „Nachtszene“ im Urfaust um 1774 „(i)n einem hochgewölbten engen gothischen Zimmer“[19], das man schon Labor nennen könnte, über die 676 Xenien mit Schiller[20] bis zu Maximen und Reflexionen postum 1833, in denen „Sprüche … aus fünf Dezennien“[21] postum kompiliert wurden. Seine Bibliothek umfasst noch heute mit 1.140 Titeln zu den Naturwissenschaften den größten Teilbereich.[22] Obwohl Goethe z.B. mit der Großen Scheiben-Elektrisiermaschine selbst experimentieren wollte und er in zahlreichen literarischen Genres sein Wissen durch Anschauung formulierte, gibt die Bibliothek einen Wink auf seine Wissensakkumulation durch Bücher!

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Um kurz bei Kant und den Büchern zu bleiben: Goethes und Schillers Xenien als Hauptteil des Musenalmanachs von 1797 können als Kritik an kursierenden Texten in Zeitschriften und Büchern von z.B. von Matthias Claudius – „18. Erreurs et verité.“ – über Immanuel Kant – „63. An Kant.“ – und – „385. David Hume“ – wie der ziemlich despektierlichen Wissenschaft – „62. Wissenschaft.“ – in aphoristischer Form gelesen werden.[23] Die Kritik hat aus der knappen zweizeiligen und pointierten Form heraus einen ebenso zeitlich aktuellen wie räumlich bibliothekarischen Modus, wenn Claudius und Kant ebenso wie Hume aufgegriffen werden. Die Kant-Kritik zielt auf den bürgerlich-mathematischen Diskurs, wenn von Goethe und/oder Schiller mit „Rotüre“ der französische Begriff für „Bürgerpack“ gebraucht wird: „Vornehm nennst du den Ton der neuen Propheten? Ganz richtig,/Vornehm philosophiert heißt wie Rotüre gedacht.“ Sie hatten daher Kants Anknüpfung an die Bürger- und Kaufleute durchaus gelesen. Die „Wissenschaft“ wird in der vorausgegangen Xenie als Broterwerb kritisiert: „Einem ist sie die hohe, die himmlische Göttin, dem andern/Eine tüchtige Kuh, die ihn mit Butter versorgt.“ Was sich im Modus der Xenien schreiben lässt, kritisiert die Begriffsarchitektur Kants in mehreren aufeinander folgenden Kritik-Büchern, Kritik der reinen Vernunft (1781), Kritik der praktischen Vernunft (1788) und Kritik der Urteilskraft (1790).

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Die Kritik wird zur Frage einer elastischen Ironie durch die Xenien, indem „An Kant“ die „Rotüre“ adressiert wird. Denn der vornehme Ton des Philosophierens, der dem Adel zugerechnet wurde, wird nun dem „Nichtadel“ bzw. abwertend dem „Bürgerpack“ zugestanden. Damit verändert sich der vornehme Ton des Philosophierens zwar abwertend, aber zugleich in politischer Hinsicht demokratisierend. Die Formulierungen der Xenien bleiben mehrdeutig. Auf diese Weise werden sie zu einem Gegenentwurf zur Begriffsliteratur Kants. Sie bringen die Begriffe und das Wissen als mehrdeutige Formulierung ins Schwanken. So auch mit der „Preisfrage der Academie nützl. Wissenschaften.“, die ironisch in eine orthografische Frage verkehrt wird: „Wie auf dem Ü. fortan der theure Schnörkel zu sparen?/Auf die Antwort sind dreißig Dukaten gesetzt.“ Goethe und Schiller geraten in eine bissige Formulierungskunst, wenn die Lateingelehrten mit der „Rechtsfrage.“ eine ironische Kritik an Kants »Sapere aude!« über das „Riechen“ schreiben: „Jahre lang schon bedien ich mich meiner Nase zum Riechen,/Hab ich denn wirklich an sie auch ein erweisliches Recht?“ Denn schon in der vorausgegangenen Xenie zu David Hume wird vor Kant gewarnt: „Rede nicht mit dem Volk, der Kant hat sie alle verwirret“.  

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Während Kant in den Xenien 1797 zu einem wichtigen Adressaten wird, formuliert Goethe spätestens seit 1809 mit „Aus Ottiliens Tagebuch“ in den „Wahlverwandtschaften“ wie „längere Prosatexte oder Briefe“ Passagen, die als Sprüche gesammelt, zunächst 1823 als Älteres, beinahe veraltetes und schließlich in Maximen und Reflexionen[24] als Wissens- wie Wissenschaftsprobleme veröffentlicht werden. In Älteres, beinahe veraltetes wie auch in Maximen und Reflexionen macht Goethe „das Problematische“ zum Leitfaden seiner Wissenschaft. Denn es gehe darum „alles zu beachten, was irgend auf eine Art zur Sprache kommt, am meisten dasjenige was uns widerstrebt: denn dadurch wird man am ersten das Problematische gewahr, welches zwar in den Gegenständen selbst, mehr aber noch in den Menschen liegt“.[25] Was „zur Sprache kommt“ und gebracht worden ist, lässt sich im Laboratorium der Sprache für den Büchersammler, Leser und so gebildeten Dichter mit anderen Formen formulieren. Dennoch geht es ihm durch Anschauung darum, dass „das Problematische gewahr“ wird. Wie sieht Goethes Labor nun aus? Wie richtete er es sich ein?

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1790 erscheint in Jena Johann Friedrich August Göttlings Vollständiges Chemisches Probir-Cabinet zum Handbrauche für Scheidekünstler, Aerzte, Mineralogen, Metallurgen, Technologen, Fabrikanten, Oekonomen und Naturliebhaber entworfen, das als Laborbeschreibung in Goethes Bibliothek gelangt.[26] Einerseits gehört die Universität Jena mit dem außerordentlichen Professor für Philosophie und seinem Lehrauftrag für Chemie Göttling zu Goethes Wissenschaftsumfeld, sodass auch denkbar wäre, dass Göttling ihm das Buch überreicht oder zugesandt hatte, andererseits wird das Handbuch an eine breite Leserschaft adressiert, die nicht aus Chemikern besteht, bei denen er aber „etwas Chemie voraussetzen kann“[27]. Das „Probir-Cabinet“ beschreibt ein Labor für „Untersuchungen auf dem nassen Wege“ in einer Phase, in der sich der Begriff Labor im Gebrauch seit 1600 noch nicht durchgesetzt hat. Er kursiert erst seit 1900 in einer hohen Gebrauchsfrequenz. Im Zeitraum von 1790-1799 wird er exakt einmal nachgewiesen.[28] Das richtige Labor nach dem Philosophieprofessor Göttling ist für die „Wiederholung dieser Versuche“ angelegt, die richtige Erscheinungen generieren:
„Es kann sich also jeder durch die Wiederholung dieser Versuche, durch die im Cabinette befindlichen Mittel, sogleich von der Richtigkeit der Erscheinungen überzeugen, den Erfolg davon zugleich auf die Untersuchungen der Körper anwenden, und sie auch bey vorfallenden Untersuchungen gleichsam als Probe gebrauchen.“ (S. V-IV)   

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Das Labor wird mit dieser Beschreibung vor allem auf den Modus der „Wiederholung“ und der Wiederholbarkeit ausgerichtet. Es geht mit dem Laborhandbuch vor allem um die Wiederholung und Überprüfbarkeit durch „Erscheinungen“ als Einübung einer wissenschaftlichen Methode für weitere „Untersuchungen“. Deshalb schreibt Göttling von einem „Probir-Cabinett“, in dem das Probieren Erfahrungswissen generieren soll. Die „Probe“ als Praxis der Wiederholung in einem abgesteckten Rahmen oder Raum wird zwischen 1790 und 1799 dreihundertsechsundneunzigmal so häufig wie Labor gebraucht.[29] Das methodische Erfahrungswissen wird durch wiederholte Anschauung generiert. Anders mit Foucault gesagt: Es wird ein Blick trainiert. Göttling kommt es auf die richtigen „Probirmittel“ an, um Fehlerquellen zu vermeiden. (S.VIII) Das Labor als Raum der Wiederholung wird nicht zuletzt bei Goethe zum Wissensort und in der der Chemie verwandten „Farbenlehre“ als Gegenargumentation zu Isaac Newtons „Brechnungsgesetz“[30] in Stellung gebracht.

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Während Newton ein streng mathematisches „Brechnungsgesetz“ formuliert, setzt Goethe ihm eine „Bilderpolemik“[31] als Anschauung entgegen. Denn die chemischen Aquarellfarben und das Schwarz der Aquatinta[32] als chemisches Ätzverfahren sollen allererst in Tafeln zur Farbenlehre durch Anschauung Newtons Gesetz widerlegen. „Während die bunten Farben des gebrochenen Lichts in Aquarellfarben aufgetragen sind, ist das Schwarz des Schattens in Aquatinta gedruckt und das Weiß des Lichts ist die Farbe des Papiers der Tafel.“[33] Im Unterschied zu Newtons rein geometrischer Illustration seines „Brechungsgesetzes“ als Kupferstich verwendet Goethe mit den Aquarellfarben und der Aquatinta neue chemische Verfahren, um das Gesetz zu widerlegen. Die farbigen Tafeln werden auf diese Weise zum Labor, an dem der Blick des Gesetzes bricht, und Goethe mit seinen Mitteln eine Ganzheit aus Anschauung behaupten kann. Die „Farbenlehre“ kursiert nicht zuletzt in Waldorfschulen weiterhin als Lehrinhalt.[34]

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Die Ausstellung „Was ist Aufklärung?“ mit ihren prominenten Kurator*innen und Kooperationspartner*innen eröffnet vielfältige Fragen an den seit dem 18. Jahrhundert bahnbrechenden Begriff, der weiterhin als diffuses Wissen in der Öffentlichkeit und den Medien kursiert. Für den Artikel 1 des Grundgesetzes zur Unantastbarkeit der Menschenwürde und damit der Grundlage der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland ist die Aufklärung nach Immanuel Kant in ihrer Ambivalenz weiterhin verbindlich, was leider in der Ausstellung nicht erwähnt wird. Das wäre ein starker Einstieg gewesen gerade in Zeiten menschenverachtender Hassreden in digitalen Medien und des neuen, widergängerischen Präsidenten, der Enlightment höchstens mit FOX-News und Scheinwerfern unterkomplex in Verbindung bringen kann. Die weithin verbindlichen Werte der Aufklärung/Enlightment, die nicht zuletzt der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen hervorgebracht haben, werden von Vladimir Putin, Benjamin Netanjahu, Donald Trump und dem Regime in Teheran etc. konkret missachtet, verhöhnt und für Null und Nichtig erklärt. Weil sich die Ausstellung zu sehr in ihren Ausstellungsobjekten verliert und Fragen als Probleme nicht ernst nimmt, sollte man sie sich anschauen, aber keine Genauigkeit erwarten.

Torsten Flüh         

Was ist Aufklärung?
Fragen an das 18. Jahrhundert
bis 6. April 2025
Mo-So 10-18 Uhr
Geschlossen 24.12.2024
Deutsches Historisches Museum
Pei-Bau
Hinter dem Gießhaus 3
101177 Berlin
Barrierefreier Zugang

Was ist Ausstellung?
Fragen an das 18. Jahrhundert

Hg. Raphael Gross, Liliane Weissberg für das Deutsche Historische Museum
Beiträge von H. Böhme, H. Bredekamp, U. Chakravarty, R. Chartier, P. Cheek, R. Darnton, E. Décultot, P. Franks, D. Fulda, V. Gerhardt, P. E. Gordon, P. Guyer, J. Habermas, M. Hagner, G. Hindrichs, J. Israel, M. Jacob, A. Lilti, P. Maciejko, M. Mulsow, A. Norton, K. Ospovat, E. Rothschild, U. J. Schneider, M. Suarez, A. Sutcliffe
336 Seiten, 130 Abbildungen in Farbe
17 x 24 cm, Klappenbroschur
ISBN: 978-3-7774-4413-0
€ 39,90


[1] Otto Krätz: Goethe und die Naturwissenschaften. München: Callwey, 1992, S. 69.

[2] Ebenda z.B. S. 139.

[3] Ebenda S. 17 und S. 115.

[4] Siehe Torsten Flüh: „Atlantik-Bläser“ und „Schneewirbel“. Marianne Schuller und Michael Gamper in der Ringvorlesung Source Code der Technischen Universität Berlin In: NIGHT OUT @ BERLIN 23. Dezember 2012.

[5] So noch Romy König: Getrieben von Neugier und der Lust am Leben. In: Goethe Institut Australien Januar 2021.

[6] Siehe Torsten Flüh: Cancel Kant? – Cancel Culture und Kants Begriff der „Menschenrace“. Zu Kants bevorstehendem 300. Geburtstag und der Reihe „Kant – Ein Rassist?“ im Livestream und in der Mediathek. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. Februar 2021.

[7] Gunnar Hindrichs: Der lange Marsch zur Mündigkeit. In: Raphael Gross, Liliane Weissber (Hg.): „Was ist Aufklärung?“ Fragen an das 18. Jahrhundert. München: Hirmer, 2024, S. 59.

[8] Siehe Wikipedia: Sapere aude!

[9] Liliane Weissberg: Fragen stellen. In: Raphael Gross, Liliane Weissber (Hg.): „Was … [wie Anm. 7] S. 13.

[10] „Jeder Mensch ist deshalb wertvoll, weil er ein Mensch ist. Darum sagt Kant: Alles hat einen Wert, der Mensch aber hat eine Würde.“ Zitiert nach Bundeszentral für Politische Bildung: Die Würde des Menschen ist unantastbar. 03.09.2020.

[11] Stefan Martini: Die Formulierung der Menschenwürde bei Immanuel Kant und die „Objektformel“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. In: Arbeitskreis kritischer Jurist*innen Rechtswissenschaften Humboldt Universität zu Berlin ohne Jahr (nach 2005)

10  Hervorhebung durch Fettdruck im Original. Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Riga, 1785, S. 60

[13] Urvashi Chakravarty: Aufklärung und Rassismus. In: Ebenda S. 241.

[14] Siehe Torsten Flüh: Schlaf und Verstand als politisches Problem. Zu Hartmut Böhmes Mosse-Lecture zum Semesterthema Sleep Modes – Über Wachen und Schlafen. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. Januar 2024.

[15] Silke Förschler, Nina Hahne: Das Methodenwissen der Aufklärung. In: dies. (Hg.): Methoden der Aufklärung. Ordnungen der Wissensvermittlung und der Erkenntnisgenerierung im langen 18. Jahrhundert. München: Wilhelm Fink, 2013. S. 7.

[16] Ulrich Johannes Schneider: Wissen fördern, Wissen ordnen. In: Raphael Gross, Liliane Weissberg (Hg.): „Was … [wie Anm. 7] S. 108.

16 Silke Förschler, Nina Hahne: Das … [wie Anm. 15] S. 10.

[18] Ebenda.

[19] Johann Wolfgang Goethe:  Faust (Urfaust). In: Bibliotheca Augustana der Universität Augsburg.

[20] Friedrich Schiller Archiv: Xenien von Goethe und Schiller – Ursache, Entstehung und Reaktionen auf den Xenienalmanach. Weimar (ohne Jahr).

[21] Jutta Eckle: „Irren heißt, sich in einem Zustande befinden, als wenn das Wahre gar nicht wäre; den Irrthum sich und andern entdecken, heißt rückwärts erfinden“: Zu Goethes anschauendem Erkennen in Reihen in den Maximen und Reflexionen. In: Silke Förschler, Nina Hahne: Das … [wie Anm. 15] S. 11.

[22] Stefan Höppner: Die Welt im Regal: Die materielle Dimension der Naturwissenschaften in Goethes Bibliothek. In: Jutta Eckle, Aeka Ischihara: Anschauen und Benennen. Beiträge zu Goethes Sammlungen und Studien zur Naturwissenschaft. Heidelberg: Winter, 2022, S. 47.

[23] Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller: Xenien. (48 Seiten) Leipzig und Wien: Bibliographisches Institut, 1900. (Projekt Gutenberg)

[24] Jutta Eckle: „Irren …“ [wie Anm. 21] S. 11.

[25] Ebenda S. 23.

[26] Siehe Suchergebnis „Labor“ in Goethe Privatbibliothek Online im Online-Katalog der Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar.

[27] Johann Friedrich August Göttling: Vollständiges Chemisches Probir-Cabinet zum Handbrauche für Scheidekünstler, Aerzte, Mineralogen, Metallurgen, Technologen, Fabrikanten, Oekonomen und Naturliebhaber entworfen. Jena: Mauke, 1790, S. IV.

[28] DWDS: Verlaufskurve Labor.

[29] Ebenda: Verlaufskurve Probe.

[30] Haru Hamanaka: Präsenz der Farbe. Materialität des Bildes in Goethes Farbenlehre und Newtons Opticks. In: Jutta Eckle, Aeka Ischihara: Anschauen … [wie Anm. 15] S. 117.

[31] Ebenda.

[32] Zum Verfahren der Aquatinta siehe: Torsten Flüh: Trauma und Bildfindungen der Teilung. Zur Ausstellung Zweimal Berlin – Blicke auf eine geteilte Stadt in der Salongalerie »Die Möwe«. In: NIGHT OUT @ BERLIN 13. Juni 2013.

[33] Haru Hamanaka: Präsenz … [wie Anm. 30] S. 123.

[34] Siehe: Van James: Der Malunterricht der Unterstufe: Die Entwicklung des Farbsinns. In: Waldorf Resources 29.03.2015.

Architektonische Wissensmaschinen und die Lebenswissenschaften

Wissen – Humanmedizin – Architektur

Architektonische Wissensmaschinen und die Lebenswissenschaften

Zum Brutalismus der ehemaligen Zentralen Tierlaboratorien und des Instituts für Hygiene und Mikrobiologie der Freien Universität Berlin

Im September fand das Festival für urbanes Wohlergehen mit der Webadresse urbanepraxismaeusebunker.berlin rund um die sonst seit Jahren abgesperrte im Berliner Jargon Mäusebunker genannte Ikone des Brutalismus statt. Der Mäusebunker liegt an der Krahmerstraße zwischen Hindenburgdamm und Teltowkanal gegenüber dem ehemaligen Institut für Hygiene und Mikrobiologie in ebenfalls brutalistischer Architektur. Beide Forschungseinrichtungen wurden in den 60er Jahren im Kontext humanmedizinischer Forschung an der Freien Universität als Ergänzungen zum nahen Klinikum Steglitz, dem heutigen Charité Campus Benjamin Franklin[1], geplant und erbaut. Auf welche Weise visualisieren sie das in ihnen generierte Wissen vom Menschen?

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Das programmatisch von Le Corbusier formulierte Haus als Maschine wird für beide Bauwerke auf unterschiedliche Weise mit großen Betonflächen als Fassaden konzipiert. Einerseits knüpft das Architekturbüro Fehling+Gogel 1966 mit abgerundeten Flächen zur Krahmerstraße an eine Ästhetik des Screens von Curtis & Davis für das Klinikum an, anderseits entwerfen Gerd und Magdalena Hänska 1967 eine multifunktionale Maschine, deren Funktionen wie Belüftungsrohre und Techniketagen, Abfallbeseitigungstore und Wissenszellen hinter Tetraeder-Fenstern Architektur werden. Vor allem die heftigen Reaktionen in der Berliner Öffentlichkeit erregenden ehemaligen Zentralen Tierlaboratorien geben einen Wink auf Wissensverschiebungen der letzten 60 Jahre in der Humanmedizinforschung.

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Forschungseinrichtungen wie Laboratorien und Institute, aber auch andere Großbauten sollen Wissen generieren. 2021 feierten die Berliner Festspiele den International Congress Center Berlin (ICC) mit dem David Bowie-Zitat The Sun Machine is Coming Down[2] durch eine künstlerische Intervention. Die Architektin Ursulina Schüler-Witte wurde besonders gewürdigt. Die Planungen reichten ebenfalls bis in die 60er Jahre zurück. Es wurde 1979 eröffnet. Das ICC als Raummaschine generierte mit Kongressen, Messen und Konzerten ebenso wie Shows unterschiedliche Formen von Wissen. Ähnlich wie die humanmedizinischen Bauprojekte war das ICC in politische Debatten um den Status West-Berlins eingebunden. Die Kooperationen von Architektinnen und Architekten in Büros förderten neuartige Arbeitsweisen. Die Berliner Architektenpaare Ursulina Schüler-Witte und Ralf Schüler sowie Gerd und Magdalena Hänska mit weiteren Kooperationspartnern sind erst in jüngerer Zeit ins Interesse gerückt worden. Das Modell der Maschine wurde in den 60er Jahre auf unterschiedliche Bereiche der Wissensgenerierung von der Forschung bis zur Unterhaltung architektonisch angewendet.

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Das ehemalige Institut für Hygiene und Mikrobiologie wurde im Januar 2021 unter Denkmalschutz gestellt. Der Berliner Landeskonservator Christoph Rauhut begründete den Denkmalschutz: „Dieses Institut ist ein Gesamtkunstwerk, ein Bau von internationalem Rang und ein bedeutender Beitrag zur ‚organischen‘ und ‚brutalistischen‘ Architektur der Nachkriegsmoderne!“[3] Prof. Dr. Axel Radlach Pries, Dekan der Charité, ordnete das Institut in die Berliner Medizingeschichte ein: „Das Berliner Hygiene-Institut, 1885 von Robert Koch gegründet, ist Teil der Berliner Geschichte. Ohne die hier geleistete Forschungsarbeit wäre Berlin nie Millionenstadt geworden.“[4] Dabei sollte allerdings nicht unter den Tisch fallen, dass Robert Koch als Entdecker des Milzbrandbakterium bei Kühen und der Tuberkulose eher der Vater der Mikrobiologie ist, während sein konzeptueller Gegenspieler und Zelltheoretiker Rudolf Virchow stärker in der Hygienepraxis engagiert war. Insofern führte das Nachkriegsgebäude die beiden humanmedizinischen Stränge der bevölkerungspolitischen Hygiene und mikrobiologischen Forschung zu Bakterien und Viren zusammen.

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Das Landesdenkmalamt erklärte das Gebäude der ehemaligen Zentralen Tierlaboratorien der Freien Universität Berlin im Rahmen des Modellverfahrens „Mäusebunker“ 2023 zum Denkmal.[5] Einen wichtigen Anstoß für die neue Wertschätzung des Bauwerks gab die Ausstellung „Suddenly Wonderful Westberliner Großbauten der 1970er Jahre“.[6] Damit wurde nicht zuletzt ein Paradigmenwechsel vollzogen, der das ICC wie den „Mäusebunker“ nicht mehr als Auswüchse des Modernismus in Form des Brutalismus aus dem Stadtbild durch Sprengung tilgen will, sondern urbane Nutzungsformen entwickelt. Die vor allem aus konservativ-reaktionären Kreisen betriebenen Versuche der Tilgung werden schon durch die exorbitant hohen Beseitigungskosten vereitelt. Die Betonmassen des Brutalismus lassen sich nicht einfach wegsprengen. Medizinhistorisch bedacht sind die Zentralen Tierlaboratorien mit der Humanmedizin eng verknüpft, weil Robert Koch am Milzbrand der Kühe mit Hilfe der Fotografie 1876 überhaupt die Mikrobiologie entwickelte. Ohne genaues Wissen des Erregers hatte bereits Ernst L. Wagner 1865 im Handbuch der Pathologie u.a. mit dem Milzbrand die Zoonose als Übertragung von Krankheiten vom Tier auf den Menschen beobachtet und konzipiert.[7]

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Die reinen Betonflächen beider Forschungsstätten bieten Projektionsflächen an der Schnittstelle des Wissens vom Tier und vom Menschen. Sie wirken wie ein Screen zwischen verbergendem Vorhang und Bildschirm.[8] Es wird ein Wunsch nach Wissen geweckt, das gleichsam verbergend ausgestellt wird. Doch der Name wirkt wie ein Screen. Mit dem vereinfachenden Neologismus Mäusebunker als ebenso niedlicher wie massiver Bunker für Versuchsmäuse lässt sich eine Mehrdeutigkeit im Verhältnis des Menschen zum Tier lesen. Der zum Kernnamen gewordene Mäusebunker für das Bauwerk überschreibt die massenhaft tödlichen Tierversuche in den universitären Tierlaboren zum Wohle des Menschen. Zugleich ist ein Bunker landläufig ein massiver Schutzraum für Menschen in Kriegen und Katastrophen. Schützte der Mäusebunker die Mäuse? Bunker erleben gar in den USA einen Hype als Immobilien für Reiche, wie wortreich und bildstark in den Medien berichtet wird. Der massive Mäusebunker kann visuell zugleich an ein interstellares Schlachtschiff zur Verteidigung der Menschheit erinnern.

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Die Zentralen Tierlaboratorien der FU wurden spätestens um die Jahrtausendwende zum Schauplatz für Proteste von Tierschützern. Damit kehrte sich zumindest die Wahrnehmung des Tieres im Verhältnis zum Menschen in der breiten Öffentlichkeit tendenziell um. „Früher protestierten die Tierschützer noch leibhaftig am Steglitzer „Mäusebunker“ der Freien Universität, in dem bis 2020 Versuchstiere gehalten wurden“, erinnerte Helmut Höge in der Taz 2023.[9] Der Mäusebunker bot einen „zentralen“ Ort für Tierschutzproteste. Doch Tierversuche in den Diensten der Humanmedizin sind nicht aus Berlin verschwunden, vielmehr wurden sie durch Dezentralisierung normalisiert. Für Versuchstiere „gibt es mehrere neue „Mäusebunker“ in Berlin-Buch. Dort werden allein im Max-Delbrück-Centrum durchschnittlich 105.403 Tiere pro Jahr „vernutzt“. Daneben gibt es auch noch den Charité-Campus Buch, wo man die Wirt-Virus-Beziehung bei Vampirfledermäusen erforscht, die mit einem neuartigen Morbillivirus infiziert wurden.“[10]

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Hinter dem geschwungenen Betonschirm zur Krahmerstraße des ehemaligen Instituts für Hygiene und Mikrobiologie verbargen sich ebenso Labore mit Sicherheitsschleusen wie Büros, Unterrichtsräume und ein Auditorium zur Wissensvermittlung. „Der zentrale, verhältnismäßig linear ausgebildete Bauteil beherbergt Büros und Labore. Die Labore sind als Sicherheitsbereich ausgeführt, da hier unter anderem unerforschte Krankheitserreger untersucht wurden.“[11] Das Gebäude und die in ihm ausgeführten Funktionen für die Humanmedizin wurden von Fehling+Gogel in differenzierender und variierender Formensprache durch den Sichtbeton ausgestaltet. Das Auditorium als Ort der Wissensvermittlung hinter dem geschwungenen Betonschirm wurde gar mit einer futuristischen Spitze ausgeführt. Zwischenzeitlich wird das Gebäude als Paul-Ehrlich-Haus für Allergieforschung genutzt, was nicht zuletzt einen Wink gibt auf die hohe Dynamik der humanmedizinischen Diskurse gibt.

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Während sich die Architektur des Klinikums Steglitz, Charité Campus Benjamin Franklin, mit seinen Funktionen als hoch anpassungsfähig erwiesen hat, lässt sich vor allem das Gebäude für die Zentralen Tierlaboratorien als ein Paradox vom brutalistischen Großbau mit seinen prognostizierten Funktionen und den Dynamiken in der Humanmedizin bedenken. Dieses Paradox des zu Architektur gewordenen Funktionswissens als Architekturwissen führt aktuell zu den Debatten der urbanen Praxis für eine Umnutzung. In den 60er bis 80er Jahren funktionierte ein gigantisches Schlachtschiff für Tierversuche noch als Verteidigungsversprechen der menschlichen Gesundheit, seither wurden die Theoreme ins Wissen vom Winzigen in Nanobereiche verschoben, wie bereits Marianne Schuller und Gunnar Schmidt in Mikrologien 2003 mit der Formulierung, dass das „Kleine in technischer Form … kein schöner Schmetterling“ sei, es sei vielmehr „eine verstreute Großtechnologie“, zu bedenken gegeben haben.[12] Andererseits wird das Wissen vom Kleinen und Kleinsten beispielsweise bei hoch ausdifferenzierten Lymphomen in der Praxis der Onkologie erfolgreich angewandt.

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Die Größe und die Funktionen des Mäusebunkers orientierten sich an dem Wissen nicht zuletzt der Zoonose und der Bevölkerungsgesundheit nach den Katastrophen des I. und II. Weltkriegs. Es war nicht zuletzt die Entwicklung eines Impfstoffs gegen die epidemische Kinderlähmung in den 1950er Jahren, die neue massenhafte Tierversuche anregte, worauf Hubert Steinke 2022 aufmerksam gemacht hat. Bereits Paul Ehrlich(!) stützte seine Behandlung der Syphilis in den 1900er Jahren auf „Versuche mit Tausenden Tieren (vor allem Mäuse). In noch weit grösserem Masse wurden Tiere (einige Millionen Makaken) in den 1950er-Jahren zur Erforschung, Entwicklung und Produktion des Polio-Impfstoffs verwendet, der zur Ausrottung der Kinderlähmung führte.“[13] Den Höhepunkt der Tierversuche für moderne Pharmakotherapien sieht Steinke nach dem Zweiten Weltkrieg in den 1970er Jahren. Die Kinderlähmung war in West-Berlin in der Planungsphase der Tierlaboratorien präsent.[14] Die sogenannte Schluckimpfung für Kinder auf einem Stück Würfelzucker gegen Polio in den 1960er Jahren bevölkerungsgesundheitliche Praxis. Die Dimension der Zentralen Tierlaboratorien und ihre Ähnlichkeit mit einem Schlachtschiff korrelierte insofern mit dem Wissen und den Versprechen der Humanmedizin.

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Die Funktionalität der Architektur und Fassadengestaltung der Zentralen Tierlaboratorien ist wiederholt herausgestellt worden. Unter den Architekturen der Wissenschaft in Berlin fällt das Bauwerk als ein Extrem aus.[15] Der Zuversicht der medizinischen Forschung spielt die Angst vor einer Biogefährdung bzw. einem Biohazard entgegen, vor dessen Gefahren seit 1966(!) mit einem einheitlichen Symbol gewarnt wird. „Fenster gibt es nur wenige, die Zu- und Abluft wird durch ein komplexes Röhrensystem geleitet. Mit Betonplatten verkleidet und abgeschottet, um Hygiene und Sicherheit zu garantieren, gehen Wand und Dach ineinander über.“[16] Während im oberen Forschungs- und Bürobau Fenster als spitze Tetraeder auf drei Etagen gestaltet wurden, finden sich die Tetraeder im unteren Bauteil in drei Reihen aus Beton wieder. Das hervorstechende Element der Tetraeder aus Glas und Stahl für die Fenster und Beton zur Gestaltung der Fassade verstärkt zusätzlich zu den Belüftungsrohren auf der schrägen Betonfassade das Sicherheitsversprechen und die Angst vor einer unkalkulierbaren Gefahr. Durch die „architektonisch geprägte Prozesshaftigkeit von Wissen koppelte sich die Entwicklung der Architektur von Universitäts- und Wissenschaftsbauten an die der Wissenschaft selbst“, schreiben Arne Schirrmacher und Maren Wienigk.[17]

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Die nachträglich schwierig zu verifizierende Planungsphase des Gebäudes und ein kleiner, zwischenzeitlich abgerissener Versuchsbau an der nahen Bäkestraße geben einen Wink auf Wissensprozesse in der Universität wie in der Architektur. „Der Planungsbeginn der Forschungseinrichtung ist nicht eindeutig belegbar. Angaben in der Literatur nennen als Planungsbeginn 1965, 1966 oder 1967. Ein vollständiger Gebäudeentwurf lag spätestens 1967 vor. Baubeginn war 1971, jedoch wurde der Bauprozess wegen hoher Kostenüberschreitung von 1975 bis 1978 unterbrochen. Fertigstellung war erst 1981.“[18] Da das Bauwerk wiederholt wegen Form und Größe als „Betonpyramide“[19] bezeichnet worden ist, ergeben sich sowohl Assoziationen zur kosmologischen Architektur der Pyramiden wie die auf eine Funktion ausgerichtete Architecture parlante der französischen Revolution.[20] Die Großarchitektur im eher beschaulichen Lichterfelde am Industriewasserweg Teltowkanal, erbaut 1900-1906, sollte nicht nur für den Fortschritt der Wissenschaft in der Humanmedizin sprechen. Sie glitt vielmehr in ein psychotisches Weltbild aus Gefahren, Ängsten und Versprechen, das unvorhergesehen hohe Geldmengen verschlang.

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Die Zentralen Tierlaboratorien als Name der Forschungseinrichtung verfehlt nicht weniger als der des Mäusebunkers die Ausmaße und die weit über Tierversuche hinausweisenden Wissensprozesse und das Begehren, vom Menschen wissen zu wollen. In singulärer Weise wird der Baukörper zu einer Ausformung der Wissenschaften, ihrer Versprechen und ihrer Dynamiken zwischen 1960 und 1980. Wann und wie genau sich die Pyramide in ein Raumschiff als ultimatives Wissensprojekt verwandelte, lässt sich schwer rekonstruieren. Doch die zeitliche Nähe zum Apollo-Raumfahrtprogramm 1961 bis 1972 hinterließ ihre Spuren im Baukörper. Das Labor indessen wurde vom Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger als „Experimentalsystem“ für die moderne Wissenschaft untersucht. Das als Zentrale Tierlaboratorien konzipierte Bauwerk mit seinem massiven Baukörper gibt einen Wink auf das Labor in der Wissenschaft vom Menschen:
„… meine eigene Erfahrung, die ich aus dem Labor mitgenommen habe, als ich mich auf den Weg gemacht habe, Wissenschaftshistoriker zu werden, ist die gewesen, dass die Objekte, die Wissensobjekte, mit denen man dort umgeht, doch sagen wir mal, so viel Widerständigkeit aufweisen, dass man sich an ihnen abarbeiten muss.“[21]

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Tierversuche im Labor hat Hans-Jörg Rheinberger nicht näher untersucht. Doch das „Verhältnis von Labor und Klinik“[22], wie es in Steglitz mit dem Klinikum, dem Institut und den Zentralen Tierlaboratorien zu einem ganzen Ensemble Architektur geworden ist, sieht er als eine Verknotung „von staatlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen vorgegebene(r) Leitvorstellungen über Gesundheit und Krankheit, die Implementierung medizinischer Programme, die Umsetzung von Forschungsstrategien in Diagnoseverfahren, die Wiedereinsetzung diagnostischer oder therapeutischer Routinen in andere Forschungskontexte mit Fragen der institutionellen Allokation, des sozialen Status von Spezialdisziplinen vertretenden Forschungsgruppen bis hin zur räumlichen, architektonischen Gestaltung des Verhältnisses von Grundlagenforschung und medizinische Praxis“.[23] Er macht darauf aufmerksam, dass „das Spannungsfeld von Labor und Klinik ein immenses Reservoir für Fragen nach Status, Bedeutung und Auswirkungen des Experiments“ biete.[24] Anders formuliert: das Lichterfelder Ensemble wurde nicht nur als Schnittstelle der Lebenswissenschaften geplant, vielmehr werden insbesondere am kolossalen Mäusebunker „Experimentalsysteme“ und ihre Neujustierung bedenkenswert.

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Die biologischen und humanmedizinischen Wissenschaften werden von Rheinberger mit der Frage nach dem Labor und seiner Verknotungen mit anderen Wissensbereichen epistemologisch befragt. Welche Rolle Ängste für die Wissenschaften spielen, fragt er nicht. Doch „(f)ührt uns das Experiment nicht gerade in einen Raum, in dem von Wahrheit in einem traditionellen Sinne gar nicht mehr die Rede sein kann? Kommt hier möglicherweise Jacques Lacans eigentümlich anmutende Bemerkung zu ihrem Recht, daß die unglaublichen Hervorbringungen der modernen Wissenschaften gerade in ihrem Charakter begründet liegen, „nicht-wissen-zu-wollen von der Wahrheit als Ursache“?“[25] Rheinbergers Schwenk auf Lacan als Wissenschaftskritik kann zugespitzt werden. Denn es ist Jacques Lacan, der Mitte der 50er Jahre in seinem Seminar zu den Psychosen, darunter der Paranoia das verstandesmäßige Wissen der Wissenschaften befragt. Er tat das in eloquent geführter Rede, die erst nachträglich als gedruckter Text hergestellt wurde.
„Es gibt eine Prüfung, die Sie bei der Lektüre Freuds und fast aller Autoren anstellen können – Sie werden da über die Paranoia Seiten, mitunter ganze Kapitel finden, lösen Sie sie aus ihrem Kontext heraus, lesen Sie sie laut, und Sie werden die großartigsten Abhandlungen über das Verhalten von aller Welt sehen. Es fehlt nicht viel und was ich Ihnen gerade von Kraepelins Definition der Paranoia vorgelesen habe, würde das normale Verhalten definieren. Sie werden dieses Paradox ständig wiederfinden, und noch bei Autoren, die Analytiker sind“.[26]

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Lacan schlägt seinen Hörer*innen eine Praxis des lauten Lesens vor, die mit seinem Sprechen im Seminar korreliert. Das laute Lesen hat den Effekt, dass sich das Verhalten in der Paranoia kaum von einem „normale(n) Verhalten“ unterscheiden lässt: „Sie werden die großartigsten Abhandlungen über das Verhalten von aller Welt sehen“. Das sich vermeintlich neben dem Verstand abspielende Verhalten wird „normal“. Für Lacan wurde die Paranoia epistemologisch für die „“closure“ of science“ wichtig.[27] Die Frage nach der Wissenschaft bleibt nach Walter Seitter eine „optative Dimension“.[28] Das performative Sprechen Lacans in seinen Seminaren ist wiederholt thematisiert worden u. a. in dem Film Lacan parle (1972) von Françoise Wolff.[29] Die Performanz der Sprache und das Erlernen von Fachsprachen gehören nach wie vor nicht zuletzt neben dem Labor zum Körper der Wissenschaften. Die Wissenschaften, insbesondere Lebens- und Humanwissenschaften werden in den Laboratorien en passant von einer Angst des Nicht-Wissens getrieben. In der historischen Konstellation der 60er bis 80er Jahre nehmen die Ängste eine extreme Form an.

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Das Ensemble aus Laboratorien und Klinik, Diagnostik und Maschinen, Hörsälen und Seminarräumen nach dem Modell des Brutalismus in Steglitz kann als eine Art Zeitkapsel der Wissenschaften gesehen werden. Gerade mit den Elementen, die an die Weltraumfahrt erinnern, lässt sich heute bedenken, dass das Wissensprojekt zu einem großangelegten Tourismusgeschäft für sehr reiche Menschen geworden ist. Die Angst, trotz Vermögen, nicht im Weltraum gewesen zu sein, generiert heute mit Elon Musk Milliarden an US-Dollar. Jeff Bezos ist abhängig von Staatsmilliarden, um Raumfahrtprojekte durchzuführen. Big Money hat längst das Interesse an neuem Wissen abgelöst. Was als Vehikel und Symbol der Wissenschaften zur Definition der Nation und ihres systemischen Vorsprungs konzipiert wurde, hat sich verflüchtigt in Finanzströme.

Torsten Flüh


[1] Siehe Torsten Flüh: Modernismus für die Medizinmaschine. Zur Architektur als Bild vom Menschen anhand des Benjamin Franklin Campus‘ der Charité. In: NIGHT OUT @ BERLIN 12. Oktober 2024.

[2] Siehe Torsten Flüh: Die Raummaschine. Über die Erkundung des ICC zur Feier von 70 Jahre Berliner Festspiele mit THE SUN MACHINE IS COMING DOWN. In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. Oktober 2021.

[3] Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt: Institut für Hygiene und Mikrobiologie unter Denkmalschutz. Pressemitteilung 20.01.2021.

[4] Ebenda.

[5] Landesdenkmalamt Berlin: Neu unter Denkmalschutz: „Mäusebunker“ im Rahmen des Modellverfahrens Mäusebunker unter Schutz gestellt. Kurzmeldung 2023.

[6] Berlinische Galerie: Suddenly Wonderful – Westberliner Großbauten der 1970er Jahre. 26.5.23 – 18.9.23.

[7] Zum Konzept der Zoonose siehe: Torsten Flüh: Fledermäuse, Pangoline, Labore und die Gattung Homo sapiens sapiens. Wie Verschwörungstheorien Sinn stiften und Narrative vom Patient Zero bis zur Artengrenze übertragen werden. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. April 2020.

[8] Zum Screen siehe: Torsten Flüh: Modernismus für die Medizinmaschine. Zur Architektur als Bild vom Menschen anhand des Benjamin Franklin Campus‘ der Charité. In: NIGHT OUT @ BERLIN 12. Oktober 2024.

[9] Helmut Höge: Alte und neue Mäusebunker. Onkomäuse, Zebrafische und Meerschweinchen: Kaum jemanden interessiert noch, wie viele Tierversuche es in Berlin gibt, kritisiert unser Kolumnist. In: taz 6.6.2023 9:05 Uhr.

[10] Ebenda.

[11] Zitiert nach: Wikipedia: Institut für Hygiene und Mikrobiologie.

[12] Siehe auch: Torsten Flüh: »ça a été« Zur Tagung Lesen und Schreiben. Figuren des Kleinen zu Ehren von Prof. Dr. Marianne Schuller in der HFBK, Hamburg. In: NIGHT OUT @ BERLIN 12. August 2024.

[13] Hubert Steinke: Die lange Geschichte der Tierversuche. In: uni aktuell – Das Online-Magazin der Universität Bern. 12. Januar 2022.

[14] Zur Kinderlähmung siehe: Torsten Flüh: Von der Fiktionalität der Epidemie. Zu Philip Roths Roman Nemesis über eine fiktionale Polio-Epidemie in Newark 1944. In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. Januar 2021.

[15] Arne Schirrmacher, Maren Wienigk (Hg.): Architekturen der Wissenschaft. Die Entwicklung der Berliner Universitäten im städtischen Raum. Berlin: jovis, 2019.

[16] Maren Wienigk: Campus Benjamin Franklin, Lichterfelde. Ebenda S. 241.

[17] Ebenda S. 13.

[18] archINFORM: Zentrale Tierlaboratorien der Freien Universität Berlin. (Link)

[19] Ebenda.

[20] Staatliche Kunsthalle Karlsruhe: Architecture parlante.

[21] Eva Feyerabend: Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas. In: Deutschlandfunk 10.09.2001.

[22] Hans-Jörg Rheinberger und Michael Hagner: Die Experimentalisierung des Lebens. Experimentalsysteme in den biologischen Wissenschaften 1850/1950. Berlin: Akademie Verlag, 1993, S. 12.
Zu Hans-Jörg Rheinberger siehe auch: Torsten Flüh: Vom Wissen und der aufgeschobenen Übersetzung.
Marcel Beyer kuratiert Sprache und Wissen im Haus der Kulturen der Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. April 2016.

[23] Ebenda

[24] Ebenda.

[25] Ebenda S. 8.

[26] Jacques Lacan: Das Seminar von Jacques Lacan, Buch III (1955-1956) DIE PSYCHOSEN. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, übers. Michael Turnheim. Weinheim/Berlin: Quadriga, 1997, S. 28.

[27] Thomas Lepoutre, Manoel L. Madeira, Thomas Lepoutre, Manoel L. Madeira, Nicolas Guerin: The Lacanian Concept of Paranoia: An Historical Perspective. In: Front. Psychol., 15. September 2017.

[28] Walter Seitter: Die Wissenschaft der vier Diskurse. In: Ivo Gurschler, Sándor Ivády, Andrea Wald: Lacan 4 D. Zu den vier Diskursen in Lacans Seminar XVII. Wien/Berlin: Turia, 2013, S. 10.

[29] Françoise Wolff: Lacan parle (intégrale) – Conférence de Louvain 1972. (YouTube)

Maximalistic Queerness Mythology

Mythos – Queerness – Show

Maximalistic Queerness Mythology

Zu Taylor Macs & Matt Rays Europapremiere der umwerfenden Show Bark of Millions bei der Performing Arts Season

Die Europapremiere von Bark of Millions am 9. Oktober im Haus der Berliner Festspiele wurde frenetisch gefeiert. Taylor Mac und Matt Ray zauberten eine vierstündige, vielschichtige und funkelnde Show mit 54 Songs ohne Pause auf die Große Bühne des Hauses. Als begnadeter Entertainer moderierte Taylor Mac die Show zum Piano von Matt Ray als eine Show von queer lovers an. Das Publikum dürfe sich frei fühlen, während der Show den Zuschauerraum für einen Drink oder eine Zigarette verlassen oder zum Pinkeln gehen. Die Show sollte gleichsam eine Übung der Befreiung von einengenden Regeln sein. Queerness als Freiheitsversprechen. Bark of Millions wurde vom Sydney Opera House und von den Berliner Festspielen in Auftrag gegeben und von weiteren Stiftungen und Institutionen unterstützt. Im Oktober 2023 fand die Weltpremiere im ikonischen Sydney Opera House statt.

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Taylor Mac mit dem Pronomen Judy und die anderen Drag Queens der Show, Chris Giarmo, Dana Lyn, El Beh, Gary Wang, Greg Glassman, Jack Fuller, Joel E. Mateo, Machine Dazzle, Mama Alto, Matt Ray, Mel Hsu, Sean Donovan, Shirazette Tinnin, Steffanie Christi’an, Stephen Quinn, Taylor Mac, Viva DeConcini, Wes Olivier, machen dem Pronomen drag der Queens alle Ehre. Denn das mehrdeutige to drag heißt auch mitreißen. Sie reißen in ihren Roben von Machine Dazzle, was sich mit Glitzermaschine übersetzen ließe, und den Songs von Matt Ray das Publikum mit. Sie springen ins Publikum und verteilen Songtexte wie Bark of Millions: „The Bark of Millions/Brings the sun/Victorious Again.“ Das heißt zugleich, dass es nicht um das Bellen (bark) von Millionen, sondern um eine Barke für Millionen aus der ägyptischen Mythologie geht. Queerness als Mythologie für Millionen nach dem Gott Atum.

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Das Glitzern und die Sonne gehören in der revueartigen Show Bark of Millions zusammen. Damit die Kostüme, die Schminke und Strasssteine glitzern können, braucht es die Sonne oder wenigstens die künstlichen Sonnen der Scheinwerfer. Der zweite, titelgebende Song nach dem eröffnenden Atum – „I make myself … Crossing heaven on a vessel/Called the Bark of Millions” – rückt die Sonne ebenso wie die Selbstkreation programmatisch ins Interesse. Taylor Mac und Matt Ray verwerfen zwar den Anspruch Historiker, Lehrer oder Wissenschaftler sein zu wollen, aber sie schreiben, singen und performanen nicht weniger als eine unterhaltsame Mythologie der Queerness. Aus was schafft sich Atum, der später Re heißen und als Auge durch die Hieroglyphenschrift wandern wird?

© Fabian Schellhorn

Die Skizze im Fan Deck[1] mit allen Songs zeigt eine ägyptisch gewandete Person, Atum, mit einer Schlange auf sein Smartphone blickend. Obwohl sich Atum wohl eher aus Nichts als „genderneutrale Gottheit“ erschuf, sitzt er für Taylor Mac am Smartphone und scrollt sich durch Instagram, TicToc etc. Geschlechter und Vorbilder werden für die jungen Generationen über Social Media generiert. Geschlechterwechsel, Pronomen, Transformationen und Namensänderungen werden z. B. auf Facebook publiziert, debattiert und mit Likes versehen. Je nach Community und Grad der Öffentlichkeit kann es auch zu Hassattacken kommen. Atum am Smartphone gibt einen Wink auf Praktiken der Queerness und Feindseligkeiten gegen sie.

© Fabian Schellhorn

Die Übersetzungen der Hieroglyphe für Atum aus dem Alten Reich 2.700 bis 2.200 vor Christus variieren von Sprache zu Sprache. Im Deutschen wird ihm der Beiname „der sich selbst erschaffen hat“[2] gegeben, wobei bereits eine männliche Geschlechtung vorausgesetzt wird. Im Englischen wird die Hieroglyphe mit „to complete or to finish“[3] übersetzt und im Französischen wird die Genese ex nihilo verworfen und Atum als Masturbierer[4] beschrieben, ohne auf das Problem der Hieroglyphen einzugehen.  Die Darstellungen oder Verkörperungen des Atum reichen vom pharaonischen Gott über Schlange, Ichneumon, Widder, Löwe und Affe bis zum Skarabäus, Auge und Vogel. Erst durch seine Teilung entstehen die Geschlechter. Insofern wäre seine Genderneutralität eine Vorgeschlechtlichkeit. Die Vielgestaltigkeit gibt einen Wink auf das Problem der Geschlechtung, die mit Judys (Taylor Mac) queerer Geschlechtung durch Glatze und Glitter korrespondiert. Atums Herkunft aus nichts als aus sich selbst lässt sich ebenso mit der Ausdifferenzierung der Hieroglyphen über die Jahrtausende bedenken. Je weiter sich die Hieroglyphenschrift des Alten Reiches mit der 3. bis 6. Dynastie im Neuen Reich und bis zur 26. Dynastie ausdifferenziert, desto mehr Verkörperungen entstehen.[5]   

© Fabian Schellhorn

Atum ist durch unzählige Pharaonenfilme seit Beginn der Filmindustrie längst zu einem Popstar geworden. Taylor Mac knüpft insofern an einen Ägyptenmythos der Moderne an, mit dem seit Napoleons Ägyptenfeldzug von 1798 als Gegennarrativ zum monotheistischen Schöpfergott eine Schöpfung aus sich selbst ermöglicht wird.[6] Die Kostüme von Machine Dazzle machen aus den Drag Queens nicht einfach weibliche Göttinnen oder Hyperwomen, vielmehr werden die weiblichen Attribute der toupierten Frisuren, der aufgeklebten Wimpern, der ultraroten Lippen, der Mieder und Rüschen bis ins Groteske verstärkt und mit Schnurrbärten konterkariert. Die mythologische Barke, mit der seit Stonewall 1969 durch 54 Jahre queere Songs gesegelt und gesungen wird, erinnert nicht zuletzt an ein Narrenschiff der abweichenden Sexualitäten. Das Narrenschiff und die Parade als queere Aktionen ziehen sich durch die Show. Das lässt sich durchaus mit dem Untertitel der Show lesen:
„A Parade Trance Extravaganza for the Living Library of the Deviant Theme”

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Von Atum bis Oscar Wilde und You & Me werden „queere Personen“ oder einfach Queers aufgerufen und in Songtexten verarbeitet, die eine große Bandbreite von Queerness vorschlagen. Mit Taylor Mac: „Something you heard/will hear in the show (but in case you miss it) is that each song in the piece was inspired by a different queer person from world history. Some you’ll know. Some you won’t. Sometimes we tell you the names. Sometimes we don’t. The intention is not to teach you about them, represent them, honour them (some are real assholes), or even acknowledge their existence. The intention is to ground our considerations (and songwriting) in queerness.”[7] Queerness wird auf diese Weise zu einer Praxis, Überzeugungen und Liedtexte zu generieren. Queerness muss nicht verstanden werden. Es kann sogar sein, dass sie Wissensformationen unterläuft. Die Namen der Queers aus der Weltgeschichte wie James Baldwin, Giovanni di Giovanni, Mary Shelley, Audre Lorde, Yukio Mishima oder Leonardo DaVinci werden in verschiedenen Liedgenres von Pop über Country und Arie etc. besungen.

© Fabian Schellhorn

Selbst mit 54 Songs in 4 Stunden non stopp bleibt die Weltgeschichte (world history) zwischen USA (Herman Melville & Nathaniel Hawthorne), Italien (Leonardo DaVinci), Burma (Shwe Shwe), Griechenland (Sappho & the Amazonians) etc. fragmentarisch und ausbaufähig. Da in der Show die Namen, sofern sie nicht im Liedtext vorkommen, nicht genannt werden, entweder das Wissen einer Weltgeschichte der Queers vorausgesetzt oder ein solches Wissen zumindest mit den Liedtexten generiert wird, bleibt das Wissen im Vagen. Taylor Mac sieht das Wissen nicht als Voraussetzung für den Unterhaltungsgenuss der Show und der Liedtexte. Doch im Vorbeiziehen der Songs könnte der eine oder andere explizite Hinweis helfen. Dass der Roman Moby Dick etwas mit dem Dick (Penis) von Nathaniel Hawthorne zu tun haben könnte, war mir zuvor nicht bekannt.
„Is there a reason Moby Dick’s so long and the middle,
with such excessive fishing like a man who’s lost at
sea when the days are all a’blending
Is there a reason
Oh
There’s a reason
Is there a reason when a love won’t be returned
Though he peppers you with such unspoken longing
Is there a reason
Oh
There’s a reason
Nathaniel
Unrequited
You fucker
Nathaniel
So I’m lost at sea
In the cold
In the cold
Masterpiece.“[8]

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Von Herman Melville sind leidenschaftliche Liebesbriefe an Nathaniel Hawthorne erhalten, die über ein freundschaftliches Verhältnis unter Schriftstellern hinausgehen.[9] Taylor Mac verwandelt die Liebesbriefe in ein queeres Verhältnis von Melville zu Hawthorne, wobei Nathaniel seinem Familiennamen Hathorne das sinnstiftende w hinzufügte. Hawthorn, zu Deutsch Weißdorn, ist mythologisch hoch aufgeladen und wird mit besonderer Stärke assoziiert. Die Queerness des Nathaniel Hawthorne gewidmeten Romans Moby Dick, in dem es bei der Erstpublikation kritisierte homoerotische Sequenz zwischen Ishmael und Queequeg mit der Umschreibung „marriage bed“ gibt, wurde nicht zuletzt von Benjamin Britten in Melvilles Erzählung Billy Budd gelesen, so dass er daraus seine Oper komponierte.[10] Queerness entsteht mit anderen Worten durch eine Überschreitung heteronormativer Narrative und den abweichenden Gebrauch von Worten und Formulierungen.

© Fabian Schellhorn

Bark of Millions lässt ein neues Format der Show entstehen. Die Queerness wird in den Lyrics oder Songtexten auf vielfältige Weise durchgespielt und bleibt doch unbestimmt. Die Show bleibt offen für weitere Songs, die mit jedem neuen Jahr hinzugefügt werden können. Das Kollaborative und die Offenheit werden von Taylor Mac und Matt Ray besonders als Konzept hervorgehoben. Queerness wird zu einem Prozess, der immer wieder neu angestoßen werden kann. Für die Performer*innen sind die vier Stunden Show eine Herausforderung, weil sie eben nicht wie das Publikum kurz einmal die Bühne verlassen können. Nur durch den Applaus nach den Songs unterbrochen reiht sich ein Song an den anderen in ständig wechselnden Liedgenres. Das Timing und die Abfolge der Songs sind perfekt.

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Torsten Flüh

Taylor Mac
Bark of Millions
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[1] Fan Deck: Bark of Millions (Vollansicht)

[2] Wikipedia: Atum.

[3] en.wikipedia: Atum.

[4] fr.wikipedia: Atoum.

[5] Zur Frage der Hieroglyphen und Schriften im alten Ägypten siehe auch: Torsten Flüh: Vom Vorteil des Schlafens auf der Nilinsel Elephantine. Zur begeisternden Ausstellung Elephantine. Insel der Jahrtausende in der James Simon Galerie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. Juli 2024.

[6] Siehe zum Ägyptenfeld 9 Jahre nach der Französischen Revolution: Torsten Flüh: Vor und nach dem Schlaf. Zu den Mosse-Lectures von Samantha Harvey und Michael Hochgeschwender sowie zur Berliner Missionsbewegung als Erweckung. In: NIGHT OUT @  BERLIN 21. Februar 2024.

[7] Taylor Mac: A Note from Taylor Mac. In: Berliner Festspiele: Taylor Mac & Matt Ray Bark of Millions 9., 11. & 12.10.2024. Berlin 2024, Seite 7 und 9.

[8] Fan Deck: Bark … S. 40.

[9] U.a. Maria Popova: Herman Melville’s Passionate, Beautiful, Heartbreaking Love Letters to Nathaniel Hawthorne. In: The Marginalian 2019/02/13.

[10] Torsten Flüh: Der Terror des Gesetzes und das Versprechen des Rechts. Donald Runnicles und David Aldens grandioser Billy Budd von Benjamin Britten an der Deutschen Oper (6. Juni 2014)

Modernismus für die Medizinmaschine

Beton – Humanmedizin – Screen

Modernismus für die Medizinmaschine

Zur Architektur als Bild vom Menschen anhand des Benjamin Franklin Campus‘ der Charité

Das als Klinikum Steglitz, in Universitätsklinikum Benjamin Franklin und schließlich Charité Campus Benjamin Franklin umbenannte Krankenhaus lässt sich als Inkunabel des Modernismus beschreiben. Es ist ein Schnittpunkt der Moderne. In Berlin kursieren eher Geschichten von Krähen, die in angebrochenen Wirbelsäulen nisten, als dass gefragt wird, welches Bild vom Menschen mit dem Klinikbau, der sie umgebenden Wiesen- und Parklandschaft und den bei der Eröffnung 1969 in Europa Rekorde brechenden Ausmaßen verknüpft wurde und wird. Generationen von Berliner und angereisten Patient*innen nutzen das Gebäude seit 55 Jahren. Doch die Geschichten erschöpfen sich in Mäkeleien und RTL- bzw. Sternreporte unter der Gürtellinie, die sich „investigativ“ nennen.

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Der Klinikbau ist von keinem großen Namen der Architekturgeschichte entworfen worden, sondern vom Architekturbüro Curtis and Davis Architects and Engineers aus New Orleans, Lousiana. Ab 1947 entwarfen Nathaniel Cortland Curtis Jr. und Arthur Quentin Davis zunächst in New Orleans Central Business District dann in 40 Staaten der USA mehr als 400 Gebäude. Es existiert lediglich ein amerikanischer Wikipedia-Eintrag, der nicht einmal in Deutsch übersetzt worden ist. Ein derartiges Architekturbüro erweckt nicht das Interesse der Geschichtsschreibung aus großen Architektennamen. Dabei lassen sich im Klinikbau ebenso Anklänge an den flächigen Brutalismus im Sockel wie an die Transparenz in den Bettenhäusern Le Corbusiers oder Oskar Niemeyers finden. Zugleich visualisiert die Architektur eine Klinik als Maschine.

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Das Architekturbüro, wie es mit Curtis and Davis, auch Curtis & Davis, als ein hoch arbeitsteiliges Unternehmen betrieben wurde und bis 1978 existierte, lässt den großen Namen verschwinden. Denn die Gründer des Architekturbüros kooperierten schon bald in ihrer „architectual practice“[1] mit anderen Architekten und Designern. So auch in Berlin. Das Architekturbüro wird selbst zu einer Produktionsmaschine von großen Gebäuden vom IBM Building in Pittsburgh (1963) über das fast programmatische Hotel America in Hartford, Connecticut (1964), der Embassy of the United States in Saigon (1967) bis zum Klinikum Steglitz (1968) und späteren Großbauten. Die zeitliche Nähe der Bauten, ihrer Entwürfe wie Modelle und ihrer Verbreitung von New Orleans bis Saigon spricht für eine verknüpfende Praxis diverser Architekturbereiche. Doch insbesondere am Klinikum Steglitz treffen sie zu einer Inkunabel der Architektur zusammen.

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Das Bauprojekt Klinikum Steglitz entsprang einer breit gefächerten Debatte aus West-Berliner Nachkriegspolitik, Gesundheitsversorgung, Architektur als Politik vor allem durch das Engagement der Benjamin-Franklin-Foundation, die bereits zuvor den Bau der Kongresshalle an der Spree, die heute das Haus der Kulturen der Welt[2] beherbergt, gefördert hatte, und der universitären Lehre und Forschung in der Medizin an der Freien Universität Berlin, wie Andreas Jüttemann zum 50jährigen Jubiläum des Baus erforscht hat.[3] Bei ihm findet sich eine weitere rudimentäre Würdigung von Curtis & Davis mit einer ausführlicheren Würdigung des deutschen Architekten Franz Mocken, der für das Projekt in Berlin hinzugezogen wurde. Davis arbeitete nach dem gemeinsamen Studium mit Curtis an der Tulane University New Orleans in Harvard „auch mit Walter Gropius zusammen()“.[4] Auf einem Foto des Architekturbüros steht der etwas kleinere Davis mit dem linken Arme hinter dem Rücken und lehnt seinen Kopf seitlich auf die Schulter von Curtis.[5]

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Abgesehen vom hohen Grad der Aufgabenteilung im Architekturbüro ist es der in Berlin prominent und über 10.000 Quadratmeter mit über 200.000 Betonspitzen im Flachbau verwendete Screen, der als originäre Invention von Curtis und Davis hervorgehoben werden kann.[6] Der Screen, was nur verfälschend mit Bildschirm und Vorhang übersetzt werden kann, war von Curtis und Davis beim Bau des Caribe Building (1954) in New Orleans als Sonnenschutz für das Bürogebäude erfunden worden.Curtis und Davis verwendeten den Screen in mehreren Abwandlungen bei weiteren Gebäuden. Ziel war es, die Raumtemperatur in den Büros zu senken. Zugleich kann er als ein erster Ansatz zu klimafreundlichem Bauen gesehen werden. In New Orleans verwendeten sie noch Terrakotta als Material für den Screen.
„Wir waren überzeugt, dass ein Tonziegel-Screen ein guter Ansatz zum Sonnenschutz war, deshalb wurde diese Idee an allen vier Fassadenteilen unseres eigenen Bürogebäudes genutzt.“[7]     

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Der Screen am Klinikum ist aus rohem Beton statt aus Terrakotta und knüpft damit an die Programmatik des Brutalismus an[8], obwohl er grazil und feingliedrig wirkt. Denn im Brutalismus soll das Baumaterial Beton unbehandelt für sich selbst sichtbar werden. Während üblicherweise im Brutalismus der flächige Beton wie in den Trägerkonstruktionen der Bettenhäuser ausgestellt wird, entsteht mit dem Screen ein ästhetischer Kontrapunkt. Er lockert die Masse des Flachgebäudes auf und die Bettenhäuser beginnen visuell zu schweben. Der Screen erhält insofern eine weitere visuelle Funktion. Er soll nicht nur vor Sonne schützen, die Temperatur im Büro senken oder die Sicht behindern für die Untersuchungs- und Verwaltungsräume im Flachbau, vielmehr schweben durch ihn die Fensterfronten der Bettenhäuser aus einer luftigen Stahlbetonkonstruktion. Die Fassade der Bettenhäuser präsentiert sich nicht als flächige Fensterfront, sondern durch eine Anwinkelung der Zimmerfester und Verbreiterung des Baukörpers nach außen als ebenso dynamisch wie luftig.

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Curtis und Davis beziehen sich mit dem Namen ihres Architekturbüros stärker auf Le Corbusier, als bislang beachtet worden ist. Der Name des Architekturbüros „Curtis and Davis Architects and Engineers“ dockt beispielhaft an die Programmatik von Le Corbusiers Text Argument von 1923 an, in der er den Architekten zum Ingenieur macht. Im Text wird bei Le Corbusier das Gebäude und Haus zur „machine à habiter“: „La mécanique porte en soi le facteur d’économie qui sélectionne. La maison est une machine à habiter.“[9] (grob: Die Mechanik trägt den Faktor der Ökonomie, der selektiert, in sich. Das Haus ist eine Maschine zum Wohnen.) Der ebenso poetisch formulierte wie mit der Mathematik als wissenschaftlich geschriebene Text wird unterschätzt. Er erschien in der Zeitschrift L’Esprit Nouveau, die ein neues an der Mathematik ausgerichtetes Denken der Moderne in den vor 100 Jahren entwickelte. Der neue Geist, für den auch das Klinikum stehen sollte, lässt ein Spiel entstehen aus Masse, Fläche, großer Zahl, Berechenbarkeit und einer dynamischen Flüchtigkeit.

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Die Ökonomie, die mit économie im Französischen nicht nur als Wirtschaftlichkeit, Wirtschaft oder Sparsamkeit, sondern auch als Einsparung und Rücklage gebraucht werden kann, ist eine mathematisches Prinzip, das der Ingenieur besser ausübt als der Architekt. Le Corbusiers Brutalismus lässt sich nicht zuletzt im Kontext dieser Ökonomie bedenken. Die Pointe liegt beim Klinikum Steglitz darin, dass sich die Ökonomie in der Verzahnung mehrerer Gebäude, unterschiedlicher Aufgaben wie Krankenversorgung, Lehre und Forschung zu einem Baukomplex verdichten lässt, um eine effiziente Medizinmaschine aus diversen Praktiken für den Menschen zu schaffen. Was in der Forschung zur Krankenhausarchitektur als amerikanisches „Departmentsystem“ beschrieben wird, entspricht der Programmatik der Ökonomie Le Corbusiers. Heinz Goerke, der Ärztliche Direktor, übersetzte Le Corbusiers Maschine 1969 bei der Eröffnung mit dem Begriff der „Integrierung“:
„Aufgrund seiner architektonischen Lösung und der Arbeitsorganisation mit ihrem hohen Maß an Integrierung bietet das Klinikum Steglitz ein interessantes Beispiel für ein modernes Zentrum der medizinischen Forschung und Lehre, dem besondere Bedeutung deshalb zukommt, weil hier die Vorstellungen und Erfahrungen amerikanischer und kontinentaleuropäischer Krankenhausplaner und sachverständiger Berater gemeinsam verwertet worden sind.“[10]

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In der Planung wurde der Funktionsablauf durch ein Gutachten für das „Universitäts-Klinikum Berlin“ genau geplant, wie Jüttemann im Universitätsarchiv der Freien Universität finden konnte.[11] Die zwei Geschosse des Flachbaues liegen über dem Untergeschoss, dass vom Eingang Hindenburgdamm mit einer Auffahrt verdeckt wird. Im Untergeschoss wurden Speisesäle, Küche und Apotheke neben mehreren Therapieeinrichtungen vorgesehen. Im Erdgeschoss sollten sich die Aufnahme und Lehreinrichtungen befinden. Die Zentrale Aufnahme befindet sich noch heute dort. Im 1. Obergeschoss wurde vor allem die Röntgendiagnostik angesiedelt, wo sie tatsächlich heute noch ausgeübt wird und sich weiter ausdifferenziert hat. Die Strukturierung der Funktionen hat sich ein wenig verschoben, wird allerdings weiterhin in gleicher Weise ausgeführt. Die „Graphisch-isometrische Übersicht über die Fachklinken“ weicht ebenfalls von der heutigen Nutzung ab, da sich die humanmedizinischen Fächer permanent verändern. Indessen wird im Funktionsablauf der Klinik ein Körpermodell angeschrieben, das dem der Humanmedizin selbst zumindest ähnelt. Eine Art Herzfunktion übernimmt dabei die Diagnostik, die den Funktionsablauf von Behandlung und Pflege in Gang setzt.

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Der Screen von Curtis & Davis hat heute mit dem Screening als Praxis eines systematischen Testverfahrens in der Humanmedizin für Vorsorge und Datenerhebung einen weiteren Aspekt für die Sprache der Architektur bekommen. Die Praxis des Screenings läuft mehr oder weniger permanent durch die Charité auf dem Campus Benjamin Franklin und an anderen Standorten wie dem Neugeborenen Screening oder Mammographie Screening. Screenings sind in der Humanmedizin zu einem entscheidenden Wissensgenerator geworden.  Doch schon bei der Konzeption changierte der Screen zwischen maurischen Architekturmustern, Sonnenschutz, Sichtschutz und Wirbelsäule als Hauptnervenstrang des menschlichen Körpers. Die kleinteilige Anordnung der Sreen-Stränge in großer Zahl generiert eigene visuelle Effekte. Er verleiht dem Wissen der Humanmedizin, das dahinter generiert und praktiziert wird, eine Aura. Von innen funktioniert er als Sonnen- und Hitzeschutz und von außen als Vorhang um das Wissen vom Menschen. Dadurch eignet er sich nicht zuletzt als Projektionsfläche von Wünschen und Ängsten. Wenn man sich dem Screen nähert, löst er sich auf in Einzelteile. Betonknochen.

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Maschinen und maschinell-serielle Produktionen funktionieren in Deutschland seit der Etablierung des Vereins zur Beförderung des Gewerbefleißes in Preußen durch Peter Beuth und Friedrich Schinkel 1821 über normierte Formen. Peter Beuth hat damit formalisiert, was später in der Deutschen Industrie Norm, kurz DIN, die heute in der Europäischen Norm (EN) weiter existiert, institutionalisiert worden ist. Der Screen passte nicht in die Deutsche Industrie Norm (DIN) 5034 für „Innenraumgestaltung mit Tageslicht“. Er wurde durch ein Gutachten des Bundesgesundheitsamtes von 1961 medizinisch abgelehnt:
„Schließlich darf in einer hygienischen Beurteilung der psychische Eindruck, den ein solches Gitterwerk mit einem Öffnungsverhältnis von nur rd. 50 % auf eine repräsentative Mehrzahl gesunder und kranker Rauminsassen machen würde, nicht unerwähnt bleiben.“[12]    

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Am Screen scheidet sich die Norm als Verfahren der Vermessung. Was sich als Satire lesen ließe, ist schon deshalb nicht belanglos, weil es in der Humanmedizin ebenfalls immer um Normen, Normalität und Abweichungen geht. Das regelmäßige Messen von Blutdruck, Temperatur und Puls gehört nicht nur zur Pflege, vielmehr werden berechenbare Normen für den Menschenkörper überprüft. Über die DIN 5034 konnten sich die Architekten bei ihrer Planung nicht einfach hinwegsetzen, obwohl die Produktion des Screens mit den Betonknochen bereits angelaufen war. „Mocken und Davis entwickelten einen Alternativvorschlag, um trotz Installation des Screens den Lichteinfall in die Zimmer nicht zu sehr zu begrenzen“, schreibt Jüttemann.[13] Damit rückt allerdings noch einmal der Architekt Franz Mocken als Scharnier und Mitproduzent ins Interesse des Bauprojektes. Denn Mocken hatte den Screen bereits wegen der Kosten(!) in Frage gestellt. Der Screen widersprach der Ökonomie des Klinikumbaus insofern, als ihm unter Berliner Klimaverhältnissen kein direkter Nutzen abzugewinnen war. Berlin ist glücklicherweise nicht New Orleans. Aber als Design konnte Davis offensichtlich den Screen durchsetzen. 

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Die Humanmedizin ist nicht erst seit dem 19., vielmehr seit dem 18. Jahrhundert durch eine Geste der Befreiung mit dem Denken der Maschine verknüpft. Man könnte sagen, das modellhafte Klinikum Steglitz sei eine späte Materialisierung des L’homme-Machine (1748) von Julien Offray de la Mettrie aus dem Umfeld Friedrich des Großen. Der Arzt, Pamphletist und Philosoph de la Mettrie entwickelt aus seinem humanmedizinischen Wissen ein Argument zur Befreiung vom Theismus. « CONCLUONS donc hardiment que l’Homme est une machine; & qu’il n’y a dans tout l’Univers qu’une seule substance diversement modifié. »[14] (Ziehen wir also kühn den Schluss, dass der Mensch eine Maschine ist und dass es im ganzen Weltall nur eine Substanz gibt, die freilich verschieden modifiziert ist.) Der Mensch als Maschine wird von de la Mettrie kurzerhand als ein Neologismus – L’homme-Machine – formuliert, was bei der Übersetzung in andere Sprachen immer wieder zu Problemen und Fehlübersetzungen geführt hat.

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Der L’homme-Machine wird vom Arzt und quasi Maschinisten de la Mettrie nicht zuletzt als Wollust-Maschine formuliert. An die Stelle Gottes als Kreator und Lebensgestalter tritt La Volupté als Antrieb für die Maschine. Die Maschine Mensch, an der sich auch heute noch kritisch abgearbeitet wird, fällt mit der Wollust als Antrieb relativ einfach aus im Text de la Mettries. Ihr Funktionsablauf, um den Begriff wieder zu gebrauchen, ist keinesfalls ausdifferenziert, wenn es in der Widmung an den Professor der Medizin Haller in Göttingen mit großer Geste heißt:
„La Volupté des sens, quelque aimable & chérie qu’elle ſoit, quelques éloges que lui ait donnés la plume apparemment reconnoiſſante d’un jeune Medecin françois, n’a qu’une seule jouïssance qui est son tombeau.“[15]
(Die Wollust der Sinne, so liebenswürdig und lieb sie auch sein mag, welches Lob ihr auch die anscheinend erkennbare Feder eines jungen französischen Arztes gegeben haben mag, hat nur ein Vergnügen, nämlich ihr Grab.)

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Die Medizin wird um 1748 in der Verknüpfung mit der Philosophie-Literatur Voltaires am Hof Friedrich II. von Preußen zum Modell des Wissens vom Menschen. La Volupté (Wollust) und la jouïssance (Genuss/Vergnügen) sind derart wichtige Begriffe Voltaires, dass selbst Friedrich II. sie in seinem programmatischen, lange unter Verschluss gehaltenen Gedicht La Jouïssance preist.[16] L’homme-Machine ist nicht nur in philosophischer oder neurowissenschaftlicher Hinsicht das entscheidende Scharnier für den Menschen als Maschine aus zwischenzeitlich unendlich fein ausdifferenzierten Prozessen, die den menschlichen Körper ausmachen, am Leben erhalten oder ihn krank machen und absterben lassen. Die Maschine basiert dabei nicht zuletzt auf sprachliche Prozesse in der Vermittlung und Transformation von medizinischem Wissen. Theoriebildungen mittels (sprachlich) codierter Bildgebungsverfahren, die in Arztberichte übersetzt werden, Empfehlungen aussprechen und Therapien einleiten, finden in der Maschine Charité Campus Benjamin Franklin permanent statt.

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In der großen Maschine ist die Rohrpost-Anlage aus der Zeit der Eröffnung 1968 fast in Vergessenheit geraten. Sie wird nicht mehr benutzt. Doch weil sie sich nicht einfach aus dem Baukörper entfernen lässt, kann man sie wenigstens an einer Stelle noch heute hinter Glasscheiben in einem Wartebereich sehen. Die Rohrpost-Anlage als, fast möchte ich sagen, Kernstück der Medizinmaschine taucht in keiner Denkmaldatenbank und auch nicht in Jüttemanns Alles unter einem Dach auf. Dabei dürfte es 1968 nicht nur die modernste Rohrpost Europas gewesen sein. Ob die Rohrpost nur im Flachgebäude für Verwaltung und Diagnostik eingebaut wurde oder bis in die Kliniken (Stationen) und die Lehre reichte, ließ sich nicht ermitteln. Doch die Rohrpost mit ihren zylindrischen Behältern für Papiere, Proben und wahrscheinlich auch Präparate durchzog das Klinikum und regelte seine Kommunikation. Obwohl heute digitale Technologien die Wissensabläufe in der Charité Campus Benjamin Franklin in Bewegung halten, erinnert die analoge Rohrpost an hochvernetzte und fein ausdifferenzierte Prozesse in der Humanmedizin, die die Maschine weiterhin am Laufen halten.

Torsten Flüh


[1] En.wikipedia.org: Curtis and Davis Architects and Engineers.

[2] Zur Kongresshalle und der Benjamin-Franklin-Foundation siehe auch: Torsten Flüh: Feuerwerk der Welten zwischen Quilombismo und Pluriversum. Zur Wiedereröffnung des HKW in der Intendanz von Bonaventure Soh Bejeng Ndikung mit Ausstellung und Freiluftkonzert. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. Juni 2023.

[3] Andreas Jüttermann: Alles unter einem Dach. 50 Jahre: Vom Klinikum Steglitz zum Campus Benjamin Franklin der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Berlin: Orte der Geschichte e.V., 2019.

[4] Ebenda S. 39.

[5] Ebenda S. 38.

[6] Ebenda S. 44-47.

[7] Curtis und Davis zitiert nach: Andreas Jüttermann: Alles … [wie Anm. 3] S. 44.

[8] Zum Brutalismus siehe: Torsten Flüh: The Beauty and The Logic of Brutalism. Zur Zukunft der Wissenschaft anhand des Brutalismus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 28. Februar 2021.

[9] Le Corbusier: Vers une architecture. Collection de „L’Esprit Nouveau“, Paris: Éditions Crès, 1923. (Fondation Le Corbusier)

[10] Ärztlicher Direktor Heinz Goerke zitiert nach Andreas Jüttermann: Alles …  [wie Anm. 3] S. 32.

[11] Beilage 2 zur Gutachtlichen Äußerung zu den vorliegenden Bauplänen für das Universitäts-Klinikum Berlin hinsichtlich des Funktionsablaufes in grundsätzlicher Hinsicht. In: Ebenda S. 17.

[12] Zitiert nach Ebenda S. 50.

[13] Ebenda.

[14] Julien Offray de la Mettrie: L’homme-Machine. Leyden: Elie Luzac et fils, 1748. (Wikisource)

[15] Ebenda.

[16] Zu Friedrich II. siehe Torsten Flüh: Für eine Kulturforschung der Sexualitäten. Zu Tim Blannings neuer „Biographie“ FRIEDRICH DER GROSSE. König von Preußen. (25. Februar 2019)

Komponieren Frauen anders?

Frau – Komposition – Amerika

Komponieren Frauen anders?

Zu den Konzerten des Ensembles Modern mit Werken der Komponistinnen Ruth Crawford Seeger, Tania León, Johanna Magdalena Beyer und Katherine Balch beim Musikfest Berlin 2024

Das Ensemble Modern steuerte gleich drei Konzerte mit Komponistinnen aus den USA zum Musikfest bei. Mit dem Portrait Ruth Crawford Seeger und ihrer Schülerin Johanna Magdalena Beyer standen zwei Komponistinnen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf dem Programm, die mit den Zeitgenossinnen Tania León (*1943) und Katherine Balch (*1991) ergänzt wurden. Ähnlich wie die Figur des Dirigenten wurde die des Komponisten bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts fast ausschließlich von Männern ausgeführt. Beim Musikfest Berlin 2022 hatte Yannick Nézet-Séguin mit den Philadelphians auf Florence Price aufmerksam gemacht.[1] Beim 2. Konzert des Ensembles Modern unter der Leitung von David Niemann waren am frühen Samstagabend vor dem Konzert der Wiener Philharmoniker mit Unsuk Chin und Allision Loggins-Hall u.a. gar Komponistinnen im Publikum. Tania León und Katherine Balch wurden auf dem Podium des Kammermusiksaals gefeiert.

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Die Wiederentdeckung und Aufführung von Florence Prices Symphonie Nr. 1 durch Yannick Nézet-Séguin 2021 wurde zu einer Sensation in den von Männern dominierten Kompositionspraktiken. Das Komponieren von Ruth Crawford vor allem in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts knüpft an zeitbedingte Strömungen an, bevor sie in ihrer Ehe mit Charles Seeger Folksongs arrangierte und Musikunterricht im Kindergarten ihrer Tochter erteilte. Die Geschlechterrollen waren ihr nicht fremd. Doch welche Auswirkungen haben Geschlechtermodelle auf das Komponieren? Was passierte, wenn eine Frau die Geschlechterrolle der Klavier- und Musiklehrerin verließ? Was entsteht heute, wenn Katherine Balch anlässlich des Charles Ives-Jubiläums sich seines Central Parc in the Dark annimmt? Ausgerechnet im weiblichen Feld der Musik dominieren Modelle der Maskulinität. Das hat weiterhin viel mit den vorherrschenden Konzepten von Musik zu tun.

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Die Geschlechterrollen Ehefrau, Mutter, im Glücksfall Gefährtin für Frauen im ausgehenden 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren begrenzt. Ruth Crawford Seeger, Jahrgang 1901, steht da in mancher Hinsicht an einer beispielhaften Schnittstelle von Aufbruch und Konvention. Sie studiert in Chicago, nutzt die gesellschaftlichen und künstlerischen Umbrüche der 20er und 30er Jahre aus einem privilegierten Hintergrund heraus und erhält später ein Guggenheim-Stipendium für Europa. So wird sie Ende der 30er Jahre in New York gar zur Kompositionslehrerin für die 12 Jahre ältere Johanna Magdalena Beyer. Die Folksong-Forschungen und -Arrangements mit Charles Seeger waren in gewisser Weise amerikanische Pionierarbeit. Selbst in der Mutterrolle wird Ruth auf progressive Weise im Kindergarten aktiv. Komponieren und eine Komposition sind insofern nicht nur durch die häufig bemühte Exzeptionalität des Genies gerahmt, vielmehr tragen gesellschaftliche Strukturen und ihre Umbrüche ebenfalls zu den Praktiken des Komponierens bei.

© Fabian Schellhorn

Es sind die Umbrüche, in denen mehr oder weniger plötzlich andere Möglichkeiten erprobt werden können. Johanna Magdalena Beyers Suiten aus verschiedenen Kammermusikwerken, die das Ensemble Modern unter der Leitung von David Niemann in der Zusammenstellung von Hermann Kretzschmar spielte, fallen wie das Allegretto aus dem Streichquartett II fast klassisch aus und erinnert, weshalb auch immer, den Berichterstatter an Mozart. Nach 5 weiteren Sätzen aus unterschiedlichen Kammermusikwerken setzt Kretzschmar das Allegro quasi Presto (4. Satz) aus dem gleichen Streichquartett. Dadurch wird eine gewisse Bandbreite der Kompositionen, aber auch eine strukturelle Ähnlichkeit hörbar, die die traditionelle Ausbildung und Kompositionslehre von Ruth Crawford anzeigt. Das von Hermann Kretzschmar verwendete, innovative Format der Montage – ausschneiden und montieren – hat seine Vorzüge und gibt doch einen Wink auf die Frage danach, ob Frauen anders komponierten. Denn Crawford und Beyer orientieren sich an den tradierten Kompositionspraktiken.

© Fabian Schellhorn

Man könnte eine Geschichte des Komponierens auch als eine der Zitate und Modulationen von Motiven schreiben. Im Rahmen der Kompositionsschemata kommt es plötzlich, vielleicht muss man sogar konkret für die Moderne sagen, bei Ludwig van Beethoven in den 32 Klaviersonaten zu einer gewissen Permanenz der Brüche und Umbrüche, die zu einer folgenreichen Veränderung des Komponierens führen und Material bis in die Popmusik werden.[2]  Mit ihrer Suite Nr. 1 (1927) für fünf Bläser und Klavier knüpft Crawford an die Rhapsody in Blue (1924) von Gershwin an. Jazzelemente kommen vor und es ließe sich an Korngold denken. Am Schluss des 4. Satzes Allegro con brio wird ein Ton gespielt von der Querflöte (Dietmar Wiesner), der an einen Witz denken lässt. Crawford experimentierte offenbar leidenschaftlich beim Komponieren. Im Vorgriff auf das 3. Konzert des Ensembles Modern am Sonntagvormittag lässt sich gar sagen, dass sie das Material der Kompositionsschemata gern neu kombinierte wie in Kaleidoscopic Changes on a Original Theme Ending with a Fugue(1924).

© Fabian Schellhorn

In den 20er Jahren, also z.B. als 25jährige komponiert Ruth Crawford mit einer großen Experimentierfreude mit neuartigen Modi wie in Music for Small Orchestra (1926), wenn sie den ersten Satz als „Slow, pensive“ und den zweiten als „In rougish humor. Not fast“ komponiert. Die „Music“ kann mit Fagott, Bassklarinette, Bassflöte, Flöte und Klavier an eine Art Schauspielmusik erinnern. Doch hier steht die Musik für sich allein und doch nicht ganz. Denn der dominierende Rhythmus und eine Art Läuten im Klavier mit Crescendo können an einen Totentanz oder Griegs Peer-Gynt-Suite erinnern.[3] Der langsame (slow) und nachdenkliche (pensive) erste Satz, wird vom schelmischen oder auch schwarzen Humor in einem schnelleren, aber nicht schnellen Tempo des zweiten abgelöst. Das Experimentieren bringt bei Crawford fast aus einer Unbekümmertheit neue Musik hervor.

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Tania León und Katherine Balch wurden für ihre recht unterschiedlichen Stücke Héchizos (1995) und Country Radio (2024) im Kammermusiksaal regelrecht gefeiert. Es war nicht zuletzt eine Hommage an die 1943 in Havanna geborene Komponistin León, die nach Studien an Konservatorien in Kuba in der New Yorker Tanzszene der Schwarzen ihre Kompositionen entwickelte. Insofern kann man bei diesen Kompositionen von einer entschiedenen körperbetonten Musik sprechen. Der Anspruch auf Gleichberechtigung beschäftigt Tania León nicht nur als Frau, sondern ebenso als Schwarze mit afrikanischen, französischen, spanischen und kubanischen Einflüssen. Nach der Ermordung Martin Luther Kings am 4. April 1968 gründete sie mit dem ersten African American Tänzer des New York City Ballet (1955), Arthur Mitchell (1934-2018), das nicht nur schwarze, sondern besonders innovative Dance Theatre of Harlem 1969. Die Innovation kamen nicht zuletzt durch die Kompositionen von Tania León. Sie leitete das DTH bis 1978 als Musikdirektorin, um danach als Dirigentin, Musikberaterin und eifrige Komponistin Karriere zu machen.

© Fabian Schellhorn

Die beiden kurzen jüngeren Kompositionen Héchizos und Rhítmicas (2019) lassen die frühe Auseinandersetzung mit dem Tanz und anderen, außer-europäischen Quellen des Tanzes noch spüren. Héchizos kann im Spanischen sowohl Zauber wie Zaubersprüche heißen. Für Zaubersprüche ist der Modus der Wiederholung wichtig, wie er in Tania Leóns Komposition mit einem eröffnenden Thema und seinen Wiederholungen praktiziert wird. Doch im weitergefassten rituellen Zauber spielen zugleich geheimnisvolle Körperbewegungen eine entscheidende Rolle für die Praxis des Zaubers. Rituelle, wiederholbare Köperbewegungen wecken den Zauber und ermöglichen seine Übertragung auf Anderes und Andere. Bei León bekommt der Zauber einen tumultartigen Zug durch Schlagzeug, hohe Streicher und Bläser. Danach breitet sich der Zauber mit der Bassklarinette in einer „rhythmisch gezackte(n), komplexe(n) Linie“[4] aus. In Rhíthmicas (rhythmisch) werden auf durchaus witzige Weise verschiedene Rhythmen angespielt. Denn nicht nur die Rhythmusinstrumente des Schlagzeugs oder das Klavier wollen hier rhythmisch sein, vielmehr bemüht sich das Saxophon (Lutz Koppetsch) ebenfalls rhythmisch werden zu wollen. Auf diese Weise spielt Tania León mit dem Musikwissen und montiert es witzig.

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Das Generationelle kam im Portrait Ruth Crawford Seeger mit Katherine Balchs (*1991) Bearbeitung von Charles Ives‘ Central Parc in the Dark deutlich zum Zuge. Denn Balch interessiert sich in ihrer Komposition Country Radio für die mediale Übertragung des Stückes von Ives und den daraus entstehenden akustischen Effekten. Im Programm des von Winrich Hopp kuratierten Musikfestes passte Ives‘ Komposition sehr gut, weil sie beim Eröffnungskonzert mit dem São Paulo Symphony Orchestra unter Thierry Fischer zu hören gewesen war.[5] Gegenüber Ruth Crawford Seeger hat sich das Komponieren bei Katherine Balch insofern von männlichen Praktiken emanzipiert. Modulares Ensemble und Feldaufnahmen erforschen die medialen Effekte beim Autofahren. Die alltagsweltliche Praxis wird zum Material von Musik. Katherine Balch formuliert das als mediale Hörpraxis:
„Auf dem Weg von der Arbeit nach Hause, von der Stadt New Haven in die ländliche Gemeinde Bethany, Connecticut, wird der klassische Radiosender 90.1 FM zu einer herrlichen avantgardistischen Collage von Interferenzen benachbarter Kanäle. Mendelssohn wird mit den Top 40 vermengt, eine Scarlatti-Sonate untermalt den Bibel-Talk-Sender, atmosphärische Störungen schieben sich zwischen die sanften Klänge eines Chopin-Walzers. Es ist einfach herrlich und musikalisch perfekt.“[6]

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Country Radio transformiert Charles Ives’ Musik nicht zuletzt mit Referenzen an die ländliche Region wie an die Country Music als Popmusikgenre in ein vielfältiges Klangereignis. Einerseits lässt sich dabei sowohl an Kompositionspraktiken wie bei George Gershwins Rhapsody in Blue denken[7], andererseits wird damit das Komponieren geöffnet für eine breite, aber sensible Alltagswahrnehmung und Musik als Begleitung. Balch lässt durch die Feldaufnahmen mehr geschehen in ihrer Musik, als dass sie einem Schema folgt. Diese Praxis konterkariert nicht zuletzt den maskulinen Schöpfungsanspruch, der das Komponieren über Jahrhunderte durchzogen hat und häufig von Musikkritiker*innen als Maßstab weiterhin formuliert wird. Über Jahrhunderte wurden Kompositionsschulen entwickelt und Stücke nach ihrer Ausführung bewertet, was noch bei den Kompositionen von Ruth Crawford Seeger und Johanna Magdalena Beyer nachklingt. Doch Katherine Balch stellt mit Country Radio mit Referenz an Charles Ives als Eigenwilligen diese Tradition in Frage.
„Das Stück ist stark von Charles Ives‘ Central Parc in the Dark und allgemein von seiner Musik inspiriert und orientiert sich strukturell daran.“[8]

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Die Frage nach dem Geschlecht spielt in Country Radio insoweit eine Rolle, als die Geschlechter in ihrer dem Deutschen eigenen Gebrauchsbreite von Herkunft, Rasse, Genre etc. von Balch unterlaufen werden. Mendelssohn, Top 40, Scarlatti-Sonate, Bibel-Talk, atmosphärische Störungen und Chopin-Walzer werden kaum abgrenzbar, sondern zum „Miteinander“. Doch Katherine Balch legt sich nicht einfach auf ein Weibliches fest, sondern lässt mit den Interferenzen die Differenz aufblitzen. Sie komponiert aus einem zeitgenössischen Diskurs heraus, der von Konzepten der Männlichkeit als Bedrohung bekämpft wird. In ihrem Kommentar situiert sie sich als Ich stärker als Empfängerin, denn als Schöpferin:
„Schon öfters habe ich versucht, das aufzunehmen. Wenn ich aus meinem Auto aussteige, nimmt ein stärkeres Miteinander von Kanälen Gestalt an: ein breites Klangspektrum des betriebsamen Naturorchesters. Country Radio möchte dieser Erfahrungen musikalisch einfangen und ein wenig damit experimentieren.“[9]

© Fabian Schellhorn

Mit dem dritten Konzert des Ensemble Modern erprobte Hermann Kretzschmar am Sonntagvormittag ein neuartiges Programmkonzept. Eröffnet mit der Sonate für Violine und Klavier wurde es ein „Kaleidoscop(e)“ der Kompositionen in unterschiedlichen Formaten wie Sonate, Suite, Walzer, Wiegenlied, Caprice, Präludien, Streichquartett, Thema und Variationen sowie Kanons, nicht zu vergessen Kaleidoscopic Changes on an Original Theme Ending with a Fugue gespielt. Der Kammermusiksaal wurde mit im Raum verteilten Spieler*innen und farbiger Beleuchtung genutzt. Bedauerlicherweise herrscht bei Konzertbesucher*innen immer noch ein Wissensanspruch vor, den nur interessiert, was er kennt. – Was ich nicht kenne und weiß, dem will ich mich nicht aussetzen. – Die Musikindustrie zwischen Thielemann und Taylor Swift, zwischen Igor Levit und Adele wird von Wissensformaten bis zu Adeles Cocktails und Swifts Freundschaftsarmbändern beherrscht. Adeles Konzerte in München mit Erlebniswelt waren gigantische Wissensgeneratoren und darin vor allem Weltspitze.

© Fabian Schellhorn

Das Konzertformat der Matinée weckt zudem seit Jahren kaum noch Interesse. Die Bereitschaft und Sensibilität für die Entdeckung einer Komponistin wie Ruth Crawford Seeger am Sonntagvormittag wird durch etliche mentale Hürden eingeschränkt. Der Tod der Matinée scheint absehbar. Das Konzertformat der Matinée ist anscheinend wenig erforscht. Die französische Herkunft des Namens Matinée im frühen 19. Jahrhundert und sein ansteigender Gebrauch bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts[10] sprechen dafür, dass die Matinée eng mit dem Salon verknüpft war und später bürgerlich institutionalisiert wurde. Vielleicht wird sie weiter in mehr oder weniger alternativlosen Kurorten und Jahreszeit-Festspielen ein Schattendasein führen. Doch dort wird sie kaum so innovativ und inspirierend wie im Kammermusiksaal mit dem Ensemble Modern ausfallen. Die bereitgestellten Pressefotos lassen einerseits die konzeptuelle Brillanz wie die musikalische Qualität und andererseits die Leere im Saal erahnen. Verpasst! Lässt sich damit nur dem Publikum entgegenrufen.

© Fabian Schellhorn

Die große Bandbreite der Kompositionen von Ruth Crawford als junge, unverheiratete Komponistin wurde mit dem dritten Konzert deutlich. Sämtliche Musikformate werden in oft nur kurzen Stücken ausprobiert und bisweilen neu kombiniert. In den Titeln wie Mr. Crow and Miss Wren go for a walk – a little study in short trills (1923) blitzt bisweilen ein jugendlicher Witz auf. Die Krähe und der Zaunkönig machen einen Spaziergang, der von der 24jährigen mit dem Klavier akustisch durch Triller begleitet wird. 2020 hat Emily Baumgart von der Music Division der Library of Congress The Experimentation of Ruth Crawford Seeger insbesondere in Hinblick auf ihr Streichquartett von 1931 in einem kurzen Video diskutiert[11], das ebenfalls vom Ensemble Modern in der Matinée gespielt wurde. Emily Baumgart betont, wie Ruth Crawford verschiedene Techniken ausprobiert. Sie geht detailliert auf die einzelnen Sätze und ihre Kombination ein, die sich mit Rubato assai, Leggiero, Andante, Allegro possibile an klassische Vorgaben halten, aber Ruth mache daraus etwas Neues. Das Allegro possible hebt Baumgart besonders hervor.

© Fabian Schellhorn

Das Ensemble Modern hat eng mit der Library of Congress, in der der Nachlass von Ruth Crawford Seeger als Teil des Seeger Family Nachlasses aufbewahrt wird, zusammengearbeitet. Die Komponistin Ruth Crawford lässt sich insofern nur und erst über den American Folklife Center und die Seeger Family wiederentdecken. Das ist keine zufällige Pointe, sondern eine Frage der Institutionalisierung von Geschlecht. Die Kompositionen der jungen Frau gehen in der Familie und in älteren Jahren in einer eher konventionellen Kompositionspraxis auf. Pete Seeger (1919-2014) – We shall overcome Where Have all the Flowers GoneIf I had a hammer –, Songs die mein Amerika-Bild noch durch Peter, Paul and Mary in den 70er Jahren geprägt haben, war nicht der Sohn von Charles Seeger und Ruth Crawford, sondern von Constance de Clyver Edson, mit der er bis 1929 verheiratet war. Insofern irrte Alexandra Klobouk in ihrem schönen Wimmelbild, als sie We shall overcome mit Ruth Crawford Seeger assoziierte und ein wenig in der Familie verschwinden lässt, Pete war schon 12 und wurde vermutlich von seiner Mutter erzogen, als die Komponistin in die Familie kam. Das Ensemble Modern hat sich auf höchstem musikalischen Niveau die Wiederentdeckung einer marginalisierten Komponistin erarbeitet und darum verdient gemacht. – Eigentlich müsste es mit dem Programm wenigstens als Matinée ins Weiße Haus eingeladen werden. – Und wenn dann in den deutschen Medien davon berichtet wird, werden sich alle ärgern, die nicht im Kammermusiksaal waren.

Torsten Flüh    


[1] Siehe: Torsten Flüh: Starke Geschlechter über Grenzen hinweg. Zum gefeierten Konzert des Philadelphia Orchestras mit Lisa Batiashvili unter der Leitung von Yannick Nézet-Séguin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. September 2022.

[2] Zu den Beethoven-Klaviersonaten siehe: Torsten Flüh: Igor Levits umjubelter Beethoven-Feier nachdenken. Über die 32 Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven gespielt von Igor Levit beim Musikfest Berlin 2020. In: NIIGHT OUT @ BERLIN 19. September 2020.

Und: ders.: Igor Levits intensive Sonate Nr. 32 in C-Moll op. 111. Eine Nachlese zu Igor Levits Spiel der 32 Sonaten von Ludwig van Beethoven beim Musikfest Berlin und Thomas Manns Roman Doktor Faustus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. September 2020.

[3] Siehe Torsten Flüh: Denkwürdig! Peer Gynts Suche nach sich selbst. Kurt Masur dirigiert die Bühnenmusik zu Peer Gynt mit dem Orchester der Komischen Oper Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. November 2010.

[4] Arno Lücker: Im magischen Sog der Unmittelbarkeit. In: Berliner Festspiele: Musikfest  Berlin Abendprogramm 13.9., 14.9., 15.9.2024 Ensemble Modern I-III Potrait Ruth Crawford Seeger. Berlin: 2024, S. 20.  

[5] Siehe Torsten Flüh: Brasiliens Mythen der Moderne. Zum Eröffnungskonzert des Musikfestes Berlin mit dem São Paulo Symphony Orchestra und der São Paulo Big Band. i

[6] Katherine Balch zitiert nach Arno Lücker: Im … [wie Anm. 4] S. 21.

[7] Zur Rhapsody in Blue siehe Torsten Flüh: Tradition und Frische. The Cleveland Orchestra, Kansas City Symphony und Filarmonica della Scala beim Musikfest Berlin 2024. In: NIGHT OUT @ BERLIN 3. September 2024.

[8] Katherine Balch zitiert nach Arno Lücker: Im … [wie Anm. 4] S. 21.

[9] Ebenda.

[10] DWDS: Verlaufskurve 1600 bis 1900: Matinée.

[11] Library of Congress: The Experimentation of Ruth Crawford Seeger. Washington, D.C. : Library of Congress, 2020-12-03.

Figuren des Dirigenten

Dirigent – Orchesterapparat – Klang

Figuren des Dirigenten

Zum Konzert der Oslo Philharmonic mit Klaus Mäkelä und der Wiener Philharmoniker mit Christian Thielemann beim Musikfest Berlin 2024

Mehr noch als erstklassige Orchester wie die Wiener oder Berliner Philharmoniker vermögen Dirigenten – und seit geraumer Zeit Dirigentinnen – zu faszinieren und Konzertsäle zu füllen. Während das Oslo Philharmonic nicht zu den bekanntesten Orchestern Europas gehört, sind die Wiener Philharmoniker eines der wenigen Weltspitzenorchester. Doch erst die Figur des Dirigenten und das Versprechen seiner Leistung, sein Feilen an der Phrasierung, am Tempo, am Klang vermag das Publikum in die Konzertsäle zu locken. Die Figur des Dirigenten ist hoch aufgeladen. Ein Mythos. Während des Musikfestes konnten schon Thierry Fischer, Franz Welser-Möst und Matthias Pintscher ansatzweise besprochen werden. Klaus Mäkelä und Christian Thielemann gehören derzeit zu den Stars, wenn nicht Weltstars ihres Metiers und könnten dabei kaum unterschiedlicher auftreten. Auf dem Wimmelbild von Alexandra Klobouk reitet Klaus Mäkelä mittig auf einem Plastik-Einhorn im Pool umgeben von Pinguinen und Schwänen.

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Dass das Oslo Philharmonic mit Klaus Mäkelä bzw. dessen Chefdirigent und Künstlerischer Leiter mit dem Orchester auf Tournee geht, darf nicht nur wegen seines Alters von 28 Jahren als eine Sensation wahrgenommen werden. Was hat der junge Stardirigent, der die 5. Sinfonie von Dimitri Schostakowitsch aus dem Kopf und Körper dirigiert, aus dem Orchester im hohen Norden gemacht? Füllt das Orchester oder eher Klaus Mäkelä die Konzertsäle? Die Musikpreisträger*innen im Publikum wollen ihn sehen und hören. Schon vor dem ersten Ton in der Philharmonie ist klar, dass es anders als bei Mäkelä und Oslo mit den Wiener Philharmonikern unter Christian Thielemann um ein nicht zuletzt gesellschaftliches Ereignis geht. Das sieht der Berichterstatter daran, dass Lea Rosh, Monika Grütters, Angela Merkel und Herr Sauer neben etlichen Politiker*innen, Diplomat*innen und höheren Berliner Funktionsträger*innen meist im Block A der Philharmonie sitzen. Was wird erwartet?

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Klaus Mäkelä tritt mit einer beneidenswerten Unbefangenheit auf. Das Oslo Philharmonic ist sein Orchester noch vor seiner Rolle als Musikdirektor des Orchestre de Paris, designierter Chefdirigent des Royal Concertgebouw Orkest und designierter Musikdirektor des Chicago Symphony Orchestra, das zu den Big Five der USA gehört. Denkwürdig wurde sein Dirigat der 6. Symphonie von Gustav Mahler mit dem Concertgebouworkest als Eröffnungskonzert des Musikfestes Berlin 2022. Da war er gerade einmal 26. Obwohl er in einer Musikerfamilie in Helsinki aufgewachsen ist, konnte man kaum erwarten, dass er die Tiefen der 6. Symphonie werde ausloten können. Doch er verzauberte nicht nur die Mitglieder des Traditionsorchesters und führte sie zu Höchstleistungen, vielmehr explodierte der Beifall des Publikums förmlich, Standing Ovations und die Staatsministerin für Kultur und Medien Claudia Roth warf sich ihm beim anschließenden Empfang fast zu Füßen.[1]

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Ein offizielles Ranking der weltweit führenden philharmonischen Orchester gibt es nicht. Der Microsoft Copilot weist auf unterschiedliche Kriterien für ein solches Ranking hin, dennoch belegen die Berliner Philharmoniker laut künstlicher Intelligenz Platz 1. Den zweiten Platz halten die Wiener Philharmoniker und auf dem 3. Platz folgt das Royal Concertgebouw Orchestra. Chicago, Los Angeles und The Cleveland Orchestra finden sich noch unter den ersten 8 ein. Das Oslo Philharmonic wird zwar als ein vergleichbares Orchester von der KI genannt und vor allem für das innovative Programm gelobt. Mit 108 Musiker*innen im Vergleich zu den 124 Vollmitgliedern der Berliner Philharmoniker, den 148 der Wiener Philharmoniker und 100 puls des Cleveland Orchestra gehört es zu den größten. Nach der Kritiker*innenumfrage von bachtrack ändert sich im Ranking der Orchester nichts. Oslo Philharmonic ist nicht unter den besten 10 besten Orchestern der Welt. Doch Klaus Mäkelä belegt auf dem 9. Rang den vor Christian Thielemann.[2] Kirill Petrenko und Sir Simon Rattle belegen den 1. und 2. Platz vor dem fast hundertjährigen Herbert Bloomstedt aus Springfield, Massachusetts.

© John Halv

Gerade im Bereich der philharmonischen Orchester und ihrer Dirigent*innen besagt ein internationales Ranking fast nichts und doch nicht Nichts. Aber bei den Orchestern tut sich an der Spitze seit vielen Jahren wenig. Vor der großen Anzahl der symphonischen Orchester in Europa versagt selbst die KI mit dem Hinweis, dass die Musikszene äußerst lebhaft sei und unter den hunderten von Orchestern ständig Neugründungen und Umbenennungen stattfänden. Dennoch kristallisiert sich eine Spitze heraus. Und tendenziell hat der Jungstar Mäkelä den besonders geschätzten Christian Thielemann mit seiner symphonischen Klangintelligenz, die man schon hier als harte Klangdisziplin benennen kann, eingeholt. Es dürfte sich dabei um eine Art Paradigmenwechsel handeln. Der bisweilen höchst unkonventionelle Yannick Nézet-Séguin belegt in der Umfrage übrigens Platz 8 vor Mäkelä.[3]

© John Halv

Solange führende Musikkritiker*innen mit einem derart abgedroschenen Begriff wie Genie aus dem 19. Jahrhundert gegenwärtige Dirigent*innen bewerten, muss man jedes Ranking für fragwürdig halten. Zweifelsohne ist Klaus Mäkelä ein erstaunliches Talent. Die Dirigentenkarriere von Sir Simon Rattle verlief nicht ganz so kometenhaft, als er mit 25 Jahren 1980 Erster Dirigent des City of Birmingham Orchestra wurde. Doch dafür mögen nicht zuletzt veränderte Mechanismen im, nennen wir es einmal, Klassikbetrieb beitragen. Sir Simon Rattle versteht es noch heute, längst bekannte Repertoirekompositionen so zu dirigieren, als hörte und verstünde sie zum ersten Mal. Mäkelä hatte sich für das Musikfest zwei zeitgenössische finnische Komponist*innen, Einojuhani Rautavaara mit Cantus Arcticus und Kaija Saariaho mit Vista, sowie Dmitri Schostakowitsch mit der Sinfonie Nr. 5 d-Moll aufs Programm gesetzt. Der Cantus Arcticus (1972) mit seinen atmosphärischen Einspielungen vom Tonband funktionierte dabei als ein perfekter Einstieg und Ohrenöffner.

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Als Auftragswerk der Arctic University of Oulu gibt der arktische Gesang sogleich einen Wink auf eine sinnliche wie wissenschaftliche Wahrnehmung der Arktis durch Musik in den drei Sätzen Der Sumpf, Melancholie, Ziehende Schwäne. Durch die Feldaufnahmen aus der Arktis und den Schwänen wird eine Wahrnehmung von Natur mit den Satztiteln produziert, die mit dem zweiten Satz Melancholie ein mehr oder weniger regionales Lebensgefühl formuliert. Finnische, schwedische oder norwegische Melancholie ist allemal verbreiteter als Melancholie im Süden Europas. Feldaufnahmen vom Tonband in einem symphonischen Konzertformat waren in den 70er Jahren revolutionär. Für den Berichterstatter stellten sich eingedenk der Reden und Bilder vom Klimawandel mit der finnischen Universitätsstadt Oulu auf dem 65. Breitengrad Nord problematischere Töne ein. Die Natur der Arktis wird von Einojuhani Rautavaara eher als eine unberührte, intakte, romantische komponiert, während heute dieses Arktis- und Finnland-Bild durchaus brüchig ist.

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Die Auftraggeber für Kaija Saariahos Orchesterwerk Vista von 2019 geben durchaus einen Wink auf die Qualität der Komponistin und ihre internationale Anerkennung. Denn Vista wurde vom Helsinki Philharmonic Orchestra, den Berliner Philharmonikern, dem Oslo Philharmonic und der Los Angeles Philharmonic Association in Auftrag gegeben. Es stellt höchste Ansprüche an die Spielpraktiken der Orchester. Neuartige Klangregister werden angestimmt. Die finnische Komponistin arbeitete am von Pierre Boulez gegründeten Musikforschungsinstitut Ircam in Paris nicht zuletzt mit elektronischer Musik. Vista arbeitet (nicht) mit Elektroakustik, erzeugt indessen Klangfelder, die an elektroakustische Musik erinnern. Ob und in welcher Weise sie in Paris mit Éliane Radique aus dem weiteren Umfeld des Ircam in Kontakt kam, entzieht sich der Kenntnis des Berichterstatters. Doch die Kompositionspraxis und die Wechselwirkungen mit der Elektroakustik geben einen Wink.[4] Wie Auftraggeber und Konzertformat mit Horizons: Calmo, espressivo. Attaca. Targets: Audace anklingen lassen, entstehen bei Vista klangliche Transformationen aus der Kenntnis der elektroakustischen Forschung. Klaus Mäkelä dirigierte das Orchesterwerk der 2023 verstorbenen Komponistin In memoriam und hielt beim Applaus die Partitur als Geste der Wertschätzung in die Höhe. Das Oslo Phiharmonic hatte damit durchaus seine Qualität bewiesen.

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Mit der Sinfonie Nr. 5 d-Moll op. 47 aus dem in der Sowjetunion hochbrisanten Jahr der Kulturpolitik 1937 von Dmitri Schostakowitsch schlug Klaus Mäkelä allein schon deshalb ein anderes Register auf, weil er nun das symphonische Großwerk aus dem Kopf anstatt vom Blatt dirigierte. Schostakowitsch komponierte seine 5. Sinfonie in dem Bewusstsein, dass er ruiniert, er verurteilt werden könnte, wenn seine Komposition nicht der kulturpolitischen Leitlinie der KPdSU unter der diktatorischen Führung Josef Stalins entsprechen würde. Der Verriss seiner 4. Sinfonie durch die linientreue Musikkritik war eine unverhohlene Drohung während der „Großen Säuberung“ ab 1936 gewesen. Sollte seine Musik noch einmal als „Chaos statt Musik“[5] ausfallen, hätte er mit dem Gulag rechnen müssen. Die musikologische und kulturpolitische Todesdrohung bestimmt insofern und nach Ansicht einiger Historiker die Komposition der 5. Sinfonie. Die Musik durfte auf keinen Fall in irgendeiner Weise nach Chaos klingen. Die chaotische kulturelle Debatte sollte als kontrolliert erscheinen.

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Die Rhetorik der Drohung, die seit dem 21. Februar 2022 durch Wladimir Putin, in die Weltpolitik zurückgekehrt ist[6], steht hinter der Komposition der Sinfonie Nr. 5 d-Moll von Dmitri Schostakowitsch. Eine ganze Reihe politischer Praktiken Wladimir Putins bis hin zur Rehabilitierung Josef Stalins wiederholen dessen nicht zuletzt kulturpolitische Handlungsweisen. Dem eingedenk erhält die Interpretation und Akzentuierung der Sinfonie eine aktuelle Dimension. Wie soll die Sinfonie Nr. 5 d-Moll klingen? Mit der Tonart d-Moll knüpft Schostakowitsch nicht nur gestisch an Beethovens 9. Symphonie an. Das große Werk wird auch an die Musikkritiker und deren Kampfbegriff „Musik“ adressiert. Doch dann wird in deren Erwartung etwas anderes daraus. Mit den Worten von Olaf Wilhelmer:
„Allein die Abfolge der Sätze langsam-schnell-langsam-schnell muss als unkonventionell eingestuft werden, und die ostentative Sprachähnlichkeit des einleitenden Rezitativs – das kanonische Thema kehrt immer wieder zurück – wirft die Frage auf, wer da was sagt.“[7]

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Muss die Sinfonie Nr. 5 d-Moll Brüche hörbar machen, so dass die „Musik“ nicht mehr gut klingt? Brüche erinnern an das „Chaos“ oder gehen mit ihm einher. Die Interpretation der Sinfonie spielt sich an dieser Frage ab. Ein hochgeschätzter Expertenfreund meinte, dass Klaus Mäkelä noch lernen könne, dass Musik nicht immer schön klingen müsse. Mäkelä achtete fast peinlich genau darauf, dass es schön und am Schluss großartig klingt, so dass das Publikum augenblicklich in einen Jubel ausbrach. Sie hörten die Drohung nicht! Die Drohung schwingt noch in den schönsten Klängen mit. Der Berichterstatter brauchte eine gewisse Zeit, um die Mehrdeutigkeit des Schlusses unter Klaus Mäkelä zu verdauen. – Ja, so jubeln sie. So werden womöglich die stalinistischen Musikkritiker innerlich gejubelt haben: Er hat sich unterworfen! Genaueres weiß man nicht und Schostakowitsch hat es nicht aufgelöst. – Die Naivität, es sich mit einer Drohung der Vernichtung bequem einzurichten, kann man aus politischem Kalkül gerade bei mehr als der Hälfte der Wähler*innen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg beobachten. Ich denke, dass der Finne und Weltstar Klaus Mäkele sich ganz genau entschieden hat, es gut, aber bedrohlich klingen zu lassen.

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Das Konzert der Wiener Philharmoniker unter der Leitung von Christian Thielemann war mit den beiden Sinfonien Nr. 1 von Robert Schumann in B-Dur op. 38 „Frühlingssinfonie“ und von Anton Bruckner in c-Moll in der Wiener Fassung (1890/91) schon deshalb anders konzipiert, weil zwei Klassiker mit einer Steigerung nacheinander aufgeführt wurden. Man könnte schon von der Konzeption und dem Erscheinungsbild des Orchesters sagen, dass es entschieden konservativer als das des Oslo Philharmonic war. Die Wiener Fassung der 1. Sinfonie ist zudem nach Bruckners 8. Sinfonie von 1887, 1890 als seiner letzten vollendeten, überarbeitet worden. Während es sich bei Schumanns 1. Sinfonie um eine frühe Arbeit am Format der Sinfonie handelt, wird die Erste bei Anton Bruckner in der Wiener Fassung zu einem Spätwerk der Kompositions- und Instrumentationskunst. Die Entwicklung der Sinfonie als Großwerk stand insofern im Interesse des Konzerts und seines Dirigenten. Während die Schumann-Sinfonie beschwingt erklingt, wird die Bruckner-Sinfonie zur Maximalausarbeitung des Genres.

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Die hohe Perfektion im Klang der Dirigate von Christian Thielemann gehört zu seinem Ruf.[8] Sollte es in der 1. Sinfonie von Robert Schumann Brüche geben, dann finden sie nicht die Aufmerksamkeit des Dirigenten.[9] Christian Thielemann versteht sich womöglich als Klangzauberer gerade in den klassischen Formaten wie der Oper, wenn er z. B. Die Meistersinger von Nürnberg in der Semperoper dirigiert, und der Sinfonie. War bereits in den Dresdner Meistersingern eine Art Mechanik hörbar geworden, so erhält die Wiener Fassung der Ersten von Bruckner ebenfalls eine zunehmende Mechanik bzw. „(r)ollende und stampfende Motive drehen sich um die eigene Achse“[10]. Thielemann interessierte schon in den Meistersingern, was das für eine „Musik“ sei. Die Frage der Musik als makelloses Klangereignis schimmert auch bei Schumann und Bruckner durch. Die 1. Sinfonie von Robert Schumann wird zu einem ebenso fein ausgearbeiteten wie emphatischen Ereignis des Wohlklangs. Thielemann dirigiert beide Sinfonien aus dem Kopf und mit eher sparsamen Gesten.  

© Fabian Schellhorn

Die Frage der Musik wird mit der Wiener Fassung besonders zugespitzt. Denn dem Organisten und Sinfonie-Komponisten schwebte mit einer Sinfonie für den lieben Gott auch ein Maximum an Musik aus sich selbst heraus vor. In der Wiener Fassung wird mit wiederholtem Crescendo nach der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Wiener Universität eine Art Gipfel ohne Ironie klanglich aufgebaut. Zu den frühen, herausragenden Konzerterlebnissen des Berichterstatters gehört die Erinnerung an die 8. Sinfonie von Bruckner unter Günter Wand mit dem NDR-Sinfonieorchester in der Hamburger Laeizhalle. Der fast achtzigjährige Dirigent bestieg das Podium und dirigierte 80 Minuten in höchster Konzentration mit minimalen Gesten und großer Leichtigkeit, als flöge er. Er dirigierte vom Blatt und ohne besondere Anstrengung. Bei Christian Thielemann ist das anders. Mit den Wiener Philharmonikern gelingt ihm, die Musik aus der nackten Partitur heraus zu formen. Es liegt darin auch eine Überwältigungslogik durch den Orchesterapparat. Die Musik wird, wie der Berichterstatter beim Hören notierte, eine „Überwältigungsmaschine“ zwischen Reminiszenzen an Lametta und Totentanz.

© Fabian Schellhorn

Die Großartigkeit der Musik in der Wiener Fassung durch das Dirigat von Christian Thielemann erzeugte Jubelstürme und Standing Ovations, während der Bericht erstattende Hörer nach völliger Erschöpfung erst einmal zu sich kommen musste. Die musikalische Großartigkeit lässt sich nicht zuletzt als ein Effekt strengster Disziplin und herausmodellierter Reinheit des Klangs bedenken. Der liebe Gott nach Bruckner und die Überwältigungsmaschine gehören zusammen. Wer zu früh aufspringt, hat sich schon verraten. Denn die Musik als Kunst der Komposition winkt hinüber zur Kunst als Religion, wie sie von Richard Wagner im Parsifal konzipiert wird. Bruckner komponiert anders und macht doch aus seiner Musik eine Religion. Die Ergriffenheit der Standing Ovations für den Dirigenten Christian Thielemann als Priester der Musik gibt einen Wink auf das Begehren des Publikums, einen großen Kontrolleur zu sehen und zu hören.

Torsten Flüh

Musikfest Berlin 2024
Mediathek
Oslo Philharmonic
Klaus Mäkelä
Konzert vom 1. September 2024
bis 5. Oktober 2024

Wiener Philharmoniker
Christian Thielemann
Konzert vom 15. September 2024
bis 19. Oktober 2024 


[1] Siehe Torsten Flüh: Vom Zauber der Jugend und der Musik. Zur fulminanten Eröffnung des Musikfestes 2022 mit dem Concertgebouworkest Amsterdam unter der Leitung von Klaus Mäkelä. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. August 2022.

[2] Bachtrack: Critics’ Choice 2023: Wer sind die zehn besten Dirigenten und Orchester der Welt? 11. September 2023.

[3] Siehe Torsten Flüh: Starke Geschlechter über Grenzen hinweg. Zum gefeierten Konzert des Philadelphia Orchestras mit Lisa Batiashvili unter der Leitung von Yannick Nézet-Séguin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. Sepember 2022.

[4] Zu Éliane Radigue siehe: Torsten Flüh: Das Schicksal der Wellen. Zur Erforschung der Electronic Works von Éliane Radique bei MaerzMusik 2022. In: NIGHT OUT @ BERLIN 25. März 2022;
Und: Zur Radikalität der Instrumente. Erwan Keravec mit Dudelsack und Lucia Dlugoszewski mit To Everybody Out There bei MaerzMusik 2024. In: NIGHT OUT @ BERLIN 8. April 2024.

[5] Zitiert nach Olaf Wilhelmer: Über die Grenze hinaus. In: Berliner Festspiele: Abendprogramm 1.9.2022 Oslo Philharmonic. Berlin 2024, S.12.

[6] Zur Rhetorik der Drohung siehe: Torsten Flüh: Das Putin-Rätsel. Zur großen Demonstration „Stoppt den Krieg“ und den dezentralen Protesten. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. März 2022.

[7] Olaf Wilhelmer: Über … [wie Anm. 5] S. 12.

[8] Zu Christian Thielemann siehe: Torsten Flüh: Richard Wagners Späße mit dem Bürgertum. Zur Neuinszenierung Die Meistersinger von Nürnberg an der Semperoper unter der Leitung von Christian Thielemann. In: NIGHT OUT @ BERLIN 18. Februar 2020.

[9] Zu Robert Schumann siehe: Torsten Flüh: Natur und Intelligenz bei Menschen, Göttern und Schwärmen – Gustavo Dudamel dirigiert Robert Schumann und Richard Wagner mit den Berliner Philharmonikern in der Waldbühne. In: NIGHT OUT @ BERLIN 13. Juli 2017.

[10] Olaf Wilhelmer: Anfänge ohne Ende. In: Berliner Festspiele: 15.9.2024 Wiener Philharmoniker. Berlin 2024, S. 13.