Im Austausch mit Hubert Fichte

Lieben – Literaturen – Leiden

Im Austausch mit Hubert Fichte

Zur „Essay-Ausstellung“ Liebe und Ethnologie im Haus der Kulturen der Welt

Schreiben und Leben stehen in Hubert Fichtes Schaffen in einem permanenten Austausch. Das ethnographische Reisen wird durch Lektüren angestoßen, um in Literaturen verwandelt zu werden und vice versa. Dirck Linck spricht in seinem Beitrag von einem „durch wissenschaftliche und ästhetische Redeformen, durch Gattungsvermischung und multimediale Verfahren“ generiertem Werk der „Unreinheit“.[1] Es gibt viel zu sehen, zu hören und zu lesen, in der von Anselm Franke konzipierten „Essay-Ausstellung“[2] zu Hubert Fichte (1935-1986). Denn sie sucht vor allem den Austausch mit den Menschen in einigen jener Länder und Städte, die Hubert Fichte bereist und erforscht hat – Brasilien, Chile, Portugal, Senegal, USA bzw. Lissabon, Salvador da Bahia, Rio de Janeiro, Santiago de Chile, Dakar, New York.

Die Besucher*innen können in der großen Ausstellungshalle gleich in das Sound-, Bild- und Schrift-Universum eintauchen. Oder sie informieren sich zunächst einmal im Foyer auf großen Stelltafeln über das internationale Projekt Hubert Fichte: Liebe und Ethnologie des Hauses der Kulturen der Welt mit dem Goethe-Institut und der S. Fischer Stiftung sowie dem S. Fischer Verlag und dessen Ablauf zwischen 2017 und jetzt: Rio de Janeiro 25.11.2017-13.1.2018: Hubert Fichte inszeniert sich auf einem Foto als bärtiger Mann mit einer Busenmaske aus Benin. Die Selbstinszenierung wird zu einem komplexen Prozess aus Maskierung, Forschung wie Selbsterforschung, Poesie und Potenz. Die Künstler*innen und Kurator*innen von Implosão: Trans(re)lating Hubert Fichte reagieren auf die fotografische Inszenierung: „Hubert Fichte gostava de sexo…“

Das Projekt seinerseits geht als Übersetzungsarbeit im „Webjournal“ projectfichte.org auf Hubert Fichtes auf 19 bis 24 Bände veranschlagten Zyklus Geschichte der Empfindlichkeit aus Romanen und anderen Texten zurück. Das Textprojekt ist Fragment geblieben und mit dem frühen Tod des Autors im Hamburger Hafenkrankenhaus an AIDS abgebrochen. Die unterschiedlichen Textformate generieren ein ebenso einmaliges wie uneinholbares Wissen vom Autorenselbst und der Welt. Die von Diedrich Diederichsen und Anselm Franke kuratierte Ausstellung fasziniert und lässt ständig die schwulen Sexpraktiken der 60er bis 80er Jahre durchschimmern. In einer Nische am Eingang wird mit der Videoinstallation und dem Künstlerbuch Projektion auf die Krise (Gauweilereien in München) an den Abbruch des Projekts durch den AIDS-Tod erinnert.[3]

Schon in Die Palette werden Schreiben und schwuler Sex, gern auch als Liebe aufeinander bezogen, so dass die Leser*innen den Eindruck bekommen könnten, dass der Autor über schwule Sexpraktiken und Männerkörper schrieb, um eben diese zu bekommen. Der Leipziger Literaturwissenschaftler Jan-Frederik Bandel hat kürzlich quasi blogartig auf projectfichte das Verhältnis von Gerücht als literarischer Form und Leben bei Hubert Fichte bedacht.[4] Bei den Gerüchten, die über Hubert Fichte in die Welt gesetzt wurden und möglicherweise noch werden, die er allerdings auch selbst durch leicht dechiffrierbare Figurennamen in seinen Texten über rivalisierende Zeitgenossen in die Welt setzte, geht es nicht allein um Literaturfragen, sondern mehr oder weniger diskret um Sex und die Frage: Wer mit wem wann und wo und ob überhaupt Sex hatte.

In Die Palette (1968) wird fast direkt vom Sex gesprochen. Man könnte das als weitere Literaturform Jargon nennen. Gerücht und Jargon brechen durch Hubert Fichte um `68 in den Literaturkanon ein. Jäcki ist viel zu viel in der Palette, die mehr oder weniger eine Stricherkneipe ist, weil jüngere Männer Sex gegen Geld anbieten. Hubert Fichte als Jäcki könnte gar nicht so viel schreiben, wie er in der Palette sitzt. Aber als Autor kann er Jäcki soviel in der Palette rumsitzen lassen, mit Reimar Renaissancefürstchen „schlafen“, „rauchen und quatschen“ wie es gerade in den Roman passt. Das war für einen Literaturverlag wie Rowohlt Ende der sechziger Jahre ziemlich bahnbrechend. Jäcki ist immer unterwegs und „high“ oder „down“, was schon ziemlich dem Palette-Jargon abgelauscht sein könnte, doch zugleich literarisch transformiert wird. Das „High“ entfaltet eine eigene literarische Dynamik bei Fichte.
33.
SCHON WIEDER REIMAR RENAISSANCEFÜRSTCHEN: Immer noch im High?
-Nein, heute überhaupt nicht.
Er will mit nach Hause zu Jäcki.
-Neulich hattest du gar keine Lust.
-Klar.
-Du bist doch im High.
-Nein. Komm, ich will bei dir schlafen.
Jäcki, der doch wieder in der Palette sitzt, obwohl er gestern gerade Barbara und Halleluja gestört hat, will lieber hier bleiben und nicht gestört werden zwischen hoch und down.
-Oder können wir nicht rumfahren ein bißchen?[5]

Beiläufig geht es im Jargon um Sex gegen Geld. Das Buch im Original rauschartig in Goldfolie mit Mehrfarbentitelaufdruck ist ein Versprechen. Jan-Frederick Bandel fragt, „(w)elche Art von Buch Die Palette“ sei. „Ist es schlicht ein Kneipenroman? Der Versuch, einen deutschen Beatroman zu schreiben? […] Eine ethnografische Studie, die den späteren Berichten Fichtes über afroamerikanische Religion und Kultur, über Psychiatrie in Afrika methodisch eng verwandt ist?“[6] Das Buch lässt sich schwer einer Kategorie zuordnen. Es passt in keinen Kanon, weshalb damit eben dieser befragt werden kann. Im Jargon gibt es zunächst keinen Sex, weil Jäcki pleite ist. Wenn der Jargon als Form der Rede nicht bereits bekannt ist, bleibt er ein Gemurmel oder Vogelgezwitscher. Jargon setzt schwankendes Wissen voraus und plätschert als Rede dahin, obwohl er eine Verhandlung über Sex oder keinen vorführt, was Machtverhältnisse lesbar werden lässt. Jäcki bekommt dann doch den Sex, den er mit R. R. haben wollte, ohne dass er bezahlen muss. – „Dann kommt es genau so, wie Jäcki gesagt hat. Reimar sagt auch nicht nein.“[7] Aber ist das dann Liebe?
-Du weißt doch, was dabei herauskommt. Dann ist es dir unangenehm.
-Nein. Hinterher gehen wir wieder schön essen, wie damals, als du mich eingeladen hast, als ich gerade aus dem Knast kam.
Im Wagen:
-Komm, wir fahren zu dir nach Hause und ich schlaf bei dir, Elbchaussee.
-Ich bin pleite.
-So mein ich das nicht. Ich freu mich, wenn ich bei dir rumsitzen kann und rauchen und quatschen. Es ist nämlich sehr gemütlich bei dir.[8]   

Legendär sind die Gerüchte, die Fritz J. Raddatz und Hubert Fichte publizierend gegeneinander in die Welt setzten, damit sie gelesen wurden und bis auf den heutigen Tag als Lebensbeschreibungen aus der Hamburger Schwulenszene zwischen Star-Club auf der Reeperbahn in St. Pauli, Palette in der ABC-Straße am Gänsemarkt und Rowohlt-Verlagshaus in Reinbek bei Hamburg kursieren.[9] Das Gerücht, was Bandel unerwähnt lässt, ist auch eine literaturmarktgängige Währung, weil es so leicht und verdreht bleibt, dass es die Leser*innen dazu animiert, nach dessen Wahrheitsgehalt zu fragen, indem mehr gelesen wird. Als Autobiograph versprach der einstige Lektor und langjährige Literaturkritiker Raddatz, seine Lebensgeheimnisse zu lüften, indem er sich der Form des Gerüchts bediente. Bandel formuliert es ein wenig anders, wenn er schreibt:
Leben wird nicht zu Literatur, indem man versucht, es in seiner ganzen, meist traurigen Abfolge von Tagen, Wochen, Monaten wiederzugeben, nicht, indem man in sich bohrt und bohrt und bohrt, als sei das Schreiben autoanalytischer Tagebau, aber eben auch nicht in einer teleologischen Überhöhung oder plump-selbstgewissen Pointierung. Es braucht – und Fichte wusste das ganz genau – die Unbestimmtheit, das Changieren, das Schillern, die Brüchigkeit. Es braucht das Gerücht, das Fragwürdige, das Falsche, Schiefe, Schrille. Das dünne Eis. Die fragwürdige Oberfläche. Eine Literatur, die ihre Aufmerksamkeit – ihre “Empfindlichkeit”, um bei Fichtes Wort zu bleiben – für die Widersprüchlichkeiten der Wirklichkeit schulen will, um diese poetisch zu fassen, wird sich selbst in Widerspruch zu dieser Wirklichkeit begeben müssen. Sie darf sich einer Diktatur der Realität nicht unterwerfen.[10]

Das Gerücht ist als graduelles Merkmal von Literatur bzw. deren Literarizität nicht unumstritten. Als literarische Praxis lässt es sich wohl gut handhaben. Die Geschichte der Empfindlichkeit inklusive Die Palette lässt sich auf mehreren Ebenen lesen, wenn man das Verhältnis der Autoren Fichte und Raddatz bedenkt: Es sind auch ihre Empfindlichkeiten als Leser, die sie zu neuen Gerüchten anstacheln. Die Empfindlichkeit setzt einen Prozess der Überbietung in Gang. Dabei unterscheiden sich Gerüchte von schnöden Fake News à la Trump. Zimperlich waren der Ethno- wie Ledermann Fichte und der Porsche- und Pommerybrutroyalmann Raddatz mit ihrer Gerüchteproduktion allerdings nicht. Für Liebe und Ethnologie nimmt Hubert Fichte unterdessen eine weit sensiblere Funktion ein, die erst jetzt in die Aufmerksamkeit gerückt werden kann.
Führt Fichtes Werk, das in engem Austausch mit der Fotografin (und Lebensgefährtin) Leonore Mau entstand, vielleicht eher ein Scheitern vor Augen, aus dem sich aufgrund seiner Radikalität und Komplexität für die heutige Situation etwas lernen lässt? Um dieser Frage nachzugehen, war es der methodische Ansatz des gesamten Projektes Hubert Fichte: Liebe und Ethnologie (2017-2020), die Position des Autors an die Orte zurückzubringen, an denen sie entwickelt wurde, und die Akteur*innen dieser Orte einzuladen, sich aus ihrer Perspektive mit Fichtes Werk auseinanderzusetzen.[11]

Diedrich Diederichsen und Anselm Franke bringen neben Gerücht und Jargon mit dem Klatsch eine weitere eher abgewertete „Form des Redens“ für die Ausstellung ins Spiel. Denn Klatsch durchbreche „die Geheimnisse einer geschlossenen Welt, zugleich (sorge) er auch dafür, dass die Klatschenden selbst mit Sanktionen rechnen“ müssten.[12] Klatsch produziert und vor allem reproduziert Wissen. Sie formulieren die „Nationalliteratur“, der Fichtes Abneigung gegolten habe, als „eine Art Stammtisch, an dem sich die Sprechenden über den Rest der Welt verständigen, ohne eine Antwort, eine Korrektur zu erhalten, ja überhaupt nur das Ausmaß der Beleidigung zu kennen, das sie unmittelbar oder mittelbar verursachen, indem sie über Jahrzehnte und Jahrhunderte an Begriffen, Vorstellungen, Kategorien arbeiten, die den bestehenden Machtsymmetrien dienen sowie koloniale und andere Ungleichheiten legitimieren. Fichte war ein Feind dieser Funktion der Nationalliteratur einerseits, er war ein Feind der deutschen Nationalliteratur im Besonderen andererseits.“[13] Klatsch produziert ein wohlfeiles und mächtiges Wissen über den Anderen und das Andere. Insofern ist dem Konzept der Ausstellung ein deutlich antikolonialistischer Gestus eigen. Der Autor Hubert Fichte war mit seinen Schriften abseits der akademischen Disziplinen, wie sie bis `68 unhinterfragt existierten, darin engagiert, Wissensformen zu hinterfragen.

Die Einzigartigkeit von Hubert Fichtes Schreiben und Forschen, was in der Literatur immer auch Sprachforschung als Kritik beinhaltet, wird von den Kuratoren der Ausstellung für sein „Werk“ in „seiner Zeit“ herausgestellt: „Es denkt das Verhältnis von Fiktion und Bericht neu, von Poesie und Journalismus, entwirft eine Poetik der Sachlichkeit und – quasi komplementär bis antagonistisch – eine der Nähe, Liebe und Sexualität, thematisiert die materiellen und kulturellen Abhängigkeiten schriftstellerischer Subjektivität, entwirft frühe Fassungen dessen, was später artistic research heißen wird, versucht einen Gegenentwurf zum europäischen Universalismus, der selbst auf einen anderen (afro-diasporischen) Universalismus hinauslaufen soll, nur auf eine Aufwertung der/des Anderen, und möchte eine Visualität denken, die nicht aus dem Fortschritts- und Repräsentationsmodell der Zentralperspektive abgeleitet ist, sondern vom Palimpsest, bemalten Häuserwänden und Graffiti.“[14] Diedrich Diederichsen und Anselm Franke geht es darum, „das Verhältnis deutschsprachigen Schreibens und Beschreibens des globalen Südens dem nationalkulturellen Stammtisch radikal zu entziehen und die Wände dieser Kneipe zu schleifen“.[15]

Die Ausstellung und ihr Konzept verstehen sich als queer zwischen Hubert Fichtes Projekt einer „Verschwulung der Welt“ bis zu einer nicht allein sexuell-praktischen, vielmehr widerständigen und subversiven Erforschung des Tourismus und seiner kolonialen Praktiken wie Machtverhältnisse. Allerdings verhält sich nicht jeder Schwule queer. Stärker und anders noch als bis zu Beginn der 70er und 80er Jahre kolonialisieren heute Lonely Planet- und Backpacker-Reisende die letzten Nischen und Ecken des Planeten wie z.B. die kürzlich durch einen Touristin-Tod in die Weltpresse geratene Insel Koh Rong in Kambodscha mit allerfeinsten Sandstränden – und Entwicklungspotential. Leicht könnte die Ausstellung also in zweifelhaftes Best-of-Destination mit Hubert Fichte verrutschen. Ganz und gar nicht queere Gay Cruises und Gay Ressorts lassen sich heute fast überall auf der Welt in bester kolonialer Tradition finden und mit Bonuscard buchen. Anselm Franke setzt diesem das „spekulative() Ausstellungsformat()“ entgegen, „das am Haus der Kulturen der Welt unter dem Schlagwort der Essay-Ausstellung firmiert“. Ihm geht es „nicht (…) darum, ästhetische Erfahrung Themen unterzuordnen und Kunst in krudem Inhaltismus zur Illustration vorgeprägter Thesen einzusetzen. Vielmehr muss der Anspruch an selbstreflexive Ausstellungen sein, ihr Thema nicht nur als Diskursform abzuhandeln, sondern in der ästhetischen Erfahrung selbst zur Disposition zu stellen.“[16]     

Die Videoinstallation Projektion auf die Krise (Gauweilereien in München) von Philipp Gufler ist als „ästhetische Erfahrung“ vor allem erst einmal schwer auszuhalten. Sie aktualisiert 2014 anhand von Videoausschnitten aus Nachrichten, Talkshows und von Demonstrationen, von Fotos von Magazinen, Briefen, Notizen, Texten die Krise, während der Hubert Fichte erkrankte und im Hamburger Hafenkrankenhaus am 8. März 1986 starb. Er starb in keinem sterbebegleitendem Hospiz oder begleitet von ambulanter Palliativmedizin in der Familie oder unter Freunden. Er verstarb weitestgehend isoliert. Davon muss man ausgehen, weil es brutale Praxis war. Im Video erscheinen im Abschnitt „1969 Entschärfung des § 175“
007 ……. Hans Eppendorfer: Der Ledermann spricht mit Hubert Fichte, Goldmann Verlag, 1977
008 …….. Richard John Jones und Simon Leahy: Twink Life Issue 5: Twinks in Love, Fanzine, 2010
009 …… Roland M. Schernikau: Kleinstadtnovelle, Konkret Literatur Verlag 1980/2002
010 …… Philipp Gufler: Hanky Code, Siebdruck auf Papier, 2011

1982
019 …… Hubert Fichte: „Das Pech war, dass Jäcki in die Wechseljahre kam, als der Hauptbahnhof umgebaut wurde.“, aus Geschichte der Empfindlichkeit, Band XIV, Hamburger Hauptbahnhof = Register, Romanfragment, 1994

1986

038 …… Adrian Djunkic und Philipp Gufler: Quilt I (Hubert Fichte), Siebdruck auf Stoff, 2013
[17]

Die Unmöglichkeit oder gar das Leiden 1982 nicht von „AIDS“ und stattdessen über „die Wechseljahre“ zu sprechenschreiben, muss man auch als eine „ästhetische Erfahrung“ und Tabu sehen und lesen. Am Hamburger Hauptbahnhof gab es sogenannten Klappensex auf der Bahnhofstoilette und männliche Prostitution, was man als Guflers Lektüreebene einfügen muss. Doch weder Gerücht noch Jargon noch Klatsch reichen aus, um die virale Immunschwächeerkrankung zu umschreiben. Stattdessen wird die unaussprechliche Erkrankung als weibliche Hormonumstellung, „die Wechseljahre“, chiffriert. Um 1982 von einer Infektion mit AIDS zu wissen, hieß, sich auf einen nahen Tod einzustellen. In dieses Wissen brach schon 1985 Joseph Ratzinger, der heute als ehemaliger Papst Benedikt XVI. weltbekannt geworden ist, mit der öffentlichen Formulierung ein: „Man muss nicht von einer Strafe Gottes sprechen. Es ist die Natur, die sich wehrt.“[18] Der CSU-Politiker Peter Gauweiler setzte sich dann Anfang 1987 gegen jeden Respekt für das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland mit der Forderung nach Internierung von AIDS-Infizierten und -Kranken politisch in Szene. Er schwor damit insbesondere einen Verfassungsbruch gegen Artikel 3 Absatz 3 GG herauf:  
Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

Die Essay-Ausstellung entfaltet sich als außerordentlich materialreich und vielschichtig, was sich bereits mit der Inszenierung von Hubert Fichtes mehrfachen Arbeitsplänen für Die Geschichte der Empfindlichkeit bedenken lässt.[19] Wobei die Kuratoren voraussetzen, dass er „verschiedene Versionen eines Übertitels, darunter Die Geschichte der Empfindlichkeit, Die Geschichte der Zärtlichkeit oder Die Geschichte der Empfindungen Augusts von Platen (testete)“.[20] Die Arbeitspläne lassen sich indessen auch als Textcollagen und -grafiken lesen, die einen Schaffensprozess in unterschiedlichen Konstellationen zur Anschauung bringen. Diederichsen und Franke weisen darauf hin, dass das Projekt der Geschichte der Empfindlichkeiten eine konzeptuelle Korrespondenz mit Marcel Prousts À la recherche du temps perdu aufweist.[21] Der Modus der Geschichte und ihrer Geschichtlichkeit stellt sich vielleicht nicht zuletzt mit den Arbeitsplänen als schwierige Imagination heraus, wenn sich Hubert Fichte vor einer Wand, auf die beschriftete DINa 4 Seiten mit Nadeln geheftet sind, mit einer Schreibunterlage für die ordnenden Notizen in leichter Untersicht fotografieren lässt. Denn die Texte lassen sich offenbar wiederholt anders aufeinander beziehen, womit die Geschichte im Singular als Einheit zugleich unterlaufen wird.

Wie weit spielen Konzeptionen der Psyche in die Geschichte hinein? Der in Algier und Berlin lebende Künstler Kader Attia wird mit Reason’s Oxymorons (2015) von Anselm Franke auf das Buch Psyche von Hubert Fichte bezogen. Denn „Attia weiß um Fichtes Schriften, aber er entwarf seine Arbeit nicht in direktem Bezug auf den Schriftsteller. (…)  Selbst einige konkrete Personen tauchen in Attias Interviews auf, die Fichte vor gut dreißig Jahren ebenso befragte.“[22] So hat Attia Dr. Momar Gueye, Psychiater, Professor, Stationsleiter am Psychiatrischen Krankenhaus Moussa Diop am Centre Hospitalier National Universitäire de Fann im Senegal interviewt. Fichte hatte am 14. und 23. Februar 1985 ebenfalls mit Dr. Momar Gueye gesprochen, was am 18. Oktober 2018 von der Raw Material Company mit PARLONS SÉNÉGALAISERIES: SOCIETY AND MARGINALITY thematisiert wurde. In diesem Kontext werden Notizen zum Klatsch situiert:
Klatsch ist ganz sicher nicht die Wahrheit.
Klatsch ist auch keine Lüge.
Kein Psychologe kann leugnen: Klatsch ist ein Diskurs.
Klatsch ist falsch und wahr – Klatsch ist subjektive Wahrheit.
Gehört Klatsch zu den Geisteskrankheiten?
Ist Klatsch eine Therapie?
Ist Klatsch psychoanalytisch?
Dialektisch?
Revolutionär?
Nirgends gibt es mehr Klatsch als in der psychiatrischen Abteilung von Fann.
[23]

Hubert Fichte kommt durch seine Interviews in Fann, Dakar, auf den Klatsch zu sprechen. Er dekliniert den Klatsch als Redeform gleichsam durch, was die psychiatrische Anamnese und Diagnostik durchaus fragwürdig werden lässt. Offenbar verlief auch das Interview mit Dr. Gueye weit weniger geregelt als bei Kader Attila. Dieser stellt allerdings eingangs die grundsätzliche Frage nach der Konzeption der Psyche mit dem Freudschen Unbewussten, auf das Momar Gueye eröffnend antwortet:
Ich werde nicht so tun, als hätte ich eine Antwort auf diese Fragen. Was ich sagen kann, ist, wenn man über diese Dinge lange nachdenkt, ohne unbedingt das Wort „unterbewusst“ zu sagen, könnte man sagen: Wenn Afrikaner*innen sagen, „es war der Rap“, könnte das mit etwas komplett Unterbewusstem zu tun haben.[24]   

Der Künstler, Wissenschaftler und Kurator Ayrson Heráclito aus dem brasilianischen Bundesstaat Bahia bezieht sich beispielsweise mit seiner Fotoserie Sangue, Sêmen e Saliva [Blut, Sperma und Speiche] von 2016 auf Hubert Fichtes Erforschung der afroamerikanischen Religionen in Bahia. Wobei Heráclito nicht unerwähnt lässt, dass „(z)ahlreiche Weiße, französische Anthropologen (…) schon zuvor hervorgehoben (hatten), dass hier die größte Konzentration an Afro-Religiosität außerhalb von Afrika vorzufinden wäre“.[25] Er kontextualisiert Leonore Maus und Hubert Fichtes Reise zwischen 1970 und 1972 nach Salvador da Bahia mit den 373 Fotografien von Pierre Verger, die während der späten 1940er in verschiedenen Medien mit 25 Artikeln veröffentlicht worden waren. In der Ausstellung sind Fotografien des in Paris geborenen Fotografen Pierre Verger zu sehen. In Explosion. Roman der Ethnologie schreibt Hubert Fichte zwischen 1985 und 1986 von der Zeit in Salvador da Bahia, wo der Verger weiterhin „inmitten der Schwarzen Community von Vila América“ lebt[26] und 1996 93jährig verstarb. Heráclitos Lektüre des Romans betont vor allem Fichtes Bahia als großes Versprechen.
In anderen Passagen können wir bemerken, dass Fichte – in Gestalt seines Alter Ego – mit Elementen der populären Vorstellungen spielt und Stereotypen bekräftigt, die Brasilien und Südamerika mit hemmungsloser sexueller Ausschweifung assoziieren. Paradiese, die vor Amoral nur so glühen, Spielwiesen der Befreiung, grenzenlose Freizügigkeit, sexuelle Ausbeutung, Laszivität, rasende Lust, Prostitution, Nekrophilie und alle anderen Formen devianten Verhaltens werden beschworen. In Fichtes Vision ist in Bahia alles erlaubt, alle Formen devianten Verhaltens werden beschworen.[27]

Mehr als zehn Jahre nach dem Aufenthalt in Salvador da Bahia, wo er den Fotografen, Ethnologen und mittlerweile zum Candomblé-Priester Fatumbi initiierten Pierre Verger trifft, schreibt Hubert Fichte Explosion im mehr oder weniger präsenten Wissen um seine „Wechseljahre“ bzw. Infektion. Das Verhältnis von Leben, Lust, Sex und Tod spielt im Candomblé offenbar eine eigene, rituelle Rolle. Riten regeln wie auch im argentinischen Spiritismus, den Hubert Fichte 1971 ebenfalls erforschte, Verhältnisse nicht nur im Leben, vielmehr noch im Verhältnis zum Tod. Darauf hat Manuel Vicuña mit der Ausstellung Suprasenibilidades (Überempfindlichkeiten) in Santiago de Chile und seinem Text El retorno de los muertos (Die Rückkehr der Toten) hingewiesen: „In Chile entstand der Spiritualismus in einer Zeit des Liberalismus und intensiver Kontroversen über die Reichweite der katholischen Kirche in der sozialen Organisation und im öffentlichen Raum. In diesem Zusammenhang wurde der Spiritualismus als ein Angebot religiöser Sinnesformen und spiritueller Praktiken präsentiert, die mit der Logik der wissenschaftlichen Rationalität vereinbar sind und daher den Fortschritt des Unglaubens und des Materialismus als charakteristische Phänomene der modernen Welt besser eindämmen können.“[28] – Die Essay-Ausstellung Liebe und Ethnologie entzieht sich eines sogenannten Gesamteindrucks, indem sie eine Vielzahl unterschiedlicher Einstiegsmöglichkeiten bietet, durch die sich mit einem Mal alle anderen Bezugnahmen in der Ausstellung ändern können.

Torsten Flüh

HKW
Liebe und Ethnologie
Die koloniale Dialektik der Empfindlichkeit
(nach Hubert Fichte)
bis 6. Januar 2020


[1] Dirck Linck: „Die Reinheit fand Jäcki furchtbar“ Über die Nobilitierung der Vermischung bei Hubert Fichte. In: Diedrich Diederichsen, Anselm Franke, Haus der Kultur der Welt (Hg.): Liebe und Ethnologie. Die koloniale Dialektik der Empfindlichkeit (nach Hubert Fichte). Berlin: Sternberg Press, 2019, S. 24.

[2] Anselm Franke: Zu Fichtes Entgrenzung und den Grenzen selbstreflexiver Institutionen. In: Ebenda S. 13.

[3] Philipp Gufler, Hamann & von Mier: Projektion auf die Krise (Gauweilereien in München). München: Hamann & von Mier, 2014.

[4] Jan-Frederik Bandel: Hubert Fichte: Leben als Gerücht. In: Hubert Fichte: Love and Ethnology Berlin. 20/09/2019.

[5] Hubert Fichte: Die Palette. Hamburg: Rowohlt, 1968, S. 146.

[6] Jan-Frederik Bandel: Doppelte Fremdheit. Hubert Fichtes ethnografische Impulse. In:  Archiv².

[7] Hubert Fichte: Die … [wie Anm. 5] S. 147.

[8] Ebenda S. 146.

[9] Vgl. zum Gerücht auch Torsten Flüh: Das Unfassbare im Netz. Gerüchte – Eine Ausstellung im Museum für Kommunikation Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN März 31, 2011 21:41.

[10] Jan-Frederik Bandel: Hubert … [wie Anm. 4].

[11] Bernd Scherer, Johannes Ebert, Antje Contius, Roland Spahr: Liebe und Ethologie. Ein Vorwort. In: Diedrich Diederichsen, Anselm Franke, Haus der Kultur der Welt (Hg.): Liebe … [wie Anm. 1] S. 5.

[12] Diedrich Diederichsen, Anselm Franke: Extrahierte Empfindungen: Restituieren, Scheitern, Weiterschreiben. In: Ebenda S. 7.

[13] Ebenda S. 7-8.

[14] Ebenda S. 9.

[15] Ebenda S. 11.

[16] Anselm Franke: Zu Fichtes Entgrenzung und den Grenzen selbstreflexiver Institutionen. In: Diedrich Diederichsen, Anselm Franke, Haus der Kultur der Welt (Hg.): Liebe … [wie Anm. 1] S. 13.

[17] Philipp Gufler, Hamann & von Mier: Projektion … [wie Anm. 3] S. 003.

[18] Zitiert nach ebenda S. 004.

[19] Diedrich Diederichsen, Anselm Franke, Haus der Kultur der Welt (Hg.): Liebe … [wie Anm. 1] S.44 bis 50.

[20] Ebenda S. 46.

[21] Ebenda S. 7. Zu Prousts Recherche siehe auch: Torsten Flüh: Das Versprechen der Geschichte. Barbara Naumann und Peter Geimer zum Semesterthema non finito … der Mosse-Lectures. In: NIGHT OUT @ BERLIN November 27, 2017 22:18.

[22] Anselm Franke: Kader Attia – Auszüge aus Reason’s Oxymorons. In: Diedrich Diederichsen, Anselm Franke, Haus der Kultur der Welt (Hg.): Liebe … [wie Anm. 1] S. 69.

[23] Hubert Fichte: Psyche. Frankfurt am Main, 1990, S. 507.

[24] Kader Attia: Auszüge … [wie Anm. 22] S. 69.

[25] Ayrson Heráclito: Ethnopoetische Spannungen im Schwarzen Rom von Südamerika. In: Ebenda S. 78.

[26] Hubert Fichte: Explosion. Roman der Ethnologie. Zitiert nach ebenda S.82-83.

[27] Ayrson Heráclito: Ethonopoetische … Ebenda S. 82.

[28] Manuel Vicuña: El retorno de los muertos. (Übersetzung T. F.) In: fichteproject Santiago de Chile 04/09/2018

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