Spiel – Wettbewerb – Gelände
Starke Transformationen vom Fußballfeld und Parkplatz zum Kunstparcours
Zum Spielfeld Radical Playgrounds: From Competition to Collaboration während der Fußball-Europameisterschaft am Gropius Bau
Der grünste innerstädtische Parkplatz Berlins an der Niederkirchnerstraße Ecke Stresemannstraße wird für die Dauer der Fußball-Europameisterschaft EURO 2024 bis zum 14. Juli 2024 zu einem Spielfeld anderer Art. Spielen Sie mit. – Das Gelände ist historisch kontaminiert. Mit dem Königlichen Museum für Völkerkunde an gleichem Ort ging es seit 1886 im Kaiserreich um den Wettbewerb des Deutschen Reichs bei der Kolonialisierung außereuropäischer Länder. Die Völkerkunde stand im Dienst eines künstlerisch-kulturellen Wettbewerbs unter den Völkern. Es diente damals an der Königgrätzer Straße Ecke Prinz-Albrecht-Straße dazu, die Überlegenheit des deutschen Volkes und seiner Kunst gegenüber anderen Völkern im Kontrast mit dem benachbarten Deutschen Gewerbemuseum von Martin Gropius, dem Gropius Bau, sichtbar zu machen.
Heute gibt es nationale Fußballmannschaften, die im europäischen und weltweiten Wettbewerb stehen. Wie lässt sich kreativ mit dem Wettbewerb am Fußball unter männlichen, europäischen Nationalmannschaften umgehen, wenn Deutschland das Gastgeberland ist? Ein Ausscheiden oder der Gewinn der Meisterschaft wird Emotionen bündeln und freisetzen. Der Intendant der Berliner Festspiele, Matthias Pees, hat sich anlässlich der EURO 2024, gefragt, „(w)elche sportlich-kreativen, vielleicht künstlerisch inspirierten Alternativen“ es geben könne „zu fortschreitender Kommerzialisierung und immer dominanteren Vermarktungsmechanismen“.[1] Was heißt Spiel? Wie lässt sich die Praxis des Wettbewerbs reflektieren? EURO 2024 solle „neue, imaginative und kollaborative Räume eröffnen, die das Spiel und das Spielen selbst in den Fokus rücken“.
Das einst von den Maya erfundene Fußballspiel droht, nicht erst seitdem deutsche Fußballfans mit Tennisbällen Bundesligaspiele störten, um einen DFL-Investor zu verhindern, in einem globalen Wettbewerb des Transfermarktes und der Meisterschaften wie schon in Saudi-Arabien zum aberwitzigen Kommerz zu werden. Die Fußball-Weltmeisterschaft 2022 in Katar war erst der Anfang wirtschaftlicher wie politischer Machtspiele um Armbinden und einen بشت Bischt als kulturelle Geste der Vereinnahmung des Weltmeisters und Weltfußballers Lionel Messi. Die Golfstaaten investieren in Fußball und sonstige Sportveranstaltungen, um darin eine Meinungsführerschaft ähnlich den „Hunger Games“ in der dystopischen Serie Die Tribute von Panem zu generieren. Die Tennisbälle zeigten kürzlich ihre Wirkung. Doch nun muss die Deutsche Fußball Liga Gesellschaft mit beschränkter Haftung (DFL) ihren Betrieb anders finanzieren.
Internationale Fußballclubs wie Bayer 04 oder FC Bayern in Deutschland, aber auch Paris St. Germaine etc. sind heute globale Finanzunternehmen mit Fanclubs in Peking oder Shanghai. Wobei der Firmenclub des Pharmaunternehmens Bayer nicht mit der Clubfirma Bayern zu verwechseln ist. Fußballclubs sind viele kleine und einige sehr große Geldmaschinen. Zur Nationalmannschaft aus internationalen Clubs zusammengestellt wird die GmbH DFL zum Wirtschaftsunternehmen, das die Nation symbolisch vertritt. Das Fußballspiel und seine rituellen Handlungen in erster Linie unter einzelnen Männern mit einem Team persönlicher Berater und Manager sind betriebs- wie volkswirtschaftlich bis zum Einsatz neuester Technologien wie Künstlicher Intelligenz durchdrungen. Die Sehnsucht der Fans orientiert sich paradoxerweise an Mythen des Natürlichen und Bodenständigen. Vor dem Hintergrund dieser globalen Fußball-Ökonomie findet nun EURO 2024 in Deutschland statt.
Matthias Pees und Jenny Schlenzka, die Direktorin des Gropius Baus, wollen das Spiel strategisch stärker für die Kunst und den Kunstbetrieb einsetzen. Das Spiel soll inklusive Kräfte freisetzen. Denn der Kunst- und Kulturbetrieb setzt sonst gern auf exklusive Formate, aus denen sich Prestige für Sponsoren gewinnen lässt. Das „niederschwellig“ zugängliche Spiel für alle Generationen vom Kind bis zur Greis*in gehört für Jenny Schlenzka zum neuen Konzept des gewissermaßen durch Aspekte des Kolonialismus belasteten Gropius Baus. Sie arbeite mit der Künstlerin Kerstin Brätsch „an einem permanentem Spielort für Kinder, der ab September 2024 im Westflügel des Erdgeschosses kostenlos für alle Familien zugänglich sein“ werde. Es solle ein Ort werden, „an dem – (…) – mehr erlaubt als verboten ist, und wo das Zweckfreie und Regellose des Spiels zu einem Modell für die unmittelbare Begegnung mit Kunst“ werde.[2] Radical Playgrounds direkt am Gropius Bau, sieht sie als eine Erweiterung ihres Programms und wohl auch als experimentellen Vorlauf.
Wie setzen sich internationale Künstler*innen mit dem Format Spiel in Praktiken zwischen einer Halfpipe für Skater*innen von Florentina Holzinger, Spielplätzen und dem historisch kontaminierten Boden auseinander? Praktiken öffnen zunächst einmal Spielräume. Es gibt nicht nur die Praxis des Gewinnen-müssens. Meine Besprechung habe ich mit einer Bildcollage des Ortes zwischen dem bis auf die Grundmauern zerstörten Völkerkundemuseum mit dem ebenfalls zerstörten Gewerbemuseum von Martin Gropius und dem Preußischen Landtag sowie der Erinnerungslinie „Berliner Mauer“ bis 1989 aus Granitpflastersteinen im Asphalt und Gehweg visuell eingeleitet. Der sehr große Parkplatz wird heute durch Platanen, die ca. 40 Jahre alt sind und zu einem Erinnerungshain gehören sollten, versteckt. Spielerische bzw. künstlerisch-kollaborative Praktiken der Ausgrabung werden ebenfalls von Radical Playgrounds an diesem Ort vielfältiger diskursiver Überschneidungen ausprobiert.
Der Parkplatz als städtischer Raum einer autofreundlichen Stadt wird von Radical Playgrounds überspielt, woran der Architekt Benjamin Foerster-Baldenius von raumlaborberlin als Kurator erinnert.[3] Doch er ist weiterhin da mit seinen historisierenden Gaslaternen, den Granitpollern, dem Pflaster unter den Holzböden, dem Parkscheinautomaten, einer Sicherheitskamera etc. Die Niederkirchnerstraße wird von Bussen zugeparkt, weil neben dem Gropius Bau das Dokumentationszentrum Topographie des Terrors zur Ausstellung über den polizeilichen Terror der Gestapo[4] während der Herrschaft des Nationalsozialismus (1933-1945) lädt. Das vermeintlich ferne oder gar als überwunden gedachte Grauen staatlich legitimierter Folter lockt mehr als das Kunstmuseum daneben. Die Stresemannstraße gehört zu Berlins vielbefahrenen und daher lauten vierspurigen Straßen. Zwischen Touristenströmen, Wurstbar auf dem einstigen Todesstreifen(!) und Grundmauern der Gestapo-Keller über den „Grundmauern des preußischen Kolonialmuseums“[5] wird nun der Park- zum Spielplatz.
Die sich überschneidenden Linien für Spielfelder verschiedener Sportarten wie Badminton, Basketball, Fußball, Petanque, Volleyball sowie einer Laufbahn in den offiziellen Farben Orange, Rot, Rosa, Weiß, Hellblau und Gelb der in London lebenden Künstlerin Céline Condorelli sollen unter dem Titel Play for Today daran erinnern, dass Spielfelder und Spielregeln immer zugleich die Teilnahme nach binären Geschlechtern regeln.[6] Wer am Spiel teilnehmen darf und wer von ihm ausgeschlossen wird, regeln Sportverbände in der Welt hart. Auf dem Rundgang durch den von ihr kuratierten Kunstparcours erinnert die Kuratorin Joanna Warsza daran, dass Frauen in den meisten Sportarten zunächst ausgeschlossen waren.[7] Die Herstellung von Gleichheit, Chancengleichheit im Sport hat Gruppen zu Mannschaften normalisiert. In Berlin als Gründungsort der Turnbewegung durch Friedrich Ludwig Jahn am 13. November 1811 in der Hasenheide vor den Toren Stadt werden die geschlechtlichen Ausschlussmechanismen der körperlichen Betätigungen bzw. der Sportarten besonders sinnfällig.
Die Körperertüchtigung, die heute Sport genannt wird, zunächst durch Turnen für Männer, die die deutsche Nation begründen wollen und sollen, wird von Friedrich Ludwig Jahn 1810 in seiner zuerst im Lübecker „Exil“ veröffentlichten Schrift Deutsches Volkstum formuliert. Jahn widmet sein nationalangelegtes Buch, während Napoleon in Berlin und den Ländern Deutschlands herrscht, „(e)inem Deutschen Biedermann in Rath und Tath in Handel und Wandel, Ihm, dem Manne, dem Menschen, dem Weisen“[8]. Andere Männer und Frauen werden von vornherein ausgeschlossen. Friedrich Ludwig Jahn konzipiert und konstruiert ab 1811 in der Hasenheide Spielfelder und Spielregeln im Bereich Turnen. Er bildet dadurch Gruppen, die später in Vereinen institutionalisiert werden und sich in einem Turnerbund national organisieren inklusive antisemitischer, nationalistischer und rassistischer Ausschließungen. Für die Olympischen Spiele 1936 wurde der Gedenkort in der Hasenheide ausgebaut, erwies sich aber als Spielfeld des Nationalen für zu klein.
Die Geschlechterregeln der Sportarten im Team- wie Einzelsport des Laufens haben zunächst Frauen ausgeschlossen. An den Linien von Play for Today finden sich Jahreszahlen, „in denen es Frauen erstmals erlaubt wurde, an internationalen Turnieren in der jeweiligen Sportart teilzunehmen. Beim Frauenfußball wurde die Erlaubnis zunächst noch einmal zurückgezogen und erst 1971 wieder erteilt.“[9] Doch der Binarismus der Geschlechter im internationalen Sport führt zugleich zu einem Ausschluss von Trans-Athlet*innen und hält an geschlechtsspezifischen Vorurteilen und der Abwertung von Queerness im Sport fest. Céline Condorelli will dem mit ihrer Installation begegnen, die von einer Reihe von Workshops im Programm begleitet werden wird.
Die Frage nach dem Spiel und den Regeln wird von Agnieszka Kurant mit ihren Quasi-Objects thematisiert. Die in New York lebende Künstlerin geht davon aus, dass Spiele „Produkte kollektiver Intelligenz“ sind.[10] Quasi-Objects erhalten in Anschluss an Michel Serres‘ Text Der Parasit ihren Wert erst durch gesellschaftliche Praktiken und Zirkulation.[11] Serres selbst hat den Begriff allerdings nicht eingeführt. In Der Parasit, der zwischen Dezember 1975 und August 1979 geschrieben wurde, kommt er nicht vor. Vielmehr hat ihn Bruno Latour aus dem Text extrahiert, woraufhin Gustav Roßler „Quasi-Objekte“ als „Hybride(), Mischwesen aus Natur und Gesellschaft, aus Sprachlichem und Realem“ definiert hat. Nach Roßler „zirkulieren (sie) in Netzen und überqueren die Grenzen zwischen Sprache, Sozialem und Realem“.[12]
Michel Serres lehrte eine radikale Wissenschaftsgeschichte an der Sorbonne. Deshalb ist es fraglich, ob er mit Der Parasit zwischen Objekten und „Quasi-Objekten“ unterschieden hätte. Vielmehr schrieb er, wie er es noch 2010 formulierte, in der Figur der „Odyssee“.[13] Sie reißt Odysseus aus seinem Wissen heraus und schreibt ihn in immer neue Geschichten ein. Als Wissen lässt sich aus Serres‘ Text schwer zitieren, obwohl er von Rousseau bis Marx‘ Kapital usw. Wissenschaftsgeschichte schreibt.
„Der Joker verwandelt sich in einen blanken Dominostein. Es ist ratsam, diesen leeren Raum, der in den vorzeitlichen Savannen auftauchte, diesen Riß inmitten ihrer fließenden Stabilität, zu begreifen. Haben wir in den Augenblicken, da die Geschichte sich plötzlich verzweigt, jemals andere Objekte geschaffen?“[14]
Was heißt es, Objekte und Spielregeln zu schaffen? Existieren Objekte außerhalb der Regeln? Agniezka Kurant hat mit ihrer dreidimensionalen Arbeit in Anknüpfung an Serres nicht nur ein vieldimensionales Spiel geschaffen, das die Besucher*innen der Radical Playgrounds selbst erfinden können. Sie erinnert daran, dass Steine oder Würfel etc. „ihre performative Kraft“ verlieren, wenn „sie nur bei einer einzelnen Person bleiben“. Vielleicht erfinden Kinder im Vorschulalter am leichtesten damit ein Spiel. Kurant stellt zugleich die Frage nach dem Wissen, wie Serres sie treffend formuliert hat:
„Wenn der Parasit eines Tages erfunden hat, wie man an der Tafel des Wirts Materielles gegen Logisches tauscht und umgekehrt, so hat er an diesem Tage die Wissenschaft und die Theorie erfunden. Was wäre alles Wissen ohne – vor allem – diesen kreuzweisen und asymmetrischen Austausch?“[15]
Gabriela Burkhalter kuratiert The Playground Project – Architecture for Children, denn der Kinderspielplatz hat eine vielfältige Geschichte. Auf den Holzwänden zum Projekt sind die Druckplatten ihres Kataloges in der dritten Auflage von 2023 aufgebracht. Ihr Projekt, das sie seit 2006 in mehreren Städten und Ländern mit verschiedenen Künstler*innen und Themen permanent weiterentwickelt lässt sich unter architekturfuerkinder.ch einsehen. In Berlin arbeitet sie mit Yvan Pestalozzi zusammen, der 1972 die Spiel-Skulptur und Kunstwerk Lozziwurm erfunden hat. Burkhalter hat in Berlin die lokale Geschichte der Kinderspielplätze erforscht und dokumentiert. Sie unterschieden sich u.a. in Ost- und West-Berlin. Auf diese Weise können die Besucher*innen einerseits die Materialien und Konzepte der Spielplätze nachvollziehen und überdenken. Die Ausstellung mit großformatigen, kommentierten Fotografien lässt andererseits auch an die Spielplätze und ihre Zurichtung der eigenen Kindheit denken.
Mit dem Lozziwurm hat Yvan Pestalozzi ein Spielgerät erfunden, das teilweise weiterhin auf Spielplätzen zu finden ist. Aber es entspricht nicht mehr den europäischen Sicherheitsnormen. Deshalb ist es in Berlin und Europa aus dem öffentlichen Raum verschwunden. Die Schweizer Firma produziert nach dem Originalmodel aus Polyesterrohren weiterhin. Dass Lozziwurm im Kunstparcours Radical Playgrounds wieder auftaucht und von einem Kind sogleich zum Krabbeln benutzt wird, gibt einen Wink auf das Spielverhalten von Kindern und darauf wie sehr Spielgeräte – Schaukeln, Rutschen, Kletterbögen, Kletternetze etc. – von Regeln und Konzepten durchdrungen sind. Spielplätze und ihre Möblierung ändern sich permanent, wie es Gabriela Burkhalter formuliert:
„Während der 1980er Jahre spiegelte sich in den Ländern des Westens der Rückzug der staatlichen Zuständigkeit und die ökonomische Deregulierung sowie das schwindende Denken in Utopien auch im Spielplatzdesign, während Gesellschaften im kommunistischen Block weiter gemeinschaftliche Aktivitäten pflegten. Die Ausstellung führt durch diese facettenreichen Wechselwirkungen und die zugrundeliegenden Kräfte“.[16]
Gabriela Burkhalter begann vor 20 Jahren, die bis dahin unbekannte, hoch dynamische Geschichte der Kinderspielplätze zu erforschen und zu dokumentieren. Denn die Ensembles der Spielgeräte, die Formen und Materialien ändern sich weiterhin permanent. Kletterbögen beispielsweise reizen zum Turnen als Körperertüchtigung im Kindesalter. Die in unterschiedlichen Designs zu findenden Schaukeln verknüpfen in der Schwingbewegung Kraft, Mut, Träume von Schwerelosigkeit und Sicherheit. Kinder wünschen sich beim Schaukeln nichts sehnlicher, als dass insbesondere ein vertrauter Erwachsener sie anschubst, damit sie höher fliegen können. Die unterschiedlichen Wippen, die nicht immer ungefährlich sind, weil ein Kind unter die Wippe geraten könnte, trainieren durchaus einen spielerischen Wettbewerb im Abstoßen mit den Beinen. Oft animieren die Übungen an den Spielgeräten Kinder zu endlosen Wiederholungen, wenn sie einmal von der höchsten Rutsche hinuntergesaust sind.
Die Wasserfontäne von Raul Walch lässt sich ebenfalls als ein Element von Spielplätzen und Parks seit der frühen Neuzeit finden. Die künstliche Fontäne und ihre Höhe lassen sich nicht zuletzt als eine allegorische Beherrschungsfantasie der Elemente bedenken. In den Gärten der König*innen und Herrscher*innen von Versailles bis Sanssouci war die künstliche Höhe der Fontäne immer auch ein Beispiel der Macht über die Natur. Erst der Maschinenbauer August Borsig schaffte es mit einer Dampfmaschine an der Havel, den Wasserdruck für die Fontäne im Park von Sanssouci zu erhöhen und sie beeindruckender Höhe zu bringen. Vielleicht nicht ganz zufällig, mit einer kolonialen Geste konstruierte Ludwig Persius 1848 das Maschinenhaus für die Fontäne als „Moschee“. Sein Auftraggeber Friedrich Wilhelm IV. ließ ungefähr zur gleichen Zeit die umstrittene Bibeltext-Montage an der Kuppel des Berliner Schlosses anbringen.[17]
Raul Walch erinnert mit seiner Installation A Fountain of Knowledge (Ein Brunnen des Wissens) indessen an sein Verhältnis zu Ute Fritzsch, der heute über 80-jährigen Designerin und Gestalterin von DDR-Spielplätzen. Ute Fritzsch plante und gestaltete Spielplätze und Spielzeug für die DDR und wird von der Stiftung Industrie- und Alltagskultur gewürdigt. Raul Walch hat beispielsweise für seine Installation „eine Variation des Maxi-Baukastens von Ute Fritzsch als modulare Kisseninstallation“ im Bassin eingerichtet.[18] Für die Sommermonate soll A Fountain of Knowledge nicht zuletzt Abkühlung auf dem Spielplatz bieten. Walch hatte bereits auf der Fläche des Potsdamer Platzes, wo es besonders heiß werden kann, eine Fontäne installiert.[19] Hinter der Installation wehte der Wind bei gefühlten 2° C während des Presserundgangs am 25. April das „textile Gewebe“ von Vitjitua Ndjiharine.
Die Künstlerin aus Namibia war 2022 Artist in Residence der Dekoloniale Berlin und nimmt mit den bunten Fahnen entlang der einstigen Mauern des Königlichen Museums für Völkerkunde unter dem Parkplatz direkt Bezug auf dessen Sammlung. Die Sammlung des Völkerkundemuseums, die in die ethnologische Sammlung bzw. das Ethnologische Museum im Humboldt Forum umgeschrieben worden ist[20], ging, wie erst kürzlich Bénédicte Savoy für Kamerun als Forschungsergebnis mitgeteilt hat, aus einem verheerenden Raubzug hervor, durch den 40.000 Kulturobjekte nach Berlin und in bundesdeutsche Sammlungen gelangten.[21] Bisher gibt es noch keine abschließende Untersuchung, wie viele Kunst- und Kulturobjekte aus Afrika vor allem im 19. Jahrhundert in Museen in Deutschland gelangt sind. Nicht zuletzt unter Mitwirkung von Missionaren wurden die Objekte in Afrika ihrer Praktiken entrissen und auf dem Kunstmarkt angeboten.
Vitjitua Ndhkjiharine knüpft mit ihrer ebenso farbenfroh spielerischen, wie präzisen Installation Networked Constellations an die Debatte des Dekolonialisierung und Restitution an. Die Debatte um das Ethnologische Museum im Humboldt Forum und die Restitution wie Teilhabe der ethnischen Nachkommen an den Sammlungen in Europa lässt sich im Konzept Vitjitua Ndhkjiharines nachverfolgen, wenn es heißt, „(u)ralte Textiltechniken verschränken sich mit neuer Technologie“. „Der Vorhang bewegt sich mit dem Wind, die Arbeit ruft nach Restitution von Bedeutung und Gegenständen.“[22] Das Spielerische und das Politische weit über das Tagespolitische hinaus werden von der Künstlerin angespielt.
Aus einer früheren historischen Schicht hat Edgar Calel aus Guatemala mit seiner Familie für Jun Juyu Juxuj (Ein Berg von Zeichnungen) eine Pyramide aus Strohballen mit Maya-Schriftzeichen auf den Parkplatz gebaut. Während seiner Vorstellung der Pyramide betont er mehrfach, dass es sich um eine kollektive Arbeit seiner Familie handelt. Einerseits wurden in seiner Familie Geschichten von Bergen und Pyramiden erzählt, andererseits sind haben ihn Familienmitglieder zum gemeinschaftlichen Aufbau nach Berlin begleitet. Seine Pyramide nimmt in mehrfacher Weise Bezug auf die Maya-Kaqchikel-Kosmovision, seine Familie und Berlin:
„Unsere Großeltern erzählten uns, dass einige dieser Berge mit Wasser und andere mit Feuer gefüllt seien. Von da an war ich immer neugierig, was sich im Innern der Berge und Hügel befindet. Bei einem Besuch der antiken Maya-Stadt Takalik Abaj fragte ich einen Anwohner nach den Hügeln, die dort zu finden sind. Er erzählte mir, dass sich darin Maya-Pyramiden mit Inschriften zu wichtigen Daten befinden. Einige von ihren wurden teilweise abgebaut und an westliche Museen verschifft – auch an Museen hier in Berlin.“[23]
Edgar Calel bezieht sich nicht auf Ballspiele in der Maya-Kultur, obwohl EURO 2024 dafür eine Möglichkeit geboten hätte. Anders als viele afrikanische und nordamerikanisch-indigene Kulturen wurde die Maya-Kultur bereits von den Eroberern als eine Hochkultur angesehen. Im Sinne der christlich-europäischen Eroberer musste diese Kultur zerstört werden. Andererseits soll Friedrich II. in Potsdam als Montezuma aufgetreten sein. Edgar Calel hat indessen seiner Installation einen „Interaktionsleitfaden für ein immersives und kontemplatives Erleben der Pyramide“ beigeben.
„Bitte klettern Sie vorsichtig
Erreichen Sie die oberste Ebene mit Achtsamkeit
Nehmen Sie den multifunktionalen Raum mit Freude an
Spielen Sie mit der Struktur des Monuments
Sie können bauen und umbauen
Respektieren Sie den Augenblick
Sicherheit geht vor
Hinterlassen Sie keine Spuren“
Spielen generiert Wissen, ließe sich nicht nur für die Maya-Pyramide sagen. Grabungen und Ausgrabungen sind intensiv mit dem Erzählen von Geschichten verknüpft, wie Helene von Oldenburg und Claudia Reiche mit „Wo es war“ beschrieben haben.[24] Mit The Dig (Die Grabung) zeigen The School of Mutants und Stella Flatten nun auf dem Parkplatz und im Dokumentationszentrum Topographie des Terrors eine ebenso künstlerische wie forschende Ausgrabung. The School of Mutants sind Horacio Cadzco, Hamedine Kane, Boris Raux & Stéphane Verlet-Bottèro in Zusammenarbeit mit Stella Flatten. Das Künstlerkollektive wurde 2018 in Dakar, Senegal, gegründet, um „die westliche epistemologische Autorität in Frage zu stellen“. Damit geht es an der Schnittstelle von Kunst, Forschung, Ausgrabung und Erzählen zugleich um andere Wissensformen, die an das Königliche Museum für Völkerkunde, wo sie einst ausgeschlossen wurden, herangetragen werden.
Am 27. April wurde Radical Playgrounds der Öffentlichkeit zum Spielen und Forschen übergeben. Schon jetzt lässt sich sagen, dass das hochwertige Begleitprogramm zur EURO 2024 von Joanna Warsza und Benjamin Foerster-Baldenius in Berlin zu einem Publikumsmagneten für Kinder und Erwachsene werden sollte.
Torsten Flüh
Radical Playgrounds
From Competition Collaboration
Ein Kunstparcours am Gropius Bau
bis 14. Juli 2024
[1] Matthias Pees: Einleitung. In: Berliner Festspiele: Radical Playgrounds – From Competition to Collaboration. Programmbroschüre. Berlin 2024, S. 2.
[2] Jenny Schlenzka: ebenda S. 4.
[3] Benjamin Foerster-Baldenius: NO PlAY NO CITY – Eine Einführung in die Architektur von Radical Playgrounds. In: ebenda S. 12.
[4] Zur Struktur der Polizei während der Herrschaft des Nationalsozialismus siehe: Torsten Flüh: Wie Homosexualität zum Feind des Staates gemacht wurde. Zum Vortrag von Ralf Kempe, Erster Polizeihauptkommissar Polizei Berlin, über die Ermordung von 4 schwulen Polizisten auf dem Polizeiübungsgelände in Spandau. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. Juli 2023.
[5] Benjamin Foerster-Baldenius: NO …. [wie Anm. 3]
[6] Katalogteil: Céline Condorelli: Play for Today, 2021/2024. In: ebenda S. 20.
[7] Joanna Warsza: Radical Playgrounds. Ein Rundgang. In: ebenda S. 5.
[8] Friedrich Ludwig Jahn: Deutsches Volkstum. Lübeck: Niemann und Comp. 1810, (ohne Seitenzahl).
Siehe zu Jahns Sportgeräten auch: Torsten Flüh: Berlin Alexanderplatz auf der Hasenheide. Zu Burhan Qurbanis Berlin Alexanderplatz im Wettbewerb der Berlinale 2020. In: NIGHT OUT @ BERLIN 3. März 2020.
[9] Céline Condorelli: Play … [wie Anm. 6]
[10] Agnieszka Kurant: Quasi-Objects, 2024. In: Ebenda S. 35.
[11] Michel Serres: Der Parasit. Frankfurt am Main: suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 1987.
[12] Zitiert nach Endnote 23 in: Anne-Marie Riesner: Imaginationen des Internets in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur 1999-2018. Analyse anhand der Akteur-Netzwerk-Theorie. Berlin: Springer Nature, 2022, S. 107.
[13] Siehe Torsten Flüh: Die Odysseen des Michel Serres. Odysseys and Shipwrecks for Michel Serres by the Spree. In: NIGHT OUT @ BERLIN 2. August 2010. (PDF)
[14] Michel Serres: Der … [wie Anm. 11] S. 274.
[15] Ebenda S. 323.
[16] Gabriela Burkhalter: The Playground Project – Architecture for Children. In: Berliner Festspiele: Radical Playgrounds S. 44.
[17] Zur Bibeltext-Montage auf der Kuppel siehe: Torsten Flüh: Über die Imagination von Macht und Einheit durch das Reich. Zu John Connellys Vortrag über den Begriff „Reich“ als Imaginäres der Deutschen in der American Academy. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. April 2023.
[18] Raul Walch: A Fountain of Knowledge. In: Berliner Festspiele: Radical Playgrounds, S. 62.
[19] Ebenda siehe Foto S. 63.
[20] Torsten Flüh: Von der Supersammlung zum Debattenraum. Nachgedanken zur Eröffnung des Ethnologischen Museums und Museums für Asiatische Kunst im Humboldt Forum. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. Dezember 2021.
[21] Silke Arning: Rückgabe von kolonialem Raubgut an Kamerun verabredet. In: SWR>>Kultur 16.1.2024, 10:02 Uhr.
[22] Vitjitua Ndjiharine: Networked Constellations. In: Berliner Festpiele: Radical Playgrounds S. 41
[23] Edgar Calel: Jun Juyu Juxuj/Ein Berg von Zeichnungen. Ebenda S. 14.
[24] Zur Archäologie und dem Erzählen siehe: Torsten Flüh: Auditive Kraftfelder. Zu Ann Cleare und Enno Poppe mit dem Ensemble Musikfabrik beim Musikfest Berlin 2021. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. September 2021.
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