Erwachen – Schlaf – Schlaflosigkeit
Vor und nach dem Schlaf
Zu den Mosse-Lectures von Samantha Harvey und Michael Hochgeschwender sowie zur Berliner Missionsbewegung als Erweckung
Der Schlaf wird eng verknüpft mit der Frage des Wissens. Darauf machten die beiden Mosse-Lectures von Samantha Harvey mit Brain on Fire: Insomnia and Sleepwriting und Michael Hochgeschwender mit Evangelikalismus und wokeness: Zur gesellschaftlichen Funktion der Semantik des Erwachens als andere Seiten des Schlafes aufmerksam. Samantha Harvey hatte 2020 ihr Buch The Sleepless Unease: A Year of Not Sleeping veröffentlicht, das 2022 als Das Jahr ohne Schlaf in Deutsch erschienen ist. Die Übersetzung ins Deutsche wurde durch das Programm NEUESTART KULTUR anlässlich der Covid-19-Pandemie gefördert. In einem Dialog zwischen Ich und Freund schreibt sie von „Texte(n)“, die sie schreibe. Die Erfahrung einer andauernden Schlaflosigkeit pendelt zwischen einem Angst-Wissen und einem anderen Wissen beim Schreiben in Nächten ohne Schlaf.
Michael Hochgeschwender eröffnete seine Mosse-Lecture mit einer Begriffskritik zu „Evangelikalismus“ und „wokeness“ als häufige Fremdzuschreibungen für Personen und Personengruppen in den USA, die ein Erwachen oder Erwecktwordensein bzw. eine Wachsamkeit für Rede- und Schreibweisen über marginalisierte Personen und Gruppen in Anspruch nehmen. Beide Begriffe beherrschen eine hitzige Kulturdebatte in den USA. Evangelikalismus spielt in der deutschen Debatte kaum eine Rolle, während der Begriff der Wokeness zum Kampfbegriff im konservativ-rechten Politikmilieu avanciert ist. In Berlin wird in diesem Jahr das 200jährige Jubiläum des Berliner Missionswerks von der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) begangen, das aus einer einzigartigen Konstellation von Berliner Dom, Schloss und Universität hervorgeht. Frühzeitig wird die Mission mit einer theologischen Erweckung als Wissen verkoppelt.
Stefan Willer stellte Samantha Harvey und ihre Texte zur Schlaflosigkeit wie das „Sleepwriting“ als einem Schreiben während Nächten ohne Schlaf vor, merkte die Multiperspektivität und die Temporalität in weiteren Texten und Romanen an. Die Schlaflosigkeit wird von Harvey in ihrem Buch und der Lecture als schwerer Mangel bis zur Erkrankung formuliert und in Beziehung zum Schreiben gesetzt. – „… niemand nahm mir den Stift aus der Hand, als ich, gut ausgeschlafen, anfing, über Schlaflosigkeit nachzudenken“.[1] Die „Erfahrung“ der Schlaflosigkeit verändert nicht nur das Leben, vielmehr setzt sie ein Schreiben in Gang, das eine Art fragmentarische Kultur- und Politikgeschichte der Insomnia in Großbritannien generiert. Sie zitiert u.a. die Studie Schlaflosigkeit nach dem Brexit: Auswirkungen direkter Demokratie auf die tagesrhythmischen Funktionen und den Thalamus von Smith, Carroll, Walsh et al..[2] Ängste und Emotionen spielen eine große Rolle im Zustand der Schlaflosigkeit. Doch ein Ursprung lässt sich schwer finden:
„Ich durchkämme meine Kindheit auf der Suche nach dem Ursprung meiner Schlaflosigkeit, ich will den einen Gedanken finden, das Ding, das Ereignis, das mich von einer Schläferin in eine Nicht-Schläferin verwandelt hat.“[3]
Als Motto ihrer Lecture zitierte Samantha Harvey aus dem Original eine Formulierung, die eng mit der Frage des Wissens verknüpft wird. Wenn wir schlafen können, denken wir wenig über unseren Schlaf nach. Wir wissen wenig von unserem Schlaf. Es gibt ihn. Erst wenn wir den Mangel an Schlaf erfahren, z. B. in Großbritannien dadurch, dass der Brexit 2016 Schlaflosigkeit auslöste, was eine breitere Debatte auslöste, setzt ein Nachdenken ein.[4] Wie der Schlaf wird die Schlaflosigkeit politisch. Insofern gibt die als Motto von Harvey bezüglich der Ähnlichkeit von Schlaf und Geld einen politischen Wink:
„Schlaf. Schlaf. Wie über Geld denkst du auch über Schlaf nur nach, wenn du nicht genug davon hast. Je weniger du davon hast, desto mehr denkst du darüber nach. Schlaf wird zum Prisma, durch das du die Welt siehst, und alles existiert nur noch im Verhältnis zu ihm.“[5]
Samantha Harveys Mosse-Lecture steht auf dem YouTube-Kanal zum Nach- und Wiederhören zur Verfügung, während an dieser Stelle das Verhältnis von Schreiben und Wissen angeschnitten werden soll. Denn im Buch wie in der Lecture nimmt das Schreiben eine wichtige Funktion ein. Einerseits zitiert Harvey zu Anfang einen Satz aus ihrem letzten Roman – „Bin ich auch Staub und Asche, so schlafe ich doch den Schlaf der Engel.“ –, von dem sie schreibt, dass sie „die Person nicht (kenne), die diesen Satz geschrieben hat“.[6] Damit stellt sich auch die Frage, was sie beim Schreiben weiß. Andererseits schreibt sie gegen Schluss, dass das Schreiben ihr – während der Schlaflosigkeit – „das Leben gerettet“ habe.
„Wenn ich schreibe, bin ich bei Sinnen, meine Nerven beruhigen sich. Ich bin bei Sinnen, ganz und gar bei Sinnen. Ich werde glücklich. Wenn ich schreibe, ist alles andere egal, auch wenn das, was ich schreibe, sich als schlecht herausstellt. Ich beginne in einer schwer fassbaren, unterbewussten Formlosigkeit im Nirgendwo meines Ichs, in einer Stille, durch die sich verschiedene Formen bewegen. Dann kommen die Worte.“[7]
Das kreative, lebensrettende Schreiben beginnt für Harvey, die an der Bath Spa University Creative Writing unterrichtet, „im Nirgendwo meines Ichs, in einer Stille“. Damit wird nicht zuletzt ein „schwer fassbares“ Wissen angeschrieben, dass in der Lecture wiederholt als ein impressionistisches Schreiben benannt worden ist. Während die Schlaflosigkeit mit diversen Wissensformen wie dem Brexit, Angst und dem Tod eines Cousins in Verbindung gebracht wird, die eine Unruhe zur Folge haben, beruhigt das Schreiben ihre „Nerven“. Das kreative Schreiben in der Erfahrung der Schlaflosigkeit generiert insofern eine eigene Praxis der Wissensproduktion, ließe sich auch im Unterschied zum Schlaf und dem Erwachen bzw. Erwecktwordensein formulieren, dem sich Michael Hochgeschwender als Professor für Nordamerikanische Kulturgeschichte in der vierten Mosse-Lecture widmete. Während das Erwecktwordensein der Evangelikalen sich als subjektive Form einer ereignishaften Erweckung von außen durch Gott und/oder Jesus Christus als wahres Wissen verfestigen kann, bleibt die Wachsamkeit der Wokeness in einem Prozess diverser Wissensformen wie Rassismus, Kolonialismus, Queerness etc.
Michael Hochgeschwender hatte bereits 2017 den Begriff des Evangelikalismus genauer nach seiner Verwendung bestimmt. Das Handbuch Evangelikalismus geht von einem „Mitgliederwachstum und globale(r) Expansion“[8], die in Zeiten fortschreitender Säkularisierung und aktuell einem dramatischen Mitgliederschwund der römisch-katholischen Kirche in Deutschland wie der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) verbunden mit einem Verlust an Kirchensteuern zu faszinieren vermögen. Zugleich formiere sich der Evangelikalismus als eine „Form konservativer, anti-liberaler Theologie“.[9] Im Handbuch beschreibt Hochgeschwender „drei Möglichkeiten der Begriffsverwendung“ eine programmatische, eine „Selbstbeschreibung“ und eine „Fremdbeschreibung“, die sich auffächert in eine systematische und eine historisch-genetische. Die historisch-genetische Begriffsverwendung beschreibe Evangelikalismus als „ein gegen die Aufklärung gerichtetes Christentum seit Ende des 18. Jahrhunderts“.[10] Evangelikal wird seit dem 18. Jahrhundert mit dem Erwecken und der Erweckungsbewegung verkoppelt.
„In diesem Sinne kann man sagen, dass der Begriff ›evangelikal‹ sich auf die sogenannten ›Erweckungsbewegungen‹ seit dem 18. Jahrhundert in Europa, in den USA und darüber hinaus bezieht, also Baptismus, Lutheranismus, Methodismus und Presbyterianismus sowie einige Strömungen der Anglikaner und weiter auch pfingstliche und charismatische Christen“.[11]
Die Sondierung des Begriffs evangelikal nach seinem Gebrauch und seiner semantischen Verbindungen in der deutschen Sprache gibt einen Wink auf eine gewisse Nachträglichkeit. Einerseits erlaubt das Adjektiv ein Bedeutungsfeld von einer „Theologie dem Evangelium gemäß“ wie auch „die unbedingte Autorität des Neuen Testaments im Sinne des Fundamentalismus vertretend“.[12] Dabei zeigt die Wortverlaufskurve einen steilen Anstieg nach 2000 an. Zugleich wird in einem heute kaum gebräuchlichen Maße „Erweckungsbewegung“ als typische Verbindung angezeigt. „Missionar“, „Missionsgesellschaft“ und „Missionswerk“ werden dagegen häufig mit evangelikal in Verbindung gebracht. Das Gebrauchsnetz von evangelikal, Mission und Erweckung bleibt im Deutschen zwar elastisch und eher selten, gibt indessen mit dem „Erwecken“ und der „Mystik“ einen Wink: „plötzlich vernommener Anruf zur völligen Hingabe an Gott“[13] oder eben Jesus Christus. Das Erwecken kann insofern als ein ereignisartiges Erleiden wie Erfreuen durch den „Anruf“ geschehen oder es wird auf andere ausgeübt. Mithin weist das Erwecken der „Erweckungsbewegung“ eine hohe Transitivität auf.
Michael Hochgeschwender führt in seiner Mosse-Lecture die Geschichte und die Paradoxien des Evangelikalismus in den USA genauer aus. Im Unterschied zur Mystik geht die Erweckung am Ende des 18. Jahrhunderts und Beginn des 19. Jahrhunderts eine neuartige Verbindung mit dem Subjekt als dessen Wissen von sich selbst ein. Der Evangelikalismus wird insoweit weniger zur Gegenbewegung der Aufklärung als vielmehr zu einer Transformation des Christentums durch sie. Die Wokeness erfährt seit 2016 in der deutschen Sprache seit 2016 einen steilen Anstieg im Gebrauch.[14] Sie kann auch als eine Sprachkritik und Wachsamkeit über die Verwendung von problematischen Begriffen beschrieben werden. Insofern Wokeness insbesondere binäre Begriffsbildungen, wie sie im Evangelium und dem Alten Testament etabliert worden sind, kritisiert, geht es in der im Deutschen gebräuchlichen Mehrdeutigkeit von Geschlecht als Sexus, Genital, Rasse, Kategorie, Genealogie, Genus, Generation etc. um eine Kulturkritik der Moderne.[15] Wokeness kann mit der Binarismus-Kritik zugleich mit einer Technologiekritik der Digitalisierung in Verbindung gebracht werden. An dieser Stelle soll an Michael Hochgeschwender anknüpfend die Erweckung mit einem Beispiel in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einmal mikrologisch sondiert werden.
Im überschaubaren städtischen Raum von Dom, Schloss und Universität in Berlin bildet sich ab 1822 eine bedenkenswerte Erweckungsbewegung heraus, die 2024 in der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) ihr 200jähriges Jubiläum begeht. Die Berliner Erweckungsbewegung[16] findet in einem einzigartigen Feld von Kirche, Hof und neugegründeter Berliner Universität statt. Sie lässt sich an einzelnen Akteuren beobachten und reicht mit ihren Ausläufern bis zum Ende des Kaiserreichs. Das von Berlin aus initiierte Engagement wechselte seine Programmatiken und besteht bis heute als Engagement der evangelischen Kirche in Jerusalem und Palästina. Die Missionierung von Muslimen durch Schulen wie Talitha Kumi, deutsch: „Mädchen, stehe auf!“, in Beit Jala etc. existiert weiterhin.[17] Alljährlich findet am letzten Sonntag vor der Fastenzeit im Februar in Berlin das Jahrestreffen des eher überschaubaren Jerusalemsvereins statt. Am 11. Februar 2024 hielt die erste arabisch-lutherische Pfarrerin in Palästina[18], Sally Azar, die Predigt über 1. Kor 13 in der Französischen Friedrichstadtkirche am Gendarmenmarkt.[19]
Wie kommt es 1824 im Umfeld der Berliner Universität zu einer Missionsbewegung? Die Selbsterzählung der Gründung von Missionsgesellschaft und Jerusalemsverein geht von einer aus dem 18. Jahrhundert hergeleiteten evangelisch-lutherischen Missionsbewegung, der Baseler Mission aus, die als natürliche Folge eines subjektiven Erweckungserlebnisses als Wissen von sich selbst und der Welt formuliert wird. Mission wird in diesem Kontext als eine Ermöglichung des Erwachens aus dem Schlaf des Unwissens formuliert. Denn die Frage lautet vor allem, warum es im deutschsprachigen protestantischen Raum nach der Französischen Revolution 1789, in Preußen gar nach der Besetzung durch Napoleon 1806 zu einer evangelisch-lutherischen Erweckungsbewegung kommt. 1822 wird Gerhard Friedrich Abraham Strauß Hof- und Domprediger sowie Professor für Praktische Theologie an der jungen Berliner Universität. Seit 1815 hatte er drei Bände seiner erweckenden Glockentöne – Erinnerungen aus dem Leben eines jungen Geistlichen mit dem Credo, dass er als Subjekt wisse, wer den Weltenlauf, insbesondere den Erfolg seiner Glockentöne gefügt habe, veröffentlicht. Damit wird die Glaubensfrage an Gott zu einem neuartigen Wissen des Subjekts, einem Subjektwissen transformiert:
„Ich weiß es, wer es ist, der …“[20]
Die Professur an der 1810 gegründeten Berliner Universität eröffnet dem lutherischen Pfarrer ein neuartiges Wirkungsfeld, das sich nicht zuletzt 1824 bei der Gründung der Gesellschaft zur Förderung der Evangelischen Missionen unter den Heiden in der Wohnung des Jura-Professors Moritz August von Bethmann-Hollweg Bauhof 1 am 29.2.1824 niederschlägt.[21] Der Bauhof lag als Straße hinter dem Universitätsgebäude. Die Universität generiert insofern durch Gespräche und Praktiken einen neuartigen „Missionsverein“. Der im Unterschied zu katholischen Missionen wie denen der Jesuiten in China im 17. Jahrhundert nicht einem generellen Missionsauftrag folgt, sondern nun durch das Erwecktwordensein aus einem subjektiven Überlegenheitswissen, einer Suprematie, gespeist wird. Es sollen nicht nur „Heiden“ als Andersgläubige missioniert werden, vielmehr werden diese von vornherein in ihrer conditio humana entwertet. Die Gründung wird, wenn auch nicht gerade enthusiastisch, durch Friedrich Wilhelm III. unterstützt, welcher Anfang der 1830er Jahre den Bau der evangelischen Kirche St. Elisabeth vor dem Rosenthaler Tor durch Karl Friedrich Schinkel betreiben wird, um die geistig-religiösen und sozialen Probleme vor der nördlichen Stadtmauer, die während der Cholera-Epidemie 1832/33 offenbar geworden waren, zu beruhigen. 1835 wurde die „Elisabethkirche“ geweiht.
1823 heiratet Kronprinz Friedrich Wilhelm die katholische Prinzessin Elisabeth Ludovika von Bayern nach katholischem und evangelischem Ritus, weshalb der Name der Kirche im Armenquartier vor dem Rosenthaler Tor häufig mit ihr in Verbindung gebracht wird. Mit der Thronbesteigung Friedrich Wilhelm IV. 1840, während der an Fahrt aufnehmenden Industrialisierung in Berlin, verschiebt sich die politische Agenda. Friedrich Abraham Strauß wird als Hofprediger vertrauter mit dem König. Geopolitische Verschiebungen im Nahen Osten, insbesondere die andauernde Krise im Osmanischen Reich führen zu neuen Ambitionen. Einerseits wird 1841 zwischen Berlin und London eine Übereinkunft geschlossen, in Jerusalem ein protestantisches Bistum zu errichten. Am 21. Januar 1842 zieht der als Jude in Preußen geborene und zur Anglikanischen Kirche konvertierte Bischof Michael Salomon Alexander in Jerusalem ein, ohne dass es dort eine protestantische Kirche gäbe. Andererseits ist damit das moderne, protestantische Interesse an Jerusalem keineswegs erschöpfend erklärt. Vielmehr gibt Napoleons Ägyptenfeldzug 1798 einen Wink. Napoleon hatte mit der Commission des sciences et des arts, einer Gruppe von 167 französischen Wissenschaftlern und Künstlern einen Paradigmenwechsel der Moderne befördert.
Die revolutionären Wissenschaftler wie Ingenieure und Kartographen sollen u.a. Ägypten vermessen, 3 Schriftsteller und Lyriker wie Antoine-Vincent Arnault sollen neue Narrative und 9 Maler, Zeichner etc. wie François-Auguste Parseval-Grandmaison neue Bilder schaffen. Es geht nicht zuletzt um die Ursprungsfrage der menschlichen Kultur, die seit 1789 nicht mehr durch einen christlichen Gott in Frankreich beantwortet werden kann. 9 Jahre nach der Revolution müssen belastbare Geschichten von der Herkunft des Menschen geschaffen werden. Obwohl Jean-François Champollion nicht an der Expedition teilnahm, wird mit dem Stein von Rosetta der Schlüssel für die Entzifferung der Hieroglyphen gefunden. Die Ägyptologie wird nicht nur zum neuen Ursprungsnarrativ, sie löst auch einen Ägyptenwahn bis nach Berlin aus. Das Titelblatt des Expeditionsberichts Description de l’Égypt 1809 inszeniert die Ruinen in einer Art Rom-Alternative. Um den Ursprung[22] der menschlichen Kultur erforschen zu können, muss man dort gewesen sein und es selbst gesehen haben.
Das Sichtbarkeitsparadigma in der Wissenschaft wird von Napoleon mit der Commission des science et des arts praktisch gefördert. Das Sichtbare und das Sagbare gehen eine neuartige Korrespondenz ein, um Wahrheit zu generieren.[23] Es geht nicht zuletzt um die Entzifferung einer Schrift in Konkurrenz zur Heiligen Schrift. Napoleon kommt bis Akkon in Galiläa. Jerusalem hatte für ihn keine strategische Bedeutung. Um 1820 erreichte der Ägyptenwahn Berlin. Bereits 1823 verkaufte der „Forschungsreisende, Ausgräber und Archäologiedilettant Johann Heinrich von Minutoli (seine Ägyptische Altertümersammlung) an den preußischen Staat“[24]. Doch 1843/1844 reist der Sohn des Hofpredigers, Friedrich Adolph Strauß, nach Palästina. Die Reiseroute paraphrasiert mit ihren Stationen bis Griechenland die Grand Tour als adliges Bildungsprogramm des 18. Jahrhunderts und findet 1847 ihren Niederschlag in seinem Buch Sinai und Golgatha. Reise in das Morgenland. Das Sichtbarkeitsparadigma der modernen Wissenschaften lässt sich nun in die lutherische Theologie übertragen, wenn es im Vorwort von 1846 heißt:
„Die Reise in das Morgenland ist für mich eine fortgehende Erfahrung von der Wahrheit des göttlichen Wortes gewesen.
Mochte ich die Stätten betreten, welche den Schauplatz der heiligen Geschichte bilden und den Angaben der Schrift auf das Genaueste entsprechen; mochte ich die Sitten der Völker beobachten, welche dort im Laufe der Jahrtausende nur wenig Veränderung erlitten; mochte ich endlich in dem Zustande jedes Landes, in dem Geschicke jedes Volkes die erschütternde Erfüllung prophetischer Weissagung erblicken – von der Wahrheit des göttlichen Wortes wurde ich immer gewaltiger ergriffen.“[24]
Die durch und durch moderne Wahrheit des göttlichen Wortes artikuliert sich nicht nur als ein Erfahrungswissen, vielmehr wird die „Erfüllung prophetischer Weissagung erblick(t)“. Sie wird sichtbar. Bereits 1820 hatte Vater-Strauß noch in Elberfeld den alttestamentarischen Roman Helons Wallfahrt nach Jerusalem. Hundert neun Jahr vor der Geburt unseres Herrn. veröffentlicht[25], der im ägyptischen Alexandria beginnt. Friedrich Adolph Strauß reist von Alexandria durch Ägypten, bespricht den „Muhammedanismus“ und die „koptische Kirche“. Jerusalem wird von Berlin aus zum Dreh- und Angelpunkt eines neuen theologischen Wissens, das zwar zur Privatdozentur und außerordentlichen Professur für Friedrich Adolph Strauß an der Universität, aber nicht zur ordentlichen Professur führt. Obwohl Sinai und Golgatha bis 1882 elf Auflagen erfährt, bereits 1849 ins Englische, dann ins Schwedische übersetzt wird und 1852 der Jerusalemsverein in seiner Wohnung in der Dorotheenstraße allerdings nur von Pfarrern und Theologen gegründet wird, Kaiser Wilhelm II. gar 1898 in Jerusalem die evangelische Erlöserkirche einweihte, kann sich das moderne Erweckungserlebnis nicht ganz durchsetzen.
„Was ich an den geweihtesten Orten der Erde empfand, das, tief im Herzen verborgen, ist der herrliche Gewinn der Reise. Solche Erfahrungen lassen sich nicht mittheilen. Aber ahnen wird sie jeder, dem Sinai und Golgatha die Berge sind, von denen uns Hülfe gekommen ist.“[26]
Die in der Reiseerzählung hergestellte Kongruenz von Heiliger Schrift und die vermeintlich geringe Veränderung der „Sitten der Völker“ verspricht eine Wiederholbarkeit des Erfahrungswissens als ein Erweckungserlebnis für andere. Das Erweckungserlebnis ist keine Frage des Anrufs oder Glaubens mehr, vielmehr wird es durch das Betreten, Beobachten und Erblicken für andere eine wiederholbare Praxis. Darin liegt eine neuartige Programmatik der Erzählung, die zur Gründung des Jerusalemsvereins und später zur Weihe der Erlöserkirche führt. Doch die Erlangung des Erfahrungswissens bleibt zunächst aus rein finanziellen Gründen einem exklusiven Kreis vorbehalten. Denn Friedrich Adolph Strauß wird seine Reise nicht nur mit einem Domstipendium finanziert haben können. Vielmehr wird sie von seinem Großvater mütterlicherseits und/oder dem Bruder seiner Mutter, dem Bankier und späteren preußischen Finanzminister unter Friedrich Wilhelm IV. August von der Heydt, unterstützt worden sein. In der Villa von der Heydt befindet sich heute die Stiftung Preußischer Kulturbesitz.
Torsten Flüh
Auf YouTube:
Samantha Harvey
Brain on Fire: Insomnia and Sleepwriting
Michael Hochgeschwender
Evangelikalismus und wokeness:
Zur gesellschaftlichen Funktion der Semantik des Erwachens
Stadtführung zur Berliner Mission und zum Jerusalemsverein:
Mission: Reflektion
Sonntag, 3. März 2024 14:00 Uhr
Treffpunkt: Granitschale vor dem Alten Museum.
[1] Samantha Harvey: Das Jahr ohne Schlaf. München: Hanser Berlin, 2022, S. 29.
[2] Ebenda S. 19.
[3] Ebenda S. 37.
[4] Siehe auch: AFP: Sadness, insomnia, and frustration: Britain dealt a dose of the Brexit blues. In: The Straits Times JUL 03, 2016, 11:08 AM.
[5] Samantha Harvey: Das … [wie Anm. 1] S. 169-170.
[6] Ebenda S. 27.
[7] Ebenda S. 137.
[8] Frederick Elwert, Martin Rademacher und Jens Schlamelcher (Hgg.): Handbuch Evangelikalismus. Bielefeld: transcript, 2017, S. 11. (Leseprobe)
[9] Ebenda.
[10] Michael Hochgeschwender: Zum Begriff >Evangelikalismus<. In: Ebenda S. 14-15.
[11] Ebenda S. 15.
[12] Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache: evangelikal.
[15] Ebenda: Geschlecht.
[16] Frank Foerster stellt in seiner missionswissenschaftlichen Forschung die Gründung des Jerusalemsvereins in den Kontext, des „Erweckungschristentum(s)“ seit dem 18. Jahrhundert: „hervorgerufen durch die Verbindung von Erweckungschristentum und Missionsgedanken – das Interesse am heiligen Lande wieder erneut regte“. Frank Foerster: Mission im Heiligen Land. Der Jerusalems-Verein zu Berlin 1852-1945. Missionswissenschaftliche Forschungen Band 25. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn, 1991, S. 22.
[17] Jerusalemsverein: Evangelische Schulen in Palästina. (Website)
[18] Ebenda: Ordination von Sally Azar als erste Pfarrerin Palästinas. (19. Januar 2023)
[19] Ebenda: Predigt von Sally Azar auf dem Jahresfest 2024. (Website)
[20] Friedrich Strauß: Glockentöne – Erinnerungen aus dem Leben eines jungen Geistlichen. Elberfeld: Heinrich Büschler, 1819, o. S. (S. 3). (Digitalisat)
[21] Gründungsschrift der Gesellschaft.
[22] Die Frage des Ursprungs wird ebenso von Foerster mit dem „Ursprungsland des Evangeliums“ formuliert. Frank Foerster: Mission … [wie Anm. (1)] S. 43.
[23] Siehe unter anderem zur Sichtbarkeit bei Foucault: Sebastian Scholz: Vision revisted. Foucault und das Sichtbare. In: Kultur und Geschlecht. Universität Bochum. 08.2015.
[24] Harry Nehls: Das Gemälde „Minutoli in der Oase Siwa“ im Mythologischen Saal des Neuen Museums zu Berlin – Korrektur einer falschen Künstlerzuschreibung. In: Susanne Kähler, Nina Kreibig, Wolfgang G. Krogel, Bruno Torres Sunén (Hrsg.): Der Bär von Berlin. Berlin: Westkreuz-Verlag, 2023, S. 107.
[25] Friedrich Adolph Strauss: Sinai und Golgatha. Reise in das Morgenland. (Siebente verbesserte und vermehrte Auflage.) Berlin: Jonas Verlagsanstalt, 1859, S. III.
[26] Friedrich Abraham Strauss: Helons Wallfahrt nach Jerusalem. Elberfeld: Heinrich Büschler, 1820. (Digitalisat)
[27] Friedrich Adolph Strauss: Sinai … [wie Anm. 25] S. IV.
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