Biografie – Malerei – Rahmung
Der Künstler als Legende
Zu den Ausstellungen Bruce Sargeant in The Ballery und Emil Nolde – Eine deutsche Legende im Hamburger Bahnhof
Vom internationalen Feuilleton der führenden Wochenzeitungen fast unbeachtet zeigt die Berliner Galerie The Ballery das unabgeschlossene Werk von Bruce Sargeant, während am gleichen Abend wenige Kilometer Luftlinie im Hamburger Bahnhof die Eröffnungsgäste der Ausstellung Emil Nolde – Eine deutsche Legende so lange Schlange stehen müssen, bis der überfüllte Saal im ersten Stock neue Besucher*innen aufnehmen kann. Das deutsche und das internationale Feuilleton schreiben dann vom Maler Emil Nolde und dem Nationalsozialismus. Ist es nur eine zufällige Koinzidenz? Oder haben die beiden Ausstellungen konzeptionell mehr miteinander zu tun, als sich auf den ersten Blick erschließen könnte?
Die Praxis der Rahmung von in Öl oder Aquarell gemalten Bildern ist einerseits von beiden Künstlern mit Bedacht gewählt. Andererseits geht es um mehr als Bilderrahmen. Emil Nolde lehnte die goldenen Gipsrahmen für seine Bilder kategorisch ab, obwohl das Publikum seiner Meinung nach vor allem goldene Rahmen sehen wollte, um den Wert des Bildes bestätigt zu sehen. Nolde wählte stattdessen „dunkelbraune() bis schwarze() Rahmen“[1], um seinen Bildern damit Ernsthaftigkeit zu verleihen. Die Rahmen der Sargeant-Bilder sind gelegentlich vergoldet. Einige sind eher rustikal, als seien sie gewaltsam beschädigt wurden. Bei Emil Nolde geht es nicht nur um die bunten Naturlandschaften, die so passend wirkten, dass sie die Kanzler*innenräume von Schmidt und Merkel zierten. Sie waren vielmehr mit der richtigen Legende vom im Nationalsozialismus verfolgten Künstler der Moderne versehen.
Die Rahmung soll ein Bild zum Leuchten bringen. Zu diesem Leuchten gehört seit der Renaissance das Wissen vom Leben des Künstlers. Dieses musste eine vergleichbare Form bekommen. So entwickelte sich die Biografie des Künstlers, wie sie Giorgio Vasari in Das Leben des Sandro Botticelli, Filippino Lippi, Cosimo Rosselli und Alesso Baldovinetti nach 1550 formalisiert hat. In der großen Botticelli-Ausstellung 2015 in der Gemäldegalerie, stellte sich heraus, dass es überhaupt nur zwei Gemälde von Sandro di Mariano gibt, die signiert sind. Botticelli war das Signieren seiner Gemälde offenbar fremd. Die Gemälde, die heute auf wissenschaftliche Weise Botticelli zugerechnet werden, wurden vor allem an der Ähnlichkeit des Stils und seiner Details im 19. Jahrhundert identifiziert, wie ausführlich entfaltet werden konnte.[2]
Die Bilder von Emil Nolde (1867-1956) und Bruce Sargeant (1898-1938) sind alle mit einer Signatur versehen. Beim Maler von der dänisch-deutschen Grenze variiert sie zwischen Emil Nolde, E. Nolde und Nolde. Bei Bruce Sargeant variiert die Signatur ebenfalls auch farblich im Kontrast zum Hintergrund. Die Künstlersignatur und Künstlerbiografie rahmen und authentifizieren das Gemalte. Sie schließen es ab und verschließen es. Jacques Derrida hat die Signatur einmal an einen Brief des Malers Cézanne anknüpfend „das Eigentliche einer Kunst“, dass man „im Kopf“ behalte, genannt.[3] Die Geste des Signierens, die der Malerkünstler bisweilen durch Farbkontrast auffallend dem Bild hinzufügt, sagt auch: Das soll ein Nolde gewesen sein. Nolde verfasste eine sorgfältig durchdachte Autobiografie, die fortan mit der Signatur verknüpft war. Für Sargeant hat sich der Künstler Mark Beard um eine Künstlerbiografie verdient gemacht.
Seit Cézanne am 23. Oktober 1905 an Emile Bernard „die Wahrheit in der Malerei“ geschrieben hatte[4], geht es in der Malerei um das Eigentliche, könnte man sagen. Ein derart gemaltes Eigentliches wird bei Nolde wie bei Sargeant – der Lesbarkeit halber (?) – nicht in einem Schriftzug, vielmehr in Blockschrift bisweilen in Majuskeln an den oberen linken oder unteren rechten Rand zum Rahmen gesetzt. An Cézanne anknüpfend nennt Derrida „die Bildlichkeit im „eigentlichen“ Sinne, der Präsentation oder Repräsentation“.
„Man behält hier also das Eigentliche einer Kunst im Kopf, und das ist dasjenige des Signierenden, Cézannes, des Malers. Das Eigentliche einer Kunst und einer diesmal im eigentlichen Sinne verstandenen Kunst, im Ausdruck „in der Malerei“.“[5]
Nicht nur aus einer zeitlichen Koinzidenz, vielmehr noch als Authentifizierung einer vertragsartigen „Bildlichkeit“ in der Malerei gibt es in der Praxis des Signierens Verweise unter Cézannes, Nolde und Sargeant. Sie sind den Bildbetrachter*innen und Sammler*innen so vertraut, dass nach einem ersten, flüchtigen Blick nach der Signatur geschaut wird. Die Signatur bestätigt, dass der Blick nicht getäuscht worden ist, sondern das Bild tatsächlich von, sagen wir, Nolde ist. Was unser Blick von Nolde weiß, sollte bestätigt werden, womit bereits mehr als nur ein Bild von Nolde angesprochen wird. Insbesondere für Emil Nolde wird mit dem Bild mehr oder weniger bewusst eine ganze Legende ausgelöst. Deshalb ist die Legende nicht nur als Biografie nicht von einem Nolde zu trennen, die sogenannten „ungemalten Bilder“ als Aquarelle sind auch nicht signiert.
Bilder und schon gar keine Bilder auf dem Kunstmarkt sind einfach nur schön oder hässlich. Sie bedürfen gleichfalls der richtigen Rahmung, damit sie zeitgemäß, erfolgreich, begehrenswert und wertvoll werden. Sie brauchen die Hängung und das richtige Umfeld. Dass Helmut Schmidt für das Bonner Kanzleramt 1976 zwei Noldes auswählte, verhieß ebenso eine moderne Haltung wie eine norddeutsche Bodenständigkeit. Kein Schinken im Goldrahmen, sondern das energetisch aufgeladene Meer III von 1947.[6] Sogleich springt eine Legende an: Der Hamburger Flutkatastrophen-Manager betrachtet das brausende Meer von Emil Nolde. Das wie zufällig – Helmut Schmidt in Rückenansicht, weil er auf den Nolde blickt – aufgenommene und fast private Foto aus dem Kanzleramt, ruft eine deutsche Legende auf. Nolde und SPD-Kanzler funktionierte als Ensemble im Bundeskanzleramt. „Nolde ist für mich die absolute Krone“, sagte Helmut Schmidt 1981 im Interview der Illustrieten Bunte. Mehr noch: Wer nördlich der Elbe geboren und aufgewachsen war, hat bestimmt einmal Nolde in der Schule im Kunstunterricht selbst nachzuahmen versucht.[7]
Die Revision einer Legende wird dann besonders schmerzlich, wenn sie schier untrennbar mit der Selbstwahrnehmung verknüpft ist. Für Emil Nolde betrifft diese nicht nur Einzelpersonen, wie sie sich selbst in Beziehung zu ihm setzen. Vielmehr trifft die Revision die Erzählung der Bundesrepublik Deutschland von sich selbst so schmerzhaft, dass die Bundeskanzlerin Angela Merkel bis auf weiteres auf eine Hängung von Bildern im Kanzleramt verzichten wird. Die beiden Noldes sind nicht nur für die Ausstellung im nahegelegenen Hamburger Bahnhof ausgeliehen. Sie sind abgehängt worden und werden dank der Forschungen von Bernhard Fulda und Aya Soika, den Kurator*innen der Ausstellung im Depot verschwinden. Die Erkenntnisse sind mit großem Sachverstand und Liebe zu Detail ausgearbeitet worden. Christian Ring, Direktor der Stiftung Seebüll Ada und Emil Nolde, hat den Forscher*innen erstmals rückhaltlos das umfangreiche Archiv geöffnet.
Warum findet die Nolde-Ausstellung zusammen mit der Nationalgalerie im „Museum für Gegenwart“ und nicht in Seebüll statt? Udo Kittelmann, Direktor der Nationalgalerie, erinnerte auf der Pressekonferenz und der Eröffnung am 12. April im Hamburger Bahnhof daran, dass „die Nationalgalerie – und insbesondere das Kronprinzenpalais mit der Abteilung für zeitgenössische Kunst – in den 1920er- und 1930er-Jahren eine Vorbildfunktion (hatte), die auf die Museumlandschaft in Deutschland ausstrahlte“.[8] Emil Noldes Künstlername wurde in den 1920er- und frühen 1930er-Jahren von den wechselnden Direktoren der Nationalgalerie durch „Ankaufspolitik“, „dem umstrittenen Ausstellungsprojekt Neuere deutsch Kunst (des) Kustos Ludwig Thormaehlen 1932, dem gescheiterten Versuch des Interimsdirektors Alois Schardt, Nolde 1933 als Altmeister eines nordischen Expressionismus zu etablieren, über die Hängepolitik seines Nachfolgers Eberhard Hanfstaengl in den Jahren 1933 bis 1937“ und nach dem Ende des Krieges gemacht.[9]
Die Nationalgalerie kaufte und kauft für ihre Sammlung also nicht nur schöne oder wahre Bilder, Skulpturen und Installationen, vielmehr müssen sie auch beispielhaft von der Nation erzählen. Emil Nolde wollte unbedingt mit seinen Bildsujets und seiner Malweise von Deutschland erzählen. Dafür dockte er an einen Schlüsseltext der Kunst- und Literaturgeschichte an, dessen unverfrorene Transformation oder Fälschung des niederländischen Malers Rembrandt Harmenszoon van Rijn zum norddeutschen Lehrmeister zustimmend angenommen wurde: Julius Langbehns Buch Rembrandt als Erzieher von 1890. Bernhard Fulda und Aya Soika rücken Emil Noldes Lektüre und wahrscheinlich Relektüre dieses Bestsellers im August 1933 ins Interesse von „Noldes Selbstverständnis als Künstler“. Am 8. August 1933 schreibt er an seine Frau Ada über das Buch, das zu neuen Ehren gekommen war:
»Im Langbehn Buch habe ich hineingeschaut, es ist gedanklich ganz so, wie auch ich gern denke, manches liegt etwas zurück, aber manches ist doch noch ganz für heute noch.«[10]
Julius Langbehns programmatische und auf 309 Seiten detaillierte Kunsterziehung fand nicht nur Emil und Ada Noldes Zustimmung. Sie wurde in der „gedanklich(en)“ Übereinstimmung schon früh von Emil Nolde geübt. Im Nationalsozialismus sollte der 1851 im dänischen Hadersleben geborene und 1907 in Rosenheim verstorbene, kulturpessimistische und antisemitische Erziehungsautor Julius Langbehn eine Wiederkehr, wenn nicht gespenstische Erfüllung finden. Nach Fulda und Soika „kommt nicht nur in einem seiner frühesten Gemälde“ Noldes Langbehn-Lektüre oder zumindest Rembrandt-Rezeption „zum Ausdruck“. „Maleren (Selbstbildnis) von 1899 (wirkt) in seinem Helldunkel wie ein Zitat eines der vielen Selbstporträts des jungen Rembrandt“.[11] Doch Nolde konnte Langbehns Künstlerkonzept auch wie eine Selbstbeschreibung lesen, wenn es dort bezüglich den Marktes und des ausbleibenden Erfolgs heißt:
„Vielleicht empfiehlt es sich, daß in der einen oder andern juristisch gültigen Form hervorragende Kunstwerke – seitens ihrer Urheber und im Einverständnis mit deren ersten Erwerbern – zu Fideikommissen gemacht würden. Der wirklich bedeutende Künstler wird sowohl geneigt wie befähigt sein, diesen Gedanken zu verwirklichen; Sache der juristischen Fachmänner wird es sein, ihn positiv auszugestalten. Die mittelmäßigen Künstler überläßt man dem Markt und der Mode. Jedenfalls erscheint es notwendig, die jetzige und künftige deutsche Kunst der Herrschaft des Geldbeutels zu entziehen, welche nur zu oft die Herrschaft der Gemeinheit ist. Es gilt, ein Gebiet der deutschen Bildung nach dem andern von verderblichen Miasmen zu reinigen; weder im geselligen noch im künstlerischen Leben der Deutschen darf Judas mit seinen Silberlingen als tonangebend gelten.“[12]
Die deutsch-dänische Grenze und das Deutschtum in Schleswig-Holstein vor allem an der Westküste zeitigten bei Julius Langbehn wie bei Emil und Ada Nolde eigentümliche Selbstbilder, weil Preußens Sieg gegen die Dänen im Jahr 1864 für sie durchaus näher lag. Langbehn benennt sich im Untertitel als „Deutschen“ – „Von einem Deutschen“ – zugleich lässt sich dieser als Transformation Rembrandts zum Deutschen lesen. Langbehn kompiliert ein zeitgenössisches Wissen zwischen „Winckelmann“, „Shaekespeare“ und „Luther“, das nunmehr zum nationalen Begriff „deutsch“ und Rembrandt umgeschrieben wird.[13] Fulda und Soika sehen denn auch Noldes „Identifikation mit dem Nationalsozialismus“ als Überschneidung und Erfüllung von Langbehns Schrift mit den Szenarien der nationalsozialistischen Machtergreifung.
„Wie im zweiten Kapitel … dargelegt wird, wurde Nolde schon vor 1933 als paradigmatisch >deutscher< Künstler gefeiert. Nach der traumatischen Niederlage im Ersten Weltkrieg knüpften sich starke Heilserwartungen an einen von der deutschen Kultur ausgehenden Wiederaufstieg; Kunst wurde – besonders auch in den späten 1920er-Jahren – »Mittel nationaler Selbstbehauptung«. Was der von Nolde angefeindete Max Liebermann für den deutschen Impressionismus war, wollte Nolde nun für den deutschen Expressionismus sein: Der alte Meister der neuen deutschen Kunst.“[14]
Emil Noldes Antisemitismus passt nicht nur in das Ensemble des Langbehnschen Deutschtums. Die Funde im Seebüller Archiv zu diesem Themenbereich sind vielmehr einigermaßen verstörend und verheerend. Paradoxerweise bemüht Nolde sich in einem Brief an den Landgerichtsdirektor Gustav Schiefler seinen Antisemitismus als puren Rassismus zu entschuldigen. „Ich war nie Antisemit[,] im Gegenteil[,] ich suchte immer das mir unangenehme zu entschuldigen mit der Begründung daß es Eigenschaften einer fremden Rasse die ebenso gut sei als die unsere, eben aber ein andere.“[15] Wenn es darum ging eine „»Überfremdung« des deutschen Kunstmarktes durch den vornehmlich französischen Impressionismus“[16] anzuprangern, zögerte Nolde nicht. 1933 schlug er sich akzentuiert auf die Seite des Antisemitismus im nationalsozialistischen Regime.
„Nach der Regierungsübernahme durch die Nationalsozialisten im Januar 1933 akzentuierte Nolde den eigenen Antisemitismus noch deutlicher, wobei er weiterhin auf gesellschaftspolitische Entwicklungen reagierte. So schrieb er zum Beispiel nur wenige Tage nach dem antijüdischen Boykott vom 1. April 1933: »Ich möchte gern, daß eine reinliche Scheidung erfolgt, zwischen jüdischer u. deutscher Kunst, wie auch zwischen deutsch-französischer Mischung u. rein deutscher Kunst.«“[17]
Emil Nolde sprach sich bis zum letzten Tag für den Nationalsozialismus und sein verbrecherisches Regime aus, wie Fulda und Soika nun herausgearbeitet haben. Zwar erschienen Gemälde in der Propaganda-Ausstellung Entartet Kunst. Doch nach kurzer Zeit funktionierten Noldes Kontakte in die nationalsozialistische Elite so gut, dass seine Gemälde aus der Wanderausstellung entfernt wurden. Zahlreich sind die Fakten, die nun nach Unterdrückung und Ausarbeitung der Legende vom verfolgten und widerständigen Künstler Emil Nolde nicht zuletzt in Siegfried Lenz‘ zur Schullektüre avancierten Buch Deutschstunde – „Dieses Buch gefiel 69% der Nutzer“ (Google Nutzer) – gründlich revidiert werden müssen. Als die ersten Zweifel an der Legende aufkamen, wollte man gern die Blumen und das Meer und die Marsch in Aquarell oder Öl nehmen oder hängen lassen. Nun wird man die konzeptionelle Verortung der Bilder und ihrer Bildlichkeit in einem antisemitischen, rassistischen und nationalistischen Rahmen berücksichtigen müssen.
Wir werden mit anderen Worten auf die Künstlerbiografie zurückgeworfen, die von Nolde gänzlich ironiefrei ausgearbeitet wurde. Bei Bruce Sargeant gibt es dagegen eine konzeptionelle Ironie. Wir werden erneut auf die Künstler-Rahmung zurückgeworfen, die von Nolde gänzlich ironiefrei ausgearbeitet und verfälscht wurde. Nolde wollte der führende deutsche Künstler werden. 2010 veröffentlichte Mark Beard den Kunstkatalog Bruce Sargeant and His Circle: Figure and Form. Einige Exemplare des fast schon gänzlich vergriffenen Katalogs liegen in The Ballery in der Nollendorfstraße vor. Der Katalog enthält neben einer Timeline oder Biographie Abbildungen und Einführungen zu seinem Lehrer Hippolyte-Alexandre Michallon, seiner Malerfreundin Edith Cromwell, Brechthold Streeruwitz und Peter Coulter. Der Direktor des Andy Warhol Museums, Thomas Sokolowski, hat ein Vorwort beigesteuert. Bereits 2004 schrieb Gary L. Haller: „Bruce Sargeant is a mythic figure in the modern art movement.“
Bruce Sargeant sogleich in einen Kreis (circle) stilistisch durchaus unterschiedlicher Künstler*innen mit dem Thema „Figure and Form“ einzuschreiben, adaptiert die Modi der Künstlergruppen und programmatischen Stile der Moderne wie Impressionismus und Expressionismus um 1900. Sokolowski bringt den Maler in seinem Vorwort mit „Winckelmann“ und „Praxiteles“ in Verbindung. Ist das mehr als nur name dropping, wie Andy Warhol es nannte? Auf welches Wissen wird mit Winckelmann und Praxiteles nonchalant angespielt? Mit Winckelmann geht es um ein neuartiges Bild vom Männerkörper, woran im Winckelmann-Jahr 2017 mit der Ausstellung Winckelmann – Das göttliche Geschlecht im Schwulen Museum erinnert und auf NIGHT OUT @ BERLIN besprochen wurde.[18] Und Praxiteles? Wie demnächst im Jahrbuch Sexualitäten 2019 ausführlicher zu lesen sein wird, wird Praxiteles in dem Gedicht La Jouissance von Friedrich II. prominent eingeführt und einige Jahre später von Johann Joachim Winckelmann genauer zitiert. Der Praxiteles-Mythos erzählt davon, dass der Künstler mit seinem Model Sex gehabt hat.
Mark Beard hat mit dem Kunstkatalog zu Bruce Sargeant einen queeren Künstlermythos aus der Kunstgeschichte und ihren Praktiken geschaffen. Er hat nicht nur unterschiedliche Malweisen wie die von Bruce Sargeant, Hippolyte-Alexandre Michallon, Edith Cromwell, Brechthold Streeruwitz und Peter Coulter entwickelt, die sich einander porträtieren – The Artists Portraits (S. 26-27) -, vielmehr zeichnet Beard auch jeden Tag einen „Daily Nude“, also einen nackten Mann, der später in einem Gemälde transformiert werden wird. Die Pose der Akte ähnelt sich stark: liegend, muskulös. Und sicher soll man dann auch an den Praxiteles-Mythos denken. Hat er oder hat er nicht? Mark Beard war mehr oder weniger inkognito in Berlin und vom Facebook-Profil konnte man erfahren und sehen, wen er im EuroStar Hotel am Bahnhof Friedrichstraße gemalt hat. Das Facebook-Profil ist gewiss kein Geheimnis. Vielmehr darf man davon ausgehen, dass es zur Konzeptkunst unter dem Namen Bruce Sargeant gehört.
Wenn man unvorbereitet in The Ballery hineinstolpert, sieht man vielleicht erst einmal diese Gemälde von Männern, die sich stilistisch den 30er oder 40er Jahren zuordnen lassen könnten. Ein Gondoliere, ein Mannsbild posend auf einem Felsen in der Natur, Matrosen, Seemänner, Akte … Es könnte eine ganze Sammlung eines bisher unbekannten Künstlers sein, die einen enormen Wert haben müsste. Auf dem Flügel und einem Galerietisch sind die Daily Nudes wie ein Fächer ausgebreitet. Es knistert. Galeriebesucher fragen nach den Bildern und halten den Gondoliere für besonders begehrenswert. Alles Bruce Sargeants. Queering Art History! Mark Beards Gemälde von Bruce Sargeant und seinem Kreis produzieren eine ebenso lebendige Mythologie vom Männerkörper wie eine verhinderte Kunstgeschichte und inkriminierte Legende. – Das macht die Ausstellung in The Ballery fast noch spannender als die im Hamburger Bahnhof. Denn was im Hamburger Bahnhof aufwendig als Legende entlarvt wird, hat Mark Beards bereits als Praxis vorgeführt.
Torsten Flüh
Emil Nolde
Hamburger Bahnhof
bis 15. September 2019
(Marc Beard)
The Ballery
bis 8. Juni 2019
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[1] Vgl.: Bernhard Fulda, Aya Soika: Einleitung. In: Bernhard Fulda (Hg.): Emil Nolde: Eine deutsche Legende. Der Künstler im Nationalsozialismus. Essay- und Bildband. München: Prestel, 2019, S. 18.
[2] Siehe: Torsten Flüh: Bilder ohne Namen und der Name des Meisters. Zu Botticelli 2015-1445 in der Gemäldegalerie Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN Oktober 3, 2015 22:08.
[3] Jacques Derrida: Die Wahrheit in der Malerei. Wien: Passage, 1992, S. 21.
[4] Ebenda S. 17.
[5] Ebenda S. 21.
[6] Siehe Abb. „18 Rückenansicht von Helmut Schmidt vor dem Gemälde Meer III (1947, Öl auf Leinwand, 67,3 x 88,5 cm), im Bundeskanzleramt, Bonn um 1976“. In: Bernhard Fulda (Hg.): Emil Nolde … [wie Anm. 1] S. 240.
[7] Es gibt einen frühen Schul-Nolde an der Wand im Kieler Elternhaus des Berichterstatters.
[8] Udo Kittelmann: Zum Geleit. In: Bernhard Fulda (Hg.): Emil Nolde … [wie Anm. 1] S. 7.
[9] Ebenda.
[10] Zitiert nach: Bernhard Fulda, Aya Soika: Einleitung … [wie Anm. 1] S. 20
[11] Ebenda S. 21.
[12] Julius Langbehn: Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen. Leipzig: Hirschfeld, 1890 (9. Auflage). (Gutenberg)
[13] Siehe „Inhaltsverzeichnis“ Ebenda S. 5-7. (Digitalisat)
[14] Bernhard Fulda, Aya Soika: Einleitung … [wie Anm. 1] S. 25.
[15] Zitiert nach Bernhard Fulda: Noldes Antisemitismus. Ebenda S. 98
[16] Ebenda S. 97.
[17] Ebenda S. 101.
[18] Vgl. auch George Mosses Buch Das Bild des Mannes: Torsten Flüh: Über die verheißungsvolle Geschichte von Bildung und Liberalismus. Zur Mosse-Lecture „Bildungsliberalismus“ und zum Jubiläumsvortrag über den deutsch-jüdischen Liberalismus der Familie Mosse. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juni 14, 2017 11:30.