Einheit – Begegnung – Vielfalt
Vertrauliche Begegnung mit Fuchs: Sonnenallee
30 Jahre Mauerfall am Brandenburger Tor, in The Ballery, in der Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche und im Berliner Dom
Andreas Fux ist als Fotograf ein einzigartiger Zeuge des 9. November 1989. Er vergaß, vor lauter Euphorie zu fotografieren. Er musste erst einmal rüber nach West-Berlin. Und blieb dort 4 Tage bei Freunden, weil man sich ja nicht sicher sein konnte, wann die Mauer wieder geschlossen wird. So erzählt er seinen Mauerfall dreißig Jahre später. Der in Ost-Berlin geborene und aufgewachsene Fotograf Andreas Fux zeigt in The Ballery in der Nollendorf Straße seine Serie Witness. Seine Schwarzweiß-Fotografien sind mit einer gewissen Verzögerung entstanden. Bei ihm liegt die Meierei von Carl Gotthardt Langhans im Neuen Garten in Potsdam noch hinter der Mauer mitten auf dem Todesstreifen am Jungfernsee, was er überhaupt erst nach dem 9. November fotografieren durfte.
Das zentrale Kunstprojekt am Brandenburger Tor konzipierte und kuratierte in diesem Jahr Patrick Shearn unter dem Titel Visions in Motion. Patrick Shearn und Poetic Kinetics aus Los Angeles arbeiten international. Er ist weltbekannt für seine Skynets, die sich im Wind bewegen. Doch nicht nur der ästhetische Eindruck des Skynets fasziniert, das zwischen der Plastik Der Rufer von Gerhard Marcks aus dem Jahr 1966 und dem Vorplatz des Brandenburger Tors hängt. Das Skynet Visions in Motion bewegt sich je nach Wind mal stärker, mal schwächer. Vielmehr besticht auch die Größe auf einer Länge von 450 Fuß mit einer Fläche von 20.000 Quadratfuß über der Straße des 17. Juni. Aus einem bestimmten Winkel stellt sich durchaus der Ruf am Schluss von Francesco Petrarcas Canzone 16 als Korrespondenz mit den 30.000 Botschaften des Skynets ein: „Ich geh‘ und rufe: Friede, Friede, Friede!“
Auf den mit der Bronzeplastik Der Rufer verknüpften Vers wurde in der landläufigen Berichterstattung nicht näher eingegangen. Die große Zahl der 120.000 Stoffstreifen aus einem reflektierenden Nylonstoff in Gelb-, Blau-, Rosa- und Violetttönen sowie die 140 Zeichen für die 30.000 Botschaften zählen heute mehr als das Bildungswissen der Petrarca-Canzone. Dabei formulieren die 30.000 Botschaften, die von oft jungen Leuten gar vor der East Side Gallery an der Mühlenstraße, im Wende Museum in L. A. in der Woche vom 25. September, in anderen Projekten oder auf https://mauerfall30.berlin/en/# eingereicht werden konnten, vielleicht nicht sehr große Abweichungen vom humanistischen Friedenswunsch Petrarcas.[1]
Ich rathe dir, Canzone,
Sag‘ höflich deine Meinung; denn zu Leuten,
Die stolz und übermüthig, geht die Reise,
Die sich nach alter Weise
Und bösem Brauche immerfort bereiten,
Die Wahrheit zu bestreiten.
Doch besser wirst du fahren
Bei wen’gen Edeln, die des Bösen müde. –
„Wer wird,“ sprich da, „mich wahren? –
Ich geh‘ und rufe: Friede, Friede, Friede!“[2]
Mit Poetic Kinetics geht es programmatisch um Poesie in Bewegung. Da Petrarca in der Canzone 16 das durch Kriege zerrissene Italien im 14. Jahrhundert – „O mein Italien, ob kein Wort auch heile/Die Wunden, die ich offen/An deinem schönen Leib in Menge sehe, …“[3] – besingt, war 1966 die Wahl des Zitats durchaus treffend und beziehungsreich. Denn seit dem Mauerbau durchzog Deutschland eine „Wunde()“, wie sie beispielsweise Burkhard von Harder und FM Einheit 2015 mit dem Video mit Live Sound Narbe Berlin (2009) im Kraftwerk Mitte performt haben.[4] Petrarca spricht die Canzone sozusagen allegorisch als poetische Rede und „Meinung“ an, wenn es heißt: „Ich rathe dir, Canzone,/Sag‘ höflich deine Meinung; …“ Durch diese rhetorische Figur gelingt ihm einerseits eine Verstärkung der „Meinung“, andererseits schützt sich das Dichter-Ich vor Verfolgung durch die Zensur.
Patrick Shearn generierte eine ebenso leichte wie bewegende Vielfalt der Meinungen und Wünsche mit Visions in Motion. Die Vielfalt wird auf den beschrifteten Nylonstreifen sichtbar und verschwindet doch in der großen Zahl der Stoffstreifen. Man muss die Schriftstreifen schon heranzoomen, um sie im Skynet sehen zu können. Sie bleiben allerdings nahezu unlesbar. Mit dem Kunstprojekt findet eine leichte Verschiebung vom Geschichtenerzählen als Rückblick zur Botschaft für die Zukunft statt. Am Brandenburger Tor wurden zwar auch individuelle Erzählungen z.B. die von Georg Mascolo, der mit einem Kamerateam am 9. November 1989 von der Ostseite des Grenzübergangs Bornholmer Straße live berichtete, bereitgestellt, aber Patrick Shearns Kunstprojekt brachte einen starken anderen, internationalen Akzent in die Feierlichkeiten. Den Mauerfall zu feiern, sollte heute auch heißen, sich gegen die Installation imaginärer Mauern zu wehren.
Die Zeugenschaft der Fotografie ist engagiert diskutiert worden. Das gilt ebenso für die Serie Witness von Andreas Fux. Denn es ist zunächst einmal gar nicht sicher, von was der Fotograf Zeugnis ablegen will. Er hat den sogenannten Mauerstreifen vor und im Verschwinden fotografiert. In der Ausstellung kombiniert er dieses besondere Genre der, so muss man es nennen, Landschaftsfotografie mit Fotos von mehr oder weniger nackten, jungen Männern in Innenräumen oder z. B. auf einem DDR-Motorrad unter der legendären Glienicker-Brücke an der Havel. Die Aufgeregtheit des 9. und 10. November 1989 in Berlin und anderswo ist einer fast melancholischen Ruhe gewichen. Fux fotografierte, was bald verschwinden sollte und heute tatsächlich fast gänzlich aus dem Stadtbild verschwunden ist. Der Mauerstreifen neben dem Axel-Springer-Verlagshaus in der Kochstraße ist in den letzten Jahren durch Bebauung vernarbt, wie man sagen könnte.
Vielleicht sollte man Andreas Fux‘ Serie Witness als ein Zeugnis des Verschwindens betrachten. Die Jugendlichkeit der jungen Männer wird ebenfalls bald verschwunden sein. Vermutlich fotografierte der ca. 25jährige Fux Freunde. Selbst 1964 geboren fotografierte er ungefähr gleichaltrige „Jungs“ nackt auf dem Sofa, im Tanktop vor einem Backsteinschuppen mit geschlossenen Fensterläden. Die melancholische Stimmung der Fotos liegt nicht im Schwarzweiß als Medium, eher schon in der Körperhaltung oder den geschlossenen Augenlidern unter den zerzausten blonden Haaren oder einer fast zur Faust geballten Hand. Die Landschaften wie die Jungs sind mit relativ harten Lichtkontrasten durchkomponiert. Das helle Licht im Rücken oder von der Fensterseite lässt an sommerliche Lichtkontraste denken. Auf Instagram oder Facebook gibt es solche Portraits heute nicht mehr.
Es gibt eine Signatur der Zeit, die die Fotos aus der Serie Witness zu Zeugnissen macht. Diese Signatur ist durchaus angereichert mit einem kulturellen Wissen. Diese 30er oder 40er Jahre Sofas aus Omas oder Opas Wohnstube mit einem geblümten oder geblätterten Muster aus strapazierfähigem Samtbezug gibt es nicht mehr. Oder nur noch als Vintage. Ruinen oder die Maueranlagen dienten schon deshalb besonders gut als Fotokulisse, weil sie verlassen und meist ungesichert waren. Das hat sich heute zumindest in Berlin oder Hamburg geändert. Ruinen sind geldwerte Anlagen geworden, die auf den nächsten Investor warten. Und dann gibt es diesen jungen Mann in der Modejacke der 80er Jahre. Alles ein wenig voluminös aufgepolstert. Anfang der 90er Jahre ließ sich noch viel aus den 80ern hinüberretten. Kleidungen und Haarschnitte verraten immer etwas über die Moden der Zeit.
Simon Williams hat mit Andreas Fux und dem Humpelfuchs-Fotobuch von Bastian Thiery nicht nur eine sprachspielerische Ausstellung über Fuchs in The Ballery eingerichtet. Vielmehr geht es um eine durchaus generationelle Korrespondenz zwischen zwei Berliner Fotografen und mit Touch me – Samantha & the Fox hat er gar eine Musikperformance eingerichtet, die am 27. November wiederholt werden soll. Bastian Thiery wurde 1990 geboren, lebt und fotografiert an der ebenso legendären wie berüchtigten Sonnenallee in Neukölln. Legendär ist die Sonnenallee seit der gleichnamigen Filmkomödie von Leander Haußmann mit Alexander Scheer, Robert Stadelober, Katharina Thalbach und vielen Anderen von 1999. Berüchtigt ist sie auf über 4 Kilometern als Neuköllner Kiez mit hohem migrantischen Einwohneranteil. Sie war geteilt. 400 Meter liegen im Stadtteil Treptow-Köpenick, wo die Komödie unmittelbar an der Mauer in den 70er Jahren spielt. An der Sonnenallee traf Bastian Thiery eines nachts einen humpelnden Fuchs und machte ihn zum Star.
Über die Anwesenheit von Füchsen in Großstädten und Städten ist zumindest soviel bekannt, dass sie in der Nähe von Grünanlagen in jüngerer Zeit häufiger vorkommen. Bastian Thiery traf seinen Humpelfuchs, wie er ihn nennt, viermal und entwickelte geradezu eine Beziehung zu ihm. Auf einem Farbfoto schaut ihm der Fuchs fast neugierig in die Kamera. Abgesehen davon, dass ich selbst schon einen Fuchs nachts über den Nettelbeckplatz im Wedding habe schleichen sehen und sich mir in der Abenddämmerung im Sommer eine humpelnder Fuchs nahezu vertraulich beim Laufen im Volkspark Rehberge in den Weg stellte, vermittelt Thiery in seinem Buch eine bestimmte Stimmung in der Großstadt um die Sonnenallee mit seiner Fotografie. Für das Zeit Magazin hat er sie im Mai als „Straße der Glücksritter“ fotografiert.
Bastian Thiery gelingt mit seinen Fotos etwas Verwirrendes: sie wirken wie Schnappschüsse, bei denen die Perspektive fast ständig zwischen Auf-, Unter- und Quersicht sogar bis zur Unschärfe wechselt und sind trotzdem genau durchdacht. Auf einem anderen Foto von Humpelfuchs auf einer Fahrbahnmarkierung begibt sich die Kamera fast auf Augenhöhe mit dem Tier. Aus einem Straßenladen auf der Sonnenallee mit Granatäpfeln und Auberginen macht Thiery ein Stillleben. Er sieht die Kontraste und Widersprüche, beispielsweise wenn er in einem Schaufenster eine Puppe mit offener Haarmähne in einem roten, teilweise mit schwarzen Spitzen durchsichtigen Lycra-Anzug mit roter Federboa neben einer Schaufensterpuppe mit einem unter schwarzem Kopftuch verhülltem Haar in einem dunkelroten, bodenlangen Kaftankleid fotografiert. In Humpelfuchs raucht ein Mann eine Zigarette am Fenster. Beobachtet er jemanden? Die Perspektive von schräg unten inszeniert selbst ein Beobachten.
Humpelfuchs ist mit seinen 36 Fotografien als Fotobuch von einer vertraulichen Begegnung mit minimalistischem Text durchkomponiert. – „One night, in my neighborhood, I saw a limping fox. He was curious, waited for me to approach him, running away when our distance became too small – only to wait again. I took five pictures of the fox that night, until he disappeared behind a fence, leaving me with the urge to encounter him again.“ – Die minimale Beschreibung der Begegnung zwischen Nähe, Distanz und dem nachträglichen Verlangen, den Fuchs wiederzutreffen, lässt sich als Parabel auf die Fotografie von Bastian Thiery lesen. Das Buch selbst wechselt ständig zwischen Nähe und Distanz. Ein fetter Mann mit tätowiertem Oberkörper verheddert sich beim Aus- oder Anziehen eines Sweatshirts. Oder versteckt er sein Gesicht darin, um nicht erkannt zu werden? Man könnte sich fragen: Was passiert da gerade? Es ist, als knüpfe Bastian Thiery an Jacques Derridas philosophisches Buch Droits de regards (1983) an und wolle sagen: „… Du wirst niemals, Sie auch nicht, all die Geschichten kennen, die ich mir beim Anschauen dieser Bilder noch habe erzählen können.“ – Es gibt nicht nur eine Geschichte.
Die Pluralität von Geschichte kam auch mit der Predigt von K.D. Ehmke am 9. November in der Kunstkirche Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche im Hansaviertel zum Zuge. K.D. Ehmke erzählte seine sehr persönliche Mauerfall-Geschichte für die Gemeinde. Ihn fasst gelegentlich immer noch die Erinnerung an sein Leben in der DDR an, wenn er über den ehemaligen Mauerstreifen in Berlin die Bezirke und Kirchenkreise wechselt. K.D. Ehmke, der beruflich als Arzt praktiziert, engagiert sich ehrenamtlich im Kirchenkreis Berlin Stadtmitte. Die Gemeinde der Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche hat ihn als Zeitzeugen zur Themen-Predigt mit besonderer Kirchenmusik von Demetrios Karamintzas (Oboe) und Ralf Lützelschwab (Orgel) am Samstagabend eingeladen. Die Kirche wurde zur Interbau 1957 von Ludwig Lemmer am Rande des Tiergartens erbaut. Sie ist mit ihrer abstrakten Mosaikwand hinter dem schlichten Altar, der Kanzel bis zum Nierentisch links neben dem Portal ein Juwel der 50er-Jahre-Architektur. Die Kanzel mit dem Chrom- und Glasdach visualisiert ein einziges spirituelles Versprechen. Ehmke wurde 1958 in Anklam geboren, erzählt er. Seine Eltern waren Landwirte. Weil sie ihren evangelischen Glauben praktizierten, wurden seine Eltern und Großeltern sowie er selbst diskriminiert und drangsaliert. So stellte er dann seine Kanzelrede nach Psalm 50:15 unter das Motto „rufe mich an in der Not“.
Klaus-Dieter Ehmke hat seine private Bibel aus Zeiten der DDR mit auf die Kanzel genommen. Er erzählt, wie er während seines Wehrdienstes bei der NVA von seinem Politoffizier unter Druck gesetzt wurde, indem er dieser seine Bibel stahl, um ihn im Politunterricht lächerlich zu machen, indem er am Lesezeichen etwas aus dem Zusammenhang Gerissenes vorlas. Man kann seine Geschichte nicht einfach so aufschreiben, wie er sie von der Kanzel erzählt. Es ist eine Geschichte des Widerstands, weil er praktizierender Christ war. Die Pointe geht ungefähr so, dass sein Politoffizier aus der Bibel höhnisch zitiert. Daraufhin riß Ehmke dem Politoffizier mit dem Mut des Verzweifelten seine Bibel aus der Hand und begann die Stelle ausführlich zu lesen, woraufhin seine Kameraden ihn mehrfach mit „Weiter! Weiter!“ aufforderten, dem Politoffizier laut aus der Bibel lesend die Stirn zu bieten. Die gefährliche Episode endet nur mit einem „Wegtreten und Putz- und Flickstunde“. Später fand er auf Hiddensee seinen Mann fürs Leben und zum 9. November 1989 wollte er eigentlich zur restlos ausverkauften Welturaufführung des ersten Schwulenfilms der DDR, Coming out von Heiner Carow, ins Kino International. Doch dann entschied er sich, einen Tag später am Freitag, den 10. November um 19:30 Uhr für 3,00 Mark (der DDR) in den Film zu gehen. Den „Eintrittsausweis“ der „Bezirksfilmdirektion Berlin“ besitzt er noch heute.
Der 9. November 1989 bleibt bisweilen ein Geheimnis. Ist K. D. Ehmke am 10. November überhaupt in den Film gegangen? Der „Eintrittsausweis“ ist durch Abriss nicht entwertet. Andreas Fux erzählt seine Coming out-Geschichte mit der Premiere, der anschließenden Premierenfeier in der Alt-Berliner Schwulenkneipe Burgfrieden. Dort waren halb-dokumentarisch Szenen des Films gedreht worden. Für andere Szenen hatte Lothar Bisky seine private Wohnung in Prenzlauer zur Verfügung gestellt. Am 9. November wurde der Film, der nur durch mutiges Engagement Einzelner zustande gekommen war und mehr oder weniger im Untergrund gedreht worden war, zur Staatsaktion im offiziellen Uraufführungskino der DDR. Am 9. November stürmten irgendwann während der Feier die ersten Leute ins Lokal, um zu sagen, der nahe Grenzübergang Bornholmer Straße sei offen. Dann allein oder einige zusammen zur Bornholmer Straße … und erst einmal bloß drüben bleiben… Die Geheimnisse in der bis ins letzte Detail und live im Fernsehen übertragenen Grenzöffnung gibt es trotzdem.
Der Kulturkirchen-Gottesdienst im Hansaviertel bleibt eine eher überschaubare Veranstaltung. Kein touristisches Highlight, aber sehr besonders. Nach der Mauerfall-Predigt von K.D. Ehmke lud Pfarrer Sascha Gebauer Gäste und Gemeinde zu einem kleinen Empfang in den Gemeindesaal gleich neben dem Kirchenraum ein. Es soll ein Raum für Begegnungen geschaffen werden. Was wird passieren? Wie kann man in ein Gespräch kommen? Es gibt Wasser und Wein. Mit einer kaum spürbaren Verzögerung setze ich mich an einen Tisch mit einer Frau. Wir kommen ins Gespräch. Sie kommt aus Schweden und hat die dezentralen Veranstaltungen in ganz Berlin in der Woche vor dem 30. Jahrestag des Mauerfalls besucht. Es wird ein angeregtes und anregendes Gespräch. Sie hatte an der Freien Universität Berlin in Dahlem Germanistik studiert, bevor sie Lehrerin in Uppsala wurde. K.D. Ehmke hatte in seiner Predigt erzählt, wie er 1985 nach Berlin in eine Wohnung im Prenzlauer Berg gegenüber jener von Franz Kafkas Verlobten Felice Bauer zog. Ein Mieter des Hauses verriet Ehmke, in welcher Wohnung sie genau gewohnt habe. Das Gespräch mit Helena, der zufälligen Bekanntschaft, mäandert. Sie hatte sich in den 80er Jahren in der Friedensbewegung in Schweden engagiert. Kafka wird zum an Forschung interessierten Stichwort. Für den nächsten Morgen verabreden wir uns locker für den Gottesdienst zum 30-jährigen Jubiläum des Falls der Mauer im Berliner Dom.
Krätschell hält die Predigt im Berliner Dom. Superintendent i. R. Dr. h. c. Werner Ernst Krätschell ist eher unter den Christen aus dem ehemaligen Ostteil der Stadt bekannt. Er war einer der führenden Köpfe der kirchlichen Friedensbewegung in der DDR. Eine durchaus legendäre Persönlichkeit. Der Berliner Dom ist am Sonntagmorgen so eng besetzt, dass Stuhlreihen zusätzlich aufgestellt werden. Die Predigt des Zeitzeugen Krätschell, der 1940 in Berlin geboren wurde, erhält eine historische Dimension, noch bevor der Historiker und Karlspreisträger Timothy Garton Ash eine Rede zum 30. Jahrestag halten wird. Werner Krätschell spricht vom 4. November 1989 so authentisch, dass es schauert. Er beschreibt, wie ca. 80 % der Ost-Berliner Bevölkerung schweigend über Unter-den-Linden zwischen Berliner Dom und Palast der Republik bis zur Spandauer Straße gingen. Es seien nur die leisen Schritte der Demonstrierenden zu hören gewesen. An der Spandauer Straße stellte sich den friedlich Demonstrierenden der Staat in Gestalt der Volkspolizei entgegen. Es hätte zu einer Konfrontation, gar zu einem Blutbad kommen können. Doch die Demonstrierenden bogen schweigend scharf nach rechts in die Straße, um dann nach wenigen 100 Metern vor dem Rathaus nach links in Richtung Alexanderplatz einzubiegen. Auf dem Alexanderplatz versammelten sich ca. 1 Million Menschen, Bürger der DDR im Protest. K. D. Ehmke hatte im St.-Hedwig-Krankenhaus, wo er eine Facharztausbildung machte, Laken mit „Freie Wahlen“, „Keine Gewalt“ und „Lasst Euch keinen Sand in die Augen streuen“ bemalt. Die katholischen Alexianer Ordensschwestern gaben Brote, Äpfel, Tee und gute Worte mit zur Demonstration.
Für den Kirchenmann Krätschell wurde die Demonstration am 4. November zur Parabel der friedlichen Revolution vor dem Mauerfall fünf Tage später. Der Schriftsteller Georg Heym habe später mitgeteilt, dass ein Funktionär des DDR-Fernsehens den bundesdeutschen Sendeanstalten angeboten hatte, die Demonstration direkt zu übertragen. Doch dieses habe nicht stattgefunden, weil ein Tennisspiel mit Boris Becker im Fernsehen Live gesendet wurde. Er sei mit Christen im Französischen Dom am Gendarmenmarkt gewesen, wo es zu einer provozierenden Störung gekommen sei. Doch er habe sich nicht provozieren lassen und mit der Gemeinde das Dona nobis pacem (Gib uns Frieden), Evangelisches Gesangbuch 435, aus dem Agnus Dei als Kanon angestimmt. Unter dem Motto „Wer singt, betet doppelt: Was uns bewegt und das Herz schwer macht, um wen wir uns sorgen und was wir erbitten befehlen wir Gott im Gesang“ stimmte nun der Domorganist Andreas Sieling mit der Domkantorei das Dona nobis pacem an, das sich in die Gemeinde übertrug.
Über die mündliche Überlieferung des 4. November 1989 gibt es eine Debatte unter Historikern. Es kursieren verschiedene Erzählungen. Waren es weniger als eine Million Menschen? Vielleicht nur ein Fünftel? Was hat den Ausschlag gegeben, dass die Menschen nach rechts abbogen, um nach Krätschell in ihrem friedlichen Protest auf Umwegen an ihr Ziel zu gelangen? War es sozusagen eine Erfüllung der Heiligen Schrift, wie sie für Sonntag mit dem Propheten Micha aus dem Alten Testament als Verkündigung vorgesehen war? Durch den morgentlichen Sonneneinfall strahlte das Kreuz auf der Kuppel der Kanzel im Berliner Dom besonders hell, als wolle er die Predigt und das Motto „Schwerter zu Pflugscharen“ der Friedensbewegung beglaubigen.
1 In den letzten Tagen aber wird der Berg, darauf des HERRN Haus ist, fest stehen, höher als alle Berge und über alle Hügel erhaben. Und die Völker werden herzulaufen
2 und viele Heiden werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns hinauf zum Berge des HERRN gehen und zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir in seinen Pfaden wandeln! Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des HERRN Wort von Jerusalem.
3 Er wird unter vielen Völkern richten und mächtige Nationen zurechtweisen in fernen Landen. Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen.
4 Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen, und niemand wird sie schrecken. Denn der Mund des HERRN Zebaoth hat’s geredet.
5 Ein jedes Volk wandelt im Namen seines Gottes, aber wir wandeln im Namen des HERRN, unseres Gottes, immer und ewiglich!
Micha 4, 1-5
Timothy Garton Ash, der auch einen Essay zu Dr. Werner Krätschells Buch Die Macht der Kerzen (2019) beigesteuert hat, rückte als europäischer Historiker an der Universität Oxford den Mauerfall in ein durchaus ambivalentes Licht. Unter dem Titel „Es geschah ein Wunder: 1989 und die Krise der Nachmauerwelt“ schlug er einen Bogen vom Mauerfall zu den nun dreißig Jahren danach. Er sprach davon, dass „wir“ u.a. die Geschichten der Bürger der DDR nicht genug berücksichtigt hätten. Der Mensch ist kein geschichtsloses Wesen, könnte man vielleicht formulieren, ohne gleich die Versäumnisse oder gar Schuld auf der einen oder anderen Seite zu suchen. Eine oft höchst individuelle Geschichtlichkeit gehört zur conditio humana. Gerade an dem Versuch einer Konsensbildung der Geschichten bei Timothy Arton Ash springt hervor, wie das Datum als Ereignis permanent differierende Geschichten generiert. Dabei kann nicht nur, sondern wird jede individuelle Geschichte in sich durchaus brüchig sein.
Insbesondere an einer Geschichtsschreibung der Einheit ließ sich am 9. und 10. November 2019 an verschiedenen Schauplätzen der Stadt Berlin beobachten und hören, dass es allein eine Einheit in der Vielfalt gibt. Selbst der Staat produziert und institutionalisiert heute die Einheit als Vielfalt. Dennoch oder gerade deshalb gibt es heute einen faschistischen Wunsch nach einer normalisierten und normierten Einheit in der Selbsterzählung der Bundesrepublik Deutschland. Für Timothy Garton Ash gilt das auch für Großbritannien und Europa. Doch das müssen ein demokratischer Staat und ein demokratischer Staatenbund aushalten und wenn nötig wehrhaft regulieren.
Torsten Flüh
The Ballery
Andreas Fux: Witness
Bastian Thiery: Humpelfuchs
bis 30. November 2019
Touch me – Samantha & the Fox
nächste Vorstellung am 27. November 2019, 19:00 Uhr
Nollendorfstraße 12
10777 Berlin
Bastian Thiery
Humpelfuchs
135 copies
20,8 x 25,8 cm, linen cover, thread bound
64 pages, 36 color photographs
Graphic Design by Tobias Textor
Evangelische Kirchengemeinde Tiergarten
Kunstkirche KFG
Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche
jeden 2. Samstag klassische Orgelmusik mit Vokal-/Instrumentalsolist*in
jeden 3. Samstag Jazzmusik
jeden 4. Samstag Evensong nach anglikanischem Modell
jeden 5. Samstag moderne Orgelmusik
Emporenkonzert Zukunft – Orgel und Elektronik
Tobias Tobit Hagedorn (Frankfurt)
13. November 2019
Händelallee 20
10557 Berlin
Werner Krätschell
Die Macht der Kerzen
Erinnerungen an die friedliche Revolution
Mit einem Essay von Timothy Garton Ash
Ausstattung: Broschur
Format: 19,5 x 21,0 cm
Seitenzahl: 96
Abbildungen s/w: 17
ISBN: 978-3-96289-046-9
15,- €
[1] Zum Konzept von „Vision in Motion“ siehe: http://www.poetickinetics.com/visions-in-motion/
[2] Francesco Petrarca: Sämmtliche Canzonen, Sonette, Ballaten und Triumphe. (Übersetzt und mit erläuternden Anmerkungen begleitet von Karl Förster. Leipzig: Brockhaus, 1833, S. 62-63.
[3] Ebenda S. 59.
[4] Siehe Torsten Flüh: Jetzt als Zeitfrage. The long Now von MaerzMusik im Kraftwerk Mitte. In: NIGHT OUT @ BERLIN April 2, 2015 19:09.
Danke für die besinnlich mäandernden Gedankenströme, für die zur Reflexion einladenden Impressionen!