Wissen – Humanmedizin – Architektur
Architektonische Wissensmaschinen und die Lebenswissenschaften
Zum Brutalismus der ehemaligen Zentralen Tierlaboratorien und des Instituts für Hygiene und Mikrobiologie der Freien Universität Berlin
Im September fand das Festival für urbanes Wohlergehen mit der Webadresse urbanepraxismaeusebunker.berlin rund um die sonst seit Jahren abgesperrte im Berliner Jargon Mäusebunker genannte Ikone des Brutalismus statt. Der Mäusebunker liegt an der Krahmerstraße zwischen Hindenburgdamm und Teltowkanal gegenüber dem ehemaligen Institut für Hygiene und Mikrobiologie in ebenfalls brutalistischer Architektur. Beide Forschungseinrichtungen wurden in den 60er Jahren im Kontext humanmedizinischer Forschung an der Freien Universität als Ergänzungen zum nahen Klinikum Steglitz, dem heutigen Charité Campus Benjamin Franklin[1], geplant und erbaut. Auf welche Weise visualisieren sie das in ihnen generierte Wissen vom Menschen?
Das programmatisch von Le Corbusier formulierte Haus als Maschine wird für beide Bauwerke auf unterschiedliche Weise mit großen Betonflächen als Fassaden konzipiert. Einerseits knüpft das Architekturbüro Fehling+Gogel 1966 mit abgerundeten Flächen zur Krahmerstraße an eine Ästhetik des Screens von Curtis & Davis für das Klinikum an, anderseits entwerfen Gerd und Magdalena Hänska 1967 eine multifunktionale Maschine, deren Funktionen wie Belüftungsrohre und Techniketagen, Abfallbeseitigungstore und Wissenszellen hinter Tetraeder-Fenstern Architektur werden. Vor allem die heftigen Reaktionen in der Berliner Öffentlichkeit erregenden ehemaligen Zentralen Tierlaboratorien geben einen Wink auf Wissensverschiebungen der letzten 60 Jahre in der Humanmedizinforschung.
Forschungseinrichtungen wie Laboratorien und Institute, aber auch andere Großbauten sollen Wissen generieren. 2021 feierten die Berliner Festspiele den International Congress Center Berlin (ICC) mit dem David Bowie-Zitat The Sun Machine is Coming Down[2] durch eine künstlerische Intervention. Die Architektin Ursulina Schüler-Witte wurde besonders gewürdigt. Die Planungen reichten ebenfalls bis in die 60er Jahre zurück. Es wurde 1979 eröffnet. Das ICC als Raummaschine generierte mit Kongressen, Messen und Konzerten ebenso wie Shows unterschiedliche Formen von Wissen. Ähnlich wie die humanmedizinischen Bauprojekte war das ICC in politische Debatten um den Status West-Berlins eingebunden. Die Kooperationen von Architektinnen und Architekten in Büros förderten neuartige Arbeitsweisen. Die Berliner Architektenpaare Ursulina Schüler-Witte und Ralf Schüler sowie Gerd und Magdalena Hänska mit weiteren Kooperationspartnern sind erst in jüngerer Zeit ins Interesse gerückt worden. Das Modell der Maschine wurde in den 60er Jahre auf unterschiedliche Bereiche der Wissensgenerierung von der Forschung bis zur Unterhaltung architektonisch angewendet.
Das ehemalige Institut für Hygiene und Mikrobiologie wurde im Januar 2021 unter Denkmalschutz gestellt. Der Berliner Landeskonservator Christoph Rauhut begründete den Denkmalschutz: „Dieses Institut ist ein Gesamtkunstwerk, ein Bau von internationalem Rang und ein bedeutender Beitrag zur ‚organischen‘ und ‚brutalistischen‘ Architektur der Nachkriegsmoderne!“[3] Prof. Dr. Axel Radlach Pries, Dekan der Charité, ordnete das Institut in die Berliner Medizingeschichte ein: „Das Berliner Hygiene-Institut, 1885 von Robert Koch gegründet, ist Teil der Berliner Geschichte. Ohne die hier geleistete Forschungsarbeit wäre Berlin nie Millionenstadt geworden.“[4] Dabei sollte allerdings nicht unter den Tisch fallen, dass Robert Koch als Entdecker des Milzbrandbakterium bei Kühen und der Tuberkulose eher der Vater der Mikrobiologie ist, während sein konzeptueller Gegenspieler und Zelltheoretiker Rudolf Virchow stärker in der Hygienepraxis engagiert war. Insofern führte das Nachkriegsgebäude die beiden humanmedizinischen Stränge der bevölkerungspolitischen Hygiene und mikrobiologischen Forschung zu Bakterien und Viren zusammen.
Das Landesdenkmalamt erklärte das Gebäude der ehemaligen Zentralen Tierlaboratorien der Freien Universität Berlin im Rahmen des Modellverfahrens „Mäusebunker“ 2023 zum Denkmal.[5] Einen wichtigen Anstoß für die neue Wertschätzung des Bauwerks gab die Ausstellung „Suddenly Wonderful Westberliner Großbauten der 1970er Jahre“.[6] Damit wurde nicht zuletzt ein Paradigmenwechsel vollzogen, der das ICC wie den „Mäusebunker“ nicht mehr als Auswüchse des Modernismus in Form des Brutalismus aus dem Stadtbild durch Sprengung tilgen will, sondern urbane Nutzungsformen entwickelt. Die vor allem aus konservativ-reaktionären Kreisen betriebenen Versuche der Tilgung werden schon durch die exorbitant hohen Beseitigungskosten vereitelt. Die Betonmassen des Brutalismus lassen sich nicht einfach wegsprengen. Medizinhistorisch bedacht sind die Zentralen Tierlaboratorien mit der Humanmedizin eng verknüpft, weil Robert Koch am Milzbrand der Kühe mit Hilfe der Fotografie 1876 überhaupt die Mikrobiologie entwickelte. Ohne genaues Wissen des Erregers hatte bereits Ernst L. Wagner 1865 im Handbuch der Pathologie u.a. mit dem Milzbrand die Zoonose als Übertragung von Krankheiten vom Tier auf den Menschen beobachtet und konzipiert.[7]
Die reinen Betonflächen beider Forschungsstätten bieten Projektionsflächen an der Schnittstelle des Wissens vom Tier und vom Menschen. Sie wirken wie ein Screen zwischen verbergendem Vorhang und Bildschirm.[8] Es wird ein Wunsch nach Wissen geweckt, das gleichsam verbergend ausgestellt wird. Doch der Name wirkt wie ein Screen. Mit dem vereinfachenden Neologismus Mäusebunker als ebenso niedlicher wie massiver Bunker für Versuchsmäuse lässt sich eine Mehrdeutigkeit im Verhältnis des Menschen zum Tier lesen. Der zum Kernnamen gewordene Mäusebunker für das Bauwerk überschreibt die massenhaft tödlichen Tierversuche in den universitären Tierlaboren zum Wohle des Menschen. Zugleich ist ein Bunker landläufig ein massiver Schutzraum für Menschen in Kriegen und Katastrophen. Schützte der Mäusebunker die Mäuse? Bunker erleben gar in den USA einen Hype als Immobilien für Reiche, wie wortreich und bildstark in den Medien berichtet wird. Der massive Mäusebunker kann visuell zugleich an ein interstellares Schlachtschiff zur Verteidigung der Menschheit erinnern.
Die Zentralen Tierlaboratorien der FU wurden spätestens um die Jahrtausendwende zum Schauplatz für Proteste von Tierschützern. Damit kehrte sich zumindest die Wahrnehmung des Tieres im Verhältnis zum Menschen in der breiten Öffentlichkeit tendenziell um. „Früher protestierten die Tierschützer noch leibhaftig am Steglitzer „Mäusebunker“ der Freien Universität, in dem bis 2020 Versuchstiere gehalten wurden“, erinnerte Helmut Höge in der Taz 2023.[9] Der Mäusebunker bot einen „zentralen“ Ort für Tierschutzproteste. Doch Tierversuche in den Diensten der Humanmedizin sind nicht aus Berlin verschwunden, vielmehr wurden sie durch Dezentralisierung normalisiert. Für Versuchstiere „gibt es mehrere neue „Mäusebunker“ in Berlin-Buch. Dort werden allein im Max-Delbrück-Centrum durchschnittlich 105.403 Tiere pro Jahr „vernutzt“. Daneben gibt es auch noch den Charité-Campus Buch, wo man die Wirt-Virus-Beziehung bei Vampirfledermäusen erforscht, die mit einem neuartigen Morbillivirus infiziert wurden.“[10]
Hinter dem geschwungenen Betonschirm zur Krahmerstraße des ehemaligen Instituts für Hygiene und Mikrobiologie verbargen sich ebenso Labore mit Sicherheitsschleusen wie Büros, Unterrichtsräume und ein Auditorium zur Wissensvermittlung. „Der zentrale, verhältnismäßig linear ausgebildete Bauteil beherbergt Büros und Labore. Die Labore sind als Sicherheitsbereich ausgeführt, da hier unter anderem unerforschte Krankheitserreger untersucht wurden.“[11] Das Gebäude und die in ihm ausgeführten Funktionen für die Humanmedizin wurden von Fehling+Gogel in differenzierender und variierender Formensprache durch den Sichtbeton ausgestaltet. Das Auditorium als Ort der Wissensvermittlung hinter dem geschwungenen Betonschirm wurde gar mit einer futuristischen Spitze ausgeführt. Zwischenzeitlich wird das Gebäude als Paul-Ehrlich-Haus für Allergieforschung genutzt, was nicht zuletzt einen Wink gibt auf die hohe Dynamik der humanmedizinischen Diskurse gibt.
Während sich die Architektur des Klinikums Steglitz, Charité Campus Benjamin Franklin, mit seinen Funktionen als hoch anpassungsfähig erwiesen hat, lässt sich vor allem das Gebäude für die Zentralen Tierlaboratorien als ein Paradox vom brutalistischen Großbau mit seinen prognostizierten Funktionen und den Dynamiken in der Humanmedizin bedenken. Dieses Paradox des zu Architektur gewordenen Funktionswissens als Architekturwissen führt aktuell zu den Debatten der urbanen Praxis für eine Umnutzung. In den 60er bis 80er Jahren funktionierte ein gigantisches Schlachtschiff für Tierversuche noch als Verteidigungsversprechen der menschlichen Gesundheit, seither wurden die Theoreme ins Wissen vom Winzigen in Nanobereiche verschoben, wie bereits Marianne Schuller und Gunnar Schmidt in Mikrologien 2003 mit der Formulierung, dass das „Kleine in technischer Form … kein schöner Schmetterling“ sei, es sei vielmehr „eine verstreute Großtechnologie“, zu bedenken gegeben haben.[12] Andererseits wird das Wissen vom Kleinen und Kleinsten beispielsweise bei hoch ausdifferenzierten Lymphomen in der Praxis der Onkologie erfolgreich angewandt.
Die Größe und die Funktionen des Mäusebunkers orientierten sich an dem Wissen nicht zuletzt der Zoonose und der Bevölkerungsgesundheit nach den Katastrophen des I. und II. Weltkriegs. Es war nicht zuletzt die Entwicklung eines Impfstoffs gegen die epidemische Kinderlähmung in den 1950er Jahren, die neue massenhafte Tierversuche anregte, worauf Hubert Steinke 2022 aufmerksam gemacht hat. Bereits Paul Ehrlich(!) stützte seine Behandlung der Syphilis in den 1900er Jahren auf „Versuche mit Tausenden Tieren (vor allem Mäuse). In noch weit grösserem Masse wurden Tiere (einige Millionen Makaken) in den 1950er-Jahren zur Erforschung, Entwicklung und Produktion des Polio-Impfstoffs verwendet, der zur Ausrottung der Kinderlähmung führte.“[13] Den Höhepunkt der Tierversuche für moderne Pharmakotherapien sieht Steinke nach dem Zweiten Weltkrieg in den 1970er Jahren. Die Kinderlähmung war in West-Berlin in der Planungsphase der Tierlaboratorien präsent.[14] Die sogenannte Schluckimpfung für Kinder auf einem Stück Würfelzucker gegen Polio in den 1960er Jahren bevölkerungsgesundheitliche Praxis. Die Dimension der Zentralen Tierlaboratorien und ihre Ähnlichkeit mit einem Schlachtschiff korrelierte insofern mit dem Wissen und den Versprechen der Humanmedizin.
Die Funktionalität der Architektur und Fassadengestaltung der Zentralen Tierlaboratorien ist wiederholt herausgestellt worden. Unter den Architekturen der Wissenschaft in Berlin fällt das Bauwerk als ein Extrem aus.[15] Der Zuversicht der medizinischen Forschung spielt die Angst vor einer Biogefährdung bzw. einem Biohazard entgegen, vor dessen Gefahren seit 1966(!) mit einem einheitlichen Symbol gewarnt wird. „Fenster gibt es nur wenige, die Zu- und Abluft wird durch ein komplexes Röhrensystem geleitet. Mit Betonplatten verkleidet und abgeschottet, um Hygiene und Sicherheit zu garantieren, gehen Wand und Dach ineinander über.“[16] Während im oberen Forschungs- und Bürobau Fenster als spitze Tetraeder auf drei Etagen gestaltet wurden, finden sich die Tetraeder im unteren Bauteil in drei Reihen aus Beton wieder. Das hervorstechende Element der Tetraeder aus Glas und Stahl für die Fenster und Beton zur Gestaltung der Fassade verstärkt zusätzlich zu den Belüftungsrohren auf der schrägen Betonfassade das Sicherheitsversprechen und die Angst vor einer unkalkulierbaren Gefahr. Durch die „architektonisch geprägte Prozesshaftigkeit von Wissen koppelte sich die Entwicklung der Architektur von Universitäts- und Wissenschaftsbauten an die der Wissenschaft selbst“, schreiben Arne Schirrmacher und Maren Wienigk.[17]
Die nachträglich schwierig zu verifizierende Planungsphase des Gebäudes und ein kleiner, zwischenzeitlich abgerissener Versuchsbau an der nahen Bäkestraße geben einen Wink auf Wissensprozesse in der Universität wie in der Architektur. „Der Planungsbeginn der Forschungseinrichtung ist nicht eindeutig belegbar. Angaben in der Literatur nennen als Planungsbeginn 1965, 1966 oder 1967. Ein vollständiger Gebäudeentwurf lag spätestens 1967 vor. Baubeginn war 1971, jedoch wurde der Bauprozess wegen hoher Kostenüberschreitung von 1975 bis 1978 unterbrochen. Fertigstellung war erst 1981.“[18] Da das Bauwerk wiederholt wegen Form und Größe als „Betonpyramide“[19] bezeichnet worden ist, ergeben sich sowohl Assoziationen zur kosmologischen Architektur der Pyramiden wie die auf eine Funktion ausgerichtete Architecture parlante der französischen Revolution.[20] Die Großarchitektur im eher beschaulichen Lichterfelde am Industriewasserweg Teltowkanal, erbaut 1900-1906, sollte nicht nur für den Fortschritt der Wissenschaft in der Humanmedizin sprechen. Sie glitt vielmehr in ein psychotisches Weltbild aus Gefahren, Ängsten und Versprechen, das unvorhergesehen hohe Geldmengen verschlang.
Die Zentralen Tierlaboratorien als Name der Forschungseinrichtung verfehlt nicht weniger als der des Mäusebunkers die Ausmaße und die weit über Tierversuche hinausweisenden Wissensprozesse und das Begehren, vom Menschen wissen zu wollen. In singulärer Weise wird der Baukörper zu einer Ausformung der Wissenschaften, ihrer Versprechen und ihrer Dynamiken zwischen 1960 und 1980. Wann und wie genau sich die Pyramide in ein Raumschiff als ultimatives Wissensprojekt verwandelte, lässt sich schwer rekonstruieren. Doch die zeitliche Nähe zum Apollo-Raumfahrtprogramm 1961 bis 1972 hinterließ ihre Spuren im Baukörper. Das Labor indessen wurde vom Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger als „Experimentalsystem“ für die moderne Wissenschaft untersucht. Das als Zentrale Tierlaboratorien konzipierte Bauwerk mit seinem massiven Baukörper gibt einen Wink auf das Labor in der Wissenschaft vom Menschen:
„… meine eigene Erfahrung, die ich aus dem Labor mitgenommen habe, als ich mich auf den Weg gemacht habe, Wissenschaftshistoriker zu werden, ist die gewesen, dass die Objekte, die Wissensobjekte, mit denen man dort umgeht, doch sagen wir mal, so viel Widerständigkeit aufweisen, dass man sich an ihnen abarbeiten muss.“[21]
Tierversuche im Labor hat Hans-Jörg Rheinberger nicht näher untersucht. Doch das „Verhältnis von Labor und Klinik“[22], wie es in Steglitz mit dem Klinikum, dem Institut und den Zentralen Tierlaboratorien zu einem ganzen Ensemble Architektur geworden ist, sieht er als eine Verknotung „von staatlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen vorgegebene(r) Leitvorstellungen über Gesundheit und Krankheit, die Implementierung medizinischer Programme, die Umsetzung von Forschungsstrategien in Diagnoseverfahren, die Wiedereinsetzung diagnostischer oder therapeutischer Routinen in andere Forschungskontexte mit Fragen der institutionellen Allokation, des sozialen Status von Spezialdisziplinen vertretenden Forschungsgruppen bis hin zur räumlichen, architektonischen Gestaltung des Verhältnisses von Grundlagenforschung und medizinische Praxis“.[23] Er macht darauf aufmerksam, dass „das Spannungsfeld von Labor und Klinik ein immenses Reservoir für Fragen nach Status, Bedeutung und Auswirkungen des Experiments“ biete.[24] Anders formuliert: das Lichterfelder Ensemble wurde nicht nur als Schnittstelle der Lebenswissenschaften geplant, vielmehr werden insbesondere am kolossalen Mäusebunker „Experimentalsysteme“ und ihre Neujustierung bedenkenswert.
Die biologischen und humanmedizinischen Wissenschaften werden von Rheinberger mit der Frage nach dem Labor und seiner Verknotungen mit anderen Wissensbereichen epistemologisch befragt. Welche Rolle Ängste für die Wissenschaften spielen, fragt er nicht. Doch „(f)ührt uns das Experiment nicht gerade in einen Raum, in dem von Wahrheit in einem traditionellen Sinne gar nicht mehr die Rede sein kann? Kommt hier möglicherweise Jacques Lacans eigentümlich anmutende Bemerkung zu ihrem Recht, daß die unglaublichen Hervorbringungen der modernen Wissenschaften gerade in ihrem Charakter begründet liegen, „nicht-wissen-zu-wollen von der Wahrheit als Ursache“?“[25] Rheinbergers Schwenk auf Lacan als Wissenschaftskritik kann zugespitzt werden. Denn es ist Jacques Lacan, der Mitte der 50er Jahre in seinem Seminar zu den Psychosen, darunter der Paranoia das verstandesmäßige Wissen der Wissenschaften befragt. Er tat das in eloquent geführter Rede, die erst nachträglich als gedruckter Text hergestellt wurde.
„Es gibt eine Prüfung, die Sie bei der Lektüre Freuds und fast aller Autoren anstellen können – Sie werden da über die Paranoia Seiten, mitunter ganze Kapitel finden, lösen Sie sie aus ihrem Kontext heraus, lesen Sie sie laut, und Sie werden die großartigsten Abhandlungen über das Verhalten von aller Welt sehen. Es fehlt nicht viel und was ich Ihnen gerade von Kraepelins Definition der Paranoia vorgelesen habe, würde das normale Verhalten definieren. Sie werden dieses Paradox ständig wiederfinden, und noch bei Autoren, die Analytiker sind“.[26]
Lacan schlägt seinen Hörer*innen eine Praxis des lauten Lesens vor, die mit seinem Sprechen im Seminar korreliert. Das laute Lesen hat den Effekt, dass sich das Verhalten in der Paranoia kaum von einem „normale(n) Verhalten“ unterscheiden lässt: „Sie werden die großartigsten Abhandlungen über das Verhalten von aller Welt sehen“. Das sich vermeintlich neben dem Verstand abspielende Verhalten wird „normal“. Für Lacan wurde die Paranoia epistemologisch für die „“closure“ of science“ wichtig.[27] Die Frage nach der Wissenschaft bleibt nach Walter Seitter eine „optative Dimension“.[28] Das performative Sprechen Lacans in seinen Seminaren ist wiederholt thematisiert worden u. a. in dem Film Lacan parle (1972) von Françoise Wolff.[29] Die Performanz der Sprache und das Erlernen von Fachsprachen gehören nach wie vor nicht zuletzt neben dem Labor zum Körper der Wissenschaften. Die Wissenschaften, insbesondere Lebens- und Humanwissenschaften werden in den Laboratorien en passant von einer Angst des Nicht-Wissens getrieben. In der historischen Konstellation der 60er bis 80er Jahre nehmen die Ängste eine extreme Form an.
Das Ensemble aus Laboratorien und Klinik, Diagnostik und Maschinen, Hörsälen und Seminarräumen nach dem Modell des Brutalismus in Steglitz kann als eine Art Zeitkapsel der Wissenschaften gesehen werden. Gerade mit den Elementen, die an die Weltraumfahrt erinnern, lässt sich heute bedenken, dass das Wissensprojekt zu einem großangelegten Tourismusgeschäft für sehr reiche Menschen geworden ist. Die Angst, trotz Vermögen, nicht im Weltraum gewesen zu sein, generiert heute mit Elon Musk Milliarden an US-Dollar. Jeff Bezos ist abhängig von Staatsmilliarden, um Raumfahrtprojekte durchzuführen. Big Money hat längst das Interesse an neuem Wissen abgelöst. Was als Vehikel und Symbol der Wissenschaften zur Definition der Nation und ihres systemischen Vorsprungs konzipiert wurde, hat sich verflüchtigt in Finanzströme.
Torsten Flüh
[1] Siehe Torsten Flüh: Modernismus für die Medizinmaschine. Zur Architektur als Bild vom Menschen anhand des Benjamin Franklin Campus‘ der Charité. In: NIGHT OUT @ BERLIN 12. Oktober 2024.
[2] Siehe Torsten Flüh: Die Raummaschine. Über die Erkundung des ICC zur Feier von 70 Jahre Berliner Festspiele mit THE SUN MACHINE IS COMING DOWN. In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. Oktober 2021.
[3] Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt: Institut für Hygiene und Mikrobiologie unter Denkmalschutz. Pressemitteilung 20.01.2021.
[4] Ebenda.
[5] Landesdenkmalamt Berlin: Neu unter Denkmalschutz: „Mäusebunker“ im Rahmen des Modellverfahrens Mäusebunker unter Schutz gestellt. Kurzmeldung 2023.
[6] Berlinische Galerie: Suddenly Wonderful – Westberliner Großbauten der 1970er Jahre. 26.5.23 – 18.9.23.
[7] Zum Konzept der Zoonose siehe: Torsten Flüh: Fledermäuse, Pangoline, Labore und die Gattung Homo sapiens sapiens. Wie Verschwörungstheorien Sinn stiften und Narrative vom Patient Zero bis zur Artengrenze übertragen werden. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. April 2020.
[8] Zum Screen siehe: Torsten Flüh: Modernismus für die Medizinmaschine. Zur Architektur als Bild vom Menschen anhand des Benjamin Franklin Campus‘ der Charité. In: NIGHT OUT @ BERLIN 12. Oktober 2024.
[9] Helmut Höge: Alte und neue Mäusebunker. Onkomäuse, Zebrafische und Meerschweinchen: Kaum jemanden interessiert noch, wie viele Tierversuche es in Berlin gibt, kritisiert unser Kolumnist. In: taz 6.6.2023 9:05 Uhr.
[10] Ebenda.
[11] Zitiert nach: Wikipedia: Institut für Hygiene und Mikrobiologie.
[12] Siehe auch: Torsten Flüh: »ça a été« Zur Tagung Lesen und Schreiben. Figuren des Kleinen zu Ehren von Prof. Dr. Marianne Schuller in der HFBK, Hamburg. In: NIGHT OUT @ BERLIN 12. August 2024.
[13] Hubert Steinke: Die lange Geschichte der Tierversuche. In: uni aktuell – Das Online-Magazin der Universität Bern. 12. Januar 2022.
[14] Zur Kinderlähmung siehe: Torsten Flüh: Von der Fiktionalität der Epidemie. Zu Philip Roths Roman Nemesis über eine fiktionale Polio-Epidemie in Newark 1944. In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. Januar 2021.
[15] Arne Schirrmacher, Maren Wienigk (Hg.): Architekturen der Wissenschaft. Die Entwicklung der Berliner Universitäten im städtischen Raum. Berlin: jovis, 2019.
[16] Maren Wienigk: Campus Benjamin Franklin, Lichterfelde. Ebenda S. 241.
[17] Ebenda S. 13.
[18] archINFORM: Zentrale Tierlaboratorien der Freien Universität Berlin. (Link)
[19] Ebenda.
[20] Staatliche Kunsthalle Karlsruhe: Architecture parlante.
[21] Eva Feyerabend: Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas. In: Deutschlandfunk 10.09.2001.
[22] Hans-Jörg Rheinberger und Michael Hagner: Die Experimentalisierung des Lebens. Experimentalsysteme in den biologischen Wissenschaften 1850/1950. Berlin: Akademie Verlag, 1993, S. 12.
Zu Hans-Jörg Rheinberger siehe auch: Torsten Flüh: Vom Wissen und der aufgeschobenen Übersetzung.
Marcel Beyer kuratiert Sprache und Wissen im Haus der Kulturen der Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. April 2016.
[23] Ebenda
[24] Ebenda.
[25] Ebenda S. 8.
[26] Jacques Lacan: Das Seminar von Jacques Lacan, Buch III (1955-1956) DIE PSYCHOSEN. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, übers. Michael Turnheim. Weinheim/Berlin: Quadriga, 1997, S. 28.
[27] Thomas Lepoutre, Manoel L. Madeira, Thomas Lepoutre, Manoel L. Madeira, Nicolas Guerin: The Lacanian Concept of Paranoia: An Historical Perspective. In: Front. Psychol., 15. September 2017.
[28] Walter Seitter: Die Wissenschaft der vier Diskurse. In: Ivo Gurschler, Sándor Ivády, Andrea Wald: Lacan 4 D. Zu den vier Diskursen in Lacans Seminar XVII. Wien/Berlin: Turia, 2013, S. 10.
[29] Françoise Wolff: Lacan parle (intégrale) – Conférence de Louvain 1972. (YouTube)