Sammlung – Programm – Photographie
Eros im Schloss Tegel
Zu einem geheimnisvollen Album in der Kartenabteilung der Staatsbibliothek
Während ausgedehnter Recherchen zum Schloss Tegel in der Staatsbibliothek zu Berlin bot der Katalog in der Kombination von „Schloss Tegel“ mit „Alexander von Humboldt“ gleich als ersten Treffer „Album“. Das las sich für mich geheimnisvoll. Denn Wilhelm und nicht Alexander von Humboldt ist mit dem Umbau des elterlichen „Schlosses“ durch Karl Friedrich von Schinkel aufs Engste mit dem Haus verbunden. Wilhelm von Humboldt erwarb in Italien die antiken Skulpturen und Repliken, die noch heute im Schloss zu sehen sind. Die Öffnungszeiten für das Schloss, das sich weiterhin im Besitz der Familie befindet, also den Nachfahren der Tochter Wilhelms und Carolines von Humboldts, Gabriele, werden auf Internetseiten häufig falsch angegeben.

Im Kartenlesesaal Karthago der Staatsbibliothek Unter den Linden wurde das in geprägtem Leder gebundene „Prachtexemplar“ mit der goldenen Aufschrift Album gegen Quittung vorgelegt. Das „Prachtexemplar“ ist vor allem von der Größe her prächtig. Die 19 einzelnen Seiten bestehen aus dickem Karton, wie er für die Präsentation von wertvollen Zeichnungen etc. oft hinter Glanzrahmen benutzt wird. Jede Schwarzweiß-Photographie ist von einem geprägten Goldrahmen umgeben. Die Photographien müssten aus der Frühzeit des neuen Mediums um 1860 stammen. Die einzelnen Seiten sind zusammengeleimt. Beim Album handelt es sich um ein handwerklich aufwendig hergestelltes Einzelstück, das der bibliographischen Legende nach durch Prinz Heinrich als Geschenk in die Bibliothek gelangt sein soll. Ort, Jahr und Photograph ebenso wie Buchbinder der Anfertigung bleiben ungenannt.

Wir wissen fast nichts vom Album mit den Photographien, die ohne Bildunterschrift auf die Seiten geklebt worden sind. Landläufig versteht man unter Album gebundene oder geleimte leere Seiten von meist stärkerem Papier oder Karton. Insofern ist der lapidare Titel treffend gewählt. Doch die einzelnen Formate der Photographien im goldenen Rahmen variieren, als sei jede Einzelseite für das entsprechende Foto überwiegend im senkrechten Format geprägt worden. Das Passepartout für die Photographie von der Grablege der Familie von Humboldt, wo die zuerst 1829 verstorbene Caroline, dann Wilhelm und schließlich Alexander beigesetzt worden sind, ist an den oberen Ecken aufwendig abgerundet. Das Bildpotential der Photographien soll ausgeschöpft werden. Durch die Passepartouts werden die Photographien als Bild besonders herausgestellt.

Die Abfolge und Kombinatorik der Seiten – Blatt 1: Büste Alexander von Humboldts, Blatt 2: Haus in Tegel, Blatt 3: Denkmal[1] – legt nahe, dass die 15 Photographien von Skulpturen sich im „Haus in Tegel“ befinden müssen und dort photographiert wurden. Obwohl Wilhelm von Humboldt die antike Sammlung der Skulpturen in Tegel als Bildungsprogramm an der Schnittstelle von Privatinterieur und humanistischen Lehrplan ebenso wie Öffentlichkeit konzipierte, war das Haus nicht öffentlich zugänglich.
„Das Tegeler Schlösschen lässt Rückschlüsse auf die in der Aufklärung wurzelnden ethischen Vorstellungen Wilhelm von Humboldts zu, die durch den Begriff „Bildung durch Anschauung“ charakterisiert werden können. Er hatte die Französische Revolution 1789 in Paris als Beobachter miterlebt.“[2]

Es war Wilhelm von Humboldt, der für das Alte Museum gegenüber dem Berliner Schloss mit dem Berliner Dom zur Linken und dem Zeughaus zur Rechten ein neuartiges Museumskonzept als „Leiter der Einrichtungskommission“ entwickelte. Das Alte Museum, wie es noch heute existiert, materialisiert Wilhelm von Humboldts Bildungskonzept. Er verfolgte das Ziel „nur Originale“[3] im Museum zu zeigen, wofür in den 1820er Jahren größere Einkäufe vor allem in Rom notwendig wurden. Damit prägte er zugleich einen neuen Begriff vom „Original“ für die Bildung und Öffentlichkeit. Das Original soll in seiner auratischen Einzigartigkeit zur Geltung kommen. „(M)oderne Werke … und Gipsabgüsse“ sollten „ganz abgesondert“ oder „ganz ausgeschlossen“ werden. Ganz anders verfuhr er mit seiner Sammlung in Tegel.
„Antike Originale stehen neben Abgüssen und zeitgenössischen, sich auf das klassische Vorbild beziehende Skulpturen.“[4]

Wilhelm von Humboldt verstarb am 8. April 1835 auf Schloss Tegel, sozusagen inmitten seiner Antikensammlung.[5] Alexander von Humboldt verbrachte seinen Lebensabend in seiner Wohnung in der Oranienburger Straße 67. In der Nachbarschaft lagen auf der Oranienburger Straße Kasernen und eine Reihe von Lokalen unterschiedlicher Güte. Kasernen hatten meistens Prostitution in der Umgebung zur Folge. Die Wohnung von Alexander von Humboldt lag zentral in der Nähe zur Universität wie dem Berliner Schloss und lockte internationale Besucher sowie König Friedrich Wilhelm IV. an. Am 6. Mai 1859 verstarb Alexander von Humboldt in seiner Wohnung. Woraufhin sein Schüler, der König, ihn auf seinem Totenbett besucht haben soll. Photographiehistorisch hat Wilhelm die Ausbreitung des neuen Bildmediums nicht mehr erlebt, während Alexander mehrfach von Photographen portraitiert worden ist.

Alexander von Humboldt gelangte international zu einer weit größeren Bekanntheit und Popularität als Wilhelm, obwohl dieser die Berliner Universität 1810 mitgegründet und als alma mater der modernen Universität geprägt hatte. Die Kombination und Abfolge der Büste mit dem Haus wie der von Karl Friedrich Schinkel gestalteten Familiengrabstätte mit antiken Referenzen gibt einen Wink auf das Narrativ, dass Alexander der Antikensammlung besonders verbunden gewesen sei und die eingeklebten Photographien eine Perspektive auf ihn eröffneten. Die Belichtungen des unbekannten Photographen und die Perspektiven lassen sich bedenken. Abermals wird die Sammlung in Tegel an der Schnittstelle von Privatem und Öffentlichen ins Licht gerückt. Denn aus dem Privatbesitz befördert es Prinz Heinrich in die gelehrte Öffentlichkeit der Bibliothek.

Die Büste von Alexander von Humboldt auf der Photographie dürfte eine jener Marmorbüsten von Christian Daniel Rauch aus dem Jahr 1857 sein, die heute z.B. im Naturkundemuseum und im Christian Daniel Rauch Museum, Bad Arolsen, aufgestellt sind.[6] Der Sockel ist ein wenig anders gestaltet, doch der Schriftzug auf der Büste – Alexander von Humboldt – gleicht dem auf der Photographie. Mit der Bildung der Büste gibt Rauch Alexander von Humboldt durch eine toupierte Haartolle über der Stirn ein Aussehen, das an den Darstellungsmodus französischer Revolutionäre erinnert. Antiker und revolutionärer Modus der Darstellung Humboldts im Alter von 82 Jahren überschneiden einander beim Bildhauer des deutschen Klassizismus und der Berliner Bildhauerschule. Christian Daniel Rauch war bei Anfertigung der Büste nur 2 Jahre jünger als Humboldt.

Da Rauch in Berlin fast genauso bekannt wie Alexander von Humboldt geworden war und sie eine lange Freundschaft verband, lässt sich die eröffnende Photographie als eine mit entschiedenem Wissen aufgeladene bedenken. Christian Daniel Rauch lebte wie Humboldt in unkonventionellen Familienverhältnissen mit der Mutter seiner Kinder, die er nie heiratete. Rauch verstarb im Dezember des gleichen Jahres, Alexander von Humboldt 2 Jahre später. Sich dem 82jährigen Freund in einer aktualisierten Marmorbüste noch einmal zu näheren, mag ökonomisch nicht uninteressant gewesen sein, weil sie sich gut verkaufte. Doch die beinahe jugendliche Gestaltung des sehr alten Freundes mit offenem Blick und vollem Haar wirkt fast wie ein Experiment. Allein an den Falten am Mund durch die fehlenden Zähne lässt sich das Alter erahnen. Nicht was sich auf den ersten Blick in Büste und Photographie zu sehen gibt, macht sie besonders, vielmehr lässt sie sich mit vielschichtigem Wissen verknüpfen. Gerade im Album kommt dies zum Zuge.

Das zweite Foto „Haus in Tegel“, das sich nur über den visuellen Vergleich bestimmen lässt, zeigt die Parkseite des sogenannten Humboldt-Schlösschens. Die von Schinkel gestalteten 4 Türme und 4 schmalen Nischen über die Etagenhöhe zur Parkseite sind mit „Kopien römischer Werke“ bestückt.[7] Rauch ist mit Skulpturen und Reliefs in Tegel mehrfach vertreten. Doch seine Büste von Alexander kam erst postum ins Haus. Im Arbeitszimmer Wilhelms hängen „Abgüsse klassizistischer Reliefs von Friedrich Tieck und Christian Daniel Rauch.“[8] An den Vorderseiten der 4 Türme sind insgesamt 8 „Reliefs aus Rauchs Werkstatt“ angebracht. „Sie zeigen die allegorische Darstellung der Winde, ein häufiges Motiv in der Gartenarchitektur. Auf der Gartenseite des Gutshauses setzen vier Marmorskulpturen in Nischen, Kopien römischer Werke, die Sammlung der Innenräume nach Außen fort“,[9] schreibt Manfred Uhlitz 2017.

Das abgerundete Passepartout für die Photographie der von Schinkel für die Familie Humboldt gestaltete Grablege hebt diese auf besondere Weise hervor. Es ist das einzige Passepartout, das die Photographie in diesem Format rahmt und zur Schau stellt. Allein auf den beiden letzten Seiten werden jeweils zwei abgerundete Passepartouts in einem kleineren Format für die Aufnahmen von zwei Torsi verwendet. Die Passe-partouts, wie Jacques Derrida sie beschrieben hat, funktionieren zugleich wie Schlüssel, ein Generalschlüssel zum Bild. Ist die Photographie schon ein Bild? Oder was macht die Photographie zum Bild? Das Passe-partout für das „Denkmal“ macht die Grabanlage besonders. Es ist vor allem keine christliche Symbolik zu erkennen. Vielmehr erinnert die Grabstätte an einen „Campo Santo, wie es ähnlich an der Gräberstraße von Pompeji zu finden war“.[10]

Die Antikensammlung Wilhelm von Humboldts und die Praxis ihrer Zusammen- wie Aufstellung reicht bis auf die Grabstätte der Familie. Wilhelm begründet die Familiengrabstätte 1829 neu für seine Frau Caroline, geborene Dacheröden. Wiederum wird ein persönliches Verhältnis zur Antikendarstellung inszeniert, das von ihm am 29. Januar 1830 in einem Brief formuliert wurde.
„Es besteht in einer zwölf Fuß hohen, sehr schön polierten Granitsäule mit Sockel und ionischem Kapitäl von weißem Marmor. Die Säule steht auf einem Postamente, welches die Inschrift trägt, und dieses wiederum auf vier Stufen. Postament und Stufen sind aus grauem Marmor. Auf der Säule wird die Statue der Hoffnung in Aeginetischen Stille stehen, welche meine Frau vor langer Zeit bei Thorwaldsen bestellt hatte, und die jetzt unterwegs ist.“[11]

Caroline von Humboldt verfügte durch den Tod ihres Vaters, dem preußischen Kammerpräsidenten Karl Friedrich von Dacheröden, 1809, über eigene finanzielle Mittel, so dass sie die Statue Spes/Hoffnung bei einem der einflussreichsten Bildhauer in Rom, Bertel Thorvaldsen, in Auftrag geben konnte. Sie führte in Berlin einen Salon. Wilhelm und Caroline, die 8 Kinder hatten, kultivierten ihre Antikenrezeption vor dem Hintergrund der Aufklärung so konsequent, dass sich auf der Grabstätte kein Hinweis auf das Christentum finden lässt. An der vermutlich originalen Ausstattung von Wilhelms Arbeitszimmer[12] nahm sie offenbar keinen Anstoß:
„Dem Schreibtisch gegenüber fällt der Blick auf die Abgüsse der splitternackten kapitolinischen Venus und der 1820 entdeckten Venus von Milo, dem Ideal weiblicher Schönheit. Auch seitlich fällt der Blick auf weibliche Körper, griechische Antiken, zu beiden Seiten eines Bücherschranks. Humboldt erwarb die Grazien aus dem Gefolge der Venus 1807 in Rom.“[13]

Die von Uhlitz betonte Nacktheit der „kapitolinischen Venus“ im „mit Kunstschätzen reich ausgestatteten Privatmuseum“[14] gibt einen Wink auf das Album. Denn dort sind die Sammlerstücke so ins Licht gerückt, dass ein erotischer Zwischenbereich inszeniert wird. Die Nacktheit der Antike und Antikensammlungen wird nicht zuletzt seit Johann Joachim Winckelmanns Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst von 1756 mit einem Bild erotischer Männlichkeit verknüpft.[15] Für Wilhelm von Humboldt sind die nackten weiblichen Statuen und Torsi ebenfalls erotisch. Wir wissen nicht, wie der Photograph im Schloss Tegel, die Überschneidung von Wilhelm und Alexander von Humboldt „gemeint“ hat. Wir wissen nicht einmal, ob die 16 Photographien von antiken Objekten auf den Photographien alle in Tegel gemacht wurden.[16] Doch es spricht einiges dafür.

Insbesondere die beiden letzten Seiten mit dem männlichen und weiblichen Torso stechen durch die Passepartouts hervor. Sie sind kleiner, so dass die Albumbetrachter genauer hinschauen müssen. Das Album zeigt etwas, das verborgen ist. Die männliche und weibliche Scham der Torsi wird durch das Passepartout passend gemacht. Gegenüber christlichen Moralgeboten durchzieht mit der Nacktheit in der Photographie das Album eine aufklärerische Befreiungsgeste, die für Wilhelm wie Alexander von Humboldt als Lebenspraxis entscheidend war.
Torsten Flüh
[1] Zitiert nach eingeklebtem, bibliographischen Informationszettels in: kall: Humboldt-Schloss Tegel. – [Humboldt-Schloss in Tegel bei Berlin]. – o.O. o.J. 19 Bl. Mit Photogr. quer-4°.
[2] Manfred Uhlitz: Schloss Tegel. In: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins (Hg.), 113 Jahrgang, Heft 4, Oktober 2017, S. 214.
[3] Ebenda S. 215.
[4] Ebenda.
[5] Zur Frage der Antikensammlung siehe: Torsten Flüh: Sputnik 5 und Hegels Weltgeist. Georg Wilhelm Friedrich Hegel zum 250. Geburtstag und die Wiederkehr des Sputniks. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. August 2020.
[6] Ernst von Siemens Kunststiftung: Christian Daniel Rauch, Bildnisbüste Alexander von Humboldts 1857. Christian Daniel Rauch Museum, Bad Arolsen.
[7] Manfred Uhlitz: Schloss … [wie Anm. 2] S. 216.
[8] Ebenda.
[9] Ebenda.
[10] Jürgen Tomisch, Barbara Anna Lutz in: Bildhauerei in Berlin (BiB): Grabstätte der Familie Humboldt.
[11] Zitiert nach ebenda.
[12] Dorgerloh 2018.
[13] Manfred Uhlitz: Schloss … [wie Anm. 2] S. 216.
[14] Ebenda.
[15] Johann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst. Dresden und Leipzig 1756.
Und: Torsten Flüh: Zurück zur Männlichkeit? George L. Mosses Kritik des Männlichkeitsbildes nach Johann Joachim Winckelmann und die Rückeroberung der Geschlechter durch die Neue Rechte. In: Initiative Queer Nations (Janin Afken, Jan Feddersen, Benno Gammerl, Rainer Nicolaysen, Benedikt Wolf) (Hrsg.): Jahrbuch Sexualitäten 2019. Göttingen: Wallstein, 2019. S. 43-70.
[16] Dorgerloh