Literatur als Kraft, in den Abgrund zu sehen. Zum 11. Internationalen Literaturpreis des HKW

Übersetzung – Literatur – Sprache

Literatur als Kraft, in den Abgrund zu sehen

Zum 11. Internationalen Literaturpreis mit Texten von Teju Cole, Fernanda Melchor und Hélène Cixous etc.

Am Dienstagabend spielte das Wetter zur Preisverleihung auf der Terrasse des Hauses der Kulturen der Welt nicht mit. Die Sonne knallte mit sommerlicher Kraft ihrem Untergang im Westen hinter der Spree entgegen, dass die Zuhörer*innen geblendet wurden, die unter oder hinter dem aufgeschlagenen Heft der Shortlist 2019 Schutz suchten. Da half auch die dunkelste Literatur, an der es mit Saison der Wirbelstürme von Fernanda Melchor in der Übersetzung von Angelica Ammar als Preisträgerin wahrlich keinen Mangel gab, nicht zur Kühlung. Erst als die Sonne genau um 21:00 Uhr hinter einigen Baumkronen und der „Shortlist Library“ gemildert hindurchschien, zeigte die gebundene Literatur eine wahrhaft kühlende Wirkung.

Der Preisträger von 2013, Teju Cole, eröffnete die Preisverleihung mit einer Keynote, nachdem der HKW-Intendant Klaus Scherer die Gäste begrüßt und auf das Abgründige der Literatur hingewiesen hatte. Dem Titel der Keynote, On Carrying and Being Carried, schickte Teju Cole voraus, dass der Text eigentlich für dunklere Orte und Farben geschrieben sei. Es ging um das Dunkel der USA und Trumps Flüchtlingspolitik ebenso wie die Farbe Schwarz als „question of blackness“. Er hatte den Preis 2013 für seinen Roman Open City in der Übersetzung von Christine Richter-Nilsson verliehen bekommen. Mittlerweile lehrt er an der Havard University als Professor für Kreatives Schreiben, so dass seine Keynote, „written for the darkness“, eine Verknüpfung der Tätigkeit der Übersetzung mit den Helfer*innen der Flüchtenden an vielen Orten der Welt bot. Es wird darauf zurück zu kommen sein.

Robin Detje hielt eine Laudatio auf den Roman der Preisträgerin aus „einer dunklen Ecke“ der Literatur in gleißendem Sonnenschein. Die Cybershot-Kamera des Berichterstatters hatte ständig mit dem Gegenlicht zu kämpfen. Das Licht ist für Fotograf*innen selten so, wie sie es sich wünschen. – Teju Cole ist auch Fotograf. – Bernd Scherer begann seine Shortlist-Vorstellung mit Hélène Cixous‘ Text Meine Homère ist tot … aus dem Französischen von Claudia Simma, um die außerordentlich hohe Qualität der 6 ausgewählten Bücher zu betonen. Auf die Leistung der Übersetzerin Angelica Ammar geht Robin Detje in seiner Laudatio eher weniger ein. Sie habe „in ihrer Übersetzung einen Wort- und Bedeutungsteppich ausgebreitet, dem wir lesend immer vertrauen können und dessen Festigkeit nie nachlässt“.[1] Vielleicht ist Vertrauen ein wichtiges Kriterium für Übersetzungen. Denn es bleibt immer auch etwas unübersetzbar wie z. B. die mexikanischen Flüche.

Sie musste dabei leider ins Deutsche übersetzen, eine Sprache, deren Fluchkultur ein wenig schwach auf der Brust ist und die sich mit lustvollen, geradezu inbrünstigen Verwünschungen schwer tut. Und bei Fernanda Melchor wird wahrlich inbrünstig geflucht.[2]

Der Internationale Literaturpreis wird vom HKW und der Stiftung Elementarteilchen (Hamburg) seit 2009 verliehen. Er zeichnet damit „herausragende Titel internationaler Gegenwartsliteraturen in deutscher Erstübersetzung“ aus. Er ist mit 20.000 € für die Autor*in und 15.000 € für die Übersetzer*in dotiert. Damit geht es um „internationale Gegenwartsliteraturen“ und Übersetzungen nicht zuletzt unter Berücksichtigung der Unübersetzbarkeit. 2014 berichtete NIGHT OUT @ BERLIN von der Preisverleihung an Dany Laferrière und Joghurt, den Yoko Tawada literarisch zubereitete. Natürlich geht der Preis an Fernanda Melchor und Angelica Ammar in Ordnung. Aber wirklich mutig ist die Wahl nicht, weil ein vertrauenerweckender „Wort- und Bedeutungsteppich“ fast ein wenig marktgängig wirkt. Fernanda Melchor schlägt mit der wiederkehrenden Wendung „es heißt, dass“ einen deutlichen Ton vom gerüchteweisen Erzählen an:

Es heißt, dass sie in Wirklichkeit gar nicht gestorben war, weil Hexen nicht so leicht sterben. Es heißt, dass sie sich im letzten Moment, bevor diese Jungs sie erstachen, durch einen Zauberspruch verwandelt habe, in eine Eidechse oder einen Hasen, der sich tief im Wald versteckt hat…[3]

Die Geste des Erzählens unterscheidet sich in den Büchern der Shortlist. Da ist Hélène Cixous‘ Meine Homère ist tot … allein schon wegen „Homère“ von anderem Kaliber. Denn „Homère“ ist mit dem zärtlichen Femininum nicht nur der antike Dichter-Erzähler Homer, sondern auch die Mutter la mére, die eine „Odyssee des Sterbens“ antritt. Die Edition des Buches wie seine Schreibweise aus der Thematisierung des Erzählens als Schreiben selbst ist eine bibliophile Sonneneruption. Das Erzählen der Gerüchte über die Hexe und ihren Tod in Mexiko unterscheidet sich von einem Schreiben, das nicht dem Subjekt unterworfen ist. Darauf wird zurück zu kommen sein, ebenso wie auf die Interpunktion. Wer schreibt, wenn Hélène Cixous vorausschickt:

Dies ist nicht das Buch das ich habe schreiben wollen.
Ich schreibe es nicht.[4]

Hélène Cixous signiert Meine Homère ist tot … in der Volksbühne am 6. Mai 2019.

Literaturen nehmen nicht nur unterschiedliche Erzählhaltungen wie die des Gerüchts oder der Beschreibung – „Sie kamen durch die Bresche vom Fluss her zum Kanal, die Schleudern bereit zum Kampf, die Augenlider im gleißenden Mittagslicht zusammengekniffen, fast vernäht.“[5] – ein, sie können ebenso anders geschrieben worden sein – „Dieses Buch ist bis zur letzten Zeile von meiner Mutter geschrieben“.[6] Literaturen hängen nicht nur von Kulturen wie beispielsweise der mexikanischen ab. Wie Fernanda Melchor später im Gespräch während der Preisverleihung gesagt haben wird, hatte sie sich über einen Zeitungsartikel zu einem Mord im Dorf La Matosa bei Veracruz geärgert. Sie hatte sich darüber geärgert, wie die mexikanische Presse schreibt und eine Frau in einem Dorf zu einer „Hexe“ erklärt. Deshalb hätte sie begonnen, den Roman anders zu schreiben und zu erzählen. Hélène Cixous schreibt nicht nur über das Sterben ihrer Mutter im 104. Lebensjahr, sie lässt es schreiben.

Sie redete ununterbrochen, ich schrieb alles mit. Wir wachten. Ich war von mystischem Staunen bewegt. Ich lachte. Das also war er, der Event…[7]

Hélène Cixous schreibt Widmung am 6. Mai 2019.

Handeln Literaturen nicht immer vom Übersetzen? Teju Cole knüpfte in seiner „Keynote“, denn es war nun einmal eine Veranstaltung in Englisch und Deutsch, an die Etymologie von translation an. Translation komme vom Lateinischen Kompositum translatio als trans wie across und ferre wie carry oder bringen. Das ähnelt der deutschen Übersetzung als einem Hinüberbringen. On Carrying and Being Carried brachte deshalb nicht zuletzt das Bild des Christophorus, des Trägers Christi von pherein wie tragen ins Spiel. Ein Mensch, der – empathisch – von einem anderen Menschen getragen wird. Christophorus trägt Christus durch eine, sagen wir, Wassergrenze. – Ähnlich verhält es sich mit Sprachgrenzen. – Dieses Bild hatte Teju Cole auch auf Fotos mit Flüchtenden entdeckt. Dann erinnerte er als Beispiel an die Fluchthelfer der dänischen Juden, die diese vor den Nazis nach Schweden brachten. Cole appellierte an ein „citizenship“, das für alle Subjekte gelte. Und die Sure 5 des Koran fasste Teju Cole so zusammen, dass darin stehe, wer ein Leben gerettet habe, habe die Welt gerettet. Und die Literatur könne wie ein Fluchthelfer ein Leben retten.[8]     

Robin Detje pries in seiner Laudatio die Überforderung durch Literatur. Vielleicht überfordern gute Literaturen immer, wenn sie nicht in einem restlosen Verstehen aufgehen. Detje sieht in der Überforderung „ein literarisches Qualitätskriterium“. – „Was sollen wir denn mit einer Literatur, die uns nicht überfordert?“ – Wie sich schon andeutete, hat die Lust an der Überförderung durchaus Grenzen. Detje nennt den Roman „Chronik eines Todes“, was ebenso auf Meine Homère ist tot … passen könnte. Doch eben ganz anders. Es gibt gar ein journalistisches Moment auf sehr verschiedene Weise in beiden Büchern. Um ein Buch richtig preiswürdig zu finden, muss es heute allerdings für Detje wenigstens als „Kapitalismuskritik“ lesbar werden.

Die Saison der Wirbelstürme ist kein Roman, der sich Kapitalismuskritik auf die Fahnen geschrieben hat. Aber er verdient diesen Preis trotzdem als politischer Roman. Hier wird auf schmerzhaft intensive Weise ein Notstand beschrieben, ohne dass dieser Notstand jemals explizit benannt wird.[9]

Die Kapitalismuskritik ließe sich ebenso und wahrscheinlich noch stärker in der Schreibweise von Hélène Cixous aufspüren. Beginnt nicht alle Kapitalismuskritik mit der Erzählweise? So weit geht Robin Detje nicht. Fernanda Melchor klickt sich allerdings in die Sprache der mexikanischen Presse ein, die sich vor allem erst einmal schnell lesen und verkaufen lassen soll, weil Erzählweisen von Frauen als „Hexen“ verbreitet und als Alltagsmythologie wiederholt werden. Das verkauft sich wie Pornographie. Und wahrscheinlich will Melchor mit ihren „Namen und Spitznamen und Daten und Herzen und Schwänze(n) und Mösen mythologischen Ausmaßes“ (Detje) eben diese Pornomythologie schmerzhaft offenlegen. Wenn man wie Hélène Cixous die Schreibszene selbst ins Mythologische verschiebt, dann wird sie schon im Französischen idiolektal erweitert und umgeschrieben. Claudia Simma merkt dies zu ihrer Übersetzung an:

Da sie das sind, was Hélène von Eve bleibt, sind, wo immer möglich, Wörter wie Maman, die im Französischen Eve benennen, in der Übersetzung nicht verdeutscht worden. Die Übersetzung verliert natürlich trotzdem viele der magischen Buchstaben, Wörter und Klänge, die in Hélène Cixous‘ Sprache und Schrift mit ihren Wortkörpern an Eves Körper rühren.[10]

Daten und Fakten, aber auch Fakes kursieren heute in einem „communicative capitalism“ des Internets wie es Jodi Dean in ihrer Blog Theory formuliert hat. Eine „Kapitalismuskritik“ sollte heute also insbesondere den „communicative capitalism“ berücksichtigen.[11] Er wird nicht zuletzt wirksam in der mexikanischen Presse. Das „Feedback and Capture in the Circuits of Drive“ lässt sich durchaus als eine spezifische Form von Verständnisprozessen lesen. Es sind zwar Programme oder Maschinen, die die Daten lesen, doch lässt sich dieses Lesen als Modell ebenso gut in Leseverstehen-Prüfungen finden. Dieses Lesemodel reicht bis in einen neuartigen Analphabetismus der Digitalisierung und hinüber zur einfachen oder Leichten Sprache als Strategeie zur demokratischen Partizipation. „Reading Comprehension“ wird nach dem aktuellen Wikipedia-Eintrag als „the ability to process text, understand its meaning, and to integrate with what the reader already knows“ definiert. Jodi Deans kritisiert insofern die zeitgenössische, „kapitalistische“ Form des Leseverstehens, wenn sie schreibt:

I take the position that contemporary communications media capture their users in intensive and extensive networks of enjoyment, production, and surveillance. My term for this formation is communicative capitalism. Just as industrial capitalism rely on the exploitation of labor, so does communicative capitalism rely on the exploitation of communication.[12]

Die Funktion von Literaturen lässt sich insofern mit einer Rückkopplung an die maschinellen Leseprozesse der Internet-Konzerne wie Facebook etc. bedenken. Tags, Hashtags oder Keywords lassen sich als eine Währung des „communicative capitalism“ beschreiben. Doch: Lässt sich auch noch anders lesen und schreiben? An dieser Stelle kommen die Schriften von Hélène Cixous zum Zuge. Sie haben ebenso sehr „Störpotential“ wie eine Klangvielfalt, die z. B. durch die Übersetzungen von Claudia Simma und Esther von der Osten des Textes Max und Moritz, et Ma Mère und dann kommt der Tod herbei unterschiedlich übersetzt wird. Und ganz besonders mit Meine Homère ist tot … Denn der Tod der Mutter und ihr Sterben ist gerade das, was sich am schwierigsten beschreiben lässt. Es kann hier definitiv nicht verstanden werden. Wir sind nicht zuletzt seit dem Tod Alexander von Humboldts daran gewöhnt worden, die genaue Todeszeit zu bestimmen und als Datum anzugeben. Max Ring machte sie in der Zeitschrift Die Gartenlaube mit „(a)n dem Nachmittage des 6. Mai um 2 Uhr 32“ zum universalhistorischen Ereignis. Die Genauigkeit des Datums wird in der Mitte des 19. Jahrhunderts bedeutend. Doch es ist gerade dieses „Event“, dem das Sterben von „Maman“ nicht folgt. Der Tod ist im Französischen weiblich: la mort.

Ich sage „Tod“ aber es ist das Leben um das es sich handelt, um das Leben selber, um seinen lebenslänglichen Wankelmut, um seine Art sich zu ergeben nur um sich zur Korrektur zurückzunehmen, um sein erschrecktes Vom-Feuer-angezogen-Sein, um die verblüffende Kraft in seiner Schwäche. Schlussendlich weiß man nicht einmal warum das Leben sich in Tod verwandelt, vielleicht hat es genug davon mit dem Feuer zu spielen, es lässt eine Sekunde lang eine Sekunde los, manchmal lebt es wieder auf, und manchmal nicht.[13]

Meine Homère ist tot … sollte man ein magisches Buch, vielleicht gar eines der Magie nennen. Es ist allerdings keine vormoderne Magie wie die Alchemie, vielmehr eine des Datenaufschubs und einer eigensinnigen Zeichensetzung, die die Auslassung z.B. von Kommata beinhaltet. Die vermeintlichen Gewissheiten über Leben und Tod werden von Hélène Cixous nicht zuletzt mit Glyphen versehen. Die Glyphen, die sich weder als Satzzeichen noch als Buchstaben lesen lassen, sind in den Text eingestreut, ohne dass sie sich je leseverstehen lassen werden. Das ist auch ein editorisches Novum des Buches, das ihm einen bibliophilen Akzent gibt. Zeichen, die gelesen, aber nicht verstanden werden können. Sie erinnern an die Schrift als Eingeritztes, ohne dass sie schon systematische Hieroglyphen wären. Denn sie sind keinesfalls schon ein Bild, obwohl sie an Bildhaftes erinnern können. Zwar durch aktuelle Drucksatztechniken allererst ermöglicht, gehen die, wie ich sie hier nenne, ohne zu wissen, ob das richtig ist, Glyphen nicht im Digitalismus von 0 und 1 auf. Wenn es so etwas wie eine sichtbare Differenz gibt, dann könnten die Glyphen daran erinnern. (Da in dieser Blog-Software derartige Glyphen nicht vorhanden sind, kann ich sie hier nicht zeigen.)

Ich gestehe – und in diesem Blog habe ich als Subjekt eigentlich wenig zu suchen, außer dass sich der Blog nicht ohne mich schreibt -, dass mich das jüngste Buch von Hélène Cixous ungemein fasziniert. Denn selbst dann, wenn am Rande die Diagnose Demenz aufspringt, schreibt sie es nicht. Das ist eine ungeheuer starke Haltung gegen das oft tröstliche Wissen, das über das Alter, das Vergessen und den Wahn heute kursiert. Doch für H. gilt es bezüglich E. nicht. Die „Odyssee des Sterbens“ wird mit einer unendlichen Empathie geschrieben.

Im „Theater der Welt“ gibt es eines meiner Leben das seine/meine Geschäfte verrichtet, während sich die Seele-Hélène in der gewundenen Furche der Sterblichkeit abmüht.
All dies geschrieben begleitet von Eves Singsang hilfmiahhilfmiamiahiah seit fünf Uhr früh.
… Zu Zeugen hatte ich die riesig blutigrohen roten Wunden auf Mamans Beinen… [14]

Die Empathie ist keine leichte Übung. Sie wird heute leicht und auch leichtfertig eingeklagt. Hélène Cixous benutzt, soweit ich sie gelesen habe, kein einziges Mal das Wort Empathie. Empathisches Schreiben wird sich wohl gerade nicht so benennen. Doch wenn man einen Begriff sucht für das Schreiben, dann könnte es passen. Sie lässt sich nicht schrecken von den „zwei große(n) Beutel(n) wie verrücktgewordene Eier, Blutgerinnsel stocken, Blutgerinsel nässen“. Wer will das schon „pflegen“? Oder gar sich dem im Schreiben aussetzen? Für Leser*innen mag Meine Homère ist tot … bisweilen brutal wirken. Aber es ist eine ganz andere Brutalität als die pornographische Mordbrutalität. Sie ist empathisch.

Torsten Flüh

Internationaler Literaturpreis 2019
Medien

Hélène Cixous
Meine Homère ist tot …
aus dem Französischen von Claudia Simma
ISBN 9783709203248
235 x 140 mm
208 Seiten
Preis 25,60 EUR 

Passagen Gespräch
Forum für neues politisches Denken
Peter Engelmann spricht mit Hélène Cixous
Kulturfabrik Kampnagel Hamburg (7. Mai 2019)


[1] Der „Wort- und Bedeutungsteppich“ gibt auch einen literaturtheoretischen Wink auf die Rede vom „Romanteppich“ bei Thomas Mann, an die Jürgen Joachimsthaler mit den „Text-Ränder(n)“ angeknüpft hat. Vgl.: Torsten Flüh: Europas und der Texte Ränder. Zu Jürgen Joachimsthalers Text-Ränder – Die kulturelle Vielfalt in Mitteleuropa als Darstellungsproblem deutscher Literatur. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juli 11, 2012 20:26.

[2] Robin Detje: Laudatio zur Verleihung des Internationalen Literaturpreises 2019 an Fernanda Melchor und Angelica Ammar. Haus der Kulturen der Welt: Internationaler Literaturpreis 2019.

[3] Fernanda Melchor: Saison der Wirbelstürme. Berlin: Klaus Wagenbach, 2019, S. 225. (Zitiert nach Internationaler Literaturpreis: Shortlist 2019. Berlin:  Haus der Kulturen der Welt, 2019, S. 23. (siehe Leseprobe auch hier)

[4] Hélène Cixous: Meine Homère ist tot … Wien: Passagen, 2019, S. 12,

[5] Fernanda Melchor: Saison … [wie Anm. 3] (Leseprobe)

[6] Hélène Cixous: Meine … [wie Anm. 4] S. 11.

[7] Ebenda S. 20.

[8] Die Preisverleihung wurde mit mehreren Kameras gefilmt. Demnächst werden die Aufzeichnungen im Bereich „Mediathek“ des Internationalen Literaturpreises 2019 bereitgestellt werden.

[9] Robin Detje: Laudation … [wie Anm. 1]

[10] Hélène Cixous: Meine … [wie Anm. 4] S. 185.

[11] Jodi Dean: Blog Theory. Feedback and Capture in the Circuits of Drive. Cambridge: Polity, 2010, S. 2.

[12] Ebenda S. 3-4.

[13] Hélène Cixous: Meine … [wie Anm. 4] S. 20.

[14] Cixous: Meine … [wie Anm. 4] S. 39.

Trauma und Bildfindungen der Teilung

Mauer – Aquatinta – Berlin

Trauma und Bildfindungen der Teilung

Zur Ausstellung Zweimal Berlin – Blicke auf eine geteilte Stadt in der Salongalerie »Die Möwe«

Eine zentrale Gedenkveranstaltung wird es zu 30 Jahre Mauerfall nicht geben, sagt der Berliner Senator für Kultur und Europa, Dr. Klaus Lederer, in seiner Laudatio zur Eröffnung in der Salongalerie »Die Möwe«, Auguststraße 50b in Mitte. Früher, ja, noch so im Januar 2002 war der Künstlerclub »Die Möwe« im Palais am Festungsgraben gleich neben dem Gorki Theater eine illustre Adresse. Der Künstlerclub war in gewisser Weise halböffentlich. Ein großzügiger Restaurantraum mit einem Flügel an der Seite, auf dem gelegentlich für eine Hochzeitsgesellschaft ein Freund ein Liebeslied spielte. Seit 2014 führt Claudia Wall die Salongalerie als Reminiszenz an den Künstlerclub, der 1946 in Ost-Berlin gegründet wurde. Die Reihe der dezentralen Veranstaltungen zum Gedenken an den 9. November 1989 eröffneten nun Künstler*innen aus Ost- und West-Berlin zu Zeiten der Teilung der Stadt.

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Ein wenig launig erwähnte der Senator für Kultur und Europa auch die Berlinpraxis, dass viele (Alt-)Berliner immer noch nur ihren Ost- oder West-Kiez kennen, sich in ihm bewegen und nur selten in andere Teile der Stadt wechseln. Der Berichterstatter kennt derlei Praktiken aus Erzählungen, doch er hielt sie schon für überwunden. Möglicherweise war die Teilung der Stadt durch Stacheldraht und Todesstreifen mit Schießbefehl so traumatisch, dass sie für einige ältere Bewohner der Stadt immer noch nachlebt. Dass Claudia Wall mit Grunewald-Hintergrund ihre Salongalerie »Die Möwe« nennt und Dr. Klaus Lederer, der in Frankfurt/Oder aufwuchs und 1988 mit seinen Eltern nach Berlin-Hohenschönhausen zog, die Laudation hält, gibt einen Wink. Die Stadt ist durchlässiger geworden, während sie auf den Bildern in Öl, Gouache, Acryl und Aquatinta oft begrenzt dargestellt wird.

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Im Katalogheft sind einige Kommentare der Künstler*innen zu ihren Arbeiten abgedruckt. Zu Feuerschein über der Stadt (1988) von Wolfgang Leber, der 1936 in Berlin geboren wurde und der mit dem Bau der Mauer 1962 sein Studium an der Hochschule für bildende Künste, die 1996 in der Universität der Künste aufgegangen ist, abbrechen musste, ist ein kritischer Kommentar zur Berliner Stadtarchitektur Ost abgedruckt. Statt Stolz der sozialistischen Errungenschaften, sah er „architektonische() Ratlosigkeiten“.  

Die Stadt ist mir als Motiv ständig gegenwärtig. Anhäufungen architektonischer Ratlosigkeiten, verschobener Perspektiven, Überschneidungen oder Lichtreflexe inspirieren zu Bilderfindungen, die sich als ein Gleichnis großstädtischer Existenz darstellen. […] Die Stadt mit ihren tausendfachen Brechungen und Metamorphosen ist der größte Fundus für einen Maler.[1]     

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Die Bildfindungen, wie ich es lieber nennen möchte, sind ein Kommentar auf die Stadt. Die „Stadt … als Motiv“ generiert sich aus „tausendfachen Brechungen und Metamorphosen“. Später werden Monika Meiser, Klaus Roenspieß und Wolfgang Leber vor Feuerschein über der Stadt für den Berichterstatter posieren. Zuvor hatte Klaus Lederer seine Laudatio vor dem heimlichen und vielleicht rein zufälligen Bildzentrum der Ausstellung gehalten. Ist der Feuerschein 1988 eine Art Menetekel für die politischen Umbrüche, die sich mit einem vielleicht apokalyptischen Bild der „Anhäufungen architektonischer Ratlosigkeiten“ ankündigen? Hat das Bild eine politische Dimension? Im Katalog sind die Farben dunkler. Im Strahler der Galerie wirken sie sehr viel heller. Gibt es mit dem Feuerschein in einer fast kubistisch-modernen Malweise der Architektur eine Helle der Zuversicht? Wir wissen es nicht. Und wir wissen nicht, ob Wolfgang Leber darauf eine Antwort gehabt hätte.    

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Die Stadt Berlin als Motiv kann in der Ausstellung menschenleer oder mit Passanten bevölkert sein. Museum Dahlem (1980) von Rolf Curt feiert die modernistische Architektur. Manchmal erscheinen Menschen als Silhouetten wie im kleinformatigen Farbholzschnitt An der Hochbahn (1981) von Klaus Roenspieß. Dann bleiben sie eher vereinzelt. Dann wiederum werden sie wie in S-Bahnhof Schöneberg (1983) von Evelyn Kuwertz als Wartende auf einem Bahnsteig in Beziehungen gesetzt. Eine Frau mit einem Kind auf dem Arm. Ein Mann mit Aktentasche geht auf dem Bahnsteig entlang. Das Bild mit seinen starken Lichtkontrasten schält sich aus einer Kombination von Aquarell, Eitempera und Pastell.

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Das Warten auf die S-Bahn hat 1983 auch eine historische Teilungsdimension. Die S-Bahn nutzten West-Berliner nur, wenn es nicht anders ging, weil sie von der ost-berliner Reichsbahn betrieben wurde. 1980 kam es zum Reichsbahnerstreik. Der S-Bahnhof Schöneberg wurde stillgelegt. Erst am 1. Februar 1985 wurde die Wannseebahn unter Leitung der BVG wieder in Betrieb genommen. Insofern müsste es sich bei Evelyn Kuwertz‘ Bild um eines aus der Erinnerung handeln. Vielleicht wollen die Wartenden auf dem S-Bahnhof Schöneberg nach Steglitz, Zehlendorf oder Wannsee. Ganze Erzählungen und Rahmungen brechen los. Als künstlerische Aktivistin mischte sich Evelyn Kuwertz wiederholt in politische und frauenpolitische Themen. In der unteren, rechten Ecke steht eine Frau, auf die Wartenden blickend, im Vordergrund.

Ich bin in erster Linie Beobachterin, […] und es stellt sich heraus, dass diese Menschen, diese Umgebung auf mein Verständnis stoßen und einen Teil meines Alltags ausmachen, den ich eigentlich nicht so bewußt wahrnehme, […][2] 

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Das Faszinierende an der Ausstellung Zweimal Berlin – Blicke auf eine geteilte Stadt ist, dass es eben nicht nur zweimal Berlin gab, sondern das Zweimal in sehr viel mehr Blicke aufsplittert. In der Vielfalt der Blicke wird die Teilung selbst als Mauer kaum ins Bild gerückt. Das wäre in der Hauptstadt der DDR sicher ein Skandal gewesen, wenn es nicht gar unter Spionageverdacht verboten war. Es gibt wie mit Evelyn Kuwertz‘ S-Bahnhof Schönberg als Bildfindung einen Moment der Undarstellbarkeit der Mauer. Sie ist oft in Abwesenheit präsent. Das lässt sich nicht sofort sehen, kann aber sichtbar werden. Als Kuwertz mit den fast naturalistischen Schattenwürfen der Wartenden auf dem Bahnsteig S-Bahnhof Schönberg gemalt hat oder gemalt haben will, kann das Bild als Szene nicht stattgefunden haben. Ist die Datierung verrutscht? Oder woher kommt das Bild? Gerade dann, wenn das Bild in der Malerei klar zu sein scheint, kann es rätselhafter als gedacht werden.

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In dem Gemälde An der Niederkirchner Straße (1987/2019) von Matthias Koeppel (1937) bekommt die Mauer von der Westseite einen widersprüchlichen Charme. Unweit des Martin-Gropius-Baus an der Niederkirchnerstraße gab es einen Aussichtsturm. Auf der anderen Seite der Mauer unerreichbar der Preußische Landtag und das heutige Bundesfinanzministerium. Auf dem hölzernen Aussichtsturm gibt es Figuren, die spielende Jugendliche sein könnten. Im Vordergrund am unteren Rand hebt ein Mann mit Schlips seine rechte Hand, als wolle er einer Frau im roten Kleid, um deren Schultern er seinen linken Arm gelegt hat, etwas erklären. Die Mauer ist mit unentzifferbaren Graffiti versehen.[3]

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Das Trauma der Teilung schlägt Volten. Es erhält bei Matthias Koeppel 1987 eine bedenkenswerte Transformation ins Paradox-Unbeschwerte. In der Version des Bildes von 2019 sind der Mann und die Frau in Rot gealtert. Die erklärende Geste fehlt. „SPD“ und „Sex“ lassen sich als Graffiti erkennen. Ein Passagierflugzeug durchschneidet nun den Himmel. Doch das Szenarium ist fast gleich geblieben. 1996/97 malte Matthias Koeppel für das Berliner Abgeordnetenhaus im ehemaligen Preußischen Landtag seinen Triptychon Die Öffnung der Berliner Mauer in prächtiger Farbgebung, wie er sie bereits für An der Niederkirchner Straße in Öl auf Leinwand angewendet hatte.[4] Matthias Koeppels „Neue Prächtigkeit“ vollzieht mit ihrem Detailreichtum und den emotionalen Körperhaltungen eine stark narrative Geste. Er wollte und will z.B. vom 9. November 1989 erzählen.

… Ein aufgeregtes Raunen ging durch die Menge der Gäste, der Saal leerte sich sofort und alles strömte in Richtung Mauer. Ich hatte einen Smoking an und darüber einen leichten Trenchcoat. Es war bitterkalt in jener Nacht, aber in dem Trenchcoat steckten gottseidank mein kleiner Skizzenblock und ein Bleistift, so daß ich vor Ort die ersten Zeichnungen machen konnte.
„Stasi-Schwein, hau ab!“ riefen mir irritierte Bürger zu, die dachten, daß jemand, der mit Block und Bleistift hantiert und sich dazu noch mit einem Smoking tarnt, die Autonummern der Ankommenden notierte, um sie ordnungsgemäß der Staatssicherheitsbehörde melden zu können. Wenn ich dann meinen Zeichenblock vorzeigte, erntete ich sehr schnell ein verständnisvolles Lächeln.[5]

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Matthias Koeppel insistiert mit seiner Erzählung vom „Skizzenblock und … Bleistift“ auf eine fast journalistische Bildlichkeit. Das Trauma der Teilung verwandelt sich in die Mauer als Sehenswürdigkeit und historisches Ereignis. Peter Rohn (*1934) fasziniert 1966 der dunkle, spätabendliche S-Bahnhof Ostkreuz/Berlin. Die Bahnsteige und Fußgängerbrücken, aber auch die Fenster der S-Bahn-Wagen sind in einem gelblichen Weiß unter dunklem Himmel erleuchtet. Am linken Rand stößt eine Lokomotive weiß-blaue Dampfwolken über den S-Bahnsteig. Rohn lässt eine gewisse Technikfaszination Bild werden. Die satte Farbigkeit, der Wechsel von geschwungenen und geraden Linien in seiner Bildkomposition verleihen dem Ostkreuz eine hohe Dynamik. Dabei lebt Rohn seit 1960 nicht in Berlin, sondern im eher beschaulichen Potsdam. Die großstädtische Dynamik wird 1966, vier Jahre nach dem Mauerbau, allerdings zu einem Widerspruch. Rückte er deshalb eine weiß-rote Schranke im unteren Feld ins Bild?

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Monika Meiser arbeitete als Mathematikerin und Programmiererin, um sich seit 1980 mehr und mehr der künstlerischen Bildproduktion in verschiedenen Medien zu widmen. Die vier Arbeiten in Aquatinta aus der ersten Hälfte der 80er Jahre in der Ausstellung beschäftigen sich mit Altbauszenarien im Prenzlauer Berg. Bei ihr ist es weniger die Architektur, die sie fasziniert, wenn sie etwa 1983 die kahlen Hinterhöfe ohne Menschen zum Bild macht. Die Hinterhöfe in Grau-Schattierungen lassen vielmehr ein Paradox der Großstadt Bild werden. Die vielen Fenster der Arbeiterhäuser mit 6 Stockwerken erinnern daran, dass sehr viele, hunderte von Menschen in den Wohnungen hinter den Fenstern leben müssen. Doch die vielen Menschen bleiben nicht zuletzt hinter den gesichtslosen Hausfassaden und blinden Fenstern unsichtbar. Die Urbanität der hohen, sechsstöckigen Mietshäuser aus der Jahrhundertwende bringt die Menschen als Einzelne auf erschreckende Weise zum Verschwinden.

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Die Arbeiten in Aquatinta, einer aufwendigen und komplizierten Drucktechnik, erfordern eine gewisse Liebe zur Kunst als Handwerk. Meiser ist in ihrer künstlerischen Bildproduktion nicht zuletzt eine exquisite Kunsthandwerkerin. Es gibt auch Aquarelle von ihr, doch an den Aquatintaradierungen in Grau wird ihre heute oft im Kunstbetrieb unterschätzte handwerkliche Geschicklichkeit deutlich. Ein Bestseller wie Jeff Koons lässt seine Millionen Euro teuren Ballon-Pudel von einer Spezialfabrik im Thüringischen anfertigen. Das kann auf eine andere Weise interessant sein, doch es gibt auch einen Wink auf das Verhältnis von Handwerkskunst und Kunstmarkt. Monika Meisers Aquatintaradierungen erfordern dagegen eine gewisse Sorgfalt und ein Technikwissen. Stefan Friedemann gibt einen bedenkenswerten Hinweise auf den Entstehungsprozess der „Berlinbilder“:

Da das Erarbeiten einer Aquatintaradierung ein langwieriger Prozess ohne sichtbares Zwischenergebnis ist, sind Vorstellungsgabe und vorausschauendes Denken, eine innere Version wichtig.[6]

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In der Zeit um 1983 ist Meiser auf Spurensuche auf den grauen Fassaden der Wohnhäuser. Und das hat viel mit den Menschen zu tun, die nicht mehr in den Häusern leben, die sie abbildet. Einerseits basieren die Aquatintaradierungen auf Fotografien, andererseits werden sie durch einen Mangel an Farbe angestoßen. Dieser Mangel machte zugleich ein ökonomisches Versagen in der geteilten Stadt sichtbar und ließ sich dennoch als künstlerisches Sujet wertschätzen. Die Spuren werden so als Bild zu solchen des Mangels und des Verlustes. Heute lässt sich in vielen Teilen der Stadt bei Renovierungen der Hausfassaden oft beobachten, dass Schriftzüge freigelegt und sorgfältig konserviert werden. Doch der blätternde Putz wird dann ersetzt durch eine meist dezente Farbe. Die Zeitlichkeit der abgeblätterten Schutzfarbe, der Meiser so viel Aufmerksamkeit, geradezu Akribie schenkte, ihr einen Wert beimaß, ist dann verloren gegangen.

Erst am Ende dieses langen Vorgangs wurde im ersten Andruck sichtbar, ob die beabsichtigte Bildidee bestätigt wurde… Monika Meiser bezeichnet dies stufenweise Erarbeiten der Tonwerte mit ihren differenzierten, häufig kleinteiligen Strukturen rückblickend als meditativen Prozess. [7]

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Die Aquatinta als Drucktechnik erscheint offenbar in der Mitte des 18. Jahrhunderts, als ein gebildetes Publikum nach anderen ebenso wie mehr Bildern verlangt und zugleich neue Drucktechniken in den Bild- und Buchmarkt drängen. Wer die Aquatinta erfunden hat, weiß selbst die „Geschichte der Erfindungen: Bildungsgang und Bildungsmittel der Menschheit“ 1872 nicht. Doch es geht um ein neues Wissen, das als „Bildungsmittel der Menschheit“ praktisch beschrieben und vermittelt werden kann. Die Aquatintaradierung kombiniert die feine Linienzeichnung mit der Flächigkeit und den Schattierungen der Tusche, die in wiederholt ausgeführten Druckvorgängen nach einer Imagination oder „Bildidee“ aufgetragen wird. Je tiefer die Ätzung, desto schwärzer wird die Stelle in den Graustufen.

Das Wesen dieser Manier ist in Kürze dieses. Nachdem die Umrisse eines Bildes eingeätzt und die Platte wieder gereinigt ist, kommt sie in den sogenannten Staubkasten, wo sie mit einer Lage von fein gepulvertem Harz (Mastic oder Kolophonium) möglichst gleichmäßig überpudert wird. Durch Erhitzen der Platte über einem gelinden Kohlenfeuer werden sodann die einzelnen Staubkörnchen erweicht und angeschmolzen.[8]        

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Das Bild z.B. Ladenstraße (Kollwitzstraße) entsteht aus mehreren Druckgängen. „OTTO BLEEK MECHANIKERMEISTER“ steht kaum noch entzifferbar durch den abblätternden Putz über einer niedrigen Tür auf dem Bild Großer Hauseingang (1983). Auf der teilweise beschädigten Tür sind Schriftzeichen in die Farbe eingeritzt, die sich gar nicht mehr entziffern lassen. Neben der Mechanikermeister-Tür lassen sich auf dem abblätternden Putz „Reparaturen von Foto und“ zusammenbringen. Es ist dieses Verhältnis von geritzten Linien und den stufigen Schattierungen der Aquatintaradierung, die die Faszination der Technik ausmachen. Meiser setzt sie in ihren „Berlinbildern“ meisterhaft ein. Otto Bleek wird es hier nicht mehr geben. Dass sich hinter der Tür noch eine Werkstatt befinden könnte, kann man sich nicht vorstellen. Doch durch die Einritzungen wird nicht nur der Name „Otto Bleek“ präsent. Es gibt dieses Spiel von An- und Abwesenheit, das Monika Meiser mit ihren Bildern vorführt. Wo „KARTOFFELN“ in der Kollwitzstraße steht, gibt es keine. Das „Musikhaus“ ist vermauert. Von der „SCHUHMACHERE“ fehlt nicht nur das I.

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Man könnte die Aquatinta-Bilder von Monika Meiser für pittoreske Erinnerungen an den Prenzlauer Berg halten, der durch Sanierung und Renovierung fast gänzlich verschwunden ist. Doch die Bilder entstanden aus einer eher melancholischen Faszination um 1983. Sie stellen Fragen nach den Werten und den Menschen, die da gelebt und gearbeitet haben. Und sie halten diese Fragen wach. Das Verschwundene ist verschwunden, aber als Bild existiert es fort.

Torsten Flüh

Zweimal Berlin
Blicke auf eine geteilte Stadt
bis 24. August 2019
Salongalerie »Die Möwe«
Auguststraße 50b
10119 Berlin


[1] Wolfgang Leber zitiert nach: Salongalerie »Die Möwe«: Zweimal Berlin – Blicke auf eine geteilte Stadt. Berlin 2019, S. 19.

[2] Evelyn Kuwertz zitiert nach: ebenda, S. 17.

[3] Matthias Koeppel: An der Niederkirchner Straße. Ebenda S. 14-15.

[4] Siehe auch Matthias Koeppel: Die Öffnung der Berliner Mauer. (Rede anläßlich der Übergabe des Triptychons an das Berliner Abgeordnetenhaus am 16. Januar 1997) (Auszüge)

[5] Ebenda.

[6] Stefan Friedemann: Berlinbilder – Radierungen aus den Achtziger Jahren. In: Monika Meiser: Berlinbilder. Radierungen 1982 – 1985. Berlin 2019, S. 3 (ohne Seitenzahl).

[7] Ebenda.

[8] Einführung in die Geschichte der Erfindungen: Bildungsgang und Bildungsmittel der Menschheit. Leipzig/Berlin: Spamer, 1872, S. 473.

Der Wahnsinn der Lokomotive

Wahnsinn – Lokomotive – Stummfilm

Der Wahnsinn der Lokomotive

Zur bevorstehenden Weltpremiere von Abel Gance‘ La Roue in der rekonstruierten Fassung auf dem Musikfest Berlin 2019

Am Samstag, den 14. September 2019, wird um 14:00 Uhr die Weltpremiere von La Roue im Konzerthaus am Gendarmenmarkt beginnen. Dann wird sich das technisch-industrielle der Lokomotiven ebenso wie mythische Rad, franz. la roue, in vier Teilen mit drei Pausen bis 23.00 Uhr drehen. Abel Gance brachte das Filmepos 1923 ins Kino. Die siebenstündige Fassung von La Roue wird vom Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter der Leitung von Frank Strobel mit der Original-Live-Musik von 56 zumeist französischen Komponisten mit Bruchstücken aus 117 Werken begleitet werden. NIGHT OUT @ BERLIN hat den Trailer zur Produktion bereits auf der Pressekonferenz für das Musikfest gesehen, mit der zuständigen Redakteurin bei ZDF/ARTE, Nina Goslar, gesprochen und in die Aufnahmen der Stummfilmmusik nach einem Arrangement von Arthur Honegger im Großen Sendesaal im Haus des Rundfunks hineingehört.

Ein Filmepos von sieben Stunden wird selbst in Paris 1923 nicht gerade massentauglich gewesen sein. Die Pariser Metro war bestimmt damals schon schneller als die S-Bahn in Berlin. Das Türschließsignal der Metro ist heute um einiges aggressiver und schneller als das der BVG-Züge. Paris hat eine höhere Taktung als Berlin. In Paris und Berlin fuhren die ersten Untergrundbahnen. Das Leben beschleunigte sich durch Lokomotiven und städtische Untergrundbahnen ungemein. Die Beschleunigung des Lebens ist paradoxerweise eines der Hauptthemen von La Roue. Die Räder der Lokomotiven werden in unterschiedlichen Geschwindigkeiten immer wieder zu Akteuren der Handlung. Signale, Drehscheiben für Lokomotiven, Schienenstränge, eine zur Unkenntlichkeit vorbeischießende Landschaft vor dem Abteilfenster… Schnitte und Schnittfolgen reißen das Publikum in einen Geschwindigkeitsrausch. Dazu Musik, Melodienfetzen, Maschinen-Musik. Abel Gance sah, was andere erst sehen lernen mussten.

Am 7. Juni 2010 wurde eine 303-minütige Fassung von La Roue im Salle Henri Langlois der Cinémathèque française in Paris gezeigt. Die durch weitere Funde und Rekonstruktionen zur Weltpremiere anstehende Fassung konnte auf ca. 420 Minuten verlängert werden. Die Pariser Premierenfassung war für 8,5 Stunden konzipiert und Arthur Honegger legte einige Überlegungen zu seinem Konzept für die Musik zur „siebente(n) Kunst“, in der Gazette des Sept Arts dar. Film und Musik werden von ihm insofern als eigenes Kunstkonzept mit „Musikalische(n) Adaptionen“ bedacht. Das Visuelle und das Auditive funktionieren für den Komponisten im Kino anders als im Konzertsaal oder auf der Opernbühne. Das hatte nicht zuletzt mit dem anderen Rad der sich ununterbrochen abspulenden Filmrollen zu tun. Arthur Honegger lehnt „Adaptierungen“ ab.

Die einzige zulässige Form ist die einer speziell für den ganzen Film hergestellten Komposition.[1]   

Die falsche Musik zum Stummfilm kann nach Arthur Honegger zur Sinnkollision von Visuellem und Auditivem führen. Das stellt den Komponisten vor besondere Herausforderungen. Wenn Arthur Honegger dafür ein fast schon witziges Beispiel anführt, dann gibt dieses einen Wink darauf, dass die großen Stummfilmorchester der 20er Jahre in Paris und vermutlich auch in Berlin zwar über ein reiches Repertoire von Musikschnipseln verfügten, sich aber auch in der Zuordnung zum maschinell abgespulten Film vergreifen konnten. Die Filmprojektoren warfen nicht nur etwas vorwärts, lat. proicere, sie mussten auch am Laufen gehalten werden. Und der Film durfte technisch wie sinnlich nicht reißen.

Nichts ist schockierender als sich zum Beispiel für einen Film, der fraglos mit einer ganz anderen Konzeption entworfen wurde, einer Sinfonie von Beethoven zu bedienen. Die „heroische Sinfonie“ Eroica in einem Kriminalfilm für eine Verfolgung im Auto zu verwenden, ist nicht einmal komisch und verwirrt das am wenigsten vertraute Publikum durch die unterschiedlichen Bedeutungen der Partitur und des Films. Für LA ROUE konnten mein Mitarbeiter Paul Fosse und ich keine Partitur mit einer Dauer von zehn Stunden und 11.000 Metern Film herstellen.[2]  

Das Musikwissen muss nach Arthur Honegger so eingesetzt werden, dass es zwischen Augen- und Ohrensinn nicht zur Kollision kommt. Der Ohrensinn darf nicht stören. Er muss auf die maschinelle Kunst der Filmproduktion abgestimmt werden. Wie lösten Arthur Honegger und Paul Fosse das Sinnproblem von La Roue? Die Schnitte und Schnittwechsel, die die filmische Erzählung ebenso generieren wie rhythmisieren, beschreibt Honegger eher diskret. Die Überschneidung von Technologie als Film, Lokomotive und Gleisnetz, die visuell eine große Rolle im Schnittrhythmus und Handlungsablauf spielt, erwähnt der Komponist nicht. Zu selbstverständlich spielt der Film im Milieu der Lokomotivarbeiter eine das Leben und Lebensläufe strukturierende Rolle. Das Schicksalsrad und die Lokomotivräder werden allerdings in den Zwischentiteln grafisch als Emblem inszeniert. Honegger setzt auf eine Strategie des Nichtwissens und der „Bekräftigung“, die sich selbst an der Grenze zur Maschine situiert.

Indem wir uns so weit wie möglich an das „wenig Bekannte“, gar das Anonyme hielten, haben wir nur moderne Werke mit hohem musikalischen Anspruch wie die von Florent Schmitt, Roger Ducasse, Darius Milhaud, Georges Sporck, Charles Marie Widor, Vincent d’Indy, Alfred Bruenau, Gabriel Fauré usw. ausgesucht. Wir bemühten uns um eine möglichst absolute Korrespondenz zwischen der einen Filmausschnitt bestimmenden Bedeutung und seiner rhythmisch-musikalischen Bekräftigung.[3]  

La Roue (Screenshot, T.F.)

Als Beispiel führt Honegger die Filmepos-Figur des Sisif Hersan (Séverin-Mars) an. Der durchaus charismatische Schauspieler Séverin-Mars war bereits am 17. Juli 1921 verstorben. Der Lokomotivführer bzw. „mécanicien-chef“ Sisif ist die Hauptfigur des Films im Eisenbahnmilieu des beginnenden 20. Jahrhunderts. Sisif – ein merkwürdiger Vorname. Die Eisenbahn ist quasi zum Langstrecken-Verkehrsmittel par excellence geworden. Seit den 1840er Jahren hat sie im weit verzweigten französischen und europäischen Schienennetz bis in den Orient an Attraktivität und Normalität gewonnen. Spekulationen mit Eisenbahnaktien haben wie schon im „Lustspiel“ Die Eisenbahn-Actien-Spekulanten von Gustav Bernhard sozialen Aufstieg ermöglicht und Kapital vernichtet, wovon auch Volker Hagedorn in seinem Roman Der Klang von Paris schreibt.

La Roue (Screenshot, T.F.)

Abel Gance dreht La Roue, als sich das Eisenbahnzeitalter bereits im technologischen Umbruch befindet. Die Dampfkessel der Lokomotiven werden noch mit Kohlen befeuert. Erste Konstruktionen mit dieselbetriebenen oder elektrischen Lokomotiven lassen zugleich eine Dämmerung der Dampflokomotive aufsteigen. Die Metro fuhr seit 1900 als elektrische Untergrundbahn. Das Zeitalter der Elektrizität hat begonnen. Das Verhältnis des Lokführers Sisif zur Lokomotive nimmt im Film wiederholt symbiotische Züge an. Seine „tragische Passion“ ist unauflösbar mit der fast antiquierten Lokomotive als Maschine im schicksalhaften Gleisnetz verwoben.

Wenn Sisif Hersan sein Leben und seine tragische Passion erzählt, bringt die Musik die Seelenlage von Sisif und nicht die verschiedenen Anekdoten seines Lebens, die er erwähnt, zum Ausdruck.[4]  

La Roue (Screenshot, T.F.)

Die im Internet verfügbaren Trailer und Ausschnitte sowie die Sequenz, die der Berichterstatter bei den Aufnahmen im Großen Sendesaal sehen konnte, inszenieren den „Ausdruck“ auf frappierende Weise durch die Lokomotive. Die „Seelenlage von Sisif“ zeigt sich nicht nur bis zur Ununterscheidbarkeit darin, wie er seine Lokomotive(n) „führt“ oder benutzt, vielmehr ermöglicht sie es „seine … Passion“ oder seinen Wahnsinn auszuleben. Wenn er keine Lokomotive hätte, könnte er mit der ziellosen Fahrt, die an einem Puffer enden wird, gar nicht seine Raserei ausleben. Die Geschwindigkeitserhöhung, die immer wieder wie von Geisterhand und gerade nicht durch die Befeuerung des Dampfkessels als Arbeit durch einen schnellen Schnittwechsel von Gleisen, Signalen, Sisif mit wehendem Haar und irren Blick in Nahaufnahme, unkenntlich vorbeihuschende Landschaft etc. von Abel Gance inszeniert wird, ist die Lokomotive als Schicksal. Und Honegger schreibt:

Ich fordere, dass das Prinzip synchron mit dem Film komponierter Partituren bald eine Notwendigkeit wird, die das Publikum in derselben Art erfährt, wie sie es für die Künstler sind, befördert durch die großen filmischen Verlagshäuser, die sich dessen noch nicht bewusst zu sein scheinen.[5]     

La Roue (Screenshot, T.F.)

Die Inventionen des Visuellen von Abel Gance sind beträchtlich. Wie sich bereits mit J’accuse (1919) beim Musikfest 2018 gezeigt hatte. Peter Schöller hatte eigens eine Live-Musik für das Rundfunk-Sinfonieorchester komponiert.[6] Für La Roue wird das Musikproblem mit Arthur Honegger gelöst. In einer Version der Eröffnungssequenz nutzt Gance die Überblendung bzw. Doppelbelichtung von Porträt und Dampfender Lokomotive, um die Symbiose von Sisif mit der Maschine als Imagination eines Lebens sichtbar zu machen.[7] Nina Goslar schlägt vor, dass La Roue mit einer „Familiensaga, die Motive des antiken Ödipus- und Sisyphos-Stoffes“ verarbeite, um sie „mit einer adäquaten Musik … für die Moderne zu adaptieren und das Kino zum Ort einer neuen universalen Kunstform werden zu lassen“.[8] Doch in dem großen Filmepos überschneiden sich offenbar mehrere Ebenen von Filmschaffen, Erzählung, Technologie, Familiensaga, Liebesgeschichte, Mythos und Schicksal. Das lässt sich zumindest mit der Widmung des Epos für seine verstorbene Frau lesen, die in einer Fassung der Erzählung im Prolog vorausgeschickt wird.

Je dédic ce film à la mémoire de ma chère jeune femme, née Jsa Danis, morte à vingt sept ans. Abel Gance (Ich widme diesen Film der Erinnerung an meine liebe junge Frau, geborene Jsa Danis, die mit 27 Jahren gestorben ist.)

La Roue (Screenshot, T.F.)

Die handschriftliche Widmung ist insofern verstörend, als Abel Gance seit 7. November 1921 wohl mit Marguerite Danis in zweiter Ehe verheiratet war, diese allerdings erst 1986 in hohem Alter verstarb. Eine bedenkenswerte Überschneidung von Filmarbeit mit der Kamera und Widmung wird damit, sagen wir, in den Lokomotivfilm hineingeschmuggelt. Sie lässt sich nicht befriedigend auflösen. Sie existiert dank der Filmkunst und ihrer Technologie. War Isa eine Schwester von Marguerite? Eine Art Zwischenehe? Wir wissen es nicht. Gleichwohl wird der Film mit der Widmung wie eine solche in der Literatur zu einem Gedächtnis. Doch es ist eben auch die Filmkunst, die in einem Feld der Kunst ein Gedenken wirklich werden lässt. Eine Eisenbahnkatastrophe spielt in La Roue filmisch wie narrativ eine entscheidende Rolle. Junge Frauen geraten einzeln oder in Gruppen während der Katastrophe vor die Kamera. Schon in J’accuse mit Dokumentaraufnahmen aus Kämpfen des 1. Weltkriegs war eine bedenkenswerte Überschneidung von Fiktionen bei Abel Gance entstanden.

La Roue (Screenshot, T.F.)

Wir wissen nicht, wie die Widmung in den Film hineingeraten ist. Doch Abel Gance‘ Filmarbeit, für die er häufig als Produzent, Regisseur, Kameramann und Schauspieler tätig wird, legt eine erstaunliche Nähe von Film als Medientechnologie und Selbstfiktion nahe. Die ausdauernden und wiederholten Einstellungen mit der Aufsicht auf die Gleise und Weichen während Fahrt gehören zu Abel Gance erstaunlichen Bildinventionen. Die, wenn man so will, antiken Schicksals- und Erzählstränge von Ödipus und Sophokles erscheinen als Schienennetz. Er rückt immer wieder ins Bild, was die Reisenden und selbst der Lokführer so nicht sehen, nicht sehen können. Später, 1927, wird man in der Eröffnung von Walter Ruttmanns Berlin – Die Sinfonie einer Großstadt ähnliche Einstellungen finden. Ruttmann dreht und schneidet seinen Film als Komposition. Die „Großstadt“ wird ebenso zur „Sinfonie“ wie zur Bildmaschine. Die Stadt erzählt sich selbst.[9] 1928 wird Kurt Weill den Berlin im Licht-Song komponieren.

La Roue (Screenshot, T.F.)

La Roue/Das Rad ist offenbar auch von der Cinémathèque française oder France Culture lange etwas nachlässig behandelt worden. Vielleicht ist die narrative Großform des Epos 1923 auch eine, die sich fast überholt hat. Sie passt nicht mehr in die Lebenspraxis der Zeit. Doch das Prinzip der Komposition durch Montage findet sich im Visuellen wie im Auditiven. Während eine Beethoven-Sinfonie einen programmatischen Sinn z.B. des Heroischen oder des Pastoralen generiert, lässt sich dieser im industriellen und kapitalistischen Gleisnetz des Lokomotivzeitalters kaum noch finden. Die Arbeit des Sisyphos ist wie die des Lokomotivführers Sisif Hersan auch eine vergebliche. Führt er die Lokomotive? Oder führt und verführt ihn die große Maschine aus Gleisnetz und Lokomotive? Vielleicht erinnert Sisif in seinem Wahn deshalb so sehr an den Mythos von der vergeblichen Arbeit als Strafe.

Torsten Flüh

Weltpremiere
La Roue
Musikfest Berlin 2019
Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin
14. September 2019, 14:00 bis 23:00 Uhr
Konzerthaus Berlin

TV Premiere auf ARTE
am 28. Oktober und 4. November 2019  


[1] Arthur Honegger: Musikalische Adaptionen. In: Gazette des Sept Arts Februar 1923, S. 4-5. (Zitiert nach Pressemitteilung Musikfest Berlin 2019.

[2] Ebenda.

[3] Ebenda.

[4] Ebenda.

[5] Ebedna.

[6] Siehe Torsten Flüh: Flash des Krieges in Trauma-Bildern und -Musik. Zur neuen Musik und den alten Bildern von Abel Gance‘ Meisterwerk J‘accuse beim Musikfest. In: NIGHT OUT @ BERLIN September 20, 2018 23:39.

[7] Siehe La Roue CD1 (YouTube).

[8] Pressemitteilung … [wie Anm. 1].

[9] Vgl. für Ruttmann auch: Torsten Flüh: Unerhört großstädtisch. HK Grubers Großstadt-Konzert als Philharmonie »Late Night«. In: NIGHT OUT @ BERLIN Januar 23, 2012 18:45.

Eine Kunst des Eigentums – Zur Mosse-Lecture von Maria Eichhorn und Sabeth Buchmann

Institution – Aktiengesellschaft – Restitution

Eine Kunst des Eigentums

Zur Mosse-Lecture von Maria Eichhorn und Sabeth Buchmann

Maria Eichhorn und Sabeth Buchmann hielten ihre Mosse-Lecture gemeinsam zum Thema: Gemeinschaftliche Kunstpraktiken im öffentlichen Raum: Das >Rose Valland Institut< und andere Projekte. Damit rückten sie vor allem Praktiken in der Kunst, in Eigentumsfragen und Kunstinstitutionen wie Museen und Bibliotheken ins Interesse. Die Künstlerin Maria Eichhorn hat 2017 insbesondere mit ihrem Projekt Rose Valland Institut während der documenta 14 auf die Arbeit mit Bürger*innen aus Kassel und Umgebung gesetzt. Sie suchte und sucht mit einem „Open Call“ nach „Verwaistem Eigentum in Europa“ und macht damit auf „Unrechtmäßige Besitzverhältnisse in Deutschland“ aufmerksam. Dafür ist sie auf Mitarbeit aus der Bevölkerung und von Institutionen wie der Zentral- und Landesbibliothek Berlin angewiesen.

Auf dem Plakat der Mosse-Lectures für das Sommersemester 2019 ist Maria Eichhorns Installation von Büchern auf einem weißen Regal fast in Raumhöhe für die documenta 14 zu sehen. Das Regal ist in der Proportion zur Höhe ziemlich schmal. Im Vergleich mit relativ niedrigen, aber langen Regalreihen in Bibliotheken, wenn man an das Suchen nach Büchern in ihnen gewöhnt ist, wirkt es dysfunktional. Auf den Buchrücken kleben kleine, gelbe Zettel mit Signaturen wie „Cg 1555“, damit die Buchtitel zu finden sind. Wahrscheinlich müsste man feststellen, dass die Bücher nicht nach den Signaturen geordnet sind. Die Bücher stammen den Signaturaufklebern nach aus einer öffentlichen Bibliothek. Das Einzelregal in der Mitte eines Ausstellungsraums stellt die Bücher mit den Signaturen aus, indem sie aus der Bibliothekspraxis isoliert werden. Doch die Präsentation ist nicht nur ästhetisch. Sie ist zugleich politisch.

Elisabeth Wagner (Mosse-Lechtures) erinnerte in ihrer Einführung an die Kunstsammlung Rudolf Mosse, die im neobarocken Palais des Zeitungsverlegers am Leipziger Platz 15 beheimatet war. Sie wurde durch das „Kunst-Auctions-Haus“ Rudolf Lepke aus der nahen Potsdamer Straße 122 in der „Galerie Mosse“ am 29. und 30. Mai 1934 auf Zwang versteigert.[1] Der Katalog mit 325 Losnummern zeigte auf dem Einband die zweistöckige, imposante Fassade des Palais‘. An der Freien Universität forscht die Mosse Art Research Initiative (MARI) nach dem Verbleib der Kunstsammlung und Restitutionsansprüchen. Vom 6. bis 9. Juni findet im Deutschen Historischen Museum die Konferenz Mosses Europa – Neue Perspektiven in der Geschichte der deutschen Juden, des Faschismus und der Sexualität zum 100. Geburtstag des Historikers und Enkels George L. Mosse (1918-1999) statt. Rudolf Mosse war bereits 1920 verstorben. Seine Nachfahren mussten emigrieren.

Maria Einhorns ästhetisch-politische Installation erhält durch eine Reihe von Dokumenten wie dem „Zugangsbuch J“ zur Kunstausstellung documenta eine zusätzliche Rahmung. Das „J“ steht für Juden. Die Bücher stammen aus jüdischen Privatbibliotheken und gelangten 1943 als „kostenlose Übergabe von ca. 40.000 Büchern“ in den Besitz der Berliner Stadtbibliothek.[2] Die fast unvorstellbar große Zahl von 40.000 Büchern korreliert auf einmal mit der dysfunktionalen Höhe des Regals. Doch nicht diese, sondern immerhin noch „1.920 Buchtitel“ wurden nach 1945 in das „Zugangsbuch J“ eingetragen. Sie wurden insofern durch die Zentral- und Landesbibliothek als „NS-Raubgut“ kenntlich gemacht, um zugleich als „Geschenk“ legalisiert zu werden. Das Regal und seine Präsentation situieren sich insofern an der Schnittstelle von Kunst als ästhetisches Projekt, Provenienzforschung, Institutionskritik, Restitutionswunsch wie Restitution als Praxis.

Die im Regal präsentierten Bücher sind allesamt im Zugangsbuch J registriert. Auf eingelegten weißen und grauen Zetteln ist die Zugangsnummer und meist auch die Signatur vermerkt. Die orangenen Zettel markieren diejenigen Bücher, die offensichtliche persönliche Provenienzmerkmale aufweisen.
Zwei Fallbeispiele — Bücher aus dem Besitz von Ludwig Simon und Gertrude Wütow — veranschaulichen die Suche der Zentral- und Landesbibliothek Berlin nach Erb_innen.[3]

Kunstpraxis und Ästhetik sowie Kunsthandel und Praxis der „NS-Raubgut“ stehen für Maria Eichhorn in einem interdisziplinären Kontext. Wie das verbrecherisch erlangte, jüdische Eigentum erworben worden ist, steht mit seiner Präsentation als Installation im Kunstmuseum in einem Kontext. Der unüberschaubaren Masse von 40.000 Büchern und selbst noch die große Zahl der fast zweitausend Buchtitel wird das einzelne Buch gegenübergestellt. Die mikrologische Arbeit bricht die große Zahl als Einzelschicksal und Einzeltat auf. Sie wird ästhetisch präsentiert als „Zugangsbuch J“ und zwei einzelne aufgeschlagene Bücher mit „Widmungen“ oder, eher noch treffender, Zueignungen.    

Gertrude Hirschweh, geb. Wütow
Das Buch William Wordsworth, The Poetical Works of Wordsworth (London [u.a.]: Warne, 1891), ist im Zugangsbuch J unter der Nummer 1261 eingetragen. Es wurde unter der Signatur Cq 1555 in den Bestand der Berliner Stadtbibliothek eingearbeitet. Auf dem Titelblatt findet sich eine Widmung: „Gertrude Wütow from her loving Friends Emily, Edith & [Harry R…] November 1892“.
Das Buch war Teil des Ankaufs aus der Pfandleihanstalt. Außer der Widmung sind im Buch nur Merkmale zu finden, die auf die Berliner Stadtbibliothek und die Zentral- und Landesbibliothek Berlin zurückführbar sind (Signatur, Stempel, Zugangsnummer, „Nicht entleihbar“-Etikett, etc.).[4]

Es ist für die Kunst von Maria Eichhorn wichtig, das Ästhetische über die Interdisziplinarität nicht aus den Augen zu verlieren. Denn in der ästhetischen Präsentation von Masse und Einzelheit wird sichtbar, was mit der großen Zahl und der Institution Zentral- und Landesbibliothek Berlin zum Verschwinden gebracht wurde. Die systematische, rassistische, staatlich sanktionierte Aneignung von Eigentum aus jüdischem Vermögen hat wie im Fall von Artur Lauinger oft widersinnige und verheerende Folgen gehabt. Geradezu euphemistisch „Liquidation jüdischen Vermögens“ genannt, handelte es sich um eines der größten Staatsverbrechen des 20. Jahrhunderts, um das „deutsche Volk“ zu Mittätern zu machen. Wolfgang Lauinger (1918-2017) wurde gleich auf mehrfache Weise in das Verbrechen verstrickt.[5] Soweit die Käufer*innen auf Auktionen nicht selbst wissen wollten, woher die günstigen Bücher, Gemälde, Kunst- und Haushaltsgegenstände stammten, wurden sie wenigstens zu Mittäter*innen gemacht.

Die Identität von Gertrude Wütow ist nicht eindeutig geklärt. Vermutlich handelt es sich um Gertrude Hirschweh geb. Wütow, geboren am 26. März 1874 in Berlin. Dafür spricht, dass das Buch aus einer Berliner Wohnung geraubt wurde und sowohl der Name Gertrude Wütow als auch der Name Gertrude Hirschweh in den gängigen Quellen (in Adressbüchern, in einem Gedenkbuch und in der Gedenkstätte Yad Vashem) nicht nur mehrmals vorkommt, sondern sich immer auf dieselbe Person bezieht.
Gertrude Wütow heiratete am 9. September 1895 den Apothekenbesitzer Hermann Hirschweh (geboren am 16. Juni 1865 in Jedwabno, Ostpreußen). Gertrude und Hermann Hirschweh hatten eine am 11. Juni 1896 geborene Tochter, Hertha Johanna, und vermutlich mindestens ein weiteres Kind, Dorothea Hirschweh Beerman. Gertrude Hirschweh wurde am 13. Januar 1942 ins Ghetto von Riga deportiert; zu ihrem weiteren Schicksal konnten bislang keine Informationen gefunden werden. Auch mögliche Erb_innen konnten bislang nicht ausfindig gemacht werden. [Stand Juni 2017][6]

Die Installation und der „Aufruf“ führten im Dezember 2017 tatsächlich zur Restitution des Buches durch die Zentral- und Landesbibliothek Berlin. Weitere Beispiele konnten mit dem „Open Call“ vom 15. Juni 2017 eingeleitet und realisiert werden. Denn Maria Eichhorn und ihr Rose Valland Institut hatten dazu aufgerufen, „aktiv an der Aufklärung andauernden Unrechts und am Auffinden und Aufdecken der unrechtlichen Besitzverhältnisse mitzuwirken“.[7] Benannt ist das Institut nach der Kunsthistorikerin Rose Valland, „die während der deutschen Besatzungszeit in Paris die Plünderungen der Deutschen in geheim gehaltenen Listen aufzeichnete“. Das Ausmaß der Plünderungen und „Liquidationen“ wird landläufig unterschätzt, während Vererbungsprozesse seit über 70 Jahren häufig die Spuren des „Familienerbes“ verwischt und durch Vergessen legalisiert haben. Doch Restitution ist möglich und notwendig.

Fritz Hirschweh konnte 1938 mit seiner Frau Regina und ihrem einjährigen Sohn Hermann Michael in die USA fliehen. Er verstarb kurz nach der Ankunft im Dezember des gleichen Jahres im Alter von nur 37 Jahren in New York.
Die restituierten Bände stammen aus dem Ankauf 1943, bei dem die BStB ~40.000 Bücher aus den letzten Wohnungen der deportierten Berliner Jüdinnen und Juden von der Berliner Pfandleihanstalt bezog.
Unterstützung bei dieser Rückgabe erhielt die ZLB dankenswerterweise vom Rose Valland Institut in Kassel.[8]

Maria Eichhorn hinterfragt mit ihrer Kunst Eigentum und Eigentumsverhältnisse. So hat sie auf der documenta 11 (2002) eine Aktiengesellschaft gegründet, die sich selbst gehört. Ist das Kunst? Kann Aktienrecht zu Kunst werden? Laut der Handelsregister Karte des Amtsgerichts Charlottenburg besteht der Zweck der „Maria Eichhorn Aktiengesellschaft“ in der „Verwaltung und Erhaltung des eigenen Vermögens, das die Gesellschaft in Form von Einlagen bei ihrer Gründung erhalten hat, unverändert bleiben“.[9] Damit erlaubt das Aktienrecht als Kapitalgesellschaft zur Akkumulation von Vermögen offenbar eine paradoxe Unveränderbarkeit als Zweck, obwohl in Zeiten des Hochfrequenzhandels auf den weitgehend automatisierten und d.h. von den Algorithmen Künstlicher Intelligenz gesteuerten Aktienmärkten der Welt diese auf Gewinnmaximierung programmiert sind.

Wie mit dem Rose Valland Institut so verwendete die Künstlerin mit der Aktiengesellschaft eine große Sorgfalt darauf, der durch Notar, Gründungsurkunde, Satzung, Niederschrift für die erste Sitzung des Aussichtsrats, Handelsregisterakte, Öffentliche Bekanntmachung der Registereintragung etc. hoch institutionalisierten Gründungspraxis einer AG zu entsprechen. Zur Sicherheit der Kapitalabwicklung ist die Gründung einer AG vom Staat besonders stark mit Notar und Handelsgericht am zuständigen Amtsgericht institutionalisiert. Bekanntlich dient die Ausgabe von Aktien dem Kapitalerwerb am freien Markt. Doch Maria Eichhorn hinterfragt derartige Mechanismen, wenn sie als Konkretisierung des Zwecks formulieren lässt, dass „(d)as Vermögen … weder in die gesamtwirtschaftliche Geldzirkulation und Kapitalakkumulation einfließen noch zur Mehrwertschöpfung verwendet werden“ soll.[10]

Sabeth Buchmann sprach in ihrem Teil von der interdisziplinären Institutionskritik, die Maria Eichhorn mit ihren Arbeiten und Praktiken betreibe. Sie nennt ihre Arbeiten ein „topologisches Gewebe“. Denn es ist nicht nur ein Gewebe aus Ausstellungen, Installationen an gleich zwei Orten, Athen und Kassel, während der documenta 14, vielmehr entfaltet sich das Gewebe durch Links und Newsletter ebenso im Internet qua algorithmischen Suchmaschinen. Die „Maria Eichhorn Aktiengesellschaft“ wird mittlerweile mit allen Dokumenten auf der Website der Karlsruher Kanzlei Rechtsanwalt Adam E. Junker im Segment „Aktienrecht und Kunst“ vorgehalten und präsentiert.[11] Das Rose Valland Institut hat seit Oktober 2018 seinen Sitz am Käte Hamburger Kolleg „Recht und Kultur“ der Universität Bonn, womit die Institutionskritik eine akademische Institutionalisierung erfahren hat.

Wertet Maria Eichhorn mit ihrem AG-Kunstprojekt die Institution auf? Und widerspricht die Institutionalisierung des Rose Vallon Instituts über die einmalige Präsentation hinaus auf der documenta 14 nicht einer grundsätzlichen Kritik an Institutionen? Seit 2005, als Sabeth Buchmann bereits Maria Eichhorn zur „zweite(n) Generation institutionskritischer KünstlerInnen“ zählte, befasst sie sich mit „dem Verdacht, Institutionen bzw. institutionsförmige Unternehmen im Sinne neoliberaler Dienstleistungsökonomien affirmiert und aufgewertet zu haben“.[12] Vielleicht lässt sich die Problematik mit dem Fachanwalt für Aktienrecht, der das „Aktienrecht“ mit der „Kunst“ nicht zuletzt aufpeppt, zuspitzen. Die kritisierte Institution der Aktiengesellschaft wird dadurch nur umso interessanter und soll durchaus Mandanten zum Aktienrecht anlocken. Doch Buchmann verweist vor allem auf die „institutionskritische Praxis“, die die Gründung einer Aktiengesellschaft für sich selbst oder auch nichts durch Eichhorn hervortreten ließ.

Die Öffnung institutionskritischer Praxis für eine Analyse und Transparenz einer unvermeidlichen und zweifelsohne von KünstlerInnen begehrten (Selbst-)Institutionalisierung lässt erst jene Strukturen und Mechanismen zu Tage treten, die einer zu allererst ästhetischen Wahrnehmung von Kunstobjekten nicht zugänglich sind.[13]

Der Bildanteil, um es einmal so zu nennen, reduziert sich auf den Bundesadler und Siegel der Urkunden als Schriftstücke. Das Projekt entfaltet sich durch die Bildlichkeit von Dokumenten bzw. Urkunden, so gut wie nur Text enthalten, der wiederum nur streng formalisierte Rechtsschritte ausführt. Im Projekt Rose Vallant Institut gibt es einen höheren Bildanteil durch die Praxis der Installation, die wiederum von Maria Eichhorn fotografiert worden ist. Doch auch hier wird ein „Versteigerungsprotokoll“ zum Bild. Die Institutionskritik situiert sich nicht nur ästhetisch an der Schnittstelle von Bild und Text. Vielmehr kann ein Schriftstück, ein Text z.B. durch Stempel, Siegel und Urkundenband in Schwarz-Rot-Gold in ein Bild des Rechts und der Rechtmäßigkeit umspringen. Oder ein Bild springt in einen beunruhigenden Text um, weil sich mit einem Mal eine ganze Textur über das Bild oder eine „Kristallschale“ legt, so dass es wie Fall des Lehrers im Ruhestand, Klaus Kirdorf, zurückgegeben wird. Das Wissen um die Herkunft der schönen Schale wurde dem ehemaligen Lehrer unerträglich, wie die Süddeutsche Zeitung von dem falschen Erbe berichtete.

Sabeth Buchmann schlug für die erste Generation der Institutionskritik einen Bogen zum Manet-Projekt des „Konzeptkünstlers Hans Haake“ von 1974 im Kölner Wallraf-Richartz-Museum. Haake wollte deutlich machen, dass das Gemälde Spargelbündel von Édouard Manet mit Hilfe der deutschen Wirtschaftselite, die von der „Arisierung jüdischen Eigentums“ massiv profitiert hatte wie Hermann Josef Abs, das Bild aus jüdischem Besitz für das Museum erworben hatte, um eine Sammlungslücke der Impressionisten zu schließen. Haakes institutionskritische Provenienz-Dokumentation wurde mit dem Hinweis auf „Sicherheitsbedenken“ verhindert.[14] Hermann Josef Abs, der erst 1994 im Alter von 92 Jahren verstarb, hatte nicht zuletzt als Vorstand der Deutschen Bank die „Arisierung“ jüdischen Eigentums organisiert und sich dadurch bereichert. Als Kuratoriumsvorsitzender des Museums zeigte Abs ein vitales Interesse daran, die politischen Verflechtungen des Bildes zu verhindern.

Die Verstrickung deutscher Kunstinstitutionen in eine heillose Erinnerungskultur hat nach Buchmann auch Aleida Assmann zum Thema gemacht. Nicht allein Hans Haakes Manifest „Kunst bleibt Politik“ gibt einen Wink auf das Politische der Kunst, wie es quasi auf der anderen Seite mit dem bildgewordenen Antisemitismus Emil Noldes erst jetzt im Hamburger Bahnhof schmerzhaft sichtbar wird.[15] Vielmehr geht es um eine Erinnerungskultur, die systematisch und institutionell verhindert worden ist. Deshalb lässt sich Maria Eichhorns „Open Call“ mit dem Rose Valland Institut nicht einfach als „neoliberal“ abtun. Das erinnerte Eigentum sollte vielmehr in vielen Fällen genau bedacht und zur Erforschung bereitgestellt werden.   

Folgende Fragen können hierbei für die Provenienzforschung von Relevanz sein:
– Aufgrund welcher Erinnerungen, Hinweise, Kenntnisse, Erzählungen, Überlieferungen, Dokumente wie Fotografien oder Briefe oder anderer schriftlicher und mündlicher Zeugnisse wurde der betreffende Gegenstand als NS-Raubgut identifiziert?
– Welche Dokumente, Unterlagen und andere Beweismittel unterstützen den Verdacht beziehungsweise die Vermutung?
– Wer ist im Besitz solcher Unterlagen und Zeugnisse beziehungsweise wo befinden sich diese?
– Sind Sie bereit, Ihre Kenntnisse und Informationen zu veröffentlichen?
– Haben Sie sich bemüht, Berechtigte zu finden? Konnten Sie berechtigte Eigentümer_innen oder Erb_innen ausfindig machen? Falls Sie sich bemüht haben, wie sind Sie dabei vorgegangen?
– Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu dem betreffenden Gegenstand beschreiben?
– Kennen Sie die historischen Zusammenhänge und Hintergründe, die dazu geführt haben, dass der Gegenstand heute in Ihrem Besitz ist?
– Sehen Sie das Objekt / den Gegenstand als Zeugen dieser Zusammenhänge?
– Sind Sie bereit, diese Zeugenhaftigkeit in einen öffentlichen Diskurs zu geben?[16]

Institutionen verwalten nicht nur Erinnerungen in Form von Museen, Archiven, Instituten an Universitäten oder anderen Einrichtungen, sie formen und bestimmen diese auch, wie sich nicht zuletzt mit der notwendigen Aufarbeitung der ethnologischen Bestände in der Ausstellung UNVERGLEICHLICH mit afrikanischer Kunst im Bode-Museum zeigt, die bis zum 24.11.2019 verlängert worden ist. Die Erinnerung wurde in den afrikanischen Herkunftsregionen gleichsam ausgelöscht. Doch es kommt heute mit dem Internet und dem Medium Blog zugleich eine durchlässigere Institutionalisierung zum Zuge. Weil es sich um einen sensiblen Bereich der Erinnerung und des Eigentums handelt, verzichtet Maria Eichhorn in ihrem internetbasierten Institut auch auf einen Blog.

Torsten Flüh  

Nächste Mosse-Lecture:
Juliane Rebentisch
Ausstellung des Politischen in der Kunst
Donnerstag 13. Juni 2019, 19 Uhr c.t.
Senatssaal, Unter den Linden 6.    


[1] Vgl. Michael Bienert, Elke Linda Buchholz: Die Kunstsammlung Rudolf Mosse. In: Elisabeth Wagner (Hg.): Mosse Almanach 2017. Berlin: Vorwerk 8, 2017, S. 170-190.

[2] Siehe Eva Eichhorn: Rose Valland Institut: Bücher: Zugangsbuch J. (Rose Valland Institut)

[3] Ebenda.

[4] Ebenda.

[5] Vgl. Torsten Flüh: Fatale Selbstversicherung. Zu Lauingers – Eine Familiengeschichte aus Deutschland von Bettina Leder. In: NIGHT OUT @ BERLIN April 23, 2015 19:27.

[6] Eva Eichhorn: Rose … [wie Anm. 2]

[7] Ebenda Aufruf.

[8] Zentral- und Landesbibliothek Berlin: Provenienzforschung: Gertrude Hirschweh.

[9] Rechtanwalt Adam E. Junker: Dokumente: Gründungsurkunde.

[10] Ebenda: Handelsregisterakte.

[11] Ebenda: Maria Eichhorn AG.

[12] Sabeth Buchmann: Kritik der Institutionen und/oder Institutionskritik? (Neu-)Betrachtung eines historischen Dilemmas. In: IG Bildende Kunst: Bildpunkt: Orte der Kritik 2006.

[13] Ebenda.

[14] Vgl. Friederike Biebl: Das Museum und seine privaten Förderer (1). Die Zurückweisung eines Ausstellungsbeitrags von Hans Haacke 1974. In: Hypotheses. Veröffentlicht am 13.03.2017.

[15] Siehe Torsten Flüh: Der Künstler als Legende. Zu den Ausstellungen Bruce Sargeant in The Ballery und Emil Nolde – Eine deutsche Legende im Hamburger Bahnhof. In: NIGHT OUT @ BERLIN. Veröffentlicht am 20. April 2019.

[16] Maria Eichhorn: Rose … [wie Anm. 2] Open Call.

Sicherheit zwischen Regulierung und Singularitäten – Zur Künstlichen Intelligenz als Problem und Chance der Sicherheit

Singularität – Debatte – Sicherheit

Sicherheit zwischen Regulierung und Singularitäten

Zur Künstlichen Intelligenz als Problem und Chance der Sicherheit auf der Cyber Security Conference des Aspen Institute

Das Cyber Security Forum im Mai in der Landesvertretung Baden-Württemberg befasste sich mit den Fragen der Sicherheit im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz. Dabei war zunächst in dem von Tyson Parker (Aspen Institute Germany) zusammengestellten Programm zu beobachten, dass die KI bzw. AI weniger ins Begriffsfeld gerückt wurde, als die der Cybersecurity, Cyber, Internet und Security. „How AI is Changing the Cyber Landscape“, war lediglich ein Vortragstitel, der die Künstliche Intelligenz explizit ansprach. Worin unterscheidet sich AI von Cyber? Der elastische Gebrauch der Begriffe KI und Cyber, der zu Überschneidungen, Kollisionen und Fachwissen führt, wurde damit insbesondere auf die Sicherheit bezogen. KI, Cyber und Internet werfen neuartige Sicherheitsfragen auf.

Superman in der Wand, Notausgangsschild als Sicherheitshinweis.

Wie lässt sich Sicherheit durch Künstliche Intelligenz generieren? Sir Julian King war der höchstrangige Redner der Konferenz und steuerte die Keynote bei. Denn er ist seit 2016 der erste European Commissioner for the Security Union überhaupt. Jean-Claude Juncker hat den Kommissar-Posten 2016 neu geschaffen. Sir Julian King machte zuvor seine Karriere als hochrangiger Diplomat im britischen Außenministerium. Zu seinen Aufgabenfeldern gehören „Reinforcing the capacity to protect critical infrastructures and soft targets“ und „Fighting cybercrime through enhanced cybersecurity and digital intelligence“ also die Verteidigung kritischer Infrastrukturen wie von „weichen Zielen“ und die Bekämpfung von Cyberkriminalität durch verbesserte Cybersicherheit und digitale Intelligenz. Am 16. Mai 2019 wies Sir Julian King vor allem daraufhin, dass er und sein Team für die Stärkung der Sicherheit bei Wahlen gearbeitet hätten.

Nach den Wahlen zum Europäischen Parlament ist seit letztem Sonntagabend keine Debatte über Sicherheitsprobleme wohl aber eine über den YouTuber Rezo entbrannt. Man kann das auch einmal so formulieren, die Wahlen waren vor digitalen Angriffen besser geschützt als gedacht und anders als in den USA 2016 ließen sich gar Desinformationskampagnen im Internet, wenn nicht verhindern, so doch einhegen. Stattdessen straft Annegret Kramp-Karrenbauer einen höchst erfolgreichen YouTuber ab, weil sie nicht den Unterschied von Desinformation und jugendlichem Engagement wahrnehmen kann. Das Sicherheitsproblem der Desinformation verkehrt sich erstaunlicher Weise recht plötzlich in ein generationelles Debattenproblem. Es lohnt sich Sir Julian Kings Sicherheitsstatement auch für die Bundesvorsitzende der CDU noch einmal ausführlich zu zitieren:

We have undertaken efforts to combat the growing and evolving array of cyber and cyber-enabled threats, by putting in place a new EU cybersecurity strategy in order to build our resilience, strengthen our deterrence and support Member States in cyber defence; and then by working to strengthen election security and tackle disinformation online, including by working with Member States and the big internet platforms…

To paraphrase Abraham Lincoln, we believe in the ballot, not the bullet, whether physical or virtual. Let’s root our cooperation on that.[1]

AKKs Kugel zielte am YouTuber als Sicherheitsproblem vorbei auf die Schwierigkeiten einer hochformalisierten Debatte, wie sie nicht zuletzt mit dem Projekt Debatterie! von Claudia Reiche und Andrea Sick am thealit FRAUEN.KULTUR.LABOR. vom Oktober 2016 bis zum April 2017 erforscht und „bespielt“ worden ist. Die Darstellungsform der politischen Meinung eines jungen Mannes mit blauen Haaren mag AKK nicht behagen. Desinformation in Form von Chatbots auf Facebook ist sie trotzdem und gerade nicht. Selbst dann nicht, wenn bei den 13.950.358 Aufrufen von „Die Zerstörung der CDU“ einige Millionen Aufrufe aus St. Petersburg gekommen sein sollten.[2] Rezo benutzt eine Darstellungsform zwischen Punk und einst Tante Emma im Milchladen. Es geht sprachlich eigentlich eher satireartig zu: „Ja, es ist wieder Zeit für so ein Video. Heute sehn wir uns die CDU an. Auch ein bisschen die SPD und ein bisschen die AfD, aber primär die CDU“. Das Ganze wird durch eine zumindest aktiv zu nennende Körpersprache pointiert. AKK hätte vorher eher im thealit nachlesen oder nachfragen können.

Debatten werden geführt. Werden sie geführt, werden sie auch aufgeführt. Was aber heißt es, sie nicht nur auszuführen, zu handeln, sondern auch aufzuführen? In der Debatte wird in besonderer Weise eine Gleichzeitigkeit von Ausführen und Aufführen erlebbar. Ein Zwischenraum wird geschaffen, den es zu bespielen gilt.[3]   

Indem AKK den Moment des Aufführens übersieht, verfehlt sie auch die Grenze zwischen Chatbot und dem YouTuber Rezo ja lol ey mit blauem Haar als, Alleinstellungsmerkmal. Während Rezo mit den Zunamen „ja lol ey“ sich durchaus als Satiriker kenntlich macht, wird ein Chatbot stets darauf programmiert sein, besonders glaubwürdige Kommentare zu hinterlassen. Die Künstliche Intelligenz als Chatbot zur Verbreitung von Desinformation wurde als Gegenstrategie schon im Wahlkampf zur Bundestagswahl 2017 durch den Einsatz zur Information über die Parteiprogramme genutzt, worüber nur wenig berichtet wurde. Fragen zum Parteiprogramm in einer bestimmten Formalisierung können von Chatbots beantwortet werden. Man könnte auch sagen: Desinformation lässt sich durchaus mit Information und Transparenz bekämpfen.

Frances G. Burwell spricht mit Sir Julian King.

Der bekannteste Chatbot ist wohl Alexa, mit der man sich 2017 über die FDP und Christian Lindner „unterhalten“ konnte.[4] Spracherkennung und Textbausteine führen dann zu einer fast natürlichen Unterhaltung, die wenigstens weitere mediale Präsenz erzeugte. Wir wissen nicht, ob sich überhaupt eine nennenswerte Anzahl von Wähler*innen, also Menschen mit Alexa über die FDP unterhalten haben. Das wird ein Geheimnis der Programmierer von Amazon und der FDP bleiben. Zumindest wurde eine ähnliche Kampagne im EU-Wahlkampf nicht gestartet. Es scheint allerdings fast ausgeschlossen, dass AfD-Wähler*innen sich mit Alexa, Cortana oder Siri über die AfD „unterhalten“. Auch Uwe Tellkamp und sein Freund*innenkreis in der Buchhandlung Kulturhaus Loschwitz werden sich kaum über „den Osten“ und die „Alpen-Prawda“ mit Alexa, Cortana oder Siri unterhalten. Sie bevorzugen lieber ein Milieu der Sprachanweisungen, wie Ijoma Mangold in der ZEIT berichtet.[5] Der Gesprächspartner soll bloßgestellt werden, wenn er nicht der gleichen Meinung ist.

Es zeichnen sich insofern zwei Verschiebungen der Debatte nicht nur in der, vielmehr noch über die Demokratie ab. Einerseits wird die Demokratie durch konkrete Cyberkriminalität in Form von Attacken, Schadsoftware und Chatbots gefährdet, andererseits koppeln sich ganze Milieus, um nicht zu sagen, Wohlstandsmilieus wie in Loschwitz bei Dresden von einer Debatte ab, indem sie sich jenseits einer Debatte verorten und dies online verbreiten. Claudia Reiche und Andrea Sick haben nicht zuletzt eine Gamifizierung der Demokratie mit ihrer Debatterie! beobachtet.

Die einstige höfliche Frage, die nach der telefonischen Kontaktschaltung zu hören war: „Mit wem spreche ich?“, ist dem unausgesprochenen Verdacht gewichen, nur noch in einer unbestimmbaren Minderzahl der Fälle „verifizierbaren“ Gegenübern in den weiter so genannten sozialen Medien zu begegnen: „in/accessible to perception“. Demokratie wäre dabei einem Spiel ähnlich geworden, Simcraty könnte es heißen, im niedlichen Design und in den Regeln der Spielwelten, die dem Ordnungsbedürfnis mancher Kinder entgegenkommen.[6]

Doch wie sehen die Sicherheitskonzepte auf dem Berlin Cyber Security Forum konkret aus? Sicherheit und Ordnung stehen in einem konkreten Zusammenhang. Die Ordnung soll Sicherheit schaffen. Die recht eigensinnige Ordnung der „Staatlichen Cyber-Sicherheitsarchitektur“ der Bundesrepublik Deutschland ergibt sich aus einer Verflechtung recht unterschiedlicher und gegensätzlicher Zuständigkeiten. Die föderalen Strukturen führen zu einer Vielfalt von konkurrierenden Zuständigkeiten, wie die Stiftung Neue Verantwortung mit einer Grafik der „Sicherheitsarchitektur“ visualisierte. Eine Vielzahl von Sicherheitseinrichtungen ist dezentral organisiert und läuft im Bundesamt für Sicherheit und Information, kurz: BSI, nicht unbedingt zusammen. Auf dem Podium wurden Stimmen nach einer Vereinfachung und Zentralisierung laut, deren Vor- und Nachteile diskutiert wurden.

Sicherheit funktioniert in den Panels und Vorträgen insbesondere über juristische Regelungen. Regulierung wird immer wieder gefordert oder präsentiert. Politik und Juristen arbeiten an einer großen Regulierungsmaschine, die Sicherheit schaffen soll. Maßnahmen werden beispielsweise gegen Hate Speech in einer Eruopäischen Datenschutzgrundverordnung formuliert. Doch statt großer Freude über die Sicherheit vor Hate Speech durch Uploadfilter, warnen Aktivisten vor Zensur, während ein Begriff aus der Psychologie stark an Gebrauchsfrequenz zugenommen hat. Die Rede ist von der Resilienz. Die Resilienz hat beispielsweise bei Alexander Klimburg vom Cyber Policy and Resilience Program am Hague Centre for Strategic Studies eine gewisse Institutionalisierung erfahren. Klimburg nahm am Panel Cyber Great Game: The U.S., the EU, Russia, China and Power Politics of Internet Security teil. Damit wurde nicht zuletzt eine gewisse Bandbreite von strategischen Sicherheitskonzepten als „großes Spiel“ angesprochen.

Russland und China stellen machtpolitisch die staatliche Kontrolle über das Internet als Ultima Ratio dar. Der Staat bzw. der Staatsapparat kontrolliert das Internet und vor allem die Sprache bis in die kleinsten Verästelungen und Mehrdeutigkeiten. Die Kontrolle über das Internet soll damit die Macht des Staates bzw. einer Partei mit Alleinvertretungsanspruch wie die Kommunistische Partei Chinas sichern. Innerhalb der Partei gibt es zwar so gut wie keine Sicherheit. Doch durch Zensur und Überwachung werden Machtstrukturen nicht nur gesichert, sondern ausgebaut. Übertroffen wird eine derartige Cyber-Sicherheitsdoktrin als Machterhaltungsstrategie wahrscheinlich nur noch durch Nordkorea, wo der Staatschef Kim Yong-Un gleich am Flughafen seinen US-Sondergesandten erschießen lässt.[7] Anders gesagt: Sicherheit verkehrt sich in autokratische Willkür als Kontrolle der Macht.

Die EU positioniert sich vor allem gegen die Trump-Administration und ihre Desinformationskampagnen. Es war nicht zuletzt Brad Smith, der die Regulierung und Humanisierung der Künstlichen Intelligenz im Januar 2018 mit seinem Vortrag in Berlin und Davos platzierte und damit als Jurist an die EU appellierte.[8] Doch selbst dann, wenn Trump weiterhin das Internet und andere Medien für ein erwiesener Maßen überholtes Flüchtlingsthema politisch nutzt und einen Twitter-Terror ausübt, funktionieren in den Vereinigten Staaten von Amerika noch eine Menge von bundestaatlichen Regulierungsmechanismen. Sir Julian King setzt weiterhin auf ein Vertrauen in die demokratischen Institutionen und damit auf eine Regulierung des Internets aus demokratischen Prozessen.

I don’t want to sound naïve – there will be issues where the EU and the US pull in somewhat different directions: I’m sure you can all think of some. But ultimately we share a deep belief in what used to be called Western values, built on a belief in the power of democracy and democratic institutions.[9]          

Es ist auf die Gebrauchsfrequenz des Begriffes Resilienz zurückzukommen, den der Sicherheitskommissar der Europäischen Union bezüglich der Cyber Verteidigung benutzt hatte und der sich im Namen des Programms von Alexander Klimburg institutionalisiert hat. Der Fachbegriff für die psychologische Widerstandsfähigkeit einer Person oder eines Menschen wird einerseits in zunehmendem Maße für Cybersecurity bzw. Künstliche Intelligenz verwendet. Andererseits findet er weiterhin im Bereich der psychologischen Ratgeberliteratur und Ratgebersendungen zunehmende Verwendung. Die Psychotherapeutin Dr. Doris Wolf schreibt im Psychologie Lexikon: „Resilienz – Schicksalsschläge und Krisen unbeschadet überstehen“. Ella Gabriele Amann, Tanjy Volke-Groh, Stephanie Borgert und Beate Strobl geben Ratschläge für „Resilienz im Berufsalltag“ in der Haufe-Akademie. Und Planet Wissen des SWR sendete am 11. September 2018 den fast einstündigen Beitrag Resilienz – Was die Seele stark macht.

Wir wissen nicht, was die semantische Überschneidung von Psychologie und Cybersecurity im Begriff Resilienz zu bedeuten hat. Doch offenbar eignet er sich zu einer Transformation von der Psychologie in die Technologie und Ökonomie. Denn der Haufe Verlage vertreibt vor allem Buchhaltungssoftware und wirbt mit einem „breiten Portfolio aus integrierten Unternehmens- und Arbeitsplatzlösungen“.[10] Resilienz, könnte man formulieren, beschreibt eine Art Sicherheitstraining in der Psychologie. Wenn alles zusammenbricht, dann kann man lernen, wieder auf die Füße zu kommen. Insofern wäre wie im Ratgeber von Planet Wissen eine psychologische Strategie von der man/frau wissen und sie anwenden kann. Ob und wie das funktioniert, kann dahin gestellt bleiben. In der Ratgeberliteratur kursiert dafür ein breites Spektrum an imaginären Umschreibungen wie „Niemand ist in Drachenblut gebadet“ (Planet Wissen) oder „Immunsystem der Seele“ (Doris Wolf). Es geht letztlich um den Verlust von Sicherheit und wie frau/man sie zurückgewinnen könnte.

Bieten Singularitäten im Internet, im Cyberspace bzw. in der Künstlichen Intelligenz Sicherheit? Auf dem Prinzip der Singularität basiert zumindest Blockchain. Alan Cohn und Vasily Suvorov stellten im Panel „Finance, Fraud, Cryptocurrencies and Next Frontiers in International Cooperation to Confront Cyber Crime“ Bitcoin und Blockchain vor. Blockchain ist KI, durch die Bitcoin möglich wird. Interessanterweise gebraucht Melanie Swan in ihrem bahnbrechenden Buch Blockchain – Blueprint for a New Economy 2015 den Begriff singularity nicht bzw. nur einmal. Sonst kommt er nur vor als Name für die Universität, an der sie ihr „Institute for Blockchain Studies“ angedockt hat, nämlich der Singularity University. Die Singularity University ist in Santa Clara Kalifornien in der Nähe von San Franzisko bzw. dem Silicon Valley angesiedelt. Vielleicht ist das Prinzip der Blockchain Technologie so selbstverständlich als eines der Singularitäten unter gleichzeitiger Verknüpfung in Listen konstruiert, dass man es nicht mehr benennen muss. Im Abschnitt „Blockchain AI: Consensus as the Mechanism to Foster „Friendly“ AI“ schreibt Melanie Swan:

There is the notion of a technological singularity, a moment when machine intelligence might supersede human intelligence. (Es gibt die Vorstellung der technologischen Singularität, einen Moment, in dem die maschinelle Intelligenz die menschliche Intelligenz verdrängen könnte.)[11]   

Der Schrecken einer Verdrängung der „menschlichen Intelligenz“ durch die „maschinelle Intelligenz“ wird von Swan mit dem Konsens über eine „freundliche“ KI neutralisiert. Denn die „Blockchain AI“ sei besonders „freundlich“. Was macht Blockchain? Man könnte es mit Alan Cohen und Melanie Swan so formulieren: Blockchain schafft Singularitäten, durch die sich Handlungsverläufe oder Geschäfte exakt zurückverfolgen lassen. Sie funktioniert wie eine DNS oder eine ID. Oder wie es mein Schwager seinen Kolleg*innen deutlich machte: Der Code von „Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit“ unterscheidet sich komplett von „Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!“ also mit einem ! (Ausrufezeichen). Die Codes für die fast gleiche Formulierung sind indessen aktuell mit bis zu über 250 Stellen so lang, dass es sich dann doch lohnt, „Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit“ mit oder ohne Ausrufezeichen zu schreiben. Es ließe sich allerdings sehr genau zurückverfolgen, dass die eine Formulierung aus der anderen hervorgegangen ist und dass mein Schwager sie vorgenommen hat, wenn sein Code bekannt ist. Auf diese Weise wird Sicherheit generiert, weil sich jede operationelle Handlung z.B. ein Verkauf von Bitcoins bzw. Cryptocurrency nachverfolgen lässt. Demnach wären Cryptocurrencies sicherer und transparenter als bisherige Geldgeschäfte.

Melanie Swan stellt als Beispiel für die Funktionen von Blockchain vor, dass sie gegen „repressive political regimes“ eingesetzt werden kann, um in einer dezentralen Cloud Funktionen, die zuvor in der Verwaltung verwendet wurden, durch juristisch gebundene Organisationen zu ersetzen.[12] Als konkretes Beispiel hat dann die Einführung von Blockchain für Grundbucheinträge in Honduras Furor gemacht. So wurden zum ersten Mal die Grundeigentumsrechte von ärmeren Menschen in Honduras gegen Gewaltausübung geschützt.[13] Alan Cohen erklärte im Zeppelin-Raum mit einer Grafik, wie sich ein Diebstahl von 20.073 Bitcoins am 25. Januar 2013 aus der Silk-Road-Bitcoin-Wallet durch Blockchain genau rückverfolgen ließ und im November 2017 der ehemalige Secret Service Agent Shaun Bridges 1.600 Bitcoins zurückzahlen musste. Im Rahmen von Geldwäsche-Ermittlungen zum Online-Drogenmarkt hatte Bridges einfach ein paar Bitcoins für sich behalten und war im Moment als er sie, sagen wir, in harte Währung umtauschte, aufgeflogen.

Die Dezentralität der Blockchain gilt als ein weiterer Sicherheitsfaktor. Die Daten der Blockchain werden auf mehreren Rechnern gleichzeitig in einem Netzwerk bzw. einer Cloud gespeichert. Beispielsweise können Banken für bestimmte Geldgeschäfte in einer Blockchain ein Netzwerk bilden. Im Unterschied zu einem zentralen Rechner ist die dezentrale Cloud wesentlich schwieriger von außen anzugreifen. Die enorm lagen Codes können varieren. IBM wirbt zusätzlich damit, dass „(m)it der Blockchain … Ihr Geschäftsprozessnetzwerk Transaktionen mithilfe eines verteilten, genehmigungsbasierten, nicht veränderbaren Registers (erstellt)“ wird.[14] Blockchain hat mittlerweile nicht nur Bücher, sondern ein eigenes Vortragswesen mit Visualisierungen in Form von Grafiken und Animationen generiert. Kompakt wurde sie im Mai 2018 von der Tagesschau mit #kurzerklärt visuell und sprachlich knackig vorgestellt. Am Schluss könnte Blockchain als „Regierungstechnologie“, wie sie Jason Potts nennt[15], gar Notare, Grundbuchrechtspfleger und ganze Verwaltungen freisetzen.

Jason Potts weist als Ökonom im Gespräch mit Vizenz Hediger auf den Aspekt Vertrauen als „ökonomisches Gut“ hin. Vertrauen lässt sich gewiss als Basis von Sicherheit formulieren. Wenn ich Vertrauen in die Blockchain Technologie – und das heißt eine Künstliche Intelligenz – habe, fühle ich mich sicher oder auf der sicheren Seite. Insofern wird das Vertrauen zu einer Schnittstelle von menschlicher und künstlicher Intelligenz. Obwohl die kryptographischen Prozesse der Blockchain nicht mehr für einen Menschen zu vollziehen sind, weil die Maschine schneller rechnet, sie allererst ermöglicht und Codes generiert, wird sie gerade deshalb vertrauenswürdig. Nach Potts „erzeugt“ Blockchain selbst Vertrauen durch Algorithmen und somit eine imaginäre Sicherheit:

Die Weise, wie Maschinen Vertrauen erzeugen, wie Blockchain Vertrauen erzeugt, erfordert nichts dergleichen. Genau darin liegt die Bedeutsamkeit von Blockchain als Regierungstechnologie, als institutionelle Technologie: Es handelt sich um die erste
Technologie, die Vertrauen erzeugt. Wir vertrauen dem Algorithmus, in diesem Fall dem «proof of work»-Algorithmus oder dem «proof of stake»-Algorithmus, wie er bei Ethereum zu finden ist. [16]

Die kryptographische Blockchain Technologie verspricht Vertrauen, Risikominimierung und damit Sicherheit in einem hyperschnellen Markt, der bereits als New Economy bezeichnet wird und sich verbreitet. Innerhalb der Technologie bzw. der AI oder auch des Systems generiert Blockchain eine bisher unbekannte Sicherheit aus Verkettung, Dezentralisierung und Singularisierung. Nicht zuletzt der Mythos der Kryptologie, die in der Vereinigten Staaten institutionell mit der NSA (National Security Agency) und ihrem „Cryptologic Heritage“ verknüpft sind, unterstützt ein neuartiges Sicherheitsversprechen. Kryptographie und Kryptologie funktionieren nicht zuletzt seit Alain Turings Entschlüsselung der deutschen Verschlüsselungsmaschine „Enigma“ als sicherheitsrelevant. Wie Alan Cohen mit seiner Präsentation deutlich machte, lassen sich Diebe fast mühelos fangen. – Was in gewisser Weise ein enormer Fortschritt der Sicherheit wäre.

Torsten Flüh

PS: #Vertrauen. Ungefähr 18 Stunden nachdem ich diesen Artikel auf meinem Facebook-Konto verlinkt habe, erhalte ich auf der Startseite bzw. auf meinem Smartphone eine Werbung von … Na? Von wem? Von der Singularity University! Trust in algorithms or not!


[1] Commissioner King’s remarks at the Aspen Institute dinner in Berlin: Security Cooperation: the power of likeminded nations working together. SPEECH16 May 2019.

[2] Rezo ja lol ey: Die Zerstörung der CDU. (YouTube Am 18.05.2019 veröffentlicht)

[3] Claudia Reiche, Andrea Sick: Zur Einleitung. Dies. (Hg.): Debatterie! Antagonismen aufführen. Bremen: Thealit. 2018, S. 6. Vgl. zum Projekt auch: Torsten Flüh: Der Text der Welt und die Zeit. Für Eugenia Gortchakova und zur DEBATTERIE des thealit. In: NIGHT OUT @ BERLIN Februar 7, 2017 18:45.

[4] Vgl. Martin Fuchs: Bundestagswahl: Chatbots und Tinder sind die neuen Wahlhelfer. In den sozialen Netzwerken ist der deutsche Wahlkampf so innovativ wie nie. In: NZZ vom 19.9.2017, 08:00 Uhr.

[5] Ijoma Mangold: Eine radikale Idylle? In: Die Zeit N° 23 (Print), 29. Mai 2019, S. 37-38.

[6] Claudia Reiche, Andrea Sick: Zur … [wie Anm. 3] S. 11.

[7] Medienbericht: Nordkorea soll Sondergesandten für USA hingerichtet haben. In: Süddeutsche Zeitung 31. Mai 2019, 11:38 Uhr.

[8] Vgl. dazu Torsten Flüh: Kant und die Ethikrichtlinien aus dem Internetkonzern. Brad Smith stellt The Future Computed im Microsoft Atrium in Berlin und beim Weltwirtschaftsgipfel in Davos vor. In: NIGHT OUT @ BERLIN Januar 29, 2018 19:01.

[9] Commissioner King’s … [wie Anm.]

[10] Siehe Startseite Haufe Verlag.

[11] Melanie Swan: Blockchain. Blueprint for a New Economy. Sebastopol: O’Reilly, 2015, S. 93.

[12] Ebenda S. VIII.

[13] Vgl. Rina Chandran: Modernizing land records in Honduras can help stem violence, says analyst. In: Reuters AUGUST 11, 2017 / 1:39 PM.  

[14] IBM: Blockchain.

[15] Jason Potts (im Gespräch mit Vizenz Hediger): Die vierte Regierungstechnologie. Über Blockchain. In: Gesellschaft für Medienwissenschaft (Hg.): Zeitschrift für Medienwissenschaft 1/2018: Medienökonomie. Bielefeld: transcript, 2018. S. 73-86.

[16] Ebenda S. 79.

Ein europäischer Klangroman – Zu Volker Hagedorns furiosem Roman Der Klang von Paris

Flügel – Lesen – Paris

Ein europäischer Klangroman

Zu Volker Hagedorns furiosem Roman Der Klang von Paris

Schon im April wurde als „Vorecho“ zum Musikfest Berlin 2019 eine höchst Pariserische Soirée in der Villa Elisabeth mit dem Weltklasse-Pianisten Alexander Melnikov und dem Musiker wie Musikkritiker und nun Musikromancier Volker Hagedorn veranstaltet. Wie klang Paris im 19. Jahrhundert? Besonders Hector Berlioz, der beim diesjährigen Musikfest im Fokus stehen wird, prägte den Klang von Paris in einer ebenso politisch wie industriell turbulenten Zeit. Volker Hagedorn hat sich auf die Spuren von Hector Berlioz und seinen Zeitgenoss*innen in Paris begeben, als es weder die Opéra Garnier, erst recht nicht die Philharmonie und noch nicht einmal eine Kanalisation in der schnell wachsenden Welthauptstadt des 19. Jahrhundert gab.

An 750.000 Einwohner ist 1831 in Berlin mit 240.000 noch nicht im Entferntesten zu denken, als hier im September die Cholera ausbricht. Im Frühjahr 1832 wütet sie in unvergleichlicher Weise in Paris, während sich die Jungstars der Musik des Jahrhunderts hier aufhalten. Wechselwirkungen entstehen. Franz Liszt, Richard Wagner, Giacomo Meyerbeer, Felix Mendelssohn Bartholdy, Frédéric Chopin, Clara Wieck und Hector Berlioz tummeln sich in Paris. Dazu die älteren Stars Cherubini, Rossini und Paganini. Volker Hagedorn lässt sie in seinem Roman mit Flaneur-Passagen miteinander in Aktion treten. Der Instrumentenbauer Sébastien Érard wird eine neuartige Harfe für Berlioz konstruieren und baut einen Flügel für Liszt. Alexander Melnikov spielte auf einem restaurierten Érard Piano à queue de concert Grand Modèle aus seiner Sammlung während der Soirée.

Wie lässt sich ein Roman schreiben über den Klang einer Stadt? Volker Hagedorns Roman sprüht von Wissen, das sich zur Zeit Hector Berlioz‘ in Paris zusammentragen lässt. In kurzen Passagen wird das Wissen mit Beschreibungen von Hagedorns Besuchen historischer Schauplätze wie dem Friedhof Père Lachaise angereichert, überprüft und kontrastiert. Doch sein Roman speist sich nicht nur aus historischem Wissen, vielmehr werden auch Partituren gelesen und durchdacht. Die zweite Choleraepidemie im 19. Jahrhundert rafft in Paris ca. 18.500 Menschenleben dahin. Sie wird für Hagedorn zu einem Scharnier seiner Erzählung vom Klang, weil Heinrich Heine am 19. April 1832 einen ausführlichen Artikel für die Augsburger Allgemeine Zeitung schreibt.[1] Heine berichtet von der schockierenden Bestattung der Choleratoten in mit Kalk ausgestreuten Massengräbern vor der Stadt auf dem Père Lachaise.

… Ich will, um die Gemüter zu schonen, hier nicht erzählen, was ich auf dem Père Lachaise gesehen habe. Genug, gefesteter Mann wie ich bin, konnte ich mich doch des tiefsten Grauens nicht erwehren. Man kann an den Sterbebetten das Sterben lernen und nachher mit heiterer Ruhe den Tod erwarten; aber das Begrabenwerden unter die Choleraleichen, in die Kalkgräber, das kann man nicht lernen…[2]

Dieser Roman ist keine Musikgeschichte, aber eine andere Wissensgeschichte von der Musik. Es lässt sich sogar sagen, dass er ein bisher nicht gekannter Musikerroman geworden ist. 2007 hatte Volker Hagedorn die neu übersetzten Memoiren von Hector Berlioz besprochen.[3] In ihnen formuliert der Komponist sein Leben selbst als „Roman“ und schreibt an einen Freund: „Mein Leben ist ein Roman, der mich sehr interessiert“.[4] Hector Berlioz‘ 1870, ein Jahr nach seinem Tod veröffentlichte Memoiren werden gerühmt für ihre literarischen Qualitäten. Sie werden gar als ein herausragendes Beispiel für ein „vie romantique“ von dem Musikographen Adolphe Boschot gerühmt.[5] Zwar wird die Cholera in den Memoiren dreimal literarisch als Begriff verwendet, aber Hector Berlioz schreibt nicht über die Cholera-Epidemie von 1832. Das könnte ein Wink auf das Verhältnis von Leben und Roman sein.

Der Feuilletonist mit esprit und Musikkritiker Hector Berlioz formuliert in seinen Memoiren über die kleinen und großen Vaudeville Opern, dass sie ihn „schließlich mit Cholera oder Schwachsinn geschlagen“ hätten[6], er ein Gespräch über javanische Frauen in „einen Moment die Nachlässigkeit der tödlichen Cholera“ endet[7] oder er anlässlich einer Aufführung 1843 seiner Symphonie Harold et la cantate du Cinque mai hofft, dass seine „armen Symphonien nicht so ansteckend sind, (…), und daß weder gelbes Fieber noch Cholera daraus entfliehen werden“.[8] Während Hector Berlioz in seinen Memoiren die Cholera als geistreichen Schrecken einsetzt und witzig formuliert, aber nie die Epidemie beschreibt, wird sie von Volker Hagedorn erzählerisch verknüpft mit Franz Liszts Kompositionen zum Dies irae.

«Sie haben nicht mehr genug Leichenwagen», meint Liszt, der mit Chopin französisch spricht. Er hat die ganze Nacht Variationen über den Hymnus improvisiert, bis ins Morgengrauen. Der Tod verfolgt ihn, und er spielt ihm entgegen.[9]  

Volker Hagedorn schreibt seinen Roman aus vielfältigen und reichhaltigen Lektüren heraus. Das ist ebenso faszinierend wie passend für sein Paris-Thema wie Hector Berlioz, der selbst nicht nur Noten geschrieben hat. Hagedorns Fokus auf Heinrich Heine oder Franz Liszt und Felix Mendelssohn oder Paganini ist keine leichtfertige Fiktion oder Erfindung, vielmehr werden diese Beziehungen von Hector Berlioz selbst in Briefen und Memoiren literarisch hergestellt. Die Briefe der Musikalische(n) Reise in Deutschland wurden 1843 zunächst im Journal des débats in Paris veröffentlicht. Noch im gleichen Jahr kommen sie bei Hirsch in Leipzig in deutscher Übersetzung heraus, um 1844 als Voyage musical en Allemagne et en Italie zu erscheinen. 1870 werden sie in die Memoiren integriert. Heinrich Heine ist einer der Adressaten von Berlioz in Paris. Doch es sind eben auch Briefe mit esprit, die sogleich im politischen wie literarischen Journal des débats erscheinen. Ist der Brief an Heinrich Heine über Hamburg besonders freundlich oder ein wenig boshaft? Oder beides?

Jetzt, Heine, Heinrich Heine, berühmter Ideenbankier, Neffe Herrn Salomon Heine’s, des Verfassers so vieler kostbarer Gedichte in Barren, habe ich Ihnen nichts mehr zu sagen … grüße Sie.

                        H. Berlioz.[10]

Nike Kiesinger im Gespräch mit Volker Hagedorn.

Das Lesen, das Schreiben und das Verwandeln des Gelesenen in wörtliche Rede – „Sie haben nicht mehr genug Leichenwagen“ – erinnern an Roland Barthes. Es ist nicht ganz sicher, ob Volker Hagedorn S/Z von Roland Barthes gelesen hat, wo er eine Intertextualität entwickelt.[11] Es könnte ihn zu seiner Schreibweise angeregt haben. Denn Barthes formuliert hier einmal das Verhältnis von Lesen und Schreiben. Er geht von einem „lexeographischen Handeln“ beim Schreiben aus.[12]

Ich bin nicht im Text verborgen, ich bin darin nur unauffindbar: Meine Aufgabe ist es, Systeme zu bewegen und zu übertragen, deren Sicht weder am Text noch am »Ich« halt macht: operatorisch sind die Sinne, die ich finde, nachweisbar, nicht durch mein »Ich« oder durch andere, sondern durch ihre systematische Markierung: es gibt keinen anderen Beweis für eine Lektüre als die Qualität und die Ausdauer ihrer Systematik; anders gesagt: als ihr Funktionieren. Lesen ist in der Tat eine Spracharbeit. Lesen, das heißt Sinne finden, und Sinne finden, das heißt sie benennen.[13]

Volker Hagedorn greift mit dem Schreiben auf seine vielfältigen Lektüren und Wissensbereiche aus. Dabei entstehen bisweilen recht poetische Bilder. So verwandelt sich Liszts Flügel von Érard einmal in einen Sarg. Der Érard-Flügel als durchaus industrielles Produkt sollte seinen Fabrikanten Sébastien Érard 1820 so reich machen, dass er sich einen Flügel des Chateaus de la Muette kaufen konnte. Liszt wohnte bei Érard in der Rue du Mail 13 im 2. Arrondissement. Doch die Fakten lässt Hagedorn nur gelegentlich einfließen, obwohl er gar vor dem Haus, die Plakette zu den Aufenthalten von Liszt zwischen 1823 und 1878 lesend, gestanden haben mag. Er verwandelt die Information in eine Annäherung an die Musik.

Beim nächtlichen Phantasieren schien ihm einmal, der vertraute Flügel, sein Instrument und Schlachtross in einem, werde zum Sarg, da musste er erst recht weiterspielen, mit seinen rasenden Händen den Sargdeckel aufstemmen, bis er den Érard wieder verwandelt hatte, bis er wieder Leben sah.[14]     

Man kann Der Klang von Paris, den Berlioz-Roman, als unterhaltsame Lektüre lesen. Und man kann die kunstvolle, interdisziplinäre Wissensverarbeitung von Volker Hagedorn bewundern. Als Musikwissenschaftler hätte er auch eine Art Sachbuch über das Thema schreiben können. Vom Titel her lässt sich das Buch kaum von einem wissenschaftlichen Sachbuch und Reiseessay – Eine Reise in die musikalische Metropole des 19. Jahrhunderts – unterscheiden. Doch herrscht das Format Roman mit einer erzählerischen Geste vor. Aus der Lust am Roman als Lektüre verwandelt sich Hagedorn in einen Flaneur, der auf dem Père Lachaise jenen Punkt sucht, von dem aus Heinrich Heine die Stadt Paris gesehen haben will. Es misslingt auf selbst spielerische Weise und gibt gerade damit einen Wink auf den literarischen Journalisten Heinrich Heine.

… Von einem steinernen, wannenförmigen Sarkophag auf sonniger Anhöhe ist ein Ende abgebrochen, man blickt hinein ins leere Dunkle, während der Tote noch immer in der Erde darunter liegt.

Auch von dieser Anhöhe aus ist Paris nicht zu sehen. Die Bäume sind reichlich gewachsen seit Heines Besuch, und zwischen ihnen viele weitere Mausoleen. Dafür aber nehme ich das sanfte, große Rauschen wahr, das Meeresrauschen der riesigen Stadt rund um dieser grüne Inselfestung der Toten, darüber in Abständen das Dröhnen und Pfeifen einzelner Jets.[15]  

Plan topographique du Cimetière de l’Est dit du Père La Chaise, présentant l’indication exacte du placement de plus de 1500 mausolées, tombeaux et monumens funèbres. A Paris, chez Emler frères libraires rue Gunénégaud n°23 (1828)

Hagedorn wählt einen komplett anderen Schreibmodus als Hector Berlioz. Mit einem Absatz springt er auf Seite 100 „185 Jahre“ von 1832 ins Jahr 2017 und nach 2 Absätzen wieder zurück zu Liszt, von dem er schreibt, wie sehr er Paganini in Paris auf der Rückreise von London bewundert habe. „»Welch ein Mensch, was für eine Violine, welch ein Künstler!», schreibt er am 2. Mai seinem Schüler Pierre Wolff. «Gott, was für Leiden, Elend, Qualen in diesen vier Saiten!»“[16] Das ist die eine Seite der Musik, wie Liszt sie formuliert. Es ist in gewisser Weise eine Anknüpfung an die Bibelliteratur und das Thema des Ecce homo in der Kunst. Die Leiden Christi werden in der Gestalt Paganinis und seines Saitenspiels lebendig. Aus einer medizinischen Perspektive spricht man von den Folgen der Syphilis. Doch zugleich wird das christliche Bild auch menschlicher in einem postrevolutionären Paris. Kaum merklich verschiebt Hagedorn das Briefzitat in direkte Rede, um nun Liszt formulieren zu lassen, wie entscheidend die Lektüre unterschiedlicher Literaturen für das Komponieren ist:

… Homer, die Bibel, Platon, Locke, Byron, Hugo, Lamartine, Chateaubriand, Beethoven, Bach, Hummel, Mozart, Weber sind alle um mich herum. Ich studiere, bedenke, verzehre sie mit Furor, außerdem übe ich vier bis fünf Stunden (Terzen, Sexten, Oktaven, Tremolos, Repetitionen, Kadenzen etc.) Ah! Vorausgesetzt, ich werde nicht wahnsinnig, wirst du einen Künstler in mir finden!» Er will am Klavier und für das Klavier, am technisch inzwischen weit verbesserten Flügel von Érard, das Niveau Nicolò Paganinis erreichen. Um sich mit seinen Exerzitien, dem unabdingbaren physischen Training der Finger nicht zu langweilen, liest er dabei Literatur von Byron bis zur Bibel – und empfiehlt diese Methode sogar seinen Schülern.[17]

Warum nimmt Hagedorn das Lesen zurück? Langeweile soll der Grund für das vielfältige Lesen sein. Hagedorn hat mit seinem Roman durchaus den Anspruch, den Klang von Paris, sagen wir, zu dechiffrieren. Doch ausgerechnet in jener Passage, in der das Ecce homo der Bibel zitierend transformiert wird, sollen die Literaturen nur dazu dienen, dass sich Liszt beim „physischen Training“ nicht langweilen muss? So hat Liszt es nicht geschrieben. Vielmehr „sind alle um (ihn) herum“. Er imaginiert sich im Lesekreis der anderen Literatur, wird man sagen dürfen. Das ist etwas anderes, als eine Leere im „physischen Training“ zu stopfen. Die „Finger“ werden eben auch von „Homer, … Bibel, Platon, Locke, Byron, Hugo …“ bewegt und erst recht das Komponieren als eine andere Literaturform. Wenn „Beethoven, Bach, Hummel, Mozart, Weber … um ihn herum (sind)“, dann sind sie es wohl doch als Partituren der Musikliteratur. In der brillanten Erzählliteratur des Romans überliest Hagedorn einen Wink für seine Recherche du son perdu.  

Hier beginnt auch der Weg zum orchestralen Flügel, wovon im Jahr darauf Hector Berlioz profitiert: Sein Bewunderer fertigt eine Version der «Symphonie fantastique» an, die kein «Klavierauszug» mehr ist, sondern eine autarke Übersetzung, und die, auf Kosten von Liszt gedruckt, dem Wagnis seinen Weg durch Europa bahnt.[18]

Der Klang von Paris ist aus einem profunden musikographischen Wissen geschrieben. Hagedorn orientiert sich an den Memoiren Hector Berlioz‘, hört dessen Musik und liest Partituren. Als Musiker ist ihm die Praxis des Musikmachens vertraut. Er liest die Partitur Hector Berlioz‘ Romeo et Juliette, die am 12., 13. und 14. September im Rahmen des Musikfestes von den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Daniel Harding aufgeführt werden wird, so genau, dass er darin Wagners Tristan-Akkord vorweggenommen sieht. Ganz nebenbei möchte er damit auch die Unart der Nationalmusik im fortschreitenden 19. Jahrhundert zu einer europäischen Moderne mit Hector Berlioz als Initiator verschieben. Sein Musikwissen versetzt ihn in die Lage genauer Benennung, um sie im selben Moment zu verfehlen.

In A-Dur zeigt Berlioz den nächtlichen Garten, aber diese Tonart weitet sich in sanften Klängen zu einem magischen Moment, als um ein einsames E der Querflöte sich das A der ersten und das C der zweiten Geigen legen, darunter in den Bratschen Fis. Man muss diese Töne so genau benennen, wir werden dem Akkord wiederbegegnen, um einen Halbton versetzt, bei Wagner – der für diesen Abend auf der Gästeliste steht und mindestens eine der drei Aufführungen hört –, in einer anderen Musik der Liebe.[19]     

Auf der Soirée spielte Alexander Melnikov sehr luzide die oft missverstandenen Préludes von Frédéric Chopin, Zwei Konzertetüden von Franz Liszt und die von Richard Wagner für Klavier bearbeitete Ouvertüre aus der Oper La Reine de Chypre von Jacques Fromental Halévy. Der Klang von Paris erklang also wirklich und trotz des Ambientes im ehemaligen Gemeindesaal der Villa Elisabeth an der wiedererbauten St. Elisabeth-Kirche von Friedrich Schinkel doch nicht genauso. Er lässt sich selbst mit dem profundesten Wissen aus Briefen, Memoiren, Zeitungsartikeln, Forschung und Memoiren nur erahnen, weil er durch unendlich viele Begleitumstände, Praktiken und Wissen gerahmt war. Der Klang bleibt flüchtig. Aber nicht zuletzt mit dem Érard Piano à queue de concert Grand Modèle war man ihm so nah wie selten zuvor. Volker Hagedorn bringt ihn auf bewundernswerte Weise nah.

Torsten Flüh

Volker Hagedorn
Der Klang von Paris
Eine Reise in die musikalische Metropole des 19. Jahrhunderts.
Hardcover 25,00 €
E-Book 19,99 €

Musikfest Berlin 2019
30.08. bis 19.09. 2019


[1] Volker Hagedorn: Der Klang von Paris. Eine Reise in die musikalische Metropole des 19. Jahrhunderts. Berlin: Rowohlt, 2019, S. 89-103.

[2] Heinrich Heine: (Über die Cholera in Paris) In: Augsburger Allgemeine Zeitung April 1832 (z.B. Heinrich Heine Cholera)

[3] Volker Hagedorn: Röchelndes Meer. In seinen Memoiren erzählt von seinem glühenden Leben. Jetzt wurden sie neu übersetzt. In: Die Zeit 06.12.2007 Nr. 50, 11. Dezember 2007.

[4] Ebenda.

[5] Hector Berlioz: Mémoires. Paris: Lévy, 1870. (fr.wikipedia)

[6] Ebenda S. 48 (Übersetzung T.F.)

[7] Ebenda S. 85 (Übersetzung T.F.)

[8] Ebenda S. 287 Übersetzung nach: Hector Berlioz: Musikalische Reise in Deutschland. (Aus dem Französischen.) Leipzig: Hirsch, 1843, S. 107.

[9] Volker Hagedorn: Der … [wie Anm. 1] S. 94.

[10] Hector Berlioz: Musikalische … [wie Anm. 8] ebenda.

[11] Vgl. auch: Torsten Flüh: Die „göttliche Leere“ und die Polyphonie der Sprache. Zu Julia Kristevas Vortrag Refounding Europe Through Culture im ici Berlin Institute for Cultural Inquiry. November 9, 2018 19:49.

[12] Roland Barthes: S/Z. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1987, S. 15.

[13] Ebenda.

[14] Volker Hagedorn: Der … [wie Anm. 1] S. 94.

[15] Ebenda S. 101.

[16] Ebenda S. 102.

[17] Ebenda S. 103.

[18] Ebenda.

[19] Ebenda S. 139-140.

Ich als Datenwesen – Zur netzpolitischen Diskussion um Datensicherheit und Datenteilung mit einem Exkurs zu Alexander von Humboldt

Daten – Vermessen – Leben

Ich als Datenwesen

Zur netzpolitischen Diskussion um Datensicherheit und Datenteilung mit einem Exkurs zu Alexander von Humboldt

In der vergangenen Woche besuchte der Berichterstatter gleich mehrere Veranstaltungen zur Künstlichen Intelligenz. Es ging um Netzpolitik und auf dem Berlin Cyber Security Forum um Sicherheit im Netz. Nachdem viele Reden geredet worden waren, fand sich der Berichterstatter beim Lunch im Gespräch mit dem Vertreter einer großen, deutschen Werft, die neben Patrouillenboote insbesondere große Yachten baut. Der Groschen fiel nicht gleich, doch dann war klar, dass eine derartige Werft für sehr große, also sehr teure Yachten der Reichen und Mächtigen, auch Sicherheitssysteme entwickeln und bereitstellen muss. Natürlich sind die Yachten nicht nur Ziel von analogen Piraten, sondern genauso von Cyberattacken. Hat die Yacht z.B. einen Motorschaden, fliegt ein Einsatzteam mit dem Schaltplan über Satellit auf der Cyberbrille an vermutlich jeden beliebigen Ort der Welt.

Ist die, um mit einem Romantitel zu fragen, Vermessung der Welt unumkehrbar? Vermessen heißt heute, Daten zu akkumulieren. Das heißt zweierlei, die Welt wird vermessen und das Ich setzt sich dazu in ein Verhältnis. Die Welt wird bereits seit den Reisen und Studien Alexander von Humboldts, dessen Geburtstag sich am 14. September zum 250. Mal jährt, vermessen. Heute nennt man das verdaten. Daniel Kehlmann betitelte 2005 seinen Roman über Alexander von Humboldt Die Vermessung der Welt. Andererseits kam in zeitlicher Nähe 2001 der Begriff Datenkrake in Bezug auf Google in Gebrauch, der ein Bild von einem vielarmigen, unkontrollierbaren Ungeheuer in den Tiefen des Internets evozierte. Daten stehen wirtschaftspolitisch heute strategisch hoch im Kurs. Was verraten indessen Alexander von Humboldts Vermessungen des Kosmos über Daten?

Auf einer netzpolitischen Veranstaltung mit dem sehr smarten „Public Policy and Government Relations Senior Analyst“ von Google, Lutz Mache, war zu beobachten, dass die politisch engagierten Teilnehmer*innen fast nur noch von „Datenteilung“ als Programm sprechen. Datenteilung als Strategie einer Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik ist nicht nur ein neues Wording. Die Rede von der Datenteilung erweist sich vielmehr als elastisch genug, um das Eigentum an Daten nicht grundsätzlich in Frage zu stellen. Ich kann meine Daten teilen, ohne sie zu verlieren, lautet die neue Gemeinwohlformulierung. Vom Datenschutz der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, insbesondere der 80er und 90er Jahre hat sich ein föderal organisiertes Datenschutzgesetz zu einer Europäischen Datenschutz-Grundverordnung seit dem 25. Mai 2018 gewandelt. Sie gilt weltweit datenschutzrechtlich als am weitesten entwickelt.

Das erste Datenschutzgesetz in der Bundesrepublik Deutschland trat am 13. Oktober 1970 in Hessen in Kraft und ist am 1. Januar 2019 außer Kraft getreten. Es ist das älteste, formelle Datenschutzgesetz der Welt. Damit hat sich nicht zuletzt ein grundlegender Wandel des Verständnisses von Daten vollzogen. Mit dem hessischen Datenschutzgesetz und verwandten Gesetzen sollte vor allem das Recht des Bürgers auf „informationelle Selbstbestimmung“ gegenüber dem Staat gesichert werden.[1] Als Schlüsselbegriff für den Datenschutz wurden die „personenbezogenen Daten“ eingeführt. Der Staat sollte wohl die Möglichkeit haben, Daten über seine Bürger zu erheben, zu verarbeiten und auszuwerten, doch sie sollten nicht auf Personen zurückgeführt werden können. Sie mussten anonymisiert werden.

Wenn heute in Foren darüber gesprochen wird, dass Datenteilung eine Strategie für beispielsweise Autonomes Fahren oder Krebsvorsorge und der kommerziellen Nutzung werden soll, dann hat sich das Verhältnis des Bürgers zu seinen Daten signifikant verschoben. Ob zu Recht oder Unrecht in den 70er Jahren und danach ließ sich das Subjekt noch von seinen Daten unterscheiden, heute beschreiben sich insbesondere junge Menschen über Daten, wie die Wortbeiträge im netzpolitischen Forum in Anwesenheit von Lutz Mache deutlich machten. Datenteilung verspricht anscheinend Teilhabe am Staat und einem versprochenen Fortschritt, die zumindest nicht erfordert, ein Ich außerhalb von Daten zu bedenken. Ich wird als mehr oder weniger individuelles Datenwesen wahrgenommen. Jenseits der Erfassung durch Daten und ihrer Zirkulation droht wenigstens Ungemach. Der Staat als „Datenmonopolist“ wird heute von Unternehmen abgelöst, die mit Daten ihre/die Künstliche Intelligenz z.B. für das Autofahren „trainieren“ wollen und müssen. Beobachten lässt sich eine permanente begriffliche Überschneidung aus Technologie, Anthropologie und Ökonomie.

Vermessen heißt Daten sammeln. Doch wie funktioniert das Vermessen an der Schnittstelle von analogem Messen und Datenerhebung? Über Die Vermessung der Welt als Wissenschaftspraxis schreibt Daniel Kehlmann in seinem Roman recht wenig. Es taucht nur gelegentlich als Praxis im Erzählfluss auf. Das Messen wird an mehreren Stellen eher in einer Art Verfehlung erzählt. Als Humboldt und Bonpland endlich den Silla bei Caracas bestiegen haben, kommt ihnen ein „Schwarm pelziger Bienen“ zwischen den Anspruch, die Gipfelhöhe mit dem Sextanten zu bestimmen. Es ist nicht nur eine abenteuerliche Begegnung mit Bienen, vielmehr verleiden sie das Messen als Triumph. „Bonpland warf sich flach auf den Boden, Humboldt blieb aufrecht stehen, den Sextanten in Händen, das Okular vor dem mit Insekten bedeckten Gesicht.“[2] Das ist eine durchaus neuartige, gar ironische Beschreibung der Messpraxis in den Naturwissenschaften.

Screenshot: Tagebuch der amerikanischen Reise I, erste beschriebene Seite. Staatsbibliothek zu Berlin

In der Geschichte der Naturwissenschaften wird die Vermessung souveräner beschrieben. Gemessen wird nicht mit einem „Sextanten“, wie er auf dem Gemälde von Friedrich Georg Weitsch 1810 mit Humboldt und Aimé Bonpland am Fuß des Vulkans Chimborazo in der rechten unteren Ecke in Szene gesetzt wird, sondern mit einem Barometer, was andere Rechenschritte erfordert. Der Vermesser wird zum Souverän über das Wissen von der genauen Höhe und Natur des Berges. Die erste Besteigung des Silla am 3. Januar 1800 durch Alexander von Humboldt wurde von Alfredo Jahn am 15. Januar 1932 weit enthusiastischer beschrieben. Jahn benutzte offenbar wie Humboldt ein Barometer zur Messung und kommt zu einem um 10 Meter genaueren Höhenwert. Jahn verbessert somit Humboldts Messungen.

„Die barometrische Beobachtung von Humboldt auf dem Gipfel des Silla, ausgedrückt in Zoll und Linien des französischen Fußes, entspricht 581,33 Millimetern. Berechnet man diesen Druck mit dem dem Meeresspiegel entsprechenden Mindestmittelwert in Millimetern und berücksichtigt die Lufttemperatur in beiden Stationen (12 °, 5 und 27 °, 0), so ergibt sich eine Höhe von 2.318 Metern über dem Meeresspiegel. Das übersteigt in zehn Metern den wahren Wert von 2.308 Metern, der durch meine eigenen barometrischen Beobachtungen vom 15. Januar 1905 erhalten wurde.“[3]   

Die Besteigung und Vermessung des Popocatepetl erzählt Daniel Kehlmann gar als einen Unterhaltungsspaziergang, der von „Gomez und Wilson, de(m) Bürgermeister der Hauptstadt, drei Zeichner(n) und fast hundert Schaulustige(n)“ begleitet wird. Ob Kehlmann wusste, dass diese Besteigung nie stattgefunden hatte, wissen wir nicht. Die naturwissenschaftliche Praxis des Messens wird hier zur Unterhaltung des Publikums vorgeführt:  

„Als Humboldt vor einem Erdloch seine Atemmaske anschnallte, brandete Applaus auf. Und während er mit dem Barometer die Höhe des Gipfels bestimmte und sein Thermometer in den Krater hinabließ, verkauften Händler Erfrischungen.“[4]

Das Messen mit dem Barometer verfehlt hier wiederum die Wissenschaftspraxis. Denn Alexander von Humboldt hatte im Alter von 87 Jahren im Dezember 1856 an A. Petermann, veröffentlicht in Mittheilungen aus Justus Perthes geographischer Anstalt über wichtige neue Erforschungen auf dem Gesammtgebiete der Geographie, geschrieben, dass er „nie den Popocatepetl bestiegen habe“. Durch die Mittheilungen wird Humboldts Schreiben offiziell als relevant für die „Geographie“ gerahmt. Als Wissenschaftler, sah er sich genötigt, nicht nur die Messmethode, sondern auch die Nicht-Besteigung klarzustellen, weil sein Barometer kritisiert worden war.

„Ich habe nie den Popocatepetl bestiegen, habe ihn daher nie mit schlecht gefüllten Röhren messen können. Meine Messung des Vulkans war eine trigonometrische, welche in dem zweiten Bande meines „Recueil d’Observations astronomiques, d’opérations trigonométriques et de mésures barométriques“ (Paris 1810) vom Prof. Oltmanns beschrieben ist. Alle meine Barometer-Messungen sind mit gewöhnlichen Ramsden’schen Gefäss-Barometern à niveau constant gemacht, deren wir uns auch, Gay-Lussac und ich, 1805 auf einer Reise durch Frankreich, Italien und die Schweiz zu unserer beiderseitigen Befriedigung bedient haben (Vol. I. p. 365).“[5]

Alexander von Humbodt ist insofern sehr wohl und nachhaltig in seinen Messinstrumenten und Messpraktiken verwickelt. Die Genauigkeit der trigonometrischen Messung ergibt sich aus Winkelmessungen, die anscheinend genauer als Streckenmessungen oder barometrische Messungen sind. Das Forschungsprojekt unter der Leitung des Romanisten Ottmar Ette Alexander von Humboldt auf Reisen – Wissenschaft aus der Bewegung an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften hat sich zur Aufgabe gemacht, die „überragende() Bedeutung (…) bei den beiden transkontinentalen Reisen die bislang fast völlig unberücksichtigt gebliebenen literarischen Reiseskizzen, Messergebnisse, Laborprotokolle, wissenschaftlichen Essays und Exzerpte, die einen noch nicht gehobenen Schatz transdisziplinär vernetzter Erkenntnisse an der Schnittstelle von Kultur- und Naturwissenschaften“ darzustellen.[6] Am 14. September 2018 hat die Mathematikhistorikerin Ulrike Leitner im Rahmen des Projekts ein Forschungsdossier zum 1. Band der Neuausgabe der amerikanischen Reisejournale online veröffentlicht, in dem es zur trigonometrischen Höhenmessung heißt:

„Höhenbestimmungen ergaben sich ebenfalls aus Winkelmessungen. Mit einer Basislinie und zwei Winkeln am Anfang und Ende der Linie kann man leicht mit Hilfe einfacher Trigonometrie die Höhe berechnen. So vermaß Humboldt (vermutlich zu Beginn seines Aufenthalts in Cumaná) den Berg Brigantín, der der höchste der von Cumaná sichtbaren Berge sei, und notierte die Messung unter dem Titel: „Höhe der Berge.“ (Bl. 31v). In diesem Fall maß Humboldt zwei Basen: einmal eine durch Zählung der Schritte, dann eine präzis gemessene, um zu sehen, als wie groß sich der Unterschied in der Höhe herausstellte. Er schloss daraus, dass der recht geringe Unterschied von 200 Fuß für einen Geognosten (im Gegensatz zum Kartographen) eine noch erträgliche Unschärfe bedeute, da er die Aussagen über Lagerungen von Gesteinen, dem Themengebiet des Geognosten nicht beeinträchtigen würde.“[7]

Für die Frage der Vermessung und Genese von Daten mit „erträgliche(r) Unschärfe“ wie Naturwissenschaft wird indessen eine einleitende Beobachtung von Ulrike Leitner wichtig. Sie stellt nämlich vor allem eine „Unordnung in den Tagebüchern“ fest.[8] Die Unordnung der Methoden und Notizen der erst nach der Reise gebundenen Journale widerspricht in gewisser Weise dem Ordnungsanspruch der Vermessung. Anders als die von Humboldt 1856 formulierte Ordnung der Messung durch Trigonometrie formuliert, vermitteln die Aufzeichnungen eine auch heillose Unordnung, der sich kaum Herr werden lässt. Die Fülle der Daten über die Natur driftet zugleich in eine Unerschließbarkeit. Je mehr Daten gesammelt werden, desto schwieriger lassen sie sich souverän als Wissen formulieren:

„Die Tagebücher spiegeln das Wesen der Reise selbst wider: Umwege, scheinbar zielloses Getriebensein, Fragmentarisches …. Das Moment des Unvorhersehbaren einer Forschungsreise zwangsläufig in sich tragend wirken sie wie ein Flickenteppich. Die Herausgeber müssen die in diesem scheinbaren Stückwerk durchaus vorhandene Systematik erkennen.“[9]

Die Wissensproduktion durch Alexander von Humboldt befindet sich in einer unablässigen Bewegung. Das Projekt der „Vermessung fremder Länder“ wie es um 1800 formuliert und praktiziert wird, lässt sich kaum auf das „Moment des Unvorhersehbaren einer Forschungsreise“ herunterbrechen. Vielmehr legt das von Ulrike Leitner editierte Tagebuch mit seinen Ausschnitten, Durchstreichungen, Randnotizen, Tintenflecken etc. die Diskrepanz zwischen einem imaginären Anspruch der Vermessung und einer realen Praxis offen. Datensammeln und Datenauswertung fallen nicht in eins. Vielmehr unterscheiden sie sich auf bedenkenswerte Weise. Die Unordnung wird ihrerseits permanent durch Randnotizen umgeordnet. Alexander von Humboldts Selbstbeschreibung seiner Wissenschaftspraxis schiebt die abschließende Ordnung hinaus, wenn er formuliert, dass er „einige der zerstreuten Ideen“ festhalten wollte, „die sich einem Naturforscher, der fast beständig im Freien lebt, darzubieten pflegten, eine Vielzahl von Tatsachen, die ich aus Mangel an Zeit nicht ordnen konnte“.[10] Die „Tatsachen“ und Messdaten werden demnach immer wieder heimgesucht von „zerstreuten Ideen“ aus Kultur und Literatur.

Die Wissenschaft wandelt sich nach einer durchaus literarischen Formulierung Humboldts. Noch im neunzigsten Lebensjahr schreibt er am 26. März 1859 das Vorwort zum ersten Band der Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents in der nun „vollständigen Übersetzung“ von Hermann Hauff. Dennoch ist die Übersetzung offenbar für eine bessere Lesbarkeit von den einstmals so wichtigen Messdaten bereinigt. Statt des mathematischen Moments gibt Humboldt, ein wenig umständlich formuliert, nun dem literarisch Narrativen als „lebendige Darstellung des Geschehenen“ den Vorzug. Anders gesagt: erst in dem Maße wie die Erzählung von den ehemals entscheidenden Daten bereinigt wird, kann sie geordnet und „lebendig“ werden.

„und da jeder Reisende gewissermaßen den Zustand der Wissenschaften seiner Zeit, oder vielmehr die Gesichtspunkte darstellt, welche von dem Zustande des Wissens seiner Zeit abhängen, so ist das wissenschaftliche Interesse um so lebendiger, als die Epoche der Darstellung der Jetztzeit näher liegt. Damit aber die lebendige Darstellung des Geschehenen weniger unterbrochen werde, habe ich das Material, durch welches allgemeine kosmische Resultate begründet werden, in besonderen einzelnen Zugaben über stündliche Barometerveränderungen, Neigung der Magnetnadel und Intensität der magnetischen Erdkraft zusammengedrängt. Die Absonderung solcher und anderer Zugaben hat allerdings, und ohne großen Nachteil, zu Abkürzungen in der Uebersetzung des Originaltextes der Reise Anlaß geben können.“[11]

Die Vermessung soll um 1800 eine neue Ordnung der Welt und der Dinge generieren. Dieser Neuordnung des Wissens von der Erde, der Welt und ganz besonders des Lebens durch die „Infusorien“ von Christian Gottfried Ehrenberg auf der späten Russlandreise[12] wird Alexander von Humboldt sein langes Leben lang in Bewegung halten und bis zu seinem höchst genau gemessenen Tod am „6. Mai um 2 Uhr 32 Minuten“ zu einem begehrten Gesprächspartner an der Schnittstelle von Wissenschaft, Literatur und Öffentlichkeit machen.[13] Mit der Neuordnung des Wissens von der Welt und dem Menschen soll auch die monotheistische Genesis durch einen Schöpfergott ersetzt werden. Sein Leichenbegängnis am 10. Mai 1859 wird zum Berliner Staats- und Medienereignis, das international Bilder und Illustrationen generiert. Max Ring eröffnet in Die Gartenlaube seinen Bericht mit eben jener Formulierung eines Souveräns über das Wissen, dessen Souveränität mit den sogenannten amerikanischen Tagebüchern in Frage gestellt wird. Paradoxerweise wird jener Souverän der Gnade Gottes unterstellt. „Der Fürst der Wissenschaft, der erhabene Herrscher von Gottes Gnaden im Reiche der Geister ist nicht mehr.“[14]   

Warum kann ein Exkurs zur Wissenschaftspraxis des Naturforschers Alexander von Humboldt für die Frage der Daten hinsichtlich der Künstlichen Intelligenz aufschlussreich sein? Man kann Geschichten der Wissenschaft schreiben, die die Methoden der Datenerhebung an der Schnittstelle von Mathematik und Literatur bestätigen. Obwohl „Umwege, scheinbar zielloses Getriebensein, Fragmenatrisches …“ eingeräumt werden müssen, wird dann „durchaus vorhandene Systematik“ erkannt. Oder man steigt als Forscher wie Alfredo Jahn 1932 auf den Silla, misst, korrigiert und bestätigt Humboldts Messung. Ebenso kann man das Projekt der Vermessung ziemlich ungenau literarisch in einen äußerst erfolgreichen Roman verwandeln. Doch damit fragt man noch nicht nach der Funktion von Daten und ihrer imaginären Aufladung. Genau diese entfaltet mit der Künstlichen Intelligenz unterdessen eine ungeahnte Dynamik und Macht, die den Menschen derzeit in ein Datenwesen verwandelt.

Es wird demnächst auf die Künstliche Intelligenz mit Sir Julian King, „European Commissioner for the Security Union“, Europäische Kommission, beim Berlin Cyber Security Forum auf die Cyber Sicherheit und beispielweise den Vorzügen von Kryptowährungen wie den Strafverfolgungsmöglichkeiten bei Cyber Kriminalität zurückzukommen sein. Doch zum Leichenbegängnis von Alexander von Humboldt soll an dieser Stelle angemerkt werden, dass Kurt-R. Biermann und Ingo Schwarz 1999 auf zwei Zeitungsartikel aufmerksam gemacht haben, die am 10. Mai 1859 um 22:30 Uhr ein gänzliches anderes Wissen als das der Daten und des Hofzeremoniell ins Spiel bringen. Es kam zum „Unfug elender Strolche“. Die Verfasser nennen es „saturnalische Ausschreitungen durch Randgruppen der Gesellschaft“. “[15] Nicht jedem berühmten Toten wurden indessen in Berlin derartige Auftritte und „Zotenlieder der frivolen und entfesselten Masse“ von „betrunkenen Weibern und öffentlichen Dirnen“ ebenso wie „Straßenjungen“ zuteil. Auch darin besteht Forschungsbedarf.

Torsten Flüh


[1] Vgl. zum Hessischen Datenschutzgesetz (Wikipedia)

[2] Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt. Hamburg: Rowohlt, 2008, S. 101.

[3] Alfredo Jahn: LA PRIMERA ASCENSION A LA SILLA DE CARACAS EL 3 DE ENERO DE 1800 POR ALEJANDRO DE HUMBOLDT. Caracas: Enero 15 de 1932. In: en Cultura Venezolana. Caracas, Tipografía Mercantil, año XIV, tomo XLVII, enero-marzo de 1932, p. 11. (PDF) (Übersetzung aus dem Spanischen T.F.)

[4] Daniel Kehlmann: Die Vermessung … [wie Anm. 2] S. 206.

[5] Humboldt, Alexander von: Über die Höhe des mexikanischen Vulkans Popocatepetl. In: Mittheilungen aus Justus Perthes geographischer Anstalt über wichtige neue Erforschungen auf dem Gesammtgebiete der Geographie, 2. Band (1856), S. 479-481, hier S. 479. (Deutsches Text Archiv)

[6] Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften: Alexander von Humboldt auf Reisen – Wissenschaft aus der Bewegung. (Ziele und Aufgaben)

[7] Leitner, Ulrike: „Ich habe es mir zur Pflicht gemacht, alle angestellten Beobachtungen ohne Auswahl in mein Tagebuch einzutragen.“. Über die Neuausgabe der amerikanischen Reisejournale, 1. Band (ART I). Nr. 65. In: edition humboldt digital, hg. v. Ottmar Ette. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. Version 3 vom 14.09.2018. (Reisetagebücher)

[8] Ebenda 3.

[9] Ebenda.

[10 Zitiert nach ebenda.

11 Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859, S. [V]. (Deutsches Text Archiv)

[12] Vgl. zur Frage des Lebens und seines Ursprungs auf der Erde mit den Infusorien: Torsten Flüh: Leben und Tod in der Platovskischen Steppe. Zu Alexander von Humboldt und Russland in der Botschaft der Russischen Föderation. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juni 25, 2015 21:04.  

[13] Vgl. zur Medienpräsenz Alexander von Humboldts auch: Torsten Flüh:  Wasserzeichen vom Orinoco. Zum 2. Alexander von Humboldt-Symposium „Forschen & Edieren“. In: NIGHT OUT @ BERLIN Mai 30, 2015 19:05.

[14] Max Ring: Alexander von Humboldt‘s Tod und Leichenbegängniß. In: Die Gartenlaube. Heft 22, S. 315. Leipzig: Ernst von Keil, 1859. (Digital)

[15] Kurt-Reinhard Bierman, Ingo Schulz: „Gestört durch den Unfug elender Strolche“. Die skandalösen Vorkommnisse beim Leichenbegängnis Alexander von Humboldts im Mai 1859. In: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins 95, H. 1, 1999, S. 470-475.

Israels rosa Wolke – Zu Aeyal Gross‘ Kritik am Homoglobalismus

Pinkwashing – Fortschritt – Nationalisierung

Israels rosa Wolke

Zu Aeyal Gross‘ Kritik am Homoglobalismus. Oder: Gibt es eine Global Gay Governance?

Dank Netta und ihres Songs Toy findet am Samstagabend ab 21:00 Uhr das Finale des 64. Eurovision Song Contest in Tel Aviv, Israel, statt. Tel Aviv gilt international als Top-Reiseziel für den schwulen Tourismus. American Airlines ernannte Tel Aviv gar zur „best gay city in the world“. Die größte Gay Pride in ganz Asien nach amerikanischer Perspektive findet hier statt. Vielleicht wird der ESC deshalb in diesem Jahr noch ein bisschen schwuler werden. Und Schwule lieben Netta wie auch Madonna, die vorbeischauen will. Aeyal Gross lehrt als Professor für Internationales Recht und Verfassungsrecht an der Juristischen Fakultät der Universität Tel Aviv. Er kritisierte und diskutierte in der 5. Rainbow Lecture als queerer Aktivist Pinkwashing, Homoglobalismus und Global Gay Governance.

Aeyal Gross‘ Familiengeschichte ist mit Berlin verknüpft. Sein Vater lebte in der Neuen Grünstraße in Berlin-Mitte und musste 1933 Deutschland verlassen. Am 5. April 1933 erhielt er ein Visum für Palästina als Reisender von der Britischen Botschaft in Berlin. Aeyal Gross projizierte das Dokument am 3. Mai für seine Rainbow Lecture in der Kantine der TAZ in der Friedrichstraße. Es war die fünfte Rainbow Lecture, mit der auf auch kontroverse Weise der 150. Geburtstag von Magnus Hirschfeld in Kooperation mit der TAZ von Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft e.V. und Initiative Queer Nations e. V. gewürdigt wird. Aeyal Gross sieht sich sozusagen seinem Familienerbe wie dem Erbe Magnus Hirschfelds verpflichtet. Ist die liberale Politik der Regierung Netanjahu ein Fortschritt für die Rechte von LGBTI*? Oder wird sie strategisch genutzt, um Israel zu Unrecht im Licht des Liberalismus erscheinen zu lassen?

Gibt es einen Fortschritt in den Rechten von LGBTI*? Müssen wir den Politikern für z.B. die „Ehe für alle“ dankbar sein? Oder geht es um unteilbare Menschenrechte, die oft in Verfassungen formuliert und festgeschrieben sind, aber mangelhaft umgesetzt wurden? Heute, am 17. Mai 2019 hat das Parlament von Taiwan in Taipeh die Ehe für alle legalisiert! Das ist fast schon eine Ironie der Geschichte in Zeiten der Globalisierung. Denn der 17. Mai oder 17.5. galt wegen der strafrechtlichen Diskriminierung durch den § 175 Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland bis zu seiner Streichung 1994 als Tag der Homosexuellen. Seit 2005 gilt er als internationaler Tag gegen Homophobie, Transphobie und Biphobie. Nun hat das taiwanische Parlament gegen den Widerstand der konservativen Kuomintang für die völlige Legalisierung und Gleichstellung von Ehen unter Menschen gleichen Geschlechts gestimmt.   

In Israel werden gleichgeschlechtliche Ehen, die im Ausland geschlossen worden sind, zwar respektiert, aber zuletzt wurde im Juni 2018 in der Knesset ein Gesetzentwurf zur Gleichstellung mit 42 zu 39 Stimmen abgelehnt. Gleichwohl propagiert die konservative, israelische Regierung von Benjamin Netanjahu, dass Israel im Vergleich zu seinen arabischen Nachbarländern besonders gay friendly und damit liberal sei. Aeyal Gross führte in seiner Rainbow Lecture nun zahlreiche Beispiele an, wie das Paradox von staatlicher Vereinnahmung und Verhinderung von verfassungsrechtlich formulierten Grundrechten ständig aufgeführt wird. Der ESC führt mit staatlicher – und militärischer – Unterstützung nun den ultimativen Liberalismus mit der Vielfalt der Sänger*innen auf. Als Verfassungsrechtler nimmt Gross wenigstens seit 2015 eine standhafte Position zum Pinkwashing ein.

Vielleicht muss schon hier Aeyal Gross‘ Haltung ein wenig genauer kontextualisiert werden. Denn er steht nicht völlig allein mit seiner Kritik am israelischen Staat und seiner Regierung. Sie gibt vielmehr einen Wink auf aktuelle Entwicklungen in Israel wie sie schon im November 2016 mit der Mosse Lecture Religion, Nationalism, and the Cult of Death: The case of Israel von Eva Illouz zur Sprache kamen.[1] Die israelische Soziologin Eva Illouz machte in ihrer Mosse Lecture zum Thema Populismus und Politik darauf aufmerksam, dass der säkulare Staat Israel zunehmend in einen religiösen verwandelt wird. „Die Wahrheit sagen muss (der jüdische Intellektuelle, T.F.) nämlich gleichzeitig einem mächtigen Militärstaat, der an der Schwelle zu einer ethnischen Hegemonie steht – Israel –, und einer jüdischen Diasporagemeinschaft, die von der Erinnerung an ihre fürchterlichen Verfolgungen heimgesucht wird.“[2] Der „mächtige() Militärstaat“ steht ebenso im Kontrast zur säkularen Verfassung des Staates Israel wie die religiöse Aufladung der Lebenspraktiken.

Der ESC in Tel Aviv findet genau in diesem Spannungsfeld von Pinkwashing, Militärstaat, Zivilgesellschaft, Orthodoxie und Fundamentalismus statt. Anders als es in den Nachrichten und kurzen Reportagen abgehandelt wird, betreffen diese widerstreitenden Positionen den ESC im allerhöchsten Maße. Ein Vergleich, der naheliegen könnte, zwischen dem ESC und einer anderen, internationalen Großveranstaltung im 20. Jahrhundert wird hier aus Pietät nicht ausgeschrieben. Die Orthodoxie in Israel hat die Austragung des ESC am heiligen Sabbath scharf kritisiert und hätte sie am liebsten verboten. Die israelische Regierung Netanjahu hat argumentiert, dass keine Juden hinter der Bühne arbeiteten und damit das Gebot, am Sabbath nicht zu arbeiten, eingehalten werde. Vor allem schwule Männer aus aller Welt sind nach Tel Aviv gereist, um neben dem Gesangswettbewerb noch ein bisschen Spaß zu haben. Die Stadtverwaltung von Tel Aviv, hat eine inoffizielle Cruising Area am Strand, per Regenbogenflaggen legalisiert, wie Aeyal Gross in seinem Vortrag erklärte und warnte.

Die Hamas schießt ein paar Raketen nach Israel, um den ESC zu stören. Israelreisende und ESC-Fans bekunden am Strand von Tel Aviv gegenüber der Reporterin vom ARD Morgenmagazin, dass sie sich durch das israelische Militär trotzdem sicher und geschützt fühlen. Madonna ist gar angereist und wird für vermutlich sehr viel Geld ein oder zwei Songs singen. Auch sie fühlt sich offenbar geschützt und hat gerade eine Rede bei den schwulen GLAAD Media Awards gehalten. Vor allem gehört Israel zur ESC-Gemeinde, damit zu Europa und wird eben in dieser ESC-Woche eine Art europäische Hauptstadt. Israel und wenigstens Tel Aviv will so europäisch wie Berlin, Amsterdam, Dublin, Paris oder Oslo sein. Das existentielle Dilemma des Staates und seiner Bürger, wie es mit dem israelischen Berlinale-Wettbewerb-Gewinner Synonymes von Nadav Lapid in Szene gesetzt worden ist[3], will oder soll für das Finale des ESC vergessen werden.

Wie europäisch ist Queerness? Nicht zuletzt der familiäre Wink auf die in gewisser Weise  glückliche Emigration des Vaters nach Palästina macht Aeyal Gross auch zum Europäer ebenso wie Israel wenigstens an der Grenze zu Europa liegt. Es ist gewiss europäischer als Australien, das zum fünften Mal teilnimmt. Es gibt schwule ESC-Fans, die aus USA nach Tel Aviv gereist sind. Bereits 2015 hat Aeyal Gross anlässlich der größten Gay Pride des Nahen und des Fernen Osten in Tel Aviv die Veranstaltung als Pinkwashing kritisiert. In der englischen Online-Ausgabe von Haaretz fragte die Zeitung:

„Is gay pride more complex when it comes to Israel? Should we be questioning whether Israel is using gay rights to „pinkwash“ its actions in the West Bank and Gaza, or are pinkwashing charges just an irrelevant ploy to change the subject back to the Palestinians?“[4]

Pinkwashing, Homoglobalismus und Global Gay Governance wurden und werden von Aeyal Gross engagiert in Frage gestellt. Vielleicht hat Haaretz die Frage nicht ganz präzise formuliert. „(G)ay pride“ ist wahrscheinlich nicht komplexer, wenn sie in Israel stattfindet, sondern „Israel“ müsste längst die verfassungsrechtlich immanent garantierten Rechte umsetzen. Man könnte sagen, dass die Regierung „gay pride“ unterstützte, damit sie die Rechte nicht umsetzen muss! Der vermeintliche Liberalismus hat konservative Folgen. So habe ich das zwar nicht im Vortrag von Aeyal Gross gehört, aber das scheint dem Berichterstatter der springende Punkt. „Israel“ tut alles für LGBTI*, damit es ihre Rechte nicht umsetzen muss. Nach Haaretz formulierte er es 2015 etwas anders.

„Gross replied that he „sees politicians who never work to advance LGBT rights in Israel flaunt it abroad for propaganda.“

Gross continued to call politicians who speak out against gay rights yet brand Israel as pro-gay guilty of pinkwashing, adding that „even when they speak for gay rights but do nothing to promote it actively, that’s domestic pinkwashing.““[5]

Jan Feddersen, der den Vortrag in der TAZ-Kantine moderierte und danach fragte, ob die aktuelle Politik nicht schon ein erfreulicher „Fortschritt“ für die Rechte von LGBTI*s in Israel und der Welt sei, wollte Gross‘ Ausführungen nicht folgen. Man muss allerdings den Unterschied machen, ob man verfassungsrechtlich für einen Staat argumentiert oder ob man aus einem allgemeinen Gefühl des Fortschritts von schwulen Rechten in der Welt spricht. Das Gefühl des Fortschritts wird im Falle Israels ganz offensichtlich von der Regierung instrumentalisiert. Verfassungsrechtlich sind sich Taiwan und Israel vermutlich sehr viel näher, als man auf den ersten Blick denkt. In Taiwan hat der Umsetzungsprozess zu einer konkreten Gesetzgebung geführt. In Israel wird die Gesetzgebung durch Mehrheitsverhältnisse von Politikern verhindert, um Schwule zugleich als Tourismusversprechen für ein freies Land zu nutzen.

Vielleicht sind Schwule ganz besondere Gefühlswesen. Sie fühlen sich frei und geschützt, wenn sie wie nach Gross in Tel Aviv bestimmte Areale zugewiesen bekommen. Er benutzt den abwertenden Begriff Propaganda, um die politische Strategie deutlich zu machen. Propaganda spricht Gefühle an, um sie zu verstärken und für politische Zwecke zu nutzen. Der Historiker Sven Oliver Müller hat nicht zuletzt am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung den Einsatz von Musik für die Propaganda untersucht.[6] Denn die Musik spricht Gefühle scheinbar unvermittelt an, verstärkt, kanalisiert und steigert sie. Doch auch durch Bilder wie das im Internet aufgetauchte Foto von zwei händchenhaltenden israelischen Soldaten im Dienst auf einer Facebook-Seite spricht Wünsche und Ängste an. Der eine Soldat telefoniert, während er mit seinem „Freund“ an der Hand auf einer Straße in einem Wohngebiet geht. Wenigstens das Sicherheitsgefühl wie das Gefühl von Normalität werden mit dem Foto angesprochen. Der Ursprung des Fotos blieb dann allerdings unklar.

Anders als Gay Pride lässt sich Queerness weniger gut durch Propaganda normalisieren und instrumentalisieren. Aeyal Gross hat ein Gespür für Propaganda mit Schwulen entwickelt. Denn es sind gerade Bilder und Erzählungen von Normalität, die „Israel“ für seine Selbstdarstellung nutzt. Sie stehen auch im Kontext ökonomischer Nutzung. Gerade unter amerikanischen Gays kursierte in den 80er und 90er Jahren die Formulierung money speaks. Mit der ökonomischen Kraft z.B. von schwulen Touristen sollten gesellschaftliche Verhältnisse in den Destinationen verändert werden. In Tel Aviv scheint sich nicht nur diese Strategie umgedreht zu haben. Vielmehr hat sie Tel Aviv verändert und normalisiert, damit sich Israel nicht verändern muss. Queerness widersteht dagegen Normalisierungsprozessen. Dabei wird der Wunsch nach Normalisierung besonders häufig von ökonomisch abgesicherten Schwulen formuliert.

Neben Pinkwashing wendet sich Aeyal Gross gegen Homoglobalismus. Diesen Begriff hat er erst in den letzten Jahren entwickelt. Er beschreibt damit einen Wandel in politischen Strategien wie beispielsweise von Israel, in denen „Homosexuelle“ soweit normalisiert wurden, dass sie im Militär im nationalen Interesse agieren. Seine Kritik an einer Global Gay Governance ist nicht etwa als Studie abgeschlossen, sondern ein „Work in progress“. Er knüpft dabei bereits im Titel an die Queer Theory an: Gay Governance: A Queer Critique.[7]

„In den letzten zwanzig Jahren hat sich in einigen Ländern ein dramatischer Wandel vollzogen von der Abkehr der Darstellung des Homosexuellen als Bedrohung für die Nation (manifestiert sich unter anderem in einem weit verbreiteten Einspruch gegen Schwule, die im Militär dienen), hin zu einer Anschauung von Homosexuellen als integraler Bestandteil der Staatsbürgerschaft und als Teil dessen, was dazu dient, einen Staat (sowohl intern als auch extern) als liberal und demokratisch zu markieren. Dieser Prozess wurde teilweise in der Diskussion über „Homonationalismus“ festgehalten. Jasbir Puar beschreibt das als „nationalistische Homonormativität“. In diesem Rahmen bieten „domestizierte“ schwule Wesen Munition zur Stärkung des nationalistischen Projekts.“[8]

Die zuvor angesprochene Unterscheidung zwischen Queerness und Gayness kommt in Aeyal Gross‘ Kritik zum Zuge. Denn es geht mit seinem Beispiel der Verweigerung von Unterstützung des Gesundheitswesens in Uganda 2011, weil LGBTI*-Rechte dort nicht umgesetzt bzw. schwule Ugander verfolgt werden, um die Strategie des money speaks. David Cameron knüpfte als Premierminister die Vergabe von Hilfsmitteln an die Einhaltung und Umsetzung von Rechten der LGBTI* in Uganda. Als konservativer Premierminister und Wegbereiter des Brexit hat David Cameron insofern eine Gay Governance zu einer machtpolitischen Entscheidung gegenüber Uganda benutzt. Und er wird von konservativen Schwulen in Großbritannien gewiss Beifall dafür bekommen haben. Aeyal Gross spricht zugleich mit seiner Kritik einen überaus wichtigen und problematischen Bereich der Männlichkeit im Spektrum des schwulen Männlichkeitsaktivisten Jack Donovan, The Way of Men 2012, an.[9]

Die Normalisierung der Homosexuellen hat dazu geführt, dass sie mit Männlichkeits- und Rassefantasien im Spektrum der Neuen Rechten agieren. Schwule Männlichkeits- und Rassefantasien wie Suprematie bei Jack Donovan haben mittlerweile schwule Karrieren generiert, die vom Populismus eines Donald Trump und der Neuen Rechten instrumentalisiert worden sind, um Geschlechtergrenzen zu „re-konstruieren“. Das ist ein Programm, das vom rechten, deutschen Antaios Verlag für jedermann nachlesbar formuliert worden ist. Richard Grenell ist stolz darauf, dass er für Trump und sein Team schwule Wählerstimmen mobilisieren konnte. Dafür ist er Botschafter der Vereinigten Staaten von Amerika in Berlin geworden. Doch die Pointe liegt darin, dass er keine private Ausnahme ist, sondern ein politisches Karrieremodell des Homoglobalismus verkörpert. Dem muss selbstverständlich argumentativ entgegen gewirkt werden.

Torsten Flüh


[1] Siehe: Torsten Flüh: Emotionale Verstrickungen. Zur Populismus-Debatte bei Eva Illouz und Didier Eribon. In: NIGHT OUT @ BERLIN  November 30, 2016 19:29.

[2] Eva Illouz: Israel – Sozilogische Essays. Berlin: edition suhrkamp, 2015, S. 7.

[3] Vgl. Torsten Flüh: Vaterkonflikte und Heimatlosigkeit. The Boy Who Harnassed The Wind und Synonymes auf der Berlinale – Goldener Bär. In: NIGHT OUT @ BERLIN Februar 16, 2019 22:18.  

[4] Haaretz: Pinkwashing Debate: James Kirchick and Aeyal Gross Face Off on Complexities of Gay Pride in Israel. Jun 10, 2015 6:30 PM.

[5] Ebenda.

[6] Siehe u.a. BF/HR: Propaganda mit Gefühl – Musik als Instrument gesellschaftlicher Zwecke. Max-Planck-Gesellschaft: Propaganda mit Gefühl – Musik als Instrument gesellschaftlicher Zwecke. 2. Dezember 2012.

[7] Aeyal Gross: Gay Governance: A Queer Critique. (ohne Ort, ohne Jahr) (PDF) GOVERNANCE FEMINISM: AN INTRODUCTION (Janet Halley, Prabha Kotiswaran, Rachel Rebouché & Hila Shamir eds., 2018)

[8] Ebenda (Übersetzung, T.F.)

[9] Zu Jack Donovan vgl. Torsten Flüh: TEDDY macht Politik. Die 32. TEDDY AWARD Zeremonie war politischer denn je. In: NIGHT OUT @ BERLIN Februar 28, 2018 17:43.

Das Politische so fern ganz nah – Emine Sevgi Özdamar eröffnet die Mosse-Lectures

Politisch – Sprache – Literatur

Das Politische so fern ganz nah

Emine Sevgi Özdamar eröffnet die Mosse-Lectures zu Sprachen des Politischen in Literatur und Kunst

Die Mosse-Lectures im Sommersemester 2019 und damit im zweiundzwanzigsten Jahr machen das Politische, das nicht mit der Politik gleichzusetzen ist, wie Ulrike Vedder in ihrer Eröffnungsrede sagte, als „Sprachen des Politischen“ zum Thema. Bereits der „Wahlspruch“ „Die Öffentlichkeit von Kultur und Wissenschaft“ für die Mosse-Lectures, die George L. Mosse am 14. Mai 1997 mit einem Vortrag im Atrium des Mosse-Zentrums eröffnete, gab einen Wink auf das Politische.[1] Aus Anlass des 100. Geburtstages von George L. Mosse am 20. September 2018 wird Anfang Juni die Konferenz Mosse’s Europe New Perspectives in the History of German Judaism, Fascism, and Sexuality im Deutschen Historischen Museum stattfinden. Das Politische umgibt als das Imaginäre die Sprachen und Praktiken.

Mit Emine Sevgi Özdamar eröffnete eine Schriftstellerin die Reihe der vier Lectures in diesem Semester, die das Politische der Sprachen frühzeitig, quasi anknüpfend an Brecht und Weill zum Thema ihrer Istanbul-Berlin-Trilogie Sonne auf halbem Wege (2006) gemacht hat. 2007 wurde sie Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Emine Sevgi Özdamar las nun in der Mosse-Lecture aus dieser Trilogie wie aus Reden und aktualisierte damit zugleich ihre Texte seit 1992. Denn die Sprachen und das Sprechen selbst werden von ihr unablässig thematisiert. Wie lernt oder verlernt frau eine Sprache? Welche Sprachoperationen sind erlaubt? Welche werden gar mit Lachern als Beifall begrüßt? Özdamar war erkältet – vielleicht ein Wink –, nahm Tropfen ins Wasser und musste sich zum Sprechen zwingen. Werden wir nicht immer zum Sprechen gezwungen?

Roland Barthes hat einmal am 7. Januar 1977 formuliert, dass „die Sprache als Performanz aller Rede“ heißt „zum Sagen zwingen“.[2] Vielleicht muss man ein Paradox für die Schriftstellerin Özdamar und ihre Schreibweise bedenken. Früh „schwor“ sie sich, Schauspielerin zu werden nach einem Text, mit dem sie ihre Vorlesung begann. Sie wollte unbedingt sprechen. Das Verständnis der Texte, die eine Schauspielerin spricht, kann durchaus bei der Darstellung nutzen. Andererseits verstand sie zunächst im Deutschen nicht, was sie sagte, wenn sie es aus Zeitungen und von Plakaten applizierte, wie sie im Nachhinein schreibt. Ihrer Vorlesung gab sie den Titel Die krank gewordenen Wörter und führte dafür ein Eigenzitat an:

„Man sagt, in fremden Ländern verliert man die Muttersprache. Aber man kann die Muttersprache auch im eigenen Land verlernen.“

Es gibt eine Feindseligkeit der Sprache, die in Literatur verwandelt werden kann. Der Vertrauensmann der Jury des Kleist-Preises 2004, Hermann Beil, Theaterdramaturg und Theaterregisseur, war es, der bestimmte, dass Emine Sevgi Özdamar einen der bedeutendsten deutschen Literaturpreise erhalten solle. Bei der Preisverleihung im Berliner Ensemble schlich die Feindseligkeit der Sprache vereinzelt durchs Publikum. Sprache grenzt aus oder schließt ein. Das ist ein politisches Problem, das die „Einfache Sprache“ als Inklusion z.B. in der Konzeption der Wanderausstellung Einige waren Nachbarn zu lösen versucht. Doch es geht nicht nur um Deutsch als Sprache, dafür ist die Schriftstellerin und Schauspielerin zu klug. Sie berlinert gar, wenn sich damit an ein „Berliner Volkslied“ von Kurt Weill auto-biographisch anknüpfen lässt.

„Ick sitze da un’ esse Klops
Uff eenmal klopp’s.
Ick kieke, staune, wundere mir, uff eenmal jeht’se uff, die Tür.
Nanu, denk ick, ich denk: nanu, jetzt is’se uff, erst war’se zu!
Ick jehe raus, un blicke
Un wer steht draußen?
Ikke!

Es gibt in der Türkei, in der Stadt, wo ich geboren bin, kein Klops, aber »uff eenmal klopp’s« gibt es. Ich klopfte »uff eenmal« im Bauch meiner Mutter, an einem Augusttag. »Nanu, denk ick, ich denk nanu, jetzt is’se uff, die Tür, erst war’se zu«. Plötzlich befand ich mich in einer heißen Stadt, einer alten Stadt, einer alten Hethiterstadt in Südostanatolien…“[3]  

Özdamar eignet sich den Berliner „Klops“ an und macht ihn frei nach Weill zu ihrer Geburts- wie Herkunftsgeschichte. Das nennt man eine Sprachoperation, auf die klopsselige Berliner*innen gar nicht gekommen wären. Das „Berliner Volkslied“ wird in einem Jargon gesungen, dessen Ursprung sich selbst im Volk schwer verifizieren lässt. Schon bei Weill bleibt offen, ob nicht das Reimschema Klops/klopp’s und blicke/Ikke ein überraschendes Ereignis der Selbstbegegnung generiert. Man kann über die Unsinnserzählung vom Klops mit dem auffälligen Reim lachen oder ihr einen literarischen Eigensinn verleihen, wie Özdamar es macht. Wenn Emine Sevgi Özdamar den Text vorliest wie in ihrer Mosse-Lecture, dann generiert die Kollision von Sinn, wie sie bereits bei Weill angelegt ist, Lacher. Zwar gibt es keinen Klops in ihrer Geburtsstadt, aber die „Tür“ öffnet sich auf überraschend ähnliche Weise. Dabei geht es gar um das Politische, das vielleicht nur deshalb anklingt, weil Kurt Weill ein politischer Komponist war. Oder wie es in der Ankündigung des Semesterprogramms heißt:

„Individuelle Erlebnisse und Ereignisse finden Ausdruck in einer Bilder- und Körpersprache, mit der etwas Denkbares und Fühlbares angesprochen wird, das nicht oder noch nicht verfügbar ist. Die hier wirksam werdende Agenda erschöpft sich nicht in Kritik und Kompensation der vorherrschenden Realpolitik. Vielmehr sucht sie, jenseits des privilegierten Wissens, die Nähe zu den Alltagserfahrungen von Entfremdung und Diskriminierung und den hier wirksamen Gesten des Aufbegehrens und des Widerstands …“[4]

Der Titel formuliert mit Die krank gewordenen Wörter einen Verlust. Denn die Wörter sind nicht nur durch, sagen wir, Umwelteinflüsse, Bakterien oder Viren „krank geworden()“. Vielleicht sind sie eher im Unterschied zu starken Wörtern, schwach, ansteckend und krank geworden. Das Krankwerden wird von Özdamar recht genau datiert. Darauf wird zurückzukommen sein. Auch ihr Humor hinsichtlich des Wortes „Gastarbeiter“ wird bedacht werden müssen. Doch zunächst soll Hermann Beil als Laudator zum Kleist-Preis zu Wort kommen.

„Ihr eigentliches, wahres Zuhause ist jedoch die Sprache, eine Sprache, die sie erst erlernen und erfahren mußte, eine Sprache, die für sie nicht ausformuliert, nicht fertig, nicht endgültig ist, eine Sprache, die bei ihr etwas rhapsodisch Schweifendes hat, die mit Lust Bilder aufnimmt und diese Bilder gerade durch das wörtliche Genaunehmen entwickelt. Tatsächlich ist Emine Sevgi Özdamar auf diese Weise, als lernend, zugleich eine intuitive Sprach- und Wortfinderin.“[5]

Was „das wörtliche Genaunehmen“ heißen könnte, konkretisiert Hermann Beil nicht. Doch dieses Genaunehmen, das als Substantiv ein Neologismus zum Adjektiv genau in Kombination mit dem Verb nehmen ist, spricht zweifelsfrei eine poetologisch-literarische Praxis an. Was sozusagen von Muttersprachlern diskursüblich genommen und verwendet wird, nimmt Özdamar „genau“. Sie liest es anders, um es literarisch einzusetzen. Beim Klops blitzt die Praxis schon auf. Und das kommt nicht irgendwoher, sondern knüpft an Weills und Bertolt Brechts literarisch-dramaturgisches Verfahren der „Verfremdung“ an, woran Hermann Beil durchaus erinnerte.[6] Ein in allgemeiner Zirkulation befindliches Wort wie Klops wird homophonisch „genau“ genommen. So wird aus Klops „klopp’s“, was sich zum Reimen und für ein ganz anderes Klopfen eignet. Das hat in Özdamars Text auch etwas mit „der Zeit der Achtundsechziger Bewegung“ zu tun, obwohl es trickreich als Unwissen erzählt wird.

„Die Fragen lauteten zum Beispiel: »Was habe ich diese Woche getan, um mein Bewusstsein zu erweitern? Welches Buch habe ich gelesen?« Ich kam nach Hause und fragte meine Mutter: »Mutter, was hast du diese Woche gemacht, um dein Bewusstsein zu erweitern?« Weil sie über meine Frage staunte, übte ich bei ihr meine Achtundsechziger Sprache, die ich bei Berliner Studenten gelernt hatte. »Mutter, wer war zuerst da, die Henne oder das Ei?«“[7]

Das „Genaunehmen“ generiert ebenso sehr Individualität wie „individuelle Ereignisse und Erlebnisse“, die darin „Ausdruck (finden)“. Es entspringt einer Fremdheit und Fragwürdigkeit der Sprache wie einem gewissen politischen Widerstand, sich wehrlos nicht nur den Wörtern, sondern nach Roland Barthes der Herdenhaftigkeit des Diskurses zu unterwerfen. Das Herdenhafte wie die Übertragung der „Achtundsechziger Sprache“ auf ein Gespräch mit der Mutter muss die Adressatin verfehlen. Das heißt auch, dass die „Achtundsechziger Sprache“ in dem Moment versagt, in dem sie herdenhaft verwendet wird. Özdamar beschreibt mit dieser Passage nicht nur ein Problem des Deutschen als Fremdsprache, vielmehr findet das in Deutsch formulierte Ereignis an der „Istanbuler Schauspielschule“ statt.[7] Wenn es den Disput mit ihrer Mutter in Istanbul gegeben hat, dann wird er in Türkisch stattgefunden haben, woran zu erinnern sich lohnt, was allerdings aus der Position deutscher Muttersprachler beim Lesen und Hören vergessen werden könnte. Anders gesagt: Özdamars Romane und Reden fordern immer auch zum fragenden Lesen auf.

„1971 putschten die Militärs in der Türkei. Gendarmen und Polizisten kamen in die Häuser und verhafteten nicht nur die Menschen, sondern auch die Wörter. Alle Bücher wurden vorsichtshalber zu den Polizeirevieren gebracht. Damals bedeutete in der Türkei Wort gleich Mord. Man konnte wegen Wörtern gefoltert, erschossen werden. In solchen Zeiten können Wörter krank werden. … Ich wurde unglücklich in der türkischen Sprache…“[9]

Die politische Aktualität dieser Formulierung vom 21. November 2004, am 2. Mai 2019 ein wenig anders arrangiert vorgelesen, lässt sich nicht überhören. Der zunächst kryptische Titel öffnet sich in seiner Aktualisierung. Kranke Wörter sind durchaus ansteckend und lebensgefährlich. Sie haben zu einer Asylwelle türkischer Staatsbürger in der Bundesrepublik Deutschland geführt. Gleichzeitig gehört dieser Verlust der „Muttersprache“ zum individuellen Erfahrungswissen von Emine Sevgi Özdamar. Doch als Schriftstellerin musste sie Praktiken finden, zu denen nicht nur das Deutschlernen gehörte, mit denen sie diese Erfahrung formulieren konnte.

„Man sagt, man verliert in einem fremden Land die Muttersprache, aber in solchen Jahren kann man die Muttersprache auch im eigenen Land verlieren, die Wörter verstecken, vor manchen Wörtern Angst bekommen. Ich wurde damals müde in meiner Muttersprache. Wenn die Zeit in einem Land in die Nacht eintritt, suchen sogar die Steine eine neue Sprache. Dort in Istanbul, in dem tiefen Loch, haben die Wörter Brechts mir geholfen.“[10]

In ihrer Mosse-Lecture las Emine Sevgi Özdamar ausführlicher aus ihrer Romantrilogie. In dieser Besprechung soll allerdings aus einem Brief zitiert werden, um das Politische in ihrem Schreiben einmal genauer zu formulieren. Der Brief ist an Hermann Beil adressiert, aber gewiss nicht nur für ihn geschrieben. Denn es geht um eine Verquickung der eigenen Erfahrung als Schauspielerin mit einem Wort, das für Deutschland eine große, nicht zuletzt ökonomische wie bevölkerungspolitische Rolle spielte. Das Wort Gastarbeiter wird von Özdamar genau genommen.

„Ich las damals den Brief eines türkischen Gastarbeiters. Ich habe diesen Gastarbeiter nie gekannt, er war für immer in die Türkei, in sein Dorf zurückgekehrt. Das Wort »Gastarbeiter«: Ich liebe dieses Wort, ich sehe immer zwei Personen vor mir, eine sitzt da als Gast und die andere arbeitet…“[11]  

Das Politische steckt nicht nur im Wort, vielmehr in der Imagination, mit der es gelesen wird. Wie wird das Wort imaginiert? Özdamar sieht „zwei Personen“, „eine sitzt da als Gast und die andere arbeitet“. Die Imagination löst den Türken als Gastarbeiter aus einem vorherrschenden Wissen heraus. Das ist eine wahrhaft politische Aktion. Wer ist der Gast? Und wer arbeitet? Der Imagination liegt ein Missverständnis zugrunde, dass doch der Arbeiter hoheitlich als Gast auf bestimmte Zeit markiert worden war. Der Gast sollte arbeiten. Doch ein Gast arbeitet nicht. Als Gast aufgenommen zu werden, heißt bewirtet zu werden. Das Wort Gastarbeiter drehte dieses Verhältnis von Gastgeber bzw. Wirt und Gast allerdings brutal um. Gast sollte nur sein, solange wer arbeitete. Jacques Derrida hat einmal das auch schwierige Verhältnis der Gastfreundschaft befragt:

„Die absolute Gastfreundschaft erfordert, daß ich mein Zuhause (chez-moi) öffne und nicht nur dem Fremden (der über einen Familiennamen, den sozialen Status eines Fremden usw. verfügt), sondern auch dem ungekannten, anonymen absolut Anderen (eine) Statt gebe (donne lieu), daß ich ihn kommen lasse, ihn ankommen und an dem Ort (lieu), den ich ihm anbiete, Statt haben (avoir lieu) lasse, ohne von ihm eine Gegenseitigkeit zu verlangen (den Eintritt in einen Pakt) oder ihn nach seinem Namen zu fragen.“[12]  

Der Begriff Gastarbeiter diente nicht zuletzt einer Unterscheidung zum Arbeiter. Die Bundesrepublik Deutschland, um es einmal so zu formulieren, erfand den Gastarbeiter als Helfer für die überarbeiteten, deutschen Industriearbeiter. Indem Emine Sevgi Özdamar das Wort durch die Imagination verfremdet, springt allererst das Politische hervor. Insofern hätte es keine bessere Vortragende an der Grenze von Literatur und Wissenschaft für das Semesterthema der Mosse-Lectures geben können.

Torsten Flüh

Nächste Mosse-Lectures

Juliane Rebentisch

Ausstellungen des Politischen in der Kunst
Donnerstag, 13.06.2019, 19 Uhr c.t.,
Unter den Linden 6 Senatssaal.

Édouard Louis

Changing: On Self-Reinvention and Self-Fashioning
Donnerstag, 27.06.2019, 19 Uhr c.t.
Unter den Linden 6 Senatssaal.


[1] Vgl. dazu Klaus Scherpe: Im Geiste des Hauses. Die Mosse-Lectures an der Humboldt-Universität. In: Elisabeth Wagner (Hg.): Mosse Almanach 2017. Berlin: Vorwerk 8, 2017, S. 24.

[2] Roland Barthes: Leçon/Lektion. Frankfurt am Main: edition suhrkamp, 1980, S. 19.

[3] Emine Sevgi Özdamar: Vorstellungsrede. Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung (2007).

[4] Mosse-Lectures: Sprachen des Politischen in Literatur und Kunst. (Website)

[5] Hermann Beil: In einer fremden Sprache zu schreiben, ist eine Reise. Kleist-Preis 2004 für Emine Sevgi Özdamar. In: Günter Blamberger (Hg.): Kleist-Jahrbuch 2005. Stuttgart: Metzler, 2005, S. 9.

[6] Ebenda S. 10.

[7] Emine Sevgi Özdamar: Kleist-Preis-Rede. In: Ebenda S. 16.

[8] Ebenda.

[9] Ebenda.

[10] Ebenda S. 17.

[11] Ebenda.

[12] Jacques Derrida: Von der Gastfreundschaft. Wien: Passagen, 2001, S. 27.

Von der Wissenschaft und der Poesie der Kindheit – Cirk La Putyka zeigt Memories of Fools im Chamäleon Theater

Benennung – Raumanzug – Ballistik

Von der Wissenschaft und der Poesie der Kindheit

Cirk La Putyka zeigt Memories of Fools im Chamäleon Theater

Es ist der russische Raumanzug von Yuri Gagarin, der die Besucher*innen vom Plakat grüßt, wenn sie vom Hackeschen Hof das Jugendstil-Treppenhaus hinauf zum Chamäleon Theater steigen. Yuri Gagarins Raumanzug war orange: Memories of Fools. Der neue Zirkus des tschechischen Cirk La Putyka führt zurück in die Kindheitsträume. Im Kinderzimmer fliegen noch immer und immer wieder neue Kinder mit einer selbstgebastelten Rakete aus Pappe und Alufolie oder Legosteinen zum Mond. Man weiß nicht, ob sie zuerst den Mond gesehen oder seinen Namen z.B. in einem Gute-Nacht-Lied gehört haben. La Le Lu nur der Mann im Mond… Im Dezember 2018 lockte das Kinderstück Peterchens Mondfahrt wieder einmal ins Planetarium am Insulaner in Berlin.

Das Theaterstück mit Musik Peterchens Mondfahrt von Gerdt von Bassewitz wurde 1912 in Frankfurt am Main uraufgeführt. Schon zu jener Zeit etwas altmodisch, aber poetisch fliegen die Geschwister Peterchen und Anneliese mit dem Maikäfer Sumsemann zum Mond. Es ist das Geburtsjahr von Wernher von Braun, dessen Traum von der bemannten Raumfahrt 1969 mit der Mondlandung von Apollo 11 in Erfüllung ging. Die Mondlandung jährt sich am 21. Juli zum 50. Mal. Vielleicht wird es dann im Chamäleon Theater eine oder mehrere Sondervorstellungen von Memories of Fools geben. Denn kühn und witzig tritt ein Akrobat des Cirk La Putyka unter spacigem Sound im weißen amerikanischen Raumanzug mit einer kleinen tschechischen Fahne stolz auf die Bühne.

Das berühmte und heftig umstrittene Farbbild vom Star-Spangled-Banner in der Mondoberfläche wird humorvoll in die ebenfalls, aber anders blau-weiß-rote Fahne der Tschechischen Republik gewendet. Memories of Fools ist eine Mischung aus Kindheitsträumen vom Fliegen und Raumfahrt-Jubiläum. Am 14. März 2019 erlebte das Showstück seine Welturaufführung im Berliner Chamäleon. Gleichzeitig feiert es damit sein nicht fünfzigstes, aber fünfzehntes Jubiläum von Varieté und Neuem Zirkus. Statt Nummernrevue wird zum Träumen eingeladen. Unter der Regie von Rostislav Novák jr. haben das Kreativteam und die Akrobaten einen Kindertraum von der Mondfahrt für Erwachsene und Kinder wahr werden lassen.

Das Schild MOON zeigt beim Start einer Papprakete an, wohin es gehen soll. Man könnte es das Imaginäre von Technik und Maschine nennen, das den Menschen seit Jules Vernes Roman De la terre à la lune (1865) und der Fortsetzung Autour de la lune (1870) bewegt und nach Erfüllung verlangen lässt. Die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts bringt in Kombination mit den Naturwissenschaften und der Kriegsführung ein neuartiges Literaturgenre hervor, das sich wie Wissenschaft lesen lässt und erst verspätet als Science Fiction benannt werden wird. Die Eröffnungssequenz des Romans Von der Erde zum Mond findet passenderweise im „Gun-Club“ von Baltimore in Maryland noch während des Sezessionskrieges von 1861 bis 1865 statt.[1]

Jules Verne nennt den beispielhaften Krieg „la guerre fédérale des États-Unis“. Die Mitglieder dieses Clubs sind Kaufleute, Industrielle, „mécaniciens“ und Militärs oder die „Hauptleute, Obristen, Generäle“ in der Militärschule zu Westpoint werden wollen. Die  Ballistik als physikalische Wissenschaft von der Bewegung der geschleuderten oder geworfenen Körper und Größe der Waffen formuliert Jules Verne als Hauptmerkmal dieses Krieges. Daraus wird eine Reise zum Mond oder die Raumfahrt erstmals entwickelt. In der Wissenschaft der Ballistik übertreffen die USA nach Jules Verne Europa.

„Aber in der Ballistik übertrafen sie die Europäer ganz außerordentlich. Sie fertigten Geschütze nicht allein von höchster Vollkommenheit, sondern auch von ungewöhnlicher Größe, die folglich eine noch unerhörte Tragweite haben mußten. In Beziehung auf rasante und Breche-Schüsse, Schüsse in schiefer, in gerader Richtung oder vom Rücken her – kann man die Engländer, Franzosen, Preußen nichts mehr lehren; aber ihre Kanonen, Haubitzen und Mörser sind nur Sackpistolen gegen die fürchterlichen Maschinen der amerikanischen Artillerie.“[2]   

Der Traum vom Fliegen wird bei Jules Verne als eine wissenschaftliche Frage von „Größe“ und „Tragweite“ der Geschosse formuliert, die durch die neuartige Eisenindustrie wirtschaftlich wie mechanisch neue Möglichkeiten eröffnet. Zwar entwickelte sich die Ballistik bereits seit Niccolò Tartaglia im 16. Jahrhundert und Gaettano Marzagaglias mathematischer Schrift Dei calcolo balistico von 1748 als moderne Wissenschaft, aber erst im 19. Jahrhundert wird der Wunsch nach einer industriellen Verwirklichung einer Reise zum oder um den Mond von Jules Verne formuliert.

„Unwillkürliche Bewegung ergriff die Versammlung. Barbicane rückte rasch seinen Hut und drückte ihn fest, dann fuhr er mit ruhiger Stimme fort:
»Es ist keiner unter Ihnen, wackere Collegen, der nicht den Mond gesehen, oder mindestens von ihm sprechen gehört hätte. Wundern Sie sich nicht, daß ich Sie hier über das Gestirn der Nacht unterhalte. Vielleicht ist’s uns vorbehalten, für diese unbekannte Welt die Rolle des Columbus zu spielen. Begreifen Sie mich, unterstützen Sie mich mit allen Kräften, so will ich Sie führen, diese Eroberung zu machen, und der Name des Mondes wird sich denen der sechsunddreißig Staaten anreihen, welche den großen Bund dieses Landes bilden.«
– Hurrah dem Mond! rief der Gun-Club wie mit einer Stimme.“[3]

Jules Vernes Verknüpfung der Entdeckung Amerikas durch Columbus mit der Eroberung des Mondes liest sich fast ebenso sinnfällig wie historisch folgerichtig. Allein, dass die Rede Barbicanes vom Schriftsteller erstmals formuliert wird. Retrospektiv kann Jules Verne so als Prognostiker eines Ereignisses erscheinen, das erst – oder schon – 104 Jahre später in Erfüllung gehen wird. Doch Jules Verne befand sich in Paris und als Schriftsteller für das Magasin d’éducation et de récréation für Kinder und Jugendliche ab 1864 an der Schnittstelle von Wissensvermittlung und Unterhaltung. Ségolène Le Men hat das Programm der Zeitschrift des Verlegers und Herausgebers Pierre-Jules Hetzel „la science récréative“ genannt.[4] Diese pädagogische Wissenschaft der Erholung verändert und popularisiert das Wissen beispielsweise durch die neuartigen Illustrationen.

Die Art der Wissensvermittlung als Erholung spinnt das vielfältige, teilweise journalistische Tageswissen weiter. Daraus wird die Reise zum Mond und um ihn herum gemacht, ohne dass Verne es genauer hätte ausführen müssen – und können. Es bleibt ein elastisches Wissen, das offen ist für weitere Anreicherungen und Verschiebungen. Während Jules Verne also bereits 1865 für eine Art Jugendmagazin die Ballistik zur Schlüsselwissenschaft der Raumfahrt zum Mond macht und sie mit dem historischen Wissen von der Entdeckung und Eroberung Amerikas verknüpft, lässt Gerdt von Bassewitz 1912 Peterchen und Anneliese noch oder wieder auf einem Maikäfer zum Mond fliegen. Die fantastische Reiseliteratur Jules Vernes saugt in der Welthauptstadt des 19. Jahrhunderts das Wissen der Zeit auf, um es mit Wünschen und Sehnsüchten auf die Stunde berechnet wahr werden zu lassen. Denn im Untertitel heißt De la terre à la lune „trajet direct en 97 heures 20 minutes“.

Als ließe sich schon die Flugzeit technisch genau berechnen, wird wie im Fahrplan der französischen Eisenbahn die Direktverbindung – „trajet direct“ – angegeben. Doch im ersten Teil des Romans funktioniert das „Projectil“ noch keinesfalls wie eine Direktverbindung mit der Eisenbahn, vielmehr gerät es in die Anziehungskraft des Mondes und wird zu einem „neuen Trabanten“. Der erste Versuch stellt eine ganze Reihe neuer Aufgaben, die vor allem die jugendlichen Leser*innen beschäftigen und anregen sollen.

„Wie viele Fragen wurden durch diese unerwartete Lösung angeregt! Welche geheimnißvolle Lage blieb den Forschungen der Wissenschaft vorbehalten! Dank dem Muth und der Hingebung dreier Männer hatte dieser dem Anschein nach ziemlich unbedeutende Versuch, eine Kugel nach dem Mond zu schleudern, ein unermeßliches Ergebniß von unberechenbaren Folgen bekommen. Hatten auch die in dem neuen Trabanten eingeschlossenen Reisenden ihr Ziel nicht erreicht, so gehörten sie doch wenigstens der Mondwelt an, kreisten um das Nachtgestirn, und zum ersten Mal konnte das Menschenauge in alle seine Geheimnisse eindringen. Die Namen Nicholl, Barbicane, Michel Ardan haben sich in den Annalen der Astronomie ruhmvoll verewigt, denn diese kühnen Forscher haben, aus Begierde den Kreis der menschlichen Kenntnisse zu erweitern, sich verwegen in den Weltenraum gewagt und in dem seltsamsten Unternehmen der Neuzeit ihr Leben auf’s Spiel gesetzt.“[5]

Neil Armstrong setzte also 1969 als erster Mensch seinen Fußabdruck auf den Mond. Den Röhrenbildschirm des Fernsehers verdeckte 1969 bis zum Abend oder bis zur Sendung eine „verschließbare Jalousie das technische Gesicht“ wie beim Modell Blaupunkt Palermo. „Kanadisch Nußbaum“ oder Edelholzimitate machten das Fernsehgerät solange zum Möbelstück, bis es angestellt und zum Fenster zur Welt wurde. Am 20. Juli 1969 wurde die Jalousie im Wohnzimmer der Großeltern schon früher beiseite gezogen. Man hörte das Kontrollzentrum in Houston, sah unscharfe Bilder und alles war für einen Jungen von 7 Jahren unerhört geheimnisvoll, aber wirklich. Denn das Wirkliche kam aus dem Fernseher vom Nachrichtensprecher bis zu Lassie. Wenn nun also mit Damien Chazelles Film First Man nach der Premiere am 29. August 2018 auf den Filmfestspielen von Venedig eine heftige Debatte darüber ausbrach, dass er das Bild von der Flagge auf dem Mond ausspart, kann der Junge nur sagen, dass er sich nicht an die Flagge erinnern kann.

Die Flagge auf dem Mond als eine lang tradierte Geste der Landnahme und eben, wie bei Jules Verne formuliert, „Eroberung“, fehlt in Damien Chazelles Film. Marina Koren urteilte am 12. Oktober 2018 in The Atlantic in der Rubrik „Science“, dass First Man kein unpatriotischer Film ist.[6] Doch die Geste kehrt in humorvoller Weise nun in Memories of Fools wieder. Wahrscheinlich werden die Akrobaten niemals ihre Flugbahnen mit Hilfe der Ballistik berechnen. Doch sie werfen sich oder werden wie Geschosse durch die Luft geworfen. Die Show greift die Elemente der Geschichte von der Mondlandung auf, um sie zugleich ins ebenso Komische wie Akrobatische zu verwandeln. Starke Männer und mutige Frauen nehmen an der Geschichte teil, von der man nicht genau weiß, wie es nun mit dem Star-Spangled-Banner im Wind auf dem Mond wirklich war.

Vielleicht können nur Narren (fools) wie Cirk La Putyka die wahren Geschichten von der Reise zum Mond erzählen und akrobatisch darstellen. Gewiss werden viele Besucher*innen den berühmten orangen Raumanzug nach Yuri Gagarin auf dem Plakat übersehen und sich gar nicht fragen, warum dann ein Tscheche in einem weißen mit der Flagge in der Hand auf der Bühne als Mond steht. Die Aufschrift „CCCP“ für UdSSR auf dem Helm fehlt auf dem Plakat. Stattdessen spiegelt sich eine Akrobatin kopfüber am Trapez in der Scheibe des Helms. Die Geschichte und nicht zuletzt die patriotische und die Nationen bewegende von der Raumfahrt und dem Sieg im Wettlauf um den ersten Fußabdruck auf dem Mond zwischen den USA und den UdSSR wird sozusagen kopfüber erzählt.

Matthias Schwartz hat in seinem Essay Gagarins Raumanzug die paradoxe „Funktionskleidung“ der ersten bemannten Raumfahrt um die Erde durch Yuri Gagarin bedacht.[7] Anders als in Christopher Rileys Film The first Orbit (2011)[8] konnte Gagarin wegen des Raumanzugs kaum etwas sehen: „Tatsächlich war die Freude eher gering, hatte man den Helm doch so fest auf den Raumanzug fixiert, dass Gagarin ihn kaum bewegen konnte… Hinzu kam, dass die Luke der Raumkapsel, durch die er nach außen blicken konnte, maximal weit von seinem Sitzplatz entfernt lag, an dem er festgeschnallt war, die Kapsel zudem ständig schaukelte und sich drehte und Gagarin also nur in einer spezifischen Schräglage überhaupt einen Blick auf die Erde werfen konnte“.[9] Doch Yuri Gagarins Flug um die Erde befeuerte ungemein den Wunsch sehr vieler Menschen, die Erde aus dem Orbit sehen zu wollen.

Natürlich kann man Memories of Fools einfach als sehr unterhaltsamen Neuen Zirkus sehen und bei einem Getränk am Tisch wohl gar mit einem Imbiss genießen. Wahrscheinlich hat sich das Kreativteam auch nicht all zu viel Gedanken über die „Funktionskleidung“ der Raumanzüge gemacht. Doch spielen diese Assoziationen auf der Bühne alle eine Rolle in Zeiten, in denen Multimilliardäre und nicht mehr nur Nationen unbedingt, aber möglichst komfortabel nicht nur in den Weltraum, sondern am liebsten gleich auf den Mars wollen. Das hält dann auch wie weiland bei Jules Verne die Wissenschaft und Forschung am Laufen.

Torsten Flüh

Chamäleon Theater
Memories of Fools

bis 18. August 2018


[1] Jules Verne: De la Terre à la Lune. Paris: J. Hetzel et Compagnie, 1868. (p. 1-7).

[2] In der deutschen Gesamtausgabe von Jules Vernes Romanen erscheint 1874 Von der Erde zum Mond als erster Band. (siehe Erscheinungsjahr und Reihenfolge) Jules Verne: Von der Erde zum Mond. Wien und Leipzig: Hartleben, 1874. (Gutenberg)

[3] Ebenda 2. Kapitel (Gutenberg)

[4] Ségoène Le Men: Hetzel ou la science récréative. In: Romantisme, 1989, 65, S. 69-80. (Romantisme)

[5] Jules Verne: Von … [wie Anm. 2] Schlusskapitel.

[6] Marina Koren: The Absurdity of the First Man Flag Controversy. In: The Atlantic, OCT 12, 2018.

[7] Matthias Schwartz: Gagarins Raumanzug. In: Christine Kutschbach, Falko Schmieder (Hg.): Von Kopf bis Fuss. Bausteine zu einer Kulturgeschichte der Kleidung. Berlin: Kadmos, 2015, S. 24.

[8] Vgl. dazu: Torsten Flüh: Sehen, was Juri Gagarin sah. Christopher Rileys Film The first Orbit auf YouTube. In: NIGHT OUT @ BERLIN Mai 5, 2011 22:56.

[9] Matthias Schwartz: Gagarins … [wie Anm. 7] S. 26.