Das „Weib“* als Schwan und die Geschlechterfrage

Geschlecht – Text – Wechsel

Das „Weib“* als Schwan und die Geschlechterfrage

Zu Katrin Pahls queerer Kleist-Lektüre mit Sex Changes with Kleist

Ende Januar stellte Katrin Pahl von der Johns Hopkins University, Baltimore, Maryland, ihr in der Northwestern University Press erschienenes Buch Sex Changes with Kleist beim Kleist-Jour fixe vor. Der Kleist-Jour fixe findet seit Januar 2017 mit Mitgliedern der Heinrich-von-Kleist Gesellschaft e.V. aus Berlin und Brandenburg und Gästen alle zwei Monate als lockerer Gesprächskreis an verschiedenen Orten in und um Berlin herum, meistens aber im Clubraum des aufsturz‘ in der Oranienburger Straße 67 statt. Nach Kurzvorträgen z.B. über Heinrich von Kleist in der Bildenden Kunst (Barbara Wilk-Mincu) oder Michael Kohlhaasens letzte Speise – Von der Schwierigkeit der Literatur sich in der Welt ihr Recht zu verschaffen (Götz Wienold) oder Die Novellen des Freiherrn Franz von Gaudy aus Frankfurt/Oder (Doris Fouquet-Plümacher) etc. wird in lockerer Runde über das Thema gesprochen.

Der Vortrag zu Heinrich von Kleist aus der Haltung der Queer Theory von Katrin Pahl vor größerer Runde wurde sehr engagiert diskutiert. Wie lassen sich die von Heinrich von Kleist veröffentlichten Texte hinsichtlich ihrer Geschlechtlichkeit (Sex) lesen? Die Kleist-Forscherin und Associate Professor am Department of Modern Languages and Literatures, die dort im German Program lehrt, liest Kleists geschlechtliche Verschiebungen vor allem in den Dramentexten queer, um semantische Überschneidungen freizulegen. Kleists Texte funktionieren an vielen Punkten nicht nach der heteronormativen Ordnung, die sich zu seiner Zeit für das Bürgertum als Klasse nicht zuletzt mit Johann Gottlieb Fichte herauszubilden beginnt. Es lassen sich wiederholt nicht nur in der Penthesilea lesbische Szenen lesen. Bei einigen älteren Teilnehmer*innen des Jours erregte die Lektüre teilweise energischen Protest bis zur Kritik, dass so deutsche Literatur an einer namhaften Universität in den Vereinigten Staaten von Amerika doch nicht repräsentiert werden sollte. Warum fiel die Kritik an der Schnittstelle von Literatur, Geschlecht und Nation so energisch aus?

Das Titelbild für das Buch Sex Changes with Kleist nutzt Katrin Pahl in ihrer Danksagung an Masayo Kajimura schon für einen methodologischen Wink. „Her technique echoes the mackles that I discuss in this book.“ Der Scherenschnitt bestehe aus mehreren Schichten (layers) von Papier mit unterschiedlichen Texturen und Motiven.[1] Die Praxis des Scherenschnitts war von der Videokünstlerin Masayo Kajimura und Katrin Pahl als Medium gewählt worden, weil sie erlaubt, zwei Bilder, einen Schwan und eine Amazone mit freier Brust, übereinander zu schichten. Der Original-Scherenschnitt wurde beim Jour auf einem Flip-Board gezeigt. Die textuellen und motivischen Schichtungen lassen auch immer die darunter liegenden durchschimmern. Oder wie Pahl es in ihrer Einführung formuliert:
“Quite at odds with historical development, Kleist lingered in the interstices of these enormous shifts, overlaid the new with the old, elaborated a poetics of incongruity—or of mackles, as I call it—and dared to generate a logic of confusion and to experiment with alternative symbolic structures, all the while developing a distinctive humor.”[2]
(Ganz im Widerspruch zur historischen Entwicklung verweilte Kleist in den Zwischenräumen dieser enormen Verschiebungen, überlagerte das Neue mit dem Alten, entwickelte eine Poetik der Inkongruenz – oder von mackles, wie ich es nenne – und wagte es, eine Logik der Verwirrung zu erzeugen und mit alternativen symbolischen Ordnungen zu experimentieren, die gleichzeitig einen unverwechselbaren Humor entwickeln.|Übersetzung T.F.)

Der Körper der Amazone ist mit roten Rosen am linken Arm versehen oder überwuchert. Gerötete Wurzeln eines Dornengestrüpps erinnern ebenso an Arterien oder wuchern aus dem rechten Fuß der Amazone wie ein Wurzelgeflecht. Die Bildkomposition thematisiert das Geschlecht (Englisch: sex) auf mehrfache Weise. Der anthropomorphe Körper der Amazone lässt ebenso botanische Züge sehen. Zugleich wird ein sexuelles Verhältnis, Begehrensverhältnis zwischen dem Schwan und der Amazone in Szene gesetzt. Schwan wie Amazone „werfen sich“, wie man sagt, „in die Brust“. (Wobei das „Brust-Bild“ bei Kleist ein derart häufiges und queer gebrauchtes ist, dass Pahl ihm mit Mammologie and Analgrammar ein ganzes Kapitel widmet.) Doch der Schwan erinnert nach Pahl an keine männliche Figur aus Kleists Dramenpersonal, vielmehr wird die Figur Käthchen aus dem „große(n) historische(n) Ritterschauspiel“ Das Käthchen von Heilbronn im sechsten Auftritt des vierten Akts von Eleonore auf irritierende, ja, erotische Weise als „Schwan“ imaginiert:
„Ei, Käthchen! Bist du schon im Bad gewesen?
Schaut, wie das Mädchen funkelt, wie es glänzet!
Dem Schwane gleich, der in die Brust geworfen,
Aus des Krystallsees blauen Fluthen steigt!
– Hast du die Glieder dir erfrischt?“[3]

Für Katrin Pahl gehört die geschlechtliche Ambiguität der Formulierung zu den entscheidenden Argumenten für Heinrich von Kleists sprachlichen Geschlechtertausch in seinen Dramentexten. Der Begriff Geschlecht wird im Deutschen wie im Englischen in einer Bedeutungsvielfalt von Art, Rasse, Sex, Sexus, Geschlechtsteil, Genital, Abteilung, Gattung, Nation, Sippe Abstammung, Dynastie, Familie, Geblüt, Generation, Menschenalter gebraucht.(u. a. Wiktionary) Die geschlechtliche Konstruktion der Amazonen und ihres Frauen-Staates hat seit jeher das heteronormative Geschlechtermodell, das sich um 1800 in Medizin, Recht bzw. Rechtsphilosophie und Gesellschaft systematisch über Akademien durchsetzt, konterkariert. Heinrich von Kleist hat in seiner „Welt der Worte“, so Pahl beim Jour, eine erstaunliche Sensibilität und Offenheit für das weibliche Geschlecht in einer nicht heteronormativen Weise. Damit modifiziert sie das Argument von Helga Gallas, dass Kleist zurück wolle zur „alten symbolischen Ordnung“.[4] Die Sensibilität, die Feinheit der Sinne und des Sinns werden von Kleist mit „mackles“ befragt. Mit Matthias Waltz Ordnung der Namen[5] beschreibt Pahl das Theater des Bürgertums als neue Ordnung, die Kleist in seinen Stücken nicht zuletzt hinsichtlich der Sinne und Gefühle unterläuft:
„At this theater of bourgeois self-formation, all feeling comes down to the same: the feeling of being alive. Given that the autonomous subject cultivates suspended animation by suppressing his impulses to (re)act and arresting himself in the spectator position, his need to feel alive is quite pronounced. At the same time, he can disavow such need by discrediting the scene of sentimentality as emotionality, theatricality, and hysteria.”[6]

Mit ihrer Lektüre von Kleists Der zerbrochne Krug erinnert Pahl an Johann Gottlieb Fichtes „Grundriss des Familienrechts“ als Anhang der Grundlagen des Naturrechts nach Principien der Wissenschaften[7] von 1797, in dem Sexualität als „Geschlechtstrieb“ ein derart grundlegendes Problem für die Würde der Frau darstellt, dass sie sich nur in die romantische Liebe retten könne.[8] Die moderne, bürgerliche Frau sieht sich in ihrer Intimsphäre den höchsten Risiken gegenüber. Deshalb finde Eves Drama im Schlafzimmer statt, wo angenommen wird, dass sie allein zu sein habe. Moderne, bürgerliche Männer werden um 1800 über ihr Berufsleben definiert, weshalb Adams Drama im Gerichtssaal stattfinde. Dass Kleist mit Eve und Adam die Namen des ersten Mannes und der ersten Frau der Abrahamitischen Religionen benutze, unterstreiche die „sex/gender“ Binarität.
„Yet, as usual, Kleist positions his play in a nonbourgeois context. Its characters are simple country folk living in a small village about two hundred years before Kleist’s time, that is, at a historical and local distance from modern middle-class life. Kleist doubles the old with the new and has the play hover on the cusp between a feudal and a bourgeois culture.”[9]

Kleists Geschichten als Handlung auf dem Theater, einem imaginären Raum, bzw. seine Dramentexte entsprechen nicht den eingeübten bürgerlichen Erwartungen, vielmehr funktionieren sie häufig, wenn überhaupt, in plötzlichen Wendungen oder Brüchen. Pahl entwickelt ihre Geschichtslektüre nicht aus einem persönlichen Trauma Kleists als homosexueller Außenseiter, wie es wiederholt gemacht wurde, wofür es allerdings kaum Belege gibt, vielmehr reagiere Kleist auf „a historical trauma that Europe underwent around 1800 and that radiated from there across the globe, producing the gay outlaw in the first place and still affecting the modern subject today“.[10] Das Trauma bestehe in der Produktion eines zweiten Geschlechts, während es in der alten Ordnung lediglich graduelle Unterschiede zwischen Mann und Frau gegeben habe, erschien nun ein neues Paradigma: „the female body“.[11] Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wird der weibliche Körper oder auch der Körper des Weibes zum Gegenstand unterschiedlicher Wissensformationen, die Sichtbarkeiten generieren, wie sie z.B. Claudia Reiche in ihren visuellen Installationen thematisiert.[12]

Die körperliche Natur des Weibes muss nach Johann Gottlieb Fichte reguliert werden, weil das Weib als „zweites Geschlecht“[13] „zur Erzeugung eines Körpers der gleichen Art“[14] bestimmt wird. Die Verschränkung von Reproduktionslogik, Körpermerkmalen und Ätiologie zu einer Ökonomie des Körpers des Weibes lässt sich bei Fichte nicht zuletzt in der Fußnote 1 zu § 3 über die Funktion der Vernunft – „Der Charakter der Vernunft ist absolute Selbsttätigkeit“ – beobachten. Die Vernunft soll den Körper des Weibes hinsichtlich des natürlichen Geschlechtstriebes regulieren. Während der Geschlechtstrieb des ersten Geschlechts oder Mannes kaum einer Regulierung bedarf, damit sich der Mann als Mann versteht, muss der als natürlich formulierte Geschlechtstrieb der Frau entschieden von ihr selbst beherrscht werden, um sich selbst als Weib, als Subjekt wahrnehmen zu dürfen. Die weitaus kompliziertere Konstruktion des „zweite(n) Geschlecht(s)“ zeigt sich in den ausführlichen Ergänzungen der Fußnote 1:
„Es ist hier von Natur, und einem Naturtriebe die Rede, d. i. von etwas, welches das Weib, wenn nur die beiden Bedingungen desselben, Vernunft und Treiben des Geschlechts da sind, ohne alle Anwendung ihrer Freiheit und ganz sich selbst überlassen, in sich finden wird, als etwas gegebenes, ursprüngliches, und aus keiner ihrer vorhergehenden, freien Handlungen zu erklärendes. Es wird dadurch aber gar nicht die Möglichkeit geläugnet, daß nicht das Weib entweder unter ihre Natur herabsinken, oder durch Freiheit sich über sie erheben könne; welche Erhebung – aber selbst nicht viel besser ist, als ein Herabsinken. Unter ihre Natur sinkt das Weib herab, wenn sie sich zur Vernunftlosigkeit erniedrigt. Dann kann der Geschlechtstrieb in seiner wahren Gestalt zum Bewußtseyn kommen, und bedachter Zweck des Handelns werden…“[15]

Es wird die Wissenschaften vor allem im 19. Jahrhundert unablässig beschäftigen, das Weib als Körper bis in das „innere Lustorgan“ der Klitoris zu beschreiben[16], um das Weibliche dort zu verorten. Anders formuliert: Weil sich das „zweite Geschlecht“ und sein „Geschlechtstrieb“, seine „Lust“ so schwer lokalisieren lassen, muss ein Organ, ein körperliches Merkmal dafür ausgebildet werden. Heinrich von Kleist lässt 1811 in der Realschulbuchhandlung in Berlin seinen Text Der zerbrochne Krug mit dem Untertitel „ein Lustspiel“ drucken. Während Fichte an ein biologisches Modell des „Geschlechtstrieb(s)“ anknüpft, bringt Kleist das ältere der „Lust“ als libertäre Wollust ins Spiel. Gerade diese Lust als Praxis der Freiheit wird von Fichte in Abgrenzung zum 18. Jahrhundert „als ein Herabsinken“ inkriminiert. Pahl formuliert ihre Lektüre des Lustspiels mit einer namentlichen Anspielung nicht zuletzt gegen einen Slogan konservativer Christen in den USA: „God made Adam and Eve, not Adam and Steve.“[17] Sie macht mit den quasi überlappenden Namen Eve und Steve einmal mehr ihr methodologisches Verfahren der „mackles“ deutlich.  
„Kleist not only inverts the original marriage plot of heterosexual love (Adam and Eve) by submitting it, at least on the surface, as a story of Adam’s transgression and Eve’s innocence, but he also slips in Steve.”[18]

Die „Mackles“, wie sie mit dem Scherenschnitt visuell in Szene gesetzt werden, lassen sich als entscheidende methodologische Invention des Buches benennen. Sie erweitern theoretisch die Ambiguität in einer praxeologischen Weise. Denn durch das leicht verschobene Übereinanderdrucken ergibt sich eine semantische Unschärfe als Mehrdeutigkeit. Der Begriff wird im Englischen verwendet für eine Fehlerscheinung im Druckprodukt des Offsetdrucks. In der Kunst hat Andy Warhol mackles z. B. bei Thomas Ammann 1978 und Max Bill 1980, beide Acryl und Siebdruck auf Leinwand, verwendet.[19] Für Kleist beschreibt Pahl mackles als eine Wiederholung und Schichtung leicht verschiedener Bilder oder Szenen des gleichen Ereignisses, Konflikts, Charakters, Gedanken oder Gefühls.
„Mackles result from a small shift—Verrücken—of plates during the printing process and present a blurred picture that might create the impression of movement in place—a slight jiggle or wiggle. (…) Kleist’s theatrical mackles shake the spectators’ sense of what exactly they are beholding to the point of rendering them quite mad (verrückt).”[20]

Das Verrücken von Wissensformationen in Kleists Texten wird von Pahl mit einem theoretischen Netzwerk der psychoanalytischen Forschung insbesondere mit der Terminologie Jacques Lacans durchgearbeitet. Seine Terminologie erlaubt es durch seine Praxis des freien Sprechens in seinen „Vorlesungen“, semantische Überlappungen zu beschreiben. Lacans Schriften sind bekanntlich Jacques-Alain Millers Mit- oder Nachschriften der Sprechtexte, wie besonders der Film Lacan parle (1972) von Françoise Wolff deutlich gemacht hat, der in einem anderen Kontext bereits besprochen wurde. Lacan spricht in einem Vortrag vor Student*innen vom Wissen: „Tatsächlich wissen sie einiges. Es ist genau wie das Unbewusste in seiner Definition. Sie wissen nicht, dass sie es wissen. Übertragung ist Liebe. Aber warum lieben wir so jemanden? … Wir wissen, dass Sprache niemals gibt, uns niemals erlaubt zu formulieren… … alles andere als Dinge, die drei, fünf, fünfundzwanzig Bedeutungen haben …“ (Übersetzung, T.F.) Insofern liest Pahl die Texte nicht mit einem Wissen der Psychoanalyse, vielmehr kontextualisiert sie Kleists Werk mit der Terminologie Lacans in „a larger argument“.[21]

Während mackles eine neue terminologische Entwicklung von Katrin Pahl im Kontext der Queer Theory sind, hat sie bereits 2011 die mit dem Begriff der Metalepsis rhetorische Praxis des Herübernehmens für diese fruchtbar gemacht. Eva von Redecker hat sie in Praxis und Revolution (2018) für eine praxis-orientierte Sozialtheorie des radikalen Wandels eingesetzt, woran Pahl wieder anknüpft.[22] Wenn Lacan sagt, dass „Dinge (…) drei, fünf, fünfundzwanzig Bedeutungen haben“ können, so knüpft Pahl mit der Metalepsis daran an, wenn sie argumentiert, „that metalepsis, with its oscillating between thing and word, renders things self-incongruous and thus emotional“. Metalepsis bringe Kontamination und Verwirrung mit sich.[23] Diese revolutionäre Taktik des praktischen Vorwegnehmens einer besseren oder anderen Zukunft, wie Eva von Redecker sie beschreibt, lasse sich bei Heinrich von Kleist als „a lame joke“ finden, wenn die neue Ordnung in der alten widerhalle. So sehe Penthesilea auf dem Wasserspiegel des Flusses die Sonne und nehme diese mit dem Ausspruch „Nimm mich —“ als das „actual object“ ihres Begehrens wahr. Diese halluzinative Verwechslung der gespiegelten Sonne mit Helios als Achilles sei eigentlich eine Art schlechter Witz, so wie wenn Kinder im Kasperletheater Kasper lautstark vor dem Krokodil warnten.[24]
Penthesilea.
Helios, 1385
Wenn er am Scheitel mir vorüberfleucht! 1386
Die Fürstinnen. 
(sehn sprachlos und mit Entsetzen einander an)
Die Oberpriesterinn.
Reißt mit Gewalt sie fort!
Penthesilea. 
( schaut in den Fluß nieder)
Ich, Rasende! 1387
Da liegt er mir zu Füssen ja! Nimm mich — 1388
(sie will in den Fluß sinken, Prothoe und Meroe halten sie)“ (Penthesilea.)

Katrin Pahl hat ihr Kleist-Buch in 6 Kapitel thematisch komponiert. Zwischen Mackles, Mess, and Metalepsis und Obscene Lesbians and Lost Queers entfaltet sie ein Kaleidoskop der queeren Lektüren zu Heinrich von Kleists Texten. Während es weiterhin als heteronormative Praxis geübt wird, die Texte zu normalisieren und mackles wie Käthchen als Schwan, „der in die Brust geworfen,/Aus des Krystallsees blauen Fluthen steigt“, geflissentlich zu überlesen, allenfalls eine Schwebe von Sinn mit der Lektüre zu erzeugen, knüpft Katrin Pahl schlüssig und überzeugend an die insbesondere amerikanische Geschlechterforschung bzw. Gender und Queer Studies an. Dabei geht es nicht um prothetisches Hilfswissen, das an die Texte herangeführt wird, vielmehr um die Texte in ihrer Abweichung und Verrückung zu (juristischen) Normtexten und zeitgenössischen Diskursen. So ist es denn lediglich eine Bestätigung der Methodik und der daraus generierten Thesen, wenn Expert*innen zum Werk Fichtes die Lektüre von Pahl mit Ausrufen und Gesten meinen abwehren zu müssen. Sie bestätigen sich streng der Fichteschen Werke als deren Adept*innen.

Torsten Flüh

*Der in Anführungszeichen gesetzte Begriff Weib wird als Zitat von Fichte gebraucht. Alles hängt von dem Gebrauch eines Begriffes oder Wortes ab. Gerade das zeichnet eine praxeologische Queer Theory aus. Ein häufig abwertender Gebrauch kann und wird wie „schwul“ stolz als Selbstbestimmung angewendet, um das vermeintliche Wissen, das dem Begriff anhaftet, zu unterwandern und machtlos werden zu lassen.

Katrin Pahl
Sex Changes
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[1] Katrin Pahl: Sex Changes with Kleist. Evanston, Illinois: Northwestern University Press, 2019, S. viii.

[2] Ebenda S. 3.

[3] Heinrich von Kleist: Das Käthchen von Heilbronn oder die Feuerprobe ein großes historisches Ritterschauspiel. Berlin: Realschulbuchhandlung, 1810, S. 162. (Digitalisat)

[4] Katrin Pahl: Sex … [wie Anm. 1] S. 6-7.

[5] Ebenda S. 10-11.

[6] Ebenda S. 11.

[7] Johann Gottlieb Fichte: Grundriss des Familienrechts. In: Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre. Band II. Jena und Leipzig: Christian Ernst Gabler, 1797, S. 158-247. (Digitalisat)

[8] Katrin Pahl: Sex … [wie Anm. 1] S. 54.

[9] Ebenda.

[10] Ebenda S. 13.

[11] Ebenda.

[12] Siehe zu Claudia Reiches Installation Argonaut_A (2019) In: Torsten Flüh: Von der Weiblichkeit der Kopffüßler Argonauta argo. Zur Ausstellung Power Cage – Experimentalraum Aquarium im State Studio Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. November 2019.

[13] Johann Gottlieb Fichte: Grundriss … [wie Anm. 7] S. 162.

[14] Ebenda S. 161,

[15] Ebenda S. 163.

[16] Vgl. zur feministischen Diskussion um Clitoris Design auch: Torsten Flüh: Palermo oder Bierbrunnen. Laden 52 präsentiert Visuelle Lektüren/Lektüren des Visuellen. In: NIGHT OUT @ Berlin Juni 26, 2010 10:13.

[17] Katrin Pahl: Sex … [wie Anm. 1] Anm. 24 S. 199.

[18] Ebenda S. 55.

[19] Hamburger Kunsthalle und The Andy Warhol Museum (Hg.): Andy Warhol Photography. Zürich, New York: Stemmle, 1999, S. 170-171.

[20] Katrin Pahl: Sex … [wie Anm. 1] S. 20.

[21] Ebenda S. 15.

[22] Eva von Redecker: Praxis und Revolution. Eine Sozialtheorie radikalen Wandels. Frankfurt am Main/New York: Campus, 2018.

[23] Katrin Pahl: Sex … [wie Anm. 1] S. 35.

[24] Ebenda S. 40.

Als Brad Smith in Redmond ein Video über Hohenschönhausen zeigte …

Design – Geschichte – Praxis

Als Brad Smith in Redmond ein Video über Hohenschönhausen zeigte …

Zur Buchvorstellung Tools and Weapons – Digitalisierung am Scheideweg von Brad Smith im Microsoft Atrium

Die Buchvorstellung am 13. Februar im Microsoft Atrium Unter den Linden bot eine Überraschung. Brad Smith hat zusammen mit Carol Ann Browne ein Buch geschrieben, das in seiner deutschen Fassung zur Mittagszeit um 12:30 Uhr fußläufig zu den Berliner Ministerien und zum Bundestag im Reichstagsgebäude vorgestellt wurde. Der Präsident der Microsoft Corporation war eigens aus Redmond, Washington, einem Vorort von Seattle, angereist. Denn bei seinem letzten Besuch in Berlin hatte er mit einem Kamerateam die Gedenkstätte Berlin Hohenschönhausen besucht, die an die Stasi und ihr Gefängnis erinnert. Der Datensammler Staatssicherheit hatte die Bevölkerung der Deutschen Demokratischen Republik flächendeckend ausspioniert, überwacht und verfolgt. Bis zum 30.12.2020 läuft dort noch die Sonderausstellung Überwachung und Repression in Ost und West.

Berlin und Deutschland sind für den Microsoft-Chef-Juristen und -Präsident Brad Smith zu einem Ort historischer Referenz für das digitale Zeitalter geworden. Was in Berlin geschah – er begann seinen kurzen Vortrag mit der wiederholten Formulierung „It was here in Berlin …“ –, nimmt Brad Smith zum Anlass, um über „Versprechen, Gefahren und neue Verantwortung im digitalen Zeitalter“ zu schreiben. Das kommt einem Paradigmenwechsel in der Technologie-Industrie gleich. Am MIT spricht man nur noch vom Design der Artificial Intelligence (AI). Und auch Google kennt nur Design für die Zukunft und keine Verantwortung aus der Geschichte für die Weltbevölkerung im digitalen Zeitalter. Fast klingt die Rückkehr der Geschichte in den Diskurs der Digitalisierung ein bisschen nach old school. Doch Brad Smith meint es mit der Verantwortung so ernst, dass er, wie er an jenem Mittag erzählte, nach einer Jahreshauptversammlung in Redmond den Zukunftsdesigner*innen von Microsoft sein Video über das Stasi-Gefängnis in Hohenschönhausen gezeigt hat.

Nach einer Begrüßung durch die Leiterin der Microsoft Repräsentanz in Deutschland Tanja Böhm hielt Constanze Stelzenmüller von der gemeinnützigen Brookings Institution für politische Analysen in Washington D.C. einen äußerst engagierten Vortrag über die transatlantischen Beziehungen mit dem Tenor, dass amerikanische Politiker sich zunehmend abschotten. Für diese neuartige Agenda in der amerikanischen Politik gebe es in Deutschland und Europa keine Strategie. Nicht nur Trump habe eine „America First“-Politik verfolgt, vielmehr müsse man sich selbst bei einem Präsidentenwechsel darauf einstellen, dass sich der Grundton in den transatlantischen Beziehungen nicht verbessere. Bereits 2018 wurde sie gefragt: „Do you see a structual breakdown of transatlantic relations or just temporary instances of disagreement?”[1] Gegenüber ihrer Einschätzung vom Oktober 2018 verschärfte Stelzenmüller ihre Kritik an den transatlantischen Beziehungen drastisch angesichts der technologischen Entwicklungen unter dem Begriff AI bzw. Künstliche Intelligenz und der globalen Klimakrise. Während es nur ein gemeinsames Ökosystem gebe, vermisse sie Strategien, wie Deutschland und Europa dem begegnen wollten.

Die Rahmung der Buchvorstellung von Brad Smith war insofern eine, die sich durchaus gesellschafts- wie außenpolitisch ausrichtete. Nicht zuletzt nahm der in Berlin auf internationalen Konferenzen im Bereich der Künstlichen Intelligenz recht umtriebige ehemalige Botschafter der USA in Deutschland John Kornblum an der Buchvorstellung teil. Brad Smith möchte sein Engagement und die Veröffentlichung von Tools and Weapons in einer deutschen Hardcover-Version offenbar im Kontext der transatlantischen Beziehungen sehen. Für ihn sind Regulierungsfragen der Künstlichen Intelligenz internationale, die mit Deutschland und der Europäischen Union ebenso wie mit anderen Ländern ausgehandelt werden müssen. Berlin nimmt für ihn dabei eine besondere Funktion ein, weil sich die historischen Fragen und Verwerfungen an diesem Ort fokussieren lassen. Die Fragen einer Ethik der Technologien in der Zukunft lassen sich für ihn hier am besten konkretisieren und diskutieren. Berlin als Ethik-Labor für Microsoft in Redmond, Washington: „It was here in Berlin …“   

Tools and Weapons lässt sich gewiss als Unternehmenspolitik und Werbung auffassen. Doch Brad Smith hat sich bereits im Januar 2018 zu Ethikrichtlinien im Microsoft Atrium geäußert, als er sein Buch The Future Computed vorstellte.[2] Er meint es ernst. Wie 2018 moderierte wieder Judith Rakers die Buchvorstellung. Sie meinte, dass das Buch disemal eher auf eine breitere Leserschicht ziele. Doch zwischen den beiden Büchern tut sich vor allem der Unterschied von Design und Geschichte auf. Von der Geschichte und einer Verantwortung aus der Geschichte war 2018 keine Rede. Was heißt das für die Künstliche Intelligenz? Verändert sich die KI mit der Wiederkehr der Geschichte als Paradigma? Es kommt Brad Smith in dem Buch darauf an, eine Geschichte (story) von der Geschichte (history) zu erzählen. Das kündigt bereits Bill Gates in seinem Vorwort an:
“Brad and his coauthor, Carol Ann Browne, are great storytellers who give you an insider’s view of what it is like to hammer out these issues in real time, in conference halls and courtrooms around the world… Brad has written a clear, compelling guide to some of the most pressing debates in technology today.”[3]   

Auf durchaus erstaunliche, für die Technologie-Industrie neuartige Weise geht es mit Tools and Weapons ums Geschichtenerzählen, das die beiden Autor*innen in ihrer Einführung über „The Cloud“ bestätigen und vertiefen.[4] Plötzlich werden die Technologie der „Cloud“ und die „Daten“ durch die Erzählung materialisiert. Die „Cloud“ ließe sich auch als eine digitale Dienstleistung beschreiben. In The Future Computed (2018) war vor allem der Dienstleistungsaspekt formuliert worden. „Digital technology powered by the cloud has made us smarter and helped us optimize our time, be more productive and communicate with one another more effectively. And this is just the beginning.”[5] Doch von der Zukunft als Science Fiction zu erzählen, ist für einen Technologiekonzern nicht so einfach. Leicht kann sie wie schon bei Stanislaw Lem mit Golem XIV von 1973 in eine Dystopie kippen.[6] Anders gesagt: das Geschichtenerzählen wird zu einer Frage des Genres, das möglichst einfach zugänglich sein sollte.

Brad Smith und Carol Ann Browne machen das unterhaltsame Geschichtenerzählen zu einer Geschichtserzählung, die dort ansetzt, wo sich die „Cloud“ quasi materialisiert. Ihnen kommt es darauf an, in geradewegs literarischer Weise den Ort der Datenspeicherung zu beschreiben. Anders gesagt, was als „Cloud“ der Inbegriff des Flüchtigen und Wandelbaren benannt wird, muss sozusagen geerdet und verortet werden. Dafür eignet sich besonders der Ort Quincy im Bundesstaat Washington, der als „the world’s capital of apples“ eingeführt wird.[7] Vielleicht ist der Titel „Welthauptstadt der Äpfel“ für Quincy etwas hoch gegriffen. Doch die Wasserkraftwerke der Grand-Coulee-Talsperre dienen heute nicht allein zur Bewässerung der Landwirtschaft und des Apfelanbaus, als vielmehr dem klimarelevanten „world’s biggest consumer of electricity, the modern data center“.[8] Die literarische Mehrdeutigkeit der „world’s capital of apples“ wird allerdings dadurch provoziert, dass der „Big Apple“ eben auch der Spitzname für New York ist und zugleich der biblische Sündenfall aufgerufen wird.

In Quincy, Washington, materialisiert sich die „Cloud“ in Rechenzentren nicht nur von Microsoft, sondern ebenso von Yahoo!, Dell und Intuit. Die Verfügbarkeit der Elektrizität aus der Wasserkraft machte Quincy zum Technologiestandort. Der „Columbia Data Center“ von Microsoft gilt als das größte Rechenzentrum der Welt, so dass die Autor*innen eine Führung durch die – „a bit eerie“[9] – Weltrechenzentrale starten. Es handelt sich dabei um ziemlich unheimliche, meistens menschenleere Straßen, Hochsicherheitsgelände und klimatisierte Hallen mit Regalen, in die Computer mit Festplatten eingebaut sind. Doch Smith und Browne machen diesen Ort gleichsam zu einem heiligen Ort, einem Archiv, in dem die Daten verwahrt, deponiert und doch auch ständig verändert werden können. Die Besonderheit der digitalen Daten wird eher heruntergespielt, um das Wesen der Datenaufbewahrung gleichsam zu sakralisieren.
„Finally, you center a cavernous room, a temple to the information age and cornerstone of our digital lives. A hushed hum welcomes you into the nerve center containing floor-to-ceiling racks filled with computers, lined up in a formation that extends beyond your line of sight. This massive library of steel and circuits contains servers each identical in footprint but containing its own unique volume of data. It is the world’s filing cabinet.”[10]    

Die literarische Verdichtung des im Deutschen recht abstrakten Rechenzentrums ist bemerkenswert. Wie soll man einer Leserschaft die Materialität der „Cloud“ nahebringen? Einerseits werden Daten im „filing cabinet“ als immer schon konstitutiv für die Zivilisation und „human history“[11] formuliert. Andererseits wird eine „massive Bibliothek aus Stahl“ beschrieben, die mit den bekannten Bibliotheken der Welt kurzgeschlossen werden kann. In der Forschung zur Künstlichen Intelligenz kamen die Rechenzentren als viel zu technische Anlagen bislang nicht vor. Wen sollte das außer Fachleute, Ingenieure, Techniker etc. schon interessieren? Es gehörte bislang nicht in den Forschungskontext. Doch die „Cloud“ und das Internet erhalten als Bibliothek und Nervenzentrum („the nerve center“) mit einem Mal eine Materialität, als könne man wirklich dorthin gehen und die „Cloud“ anfassen oder das Nervenzentrum im Gehirn freilegen. Man könnte das, wie es der Moderatorin Judith Rakers vorkam, eine Vereinfachung für breite Leserschichten nennen. Gleichzeitig wird die „Cloud“ indessen mit einem weit verzweigten lexikalischen Wissen – „inner sanctum“, „temple“, „library“, „filing cabinet“ (Aktenschrank), „cornerstone“, „nerve center“ etc. – verknüpft und aufgeladen.

Was machen Smith und Browne, wenn das Geschichtenerzählen derart über ein Fach- oder Sachbuch zum Roman ausgreift? Roland Barthes formulierte den „écrivain“ als „Subjekt einer Praxis“, das „die Hartnäckigkeit des Spähers haben (müsse), der sich am Kreuzungspunkt aller anderen Diskurse befindet, in trivialer Position im Verhältnis zur Reinheit der Doktrinen“.[12] Die „Cloud“ wird trivialisiert, indem sie an der Schnittstelle von Theologie, Architektur, Büro, Topografie und Neurologie etc. positioniert wird. Die Trivialität von Tools and Weapons kombiniert unterschiedliche Wissensbereiche in eher vager als einfacher Weise. Microsoft als Cloud-Anbieter wird von Brad Smith in einer hoch trivialen Position platziert, weil er als Chefjurist im Unterschied zum „software developer“[13] all jene Fragen abklären muss, die sich aus der Software ergeben. Um die Verflechtung der Software mit entscheidenden Rechtsfragen deutlich zu machen, handelt das erste Kapitel von der Gefahr der Überwachung – „Surveillance: A Three-Hour Fuse“. Die Dreistunden-Lunte beschreibt den PRISM-Skandal, der von Edward Snowden aufgedeckt wurde.[14]   

Die historische Erzählung von der Überwachung (suveillance) wird, wie es der Titel ankündigt, als spannungsgeladene Geschichte einer E-Mail mit dem Betreff „Microsoft/PRISM“ an Dominic Carr erzählt. Innerhalb von drei Stunden solle er dazu Stellung nehmen, ob Microsoft im PRISM-Programm der NSA mitarbeite. Nach drei Stunden geht in der Dramaturgie der Lunte die Bombe hoch und der Guardian veröffentlichte die Dokumente zu PRISM, die er von Edward Snowden erhalten hatte. Sofort geht Carr mit John Frank in das Büro von Brad Smith und hält mit ihm Rücksprache. Wenn die NSA auf User-Daten von Microsoft zugreife, dann tue sie dies ohne ihr Wissen und ihre Erlaubnis. Natürlich kann auch ein Guardian-Journalist nicht einfach eine E-Mail an Dominic Carr oder gar an Brad Smith schicken, deshalb werden die Weiterleitungen relativ genau beschrieben.
„No one at Microsoft had heard of PRISM… At three p.m. Pacific Time, the Guardian launched its bombshell: “NSA Prism Program Taps in to User Data of Apple, Google and Others.”“[15]     

Doch Brad Smith erzählt nicht nur die Geschichte vom Überwachungsskandal, der die Welt erschüttern sollte, vielmehr nutzt er ihn, um sogleich die der Privatsphäre anzukoppeln: „The assertions flew in the face of the privacy protections that democratic societies hat taken for granted for more than two centuries.“[16] Wie das Recht auf die Privatsphäre bzw. die Unverletzlichkeit der Wohnung in demokratischen Gesellschaften entstanden ist, erzählt er anhand der Geschichte von John Wilkes. Diese überschneidet sich im April 1763 mit der früheren von Sir Edward Coke, der schon 1604 die Unverletzlichkeit der Wohnung – „the house of every one is to him as his Castle and Fortress“ – als Richter erklärt hatte.[17] Die Geschichte von John Wilkes lässt sich gegenüber der von Coke besser personalisieren und auf die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika beziehen. Smith stellt die direkte Verbindung mit deren Erzählung her:
„These rights, which we rely on to protect your information in our Quincy data center today, were born in the eighteenth century during a boiling controversy in the streets of London.”[18]

Die Personalisierung der Geschichte durch eine direkte Ansprache mit dem, wie man im Deutschen sagen kann, besitzanzeigenden Fürwort – „your information“ – unterstreicht die Relevanz der Geschichte. Die Schere zwischen den Technologien der Software-Designer und der Verletzung der Privatsphäre durch die NSA habe Microsoft 2002 mit der Einrichtung der „Cloud“ nicht vorhersehen können. Doch Brad Smith will diese nun mit der Geschichte verkoppeln. Das heißt auch, dass sich das, was wir Künstliche Intelligenz nennen, durch die Geschichte verändern wird. John von Neumann ging es mit seinem erst postum erschienen Buch The Computer and The Brain (1958), wie Benjamin Peters gezeigt hat, mit der Analogie von Computer und Gehirn um die narzisstische Operation sein Denken bzw. seine Intelligenz über den Tod hinaus zu verlängern.[19] Dieses Paradigma des Software-Designs wird von Smith mit der Geschichte reguliert.
„While in 2002 we could not have predicted Edward Snowden and his famous flight, we could look back at history to predict more generally what was likely in store for the future. In times of a national crisis, trade-offs between individual freedoms and national security were nothing new.”[20]

Im Winter 2018 nutzte Brad Smith seinen Aufenthalt in Berlin, um das Gefängnis der Staatssicherheit (Stasi) der DDR in Hohenschönhausen zu besuchen. Die Privatsphäre wird von ihm als fundamentales Menschenrecht formuliert, indem er dessen Missachtung durch die Stasi als historische Erkenntnis erzählt. Brad Smith nimmt die amerikanischen und die Leser*innen weltweit mit nach Hohenschönhausen. Die Fahrt in der Dämmerung von Mitte in den Norden nach Hohenschönhausen wird als filmreife Architekturgeschichte Berlins erzählt. Die Architektur erzählt buchstäblich von der Vergangenheit der Stadt.
„The wintry light faded as we drove through the streets of the German capital. Through the car window a fast-moving reel of architecture told a tale of the city’s past. Edifices dating back to Prussia, the German Empire, Weimar, and Nazi eras gave a way to sterile Communist-era concrete blocks as we closed on our destination: the former German Democratic Republic’s Hohenschönhausen prison.”[21]    

Brad Smith traf mit seinem Team und Tanja Böhm den Zeitzeugen und ehemaligen Stasi-Gefangenen Hans-Jochen Scheidler. Nicht nur das gegenseitige Ausspionieren durch die Stasis und ihre IMs beschreibt Smith, sondern auch die ungeheuerliche Menge an Daten in Form von Berichten, Dokumenten, Bildern und Video sowie Audioaufnahmen von neunundsechzig Meilen führt er an. Noch entscheidender als das ungeheuerliche Ausmaß der Verletzung der Privatsphäre seiner Bürger durch den Staat DDR beeindruckt Smith die Geschichte von Hans-Jochen Scheidler, der nach dem Prager Frühling in Berlin-Hohenschönhausen inhaftiert wurde. Denn im Unterschied zu den Demonstrationen des Prager Frühlings auf der Straße werden für Smith nun die Demokratiebewegungen ins Internet verlagert.
„The point of our visit that day was suddenly clear.
Today, much of the world’s political activism doesn’t start on the streets, as in Scheidler’s time; it starts on the internet. Electronic communication and social media have provided a platform for people to mobilize support, spread messages, and voice dissent – accomplishing in days what would have taken weeks during the Prague Spring.”[22]

Das Erfahrungswissen der Deutschen aus der Überwachung durch die Gestapo der Nationalsozialisten und die Stasi der DDR hat Brad Smith so sehr beeindruckt, dass er von seinem Besuch in Hohenschönhausen ein Video drehen ließ, das er im Microsoft Hauptquartier in Redmond, Washington, auf einer ansonsten hoch erfreulichen Hauptversammlung als Schock zeigen ließ. Wir wissen nicht, auf welche Weise Brad Smiths Buch helfen kann oder wird, die Software von Microsoft mit Erfahrungswissen als Geschichte zu programmieren. Doch es spricht für ihn, dass er nicht nur das Gespräch und die Erzählung sucht, sondern in die technologische Entwicklung des Konzerns Microsoft einspeisen möchte. Wird die selbstlernende Künstliche Intelligenz aus dem Hause Microsoft künftig mit einem Erfahrungswissen aus der Geschichte arbeiten? Oder schätzen die Algorithmen der Finanzprogramme an den Börsen der Welt Covid-19 doch falsch ein und verursachen einen Crash?

Torsten Flüh

Brad Smith and Carol Ann Browne
Tools and Weapons
Digitalisierung am Scheideweg
Hardcover, 400 Seiten
Erschienen: Februar 2020
Gewicht: 610 g
ISBN: 978-3-86881-783-6
€ 24,99

Brad Smith and Carol Ann Browne
Tools and Weapons
The Promise and The Peril of The Digital Age
Pinguin Random House

Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen
Genslerstraße 66
13055 Berlin


[1] iE School of Global & Public Affairs: The Transatlantic Conference 2018- Constanze Stelzenmüller on Transatlantic Relations 24.10.2018.

[2] Siehe: Torsten Flüh: Kant und die Ethikrichtlinien aus dem Internetkonzern. Brad Smith stellt The Future Computed im Microsoft Atrium in Berlin und beim Weltwirtschaftsgipfel in Davos vor. In: NIGHT OUT @ BERLIN Januar 29, 2018 19:01.

[3] Bill Gates: Foreword. In: Brad Smith and Carol Ann Brown: Tools and Weapons. The Promise and the Peril of the Digital Age. New York: Pinguin, 2019, S. xi-xii.

[4] Brad Smith and Carol Ann Brown: Introduction: The Cloud: The World’s Filling Cabinet. In: Ebenda S. xii-xxii.

[5] Brad Smith and Harry Shum: The Future Computed. Redmond: Microsoft, 2018, S. 6.

[6] Siehe: Torsten Flüh: Der Name der Maschine und sein Versprechen. Zur Uraufführung von Also sprach Golem von Kommando Himmelfahrt & Kaj Duncan David nach Stanislaw Lem bei ultraschall berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. Februar 2020.

[7] Brad Smith and Carol Ann Brown: Introduction: The … [wie Anm. 4] S. xiv.

[8] Ebenda.

[9] Ebenda S. xv.

[10] Ebenda S. xvi.

[11] Ebenda S. xiii.

[12] Roland Barthes: Leçon/Lektion. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1980, S. 36-39.

[13] Bill Gates: Foreword … [wie Anm. 3] S. x.

[14] Brad Smith and Carol Ann Browne: Tools … [wie Anm. 4] S. 1-4. Siehe auch: Torsten Flüh: In Ritzen lesen. X-KEYSCORE und PRISM als Darstellungs- und Entschlüsselungsproblem. In: NIGHT OUT @ BERLIN August 10, 2013 19:18.

[15] Ebenda S. 3-4.

[16] Ebenda S. 5.

[17] Siehe auch: Torsten Flüh: Klassenfragen, Intelligenz und Obdachlosigkeit. Zu Mike Savages Mosse-Lecture über das Semesterthema Klassenfragen. In: NIGHT OUT @ BERLIN 13. Januar 2020.

[18] Brad Smith and Carol Ann Browne: Tools … [wie Anm. 4] S. 5.

[19] Benjamin Peters: The Computer Never Was a Brain, or the Curious Death and Designs of John von Neumann. In: Jeannie Moser, Christina Vagt (Hg.): Verhaltensdesign. Technologische und ästhetische Programme der 1960er und 1970er Jahre. Bielefeld: transcript, 2018, S. 121. (Open Access)

[20] Brad Smith and Carol Ann Browne: Tools … [wie Anm. 4] S. 9.

[21] Ebenda S. 39.

[22] Ebenda S. 41.

Berlin Alexanderplatz auf der Hasenheide

Gut – Fernsehen – Böse

Berlin Alexanderplatz auf der Hasenheide

Zu Burhan Qurbanis Berlin Alexanderplatz im Wettbewerb der Berlinale 2020

Am Morgen des 27. Februar 2020 um 9:15 Uhr war die 2. Vorstellung von Burhan Qurbanis Film Berlin Alexanderplatz im Friedrichstadt Palast, 1.899 Plätze, fast ausverkauft. Das spricht für das große, internationale Interesse an der Adaption des Romans von Alfred Döblin aus dem Jahr 1929. Ein Kinostart oder Sendetermin wurde bisher nicht angekündigt. Doch der Film wurde von ZDF und Arte co-produziert, so dass man davon ausgehen darf, dass er relativ bald im Fernsehen gezeigt werden wird. Doch eigentlich sind die 183 Minuten auf der ganz großen Leinwand des Friedrichstadt Palastes gut am Stück zu sehen. Im Fernsehen, auf dem Flachbildschirm oder Laptop, auf dem Tablett gar wird er schmerzhaft geschrumpft werden. Seit seinem ersten Film Shahada (2010) arbeitet Burhan Qurbani mit Yoshi Heimrath (Kamera) zusammen.

Der Großroman Berlin Alexanderplatz lässt sich schlecht in 90min. verfilmen selbst dann nicht, wenn er als Adaption verarbeitet wird. Rainer Werner Fassbinder brauchte 1979/1980 13 Episoden mit ca. 930 Minuten in der Fernsehfilmfassung. Burhan Qurbani (geb. 1980) hatte Döblins Roman als Abiturstoff in Münster und las ihn dann erst richtig viele Jahre später. Berlin Alexanderplatz gehört weiterhin zum deutschen Bildungswissen. Allerdings ist der Alexanderplatz in den letzten Jahren auch als Ort von Gewalttaten und Touristenansammlugen berüchtigt geworden. Auf dem angrenzenden, namenlosen Platz an der Rathausstraße unter dem Fernsehturm campierten zeitweilig größere Gruppen Obdachloser zum Beispiel aus Polen. Doch Qurbanis Film spielt eher nur sporadisch am Alexanderplatz, wichtiger wird die Hasenheide als Treffpunkt für eine Dealergang.

Friedrich Ludwig Jahn: Die Deutsche Turnkunst zur Einrichtung der Turnplätze. (1816) Plan Hasenheide.

Die Hasenheide ist nicht nur eine großstädtische Parkanlage, vielmehr spielen viele Szenen auf dem Platz vor dem Denkmal für Friedrich Ludwig Jahn, dem Turnvater, Proto-Nationalisten und Antisemiten. Kaum ein Drehort hätte symbolischer sein können. Die Hasenheide lässt sich geradezu als der neuralgische Dreh- und Angelpunkt der deutschen Geschichte beschreiben. Burhan Qurbani thematisiert das nicht in seiner Adaption explizit. Doch, wenn er in der Nachbarschaft wohnt, und so auf das Thema der Geflüchteten kam, dann wird er wenigstens einmal die Informationstafeln zum Denkmal gelesen haben. Hier gründete Friedrich Ludwig Jahn „im Frühjahr 1811“ die Turnbewegung und baute einen Turnplatz.[1] Auf die Spitze des Kletterturms setzte er das Eiserne Kreuz. Das Denkmal wurde am 10. August 1872 eingeweiht. An dessen Sockel sind über viele Jahre Ehrentafeln für Jahn von deutschen Turnvereinen im Inland und von deutschen Auswanderern bzw. aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen im 19. Jahrhundert Geflüchteten aus Amerika angebracht: „Gewidmet von der Turngemeinde Philadelphia Pennsylvania 1861.“ „Columbia Turnverein Washington D.C. 1911 USA.“ …

Friedrich Ludwig Jahn: Die Deutsche Turnkunst zur Einrichtung der Turnplätze. (1816) Plan Hasenheide.

Die Verknüpfung von deutscher Nation, Turnvereinen für Männer, die zugleich eine Form der Wehrertüchtigung waren, und Rassismus in konkreter Ausprägung des Antisemitismus‘ wird von Friedrich Ludwig Jahn in seiner programmatischen Schrift Die Deutsche Turnkunst 1816 formuliert: „Jeder Turner soll zum Wehrmann reifen, ohne verdrillt zu werden.“[2] In der „Berliner »Hasenheide«…; hier fanden sonst Bierfeste der Arbeiter statt“, habe er zum ersten Mal Hitler gesehen, gab Albert Speer in seinen zwielichtigen Erinnerungen an.[3] Der assoziationsreiche Name „Hasenheide“ gibt eher einen Wink auf eine Veranstaltung einer oder mehrerer Burschenschaften von der Berliner Universität und der Technischen Hochschule, die gerade keine für „Arbeiter“ war, wie Speer es fälschlich nahelegt.[4] Hitler hatte gezielt die Burschenschaften kommen lassen. 1936 wurde der Vorplatz für die gleichgeschaltete Turnerschaft zum Aufmarsch angelegt. Friedrich Ludwig Jahn war erklärter Antisemit und taucht in Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt als absonderlicher Kauz auf. An diesem Schauplatz deutscher Geschichte strandet Francis (Welket Bungué) aus Guinea-Bissau, Westafrika, und wird von Reinhold (Albrecht Schuch) zum Drogenhandel gedrängt.

Berlin Alexanderplatz (2020) (Screenshot aus Trailer von Torsten Flüh)

Wahrscheinlich ist das schon eine wichtige Beobachtung, dass sich in Burhan Qurbanis filmischer Romanadaption mehrere Ebenen visuell überschneiden. Es gibt das deutsche Bildungswissen in Form des großangelegten Romans aus den 20er Jahren des 20. Jahrhundert, das sich mit einem durchaus problematischen Geschichtswissen von der Nation überschneidet, um mit einer aktuellen Diskussion der Flüchtlinge aus Afrika und Syrien verknüpft zu werden. Auf diese Weise wird Berlin Alexanderplatz zu einem sehr deutschen Film, fast einer Deutschstunde in Berlin. Francis, der Flüchtling aus Westafrika, will wie Franz Biberkopf „gut sein“ und gerät in die Abhängigkeit von Reinhold, der ihm einen deutschen Pass verspricht.

Berlin Alexanderplatz (2020) (Screenshot aus Trailer von Torsten Flüh)

Berlin Alexanderplatz wird zum Drama eines Geflüchteten. Erst arbeitet Francis illegal auf der Baustelle für die U-Bahnlinie 5, wo er einem verunglückten Arbeitskollegen helfen will. Das ist aber kein guter Gedanke, weil auch dieser illegal auf der Baustelle arbeitet und keinesfalls durch einen Krankenwagen versorgt werden darf, weil dann die Illegalität auffliegt. Kurz: Der deutsche Vorarbeiter macht Francis verantwortlich und jagt ihn von der Baustelle. Damit hat Francis wieder keinen Job. Auf diese Weise gerät er an Reinhold, der den Geflüchteten in einer Unterkunft 50-Euro-Scheine verteilt, Flachbildschirm und Frauen verspricht, wenn sie für ihn mit Drogen handeln. Zunächst soll Francis allerdings nur die anderen Dealer mit selbst gekochten Essen aus einem Kinderwagen versorgen. Schnell erscheint der Obergangster Pums (Joachim Król) auf dem Platz in der Hasenheide.

Berlin Alexanderplatz (2020) (Screenshot aus Trailer von Torsten Flüh)

Berlin Alexanderplatz ist natürlich ein Berlin-Film geworden. Aber wenn Berlin Berlin spielen soll, kann es auch schwierig werden, weil das Publikum schon viel Berlin gesehen hat. So gerät Francis prompt in die Clubszene, die sich auf ebenso wohlfeile wie seltsame Weise ästhetisch mit Babylon Berlin im Delphi überschneidet. Für einen Maskenball wird es dann auch noch richtig 20er Jahre, indem Francis ein Gorilla-Kostüm anzieht wie weiland Marlene Dietrich in Josef von Sternbergs Blonde Venus (1932). Die Bauarbeiten für die U5 bieten spektakuläre Bilder für den „Zement- und Transportarbeiter Franz Biberkopf“ alias Francis. Und dann verliert Francis bei einem Raubüberfall seinen linken Unterarm, was heute dank Digitalisierung als Armstumpf mit Narbe ins Bild gerückt wird. Nein, lang werden die 183 Minuten nicht, aber manchmal einfach ein wenig zu dick und zu fernsehästhetisch, denkt der Berichterstatter nach ca. 120 Minuten.

Berlin Alexanderplatz (2020) (Screenshot aus Trailer von Torsten Flüh)

Fernsehästhetik[5] basiert auf einer Art von Common Sense oder einem visuellen Gedächtnis, das immer wieder angespielt wird. Es unterliegt somit dem Modus der Wiederholung durch leichte Verschiebungen. Man sieht das Material und Budget mit Wow-Effekt, um es dann doch als bekannt und wenig innovativ zu finden. Das ist bis in die Figurenkonstellationen des Drehbuchs von Martin Behnke und Burhan Qurbani und in das Casting von Suse Marquardt und Alexandra Koknat bestimmt gut gemeint, aber auch schwierig, um sich im Berlinale Wettbewerb zu platzieren. Es geht um eine Form des visuellen Wissens vom Guten und Richtigen, das sich sehr schnell verfangen kann. Der Armstumpf ist in gewisser Weise technisch brillant, State of the Art, aber braucht es ihn dramaturgisch wirklich, um Empathie für Francis zu wecken. Es ist quasi eine Geste des Dokumentarischen, „die Kamera draufhalten“, die allerdings genau an der digitalen Schnittstelle und Bearbeitung kippt, um damit zur Schwäche zu werden.

Berlin Alexanderplatz (2020) (Screenshot aus Trailer von Torsten Flüh)

Die Empathie wird zu einer entscheidenden Frage in Burhan Qurbanis Berlin Alexanderplatz. Spielt die Empathie für Alfred Döblins Franz Biberkopf eine Rolle? Es sind insbesondere die Vorworte zu den neun Büchern des Romans, die ihn nach Stationen der Leiden gliedern. Damit spielt Alfred Döblin auf den Kreuzweg an, transformiert ihn in das 20. Jahrhundert der Metropole Berlin und durchbricht das Schema doch, wenn es eben 9 und nicht 7 oder 15 Stationen sind. In der Anlage des Drehbuchs mit einem Pro- und einem Epilog sowie 5 Episoden bewegen sich Behnke und Qurbani sehr nah am Erzählmodus Alfred Döblins. Denn die Vorworte sind im Präsenz mit einem Zeigegestus – „Hier …“ – für ein Bild oder einen (Stumm-)Film geschrieben:
„Hier im Beginn verläßt Franz Biberkopf das Gefängnis Tegel, in das ihn ein früheres sinnloses Leben geführt hat. Er faßt in Berlin schwer wieder Fuß, aber schließlich gelingt es ihm doch, worüber er sich freut, und er tut nun den Schwur, anständig zu sein.“[6]   

Berlin Alexanderplatz (2020) (Screenshot aus Trailer von Torsten Flüh)

Die Vorworte übernehmen im Roman eine nicht nur erzählerische Funktion der Zusammenfassung oder Ankündigung, vielmehr fügen sie im Präsenz dem Erzählmodus zunächst des Präteritums, bevor „(d)ie Strafe beginnt“[7], eine Art Verfremdung hinzu. Das hat auch den Effekt, dass die Erzählung von Franz Biberkopf einen systemlogischen Verlauf bekommt. Es ist weniger eine schicksalhafte Notwendigkeit oder das Böse, als vielmehr das mangelnde Wissen von einem großstädtischen System, in das er hineingerät und das als „Strafe“ wahrgenommen wird. Das wird insofern wichtig, als Reinhold von Albrecht Schuch mit einem körperlichen Handikap als das Böse oder „Psychopath“ angelegt wird. Das Nichtwissen von Franz Biberkopf spielt eine wichtige Rolle:
„Es hat nichts genutzt. Es hat noch immer nichts genutzt. Franz Biberkopf hat den Hammerschlag erhalten, er weiß, daß er verloren ist, wer weiß noch immer nicht, warum.“[8]  

Berlin Alexanderplatz (2020) (Screenshot aus Trailer von Torsten Flüh)

Reinhold hat Probleme beim Sex mit den Frauen, die er doch eigentlich beherrschen will. In einer Geldscheinpistole schießt er im Sexclub um sich. Weil es nicht klappt mit den Frauen, begehrt er Francis als Ersatz und macht ihn abhängig. Vielleicht liegt schon bei Döblin in der Anlage des Reinhold ein Wink auf die Psyche von rechten, misogynen und rassistischen Attentätern, wie sie heute wiederkehren. Reinhold begehrt in mehreren Szenen bei Qurbani ganz offensichtlich Francis. Reinhold sieht Francis beim Sex zu. Er imaginiert sich an der Stelle von Francis, den er zugleich dafür hasst und verkrüppelt. In der Mordszene an Mieze (Yella Haase) sieht es eher so aus, dass Reinhold sie nur umbringt, weil er sie Francis aus Eifersucht nehmen will. Diese Szenen gehören zu den interessantesten der Adaption. Gemordet wird aus einer narzisstischen Kränkung heraus, die gerade mit dem Mordopfer nichts zu tun hat.

Berlin Alexanderplatz (2020) (Screenshot aus Trailer von Torsten Flüh)

Der Narzissmus, der in der Rolle des Reinhold hervorblitzt, korrespondiert mit der Deutsche(n) Turnkunst, wie sie Friedrich Ludwig Jahn konzipiert, wenn er alles darauf anlegt, den männlichen Körper zu ertüchtigen, zu formen und zu funktionalisieren. Der männliche Körper wird verwandelt in einen aus Tätigkeiten und Übungen. Dafür führt Jahn auf der Hasenheide zunächst eine eigene „Turnsprache“[9] ein, die als deutsche mit besonderer Berücksichtigung der „Mundarten“[10] formuliert wird. Es findet eine umfassende Funktionalisierung des Körpers statt, indem er gerade nicht ästhetisch beschrieben und gesehen, also geradezu verdrängt wird, wie sich mit einer Passage zum „Schwingen“ lesen lässt:
„Das Schwingen, eine der vorzüglichen Leibesübungen, wirkt fast auf alle Theile des Leibes gleich heilsam; stärkt besonders Arme und Beine, Bauch= und Rückenmuskeln, befördert sehr die Gelenkigkeit, und bildet außerordentlich den körperlichen Anstand.“[11]

Berlin Alexanderplatz, 27.02.2020 18:14 (Torsten Flüh)

Die Funktionalisierung der Männerkörper leitet den Narzissmus in messbare Leistungen um. Die „Bauch= und Rückmuskeln“ werden durch das „Schwingen“ nur in ihrer Leistungsfähigkeit und für den „körperlichen Anstand“ wahrgenommen. Damit wird der männliche Körper beispielsweise im Unterschied zu Johann Joachim Winckelmann[12] und zur Ästhetik der Klassik umformatiert, um zugleich bewundert werden zu können. Reinhold bewundert in Francis einen Leistungskörper, den er beschädigen und zerstören muss, weil er selbst seinen Leistungsansprüchen nicht genügen kann. Diese narzisstische Verdrehung wird als offensichtlicher Rassismus deutlich, wenn er Francis für den Maskenball ein Gorillakostüm schickt. Insofern bearbeitet Burhan Qurbani sehr genau ein deutsches Problem, für das sich der Berichterstatter teilweise innovativere Bilder gewünscht hätte.   

Torsten Flüh


[1] Friedrich Ludwig Jahn: Vorbericht. In: Ernst Eiselen, Friedrich Ludwig Jahn (Hg.): Die Deutsche Turnkunst zur Einrichtung der Turnplätze. Berlin (Auf Kosten der Herausgeber) 1816, S. IV.

[2] Ebenda S. XVII.

[3] Albert Speer: Erinnerungen. Berlin: Propyläen/Ullstein, 1969, S. 32. (Siehe: ders.: Inside the Third Reich. New York: MacMillan, 1970. S. 15)
Die Frage nach der Burschenschaft ist bislang in der Speer-Forschung nicht berücksichtigt worden. Es gibt allerdings eine Personenkonstellation, die einen Wink im Verhältnis von Architekturstudium, München, Turnverein und Nationalismus geben kann. „Im Sommersemester 1924 wechselte er an die Technische Hochschule München“, wo er „Rudolf Wolters begegnete …; eine mit wenigen Unterbrechungen lebenslange Verbindung“, schreibt Magnus Brechtken. Rudolf Wolters sollte für das Germania Projekt den „Runden Platz“ mit den „Apollo-Brunnen“ von Arno Breker bauen. Oberaufsicht für das Projekt hatte bekanntlich Speer. Von 1865 bis 1936 existierte in München die „Burschenschaft Apollo“, die „Studentenverbindung Apollo“ führte das „Lebensbundprinzip“ ein. 1919 traten etliche „Apolloniden“ den „Freikorps“ bei. Und zusammen mit dem „Akademischen Turnverein“ etc. gründete „Burschenschaft Apollo“ den „Allgemeinen Studentenausschuss“ in München. Ab 1920 galt für Neuzugänge das „arische Prinzip“. Und nun darf man dreimal raten, warum es ausgerechnet einen „Apollo-Brunnen“ in Germania geben sollte.
Siehe zu Rudolf Wolters: Markus Brechtken: Albert Speer. Eine deutsche Karriere. München: Siedler, 2017, S. 27. Und: Wikipedia: Münchner Burschenschaften.

[4] Anm.: Albert Speers Formulierungen von, wie man heute sagen müsste, „alternativen Fakten“ in seinen Erinnerungen ist atemberaubend. Die „Hasenheide“ zum Ort der Begegnung zu machen, unterstützt einzig und allein den deutschen Nationalismus Jahnscher Prägung, denn das Lokal, das angeblich Hasenheide geheißen haben soll, lässt sich schnell als Saal der »Neuen Welt« identifizieren. Das konnte jeder Kundige als Geschichtswissen mitlesen. Die „Hasenheide“ war eben nicht irgendein Name oder Ort, sondern die Geburtsstätte des deutschen Nationalismus in Abgrenzung zu Frankreich und Napoleon. Dass es sich dabei um eine schäbige Arbeiterkneipe gehandelt haben soll, nobilitiert einerseits die Arbeiter, andererseits stellt es für den Studenten aus großbürgerlicher Familie eine Verbindung zu eben jener „Klasse“ her, die für ihn nie bestanden hat. Die Überschneidung und Verdrehung von »Neue Welt« in »Hasenheide« ist allerdings nicht einmal Markus Brechtken aufgefallen. Doch daran lässt sich sehr genau das „literarische“ Lügenverfahren von Speer zeigen. Es appelliert nämlich gleichzeitig mit dem Wissen um den Namen an Gesinnungsgenossen.
Siehe auch: Markus Brechtken: Albert Speer. Eine deutsche Karriere. München: Siedler, 2017, S. 31.
Vgl. auch: Torsten Flüh: Bildgewaltige Faszination und Verstörung. Sthalpuran in der Sektion Generation und Speer Goes to Hollywood als Berlinale Special feiern Weltpremiere auf der 70. Berlinale. In: NIGHT OUT @ BERLIN 28. Februar 2020.

[5] Der Begriff der „Fernsehästhetik“ wurde von Knut Hickethier Anfang der 90er Jahre zur „Problemlage: Fernsehen und Kunst“ formuliert. Durch Streamingdienste und Mediatheken der Öffentlich-Rechtlichen Sender hat sich erstens das „Programm als Gesamtkunstwerk“ in seinen technischen Voraussetzungen verändert. Zweitens kann der Unterscheidung von „Fernsehen“ auf der einen und „Kunst“ auf der anderen Seite nicht mehr mit dem von Hickethier bemühten Begriff des „Kunstwerk(s)“ (S. 6) aufrecht gehalten werden. Deshalb rücke ich hier Wissenspraktiken in den Vordergrund.
Knut Hickethier: Fernsehästhetik. Kunst im Programm oder Programmkunst? In: Bundeszentrale für Politische Bildung (Hg.): Tele-Visionen. Fernsehgeschichte Deutschlands in West und Ost. (In: Hintergrund-Informationen) Bonn 2017. Zuerst 1992.  

[6] Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz. München: dtv, 1965 (2009), S. (ohne Seitenzahl 13).

[7] Ebenda S. 15.

[8] Ebenda S. 355.

[9] Friedrich Ludwig Jahn: Die … [wie Anm. 1] S. XIX.

[10] Ebenda S. XLI.

[11] Ebenda S. 35.

[12] Siehe dazu: Torsten Flüh: Die Geburt der Muckibude aus dem Altertum. 300 Jahre Johann Joachim Winckelmann mit Winckelmann – Das göttliche Geschlecht im Schwulen Museum*. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juli 2, 2017 22:24.

Bildgewaltige Faszination und Verstörung – Sthalpuran und Speer Goes to Hollywood als Weltpremieren auf der Berlinale 2020

Wahrnehmung – Narzissmus – Spielfilm

Bildgewaltige Faszination und Verstörung

Sthalpuran in der Sektion Generation und Speer Goes to Hollywood als Berlinale Special feiern Weltpremiere auf der 70. Berlinale

Zwei auf ihre Art sehr unterschiedlich bildgewaltige Filme zwischen Dokumentation und Spielfilm feierten am Mittwoch auf der 70. Berlinale ihre Weltpremiere. Für den indischen Regisseur Akshay Indikar aus Pune im südwestlichen Bundesstaat Maharashtra war die Weltpremiere im Zoo Palast 2 in der Sektion Generation Kplus gewiss ein Abenteuer und eine Ehre. Er hatte mit dem 8jährigen Neel Deshmukh in der Hauptrolle des Dighu, das Experiment gewagt, mythische Tamil-Literatur der Sthala Puranas über Zeit und Raum aus der Perspektive eines gerade schulpflichtigen Jungen zu erzählen. Im Publikum waren gefühlt 100 Kinder im ähnlichen Alter, die sich offenbar von der Naturdramatik und den Wahrnehmungen Dighus faszinieren ließen.

Während der Berichterstatter sehr gern mehr Standfotos aus dem indischen Film gezeigt hätte, sträubt es sich in ihm, überhaupt ein Porträtfoto von Albert Speer aus dem Film Speer Goes to Hollywood von Vanessa Lapa zu zeigen. Denn er war nicht nur einer der mächtigsten Nationalsozialisten bis 1945, vielmehr verrät sich der Narziss Speer im Originalton mehrfach auf kaum erträgliche Weise. Grundlage für den Dokumentarfilm sind Kassettenrecorder-Mitschnitte, die Andrew Birkin von Gesprächen mit Speer in dessen Villa in Heidelberg aufnahm, als sie das Drehbuch für die Verfilmung der hoch erfolgreichen Autobiographie besprachen. Paramount trug sich mit dem Gedanken, die Speer-Autobiographie von Stanley Kubrick als Spielfilm mit Starbesetzung verfilmen zu lassen. Vanessa Lapa hat an dem Projekt 4 Jahre gearbeitet.   

Wie lassen sich Raum und Zeit aus der Sicht eines Achtjährigen im Medium Film darstellen? Bei 84 Minuten Länge von Sthalpuran ist es durchaus eine Kunst, ein nicht sehr viel älteres Publikum so sehr zu faszinieren, dass es im Kino still ist.[1] Für Dighu, der seine Wahrnehmungen in ein Tagebuch notiert, hat sich mit der nächtlichen Abreise seiner Mutter mit seiner Schwester aus Pune an die ländlich geprägte Küste von Kokon alles verändert. Die Wahrnehmung von Raum und Zeit beginnt für Dighu damit, dass seine Ordnung zerbricht. Im Moment der Veränderung und des Verlustes der Zeitordnung entsteht der Wunsch nach ihrer Wiederherstellung. Dighus Zeiterleben kommt noch ohne Uhr aus. So kommt es in dem bescheidenen Haus der Großeltern dazu, dass der Großvater Dighu überhaupt erst die Uhr und Zeit erklärt.
„Großvater, die Uhr hat nur 12 Ziffern oder?“
„Das ist richtig.“
„Und warum hat ein Tag denn nur 24 Stunden?“ (Zitat aus dem Sthalpuran)[2]

Auf poetische – und witzige – Weise lernt Dighu im 21. Jahrhundert die Zeit kennen. Akshay Indikar hat neben Buch und Regie auch Montage und Sound Design übernommen. Für die Kamera zeichnet Jagadeesh Ravi verantwortlich. Es ist vor allem Regenzeit in weiten Teilen des Films. Das Meer ist ohrenbetäubend laut. Ein Fisch wird von den Wellen auf die felsige Küste geworfen. In einer geradezu malerischen Fabrik aus Holz läuft ein Fließband, an dem Dighus Mutter mit anderen Frauen arbeitet. Die archaische Fabrik ist so geheimnisvoll, dass der Berichterstatter nicht verstand, was hier eigentlich produziert wird. Werden hier Bilderrahmen hergestellt? Oder geht es dem Regisseur vielmehr um die Schattenspiele und das geheimnisvolle Fließband? Dighu ist von der Fabrik fasziniert und langweilt sich doch.

Das Tagebuch wird von Dighu in मराठी Marāṭhī geschrieben. Und zweifellos generiert ein Tagebuch eine Zeitwahrnehmung. Es ordnet die Zeit. Wenn Dighus Mutter (Rekha Thakur) mit ihrer Mutter (Medha Patil) bei der Hausarbeit spricht und diese ihr rät, bald wieder zu heiraten, ahnt das Publikum, was der Junge noch nicht weiß. Die Mutter hat Pune mit den Kindern verlassen, weil der Vater verstorben ist. Doch es ist anscheinend in der Kultur der Region nicht möglich, über den Tod zu sprechen. Die Trauer geschieht eher heimlich, wenn Dighu mitbekommt, dass die Mutter nachts wieder geweint hat. Während sich in Deutschland eine zum Teil ausgeprägte Trauerkultur für Erwachsene und Kinder entwickelt hat, weiß Dighu nicht, dass er um seinen Vater trauert, wenn er ihn auf dem Schulweg imaginiert.

Sthalpuran ( Screenshot aus Trailer Torsten Flüh)

Ist Sthalpuran ein Kinderfilm? Das ist zumindest aus europäischer Perspektive eine schwierige Frage. Denn das Drehbuch wie die vor allem naturgewaltige Bildsprache sind mythologisch angelegt. Vielleicht ist es für Kinder in Maharashtra schon sprachlich einfacher, Zugang zu finden. Doch gesprochen wird nicht sehr viel im Film. Erzählt wird explizit kaum. Deshalb nimmt die Bildersprache mit einem im Zoo Palast 2 beeindruckenden Sound Design eine erzählende Funktion ein. Stille und einzelne Regentropfen bis zum tosenden Meer brauchen einerseits viel Zeit. Die Zuschauer*innen können in die quasi epische Natur visuell und akustisch eintauchen. Bei der Weltpremiere sprach eine Übersetzerin den Text live ein, was vielleicht für die Kinder hilfreich war.

Sthalpuran ( Screenshot aus Trailer Torsten Flüh)

Im technologisch hochentwickelten Südindien ist es heute möglicherweise eine wohlkalkulierte Operation die Geschichte in eine nach Google Maps touristisch nicht gänzlich unerschlossene Küstenregion zu verlegen. Hier gibt es auch Ressorts. Der Lehrer fotografiert seine Schüler mit einem Smartphone. Doch durch Regie und Kamera wird die Region mythisch. In einer Sequenz wird denn auch eine Sequenz aus einem Sthalpuran-Mythos zwischen Göttern und Menschen von einer Wandertruppe aufgeführt. Dighu sitzt im Publikum, ohne dass er die Szenen wirklich einordnen könnte. Doch er ist von ihnen und vor allem den Kostümen fasziniert. Die Kamera versucht erst gar nicht eine Art Totale herzustellen. Vielmehr wandert der Blick über die einzelnen Figuren und deutet eher diskret an, dass es im Mythos auch um einen Jungen und dessen Verlust des Vaters gehen könnte.

Sthalpuran ( Screenshot aus Trailer Torsten Flüh)

Dighu hält den Verlust seines Vaters und seiner Freunde durch den Ortswechsel nicht aus, so dass er eines Tages heimlich mit dem Bus in die 3-Millionen-Stadt Pune fährt. Der Kontrast zum Dorf in der Küstenregion Konkan fällt stark aus. Als Stadtjunge findet sich Dighu in Pune zurecht, doch trifft er weder den Vater noch seine Klassenkameraden, die er vermisst. Es wird sein Geheimnis, dass er überhaupt in der Stadt war. Die Erzählung des Films aus der Perspektive Dighus vertauscht Größenverhältnisse und Ordnungen. Obwohl er ein Tagebuch führt, teilt Dighu die Tage nicht nach Uhrzeiten ein. Es gibt sogar Tage an denen „gar nichts“ passiert. Auf diese Weise wird der Film nicht nur mythologisch, sondern auch philosophisch und zu einem wunderbar ethnografischen Rätsel. – Wer weiß, wann er wo in Europa zu sehen sein wird, während Netflix die globale Filmindustrie umorganisiert.

Früher hieß Sound Design Ton und damit begannen die Spielstars zu sprechen und die Filmmusik eroberte das Unbewusste. Tomer Eliav zeichnet für das Sound Design in Speer Goes to Hollywood verantwortlich.[3] Da hört man dann die Schritte von Albert Speer, wenn er sich auf der Anklagebank, während des Nürnberger Prozesses bewegt. Die Bilder kennt man als Foto oder Film, aber nun erhält die Szenerie eine ganz andere Präsenz, weil das Holz knarzt. Die Montage von Bild und 0riginalton sowie dessen digitale Bearbeitung verändert viel in der Wahrnehmung. Überhaupt wäre der Film ohne Sound Design gar nicht möglich geworden, weil er eben jene Tonbandkassetten zur Grundlage hat, die Andrew Birkin bei den Gesprächen mit Albert Speer in Heidelberg aufnahm. Davon gibt es keine Filmaufnahmen, sondern nur ein paar Fotos und die Kassetten. Das heißt auch, dass ein Bild- und Textverhältnis anders als im Tonfilm erst einmal hergestellt werden muss. Von den Nürnberger Prozessen gibt es zwar Szenen aus Filmen mit Ton. Doch dieser musste, erst für den Film digital wiederhergestellt werden.

Wegen des Protagonisten Albert Speer und seiner Formulierungen zum Drehbuch für eine Verfilmung von Inside the Third Reich (1970) ist der Film schwer auszuhalten. Sehr schnell erweist sich Albert Speer als Protagonist in der mehrfachen Bedeutung des Begriffs nach dem altgriechischen πρωταγωνιστής protagonistés „Haupt-“ oder „Erst-Handelnder“ auf dem Theater und im „Wohnzimmer“ der Macht. Die Autobiographie war 1969 zunächst auf Deutsch unter dem unverfänglichen Titel Erinnerungen mit Hilfe des Journalisten Joachim Fest geschrieben und im Propyläen Verlag (Ullstein) unter Leitung von Wolf Jobst Siedler erschienen. Wolf Jobst Siedler war schon 1967 von Albert Speer mit einem Manuskript auf die Autobiographie aufmerksam gemacht worden und von der „noble(n) Weise“ der Erzählung begeistert.[4] 1970 erschien bereits die 4. Auflage von Erinnerungen mit „mit 78 zum Teil unbekannten Bild- und Textdokumenten auf Tafeln“ auf 610 Seiten.

Speer goes to Hollywood (Berlinale-Foto)

Obwohl der ganz große Hollywood-Spielfilm, wohl gar in der Regie von Stanley Kubrick nach dem autorisierten Drehbuch von Andrew Birkin nie gedreht wurde, produzierte die American Broadcasting Company (ABC) 1982 nach dessen Tod eine ergänzte 250minütige Kurzserie immerhin mit einer gewissen deutschen Starbesetzung von Maria Schell als Frau Speer, Elke Sommer als Magda Goebbels und Sky du Mont als Dr. Karl Gebhardt. Albert Speer wurde von Rutger Hauer gespielt, der im gleichen Jahr in Ridley Scotts Blade Runner weltberühmt wurde. In den Gesprächen genießt es Albert Speer in den Formulierungen hörbar, sich von einem berühmten Hollywood Star gespielt zu sehen. Seine Frau habe gesagt, er sehe Cary Grant ähnlich. Mit seinem Drehbuchautor diskutiert er einzelne Szenen auf ihre Wirkung.

Montiert werden auch Telefonate von Andrew Birkin mit Stanley Kubrick, in denen der Regisseur ihn vor den Manipulationen Speers warnt. Es wird nicht ganz klar, ob sich der Drehbuchautor wirklich manipulieren ließ oder ob er eine Freude daran hatte, dass sich Albert Speer mit seinen Formulierungen mehrfach als Narziss verrät. In seinen Erinnerungen wie in den Drehbuchgesprächen versteht es Speer wiederholt, sich von der verbrecherischen Führungselite des Dritten Reiches um Adolf Hitler zu distanzieren. Obwohl er sich einen Berghof ganz in der Nähe zu Hitlers hatte bauen lassen, inszeniert er sich als überlegener Gast, der die Mittelmäßigkeit und ideologische Verblendung der anderen durchschaut habe. Gegen diese Formulierungen montiert Vanessa Lapa Szenen vom Berghof mit Speer, Hitler und Gästen, in denen er sich offensichtlich mehrfach autoerotisch mit der Zunge über die Lippen leckt.

ACHTUNG!
FOTO gelöscht wegen Urheberstreits mit „copyrightagent Pilestræde 10.1 1112 København K“
Das Foto „Albert Speer vor der Villa seiner Eltern in Heidelberg“ (1972) wird angeblich seit 1974 von der „Imago Stock & People GmbH“ gehalten.

Das Bildmaterial vom Berghof, mit Hitler und Speer in einer scheinbar privaten Atmosphäre gezeigt werden und das selbst verständlich so im Regime nicht an die Öffentlichkeit kam, war schon allein deshalb inszeniert, weil die Gäste und der Protagonist Albert Speer wusste, wie er selbst auf eine Schmalfilmkamera wirkte. Als Sohn des Architekten Albert Friedrich Speer wuchs er in Berlin in der Prinz-Wilhelm-Straße, heute Stresemannstraße, Mannheim und Heidelberg in großbürgerlichen Verhältnissen auf. Adolf Hitler begegnete er nach seiner Geschichte zum ersten Mal 1930 in der Hasenheide. Im Film sagt er, es sei „Liebe“ auf den ersten Blick gewesen. Die Referenzen und Formulierungen seines Verhältnisses zu Adolf Hitler und der Staatsmacht geben einen Wink auf ein klassisches Bildungswissen wie dessen fälschende Erzählung.

In einer Sequenz beschreibt sich Alber Speer als Ödipus. Er sei wie Ödipus in der griechischen Tragödie gewesen, der nicht sehen konnte, in welche Verbrechen er verstrickt wurde. Neben Referenzen auf das Verhältnis von Faust, er, und Mephisto, Hitler, schreibt er schon in seinen Erinnerungen: „Für einen großen Bau hätte ich wie Faust meine Seele verkauft. Nun hatte ich meinen Mephisto gefunden.“[5] Im deutschen Bildungskanon auch der Nachkriegsjahre ist Faust ohne genauere Analyse zweifelsohne eine positive Figur, die von Mephisto verführt und hereingelegt wird. Die Verführung indessen funktioniert selbst in Goethes Faust über das erotische Liebesabenteuer mit Margarete. Gustav Gründgens Faust-Inszenierung wie erotische Mephisto-Darstellung dürfte Albert Speer noch aus dem Vorkriegs-Berlin bestens bekannt gewesen sein.[6] Wie sehr sah er sich selbst als Mephisto? Seine Formulierung „Nun hatte ich meinen Mephisto gefunden“, behauptet vielmehr, dass er Mephisto/Hitler instrumentalisiert habe, um „einen großen Bau“ entwerfen und realisieren zu können.

Man muss diese Stelle und Formulierung genau lesen, um den Verbrechen Albert Speers mit Speer Goes to Hollywood auf die Schliche zu kommen. Bildung, Bildungswissen und Redegewandtheit wird man ihm nicht absprechen können. Vielmehr verfängt diese sich in einem Narzissmus. Die neue „Welthauptstadt Germania“ ist weniger Hitlers Traum einer Überwachungszentrale, als vielmehr der Versuch, die Stadt als Soziotop auszulöschen. Hinter großen und vor allem opaken Fassaden soll ein System arbeiten, das sein Volk je nach den Arbeitseinsätzen verschiebt, ausbeutet und falls notwendig als Zwangsarbeiter durch Mangelernährung ermordet. Als einer der körperlich größten und am besten ausgebildeten Protagonisten der verbrecherischen NS-Elite und -Führung fühlte er sich dem System als Architekt überlegen. Immer ragt Speer mindestens um einen Kopf aus den Gruppenfotos heraus. Es ist ein wenig so, wie wenn Friedrich Merz sagt, er schaue „rein physisch auf viele Menschen von oben“.[7]        

Albert Speer war nicht zuletzt Architekt von Auschwitz selbst dann, wenn er die Pläne für das Vernichtungslager nicht entworfen hat. Er habe vielmehr darum gebeten, die KZ-Insassen für seine Projekte in der Rüstung nutzen zu dürfen. Mangelernährung und Zwangsmaßnahmen führten indessen für die Zwangsarbeiter zu den gleichen, tödlichen Ergebnissen. Als Rüstungsminister zeichnete Speer verantwortlich und organisierte er das „Massensterben“ der Kriegsgefangenen maßgeblich: „Nachdem anfänglich buchstäblich Millionen sowjetischer Kriegsgefangener verhungern mussten, wurden sie ab Juli 1941 auf Weisung Hitlers zu Hunderttausenden nach Deutschland gebracht, ohne dass es genügend Nahrungsmittel gab, so dass sich das Massensterben zunächst fortsetzte. Auch für die gleichzeitig in großer Menge herbeigeschafften Zivilarbeiter waren anfangs keine Unterbringungs- und Verpflegungsmittel vorhanden, so dass der wirtschaftliche Nutzen aufgrund der hohen Todesraten sehr gering war.“[8] Auf dem Tor von Auschwitz steht nach der Speer-Logik denn auch „Arbeit macht frei“. Albert Speer hat mehrfach und so auch in den Drehbuchgesprächen seinen Antisemitismus bestätigt, um einzuräumen, dass er niemals so weit gegangen wäre, sie zu vernichten. Die Deportationen sind ohne seine organisatorische Mithilfe undenkbar. In Mauthausen wurde er von einem Häftling im Nürnberger Prozess erkannt, wie im Film mit Ausschnitten aus dem Nürnberger Prozess gezeigt wird.

Der Antisemitismus Albert Speers ist im Kontext seines „Mythos“ nicht zu unterschätzen. Er ist bislang zuwenig analysiert worden, was gerade durch die Formulierungen in den Drehbuchgesprächen deutlich wird. Selbst Wolfgang Schroeter schenkt ihm zu wenig Aufmerksamkeit in seiner Analyse der generationellen Speer-Rezeption Albert Speer – Aufstieg und Fall eines Mythos.[9] Er billigt Speer Verdrängung zu, während doch der rassistisch definierte Antisemitismus allererst den Holocaust ermöglicht hat: „Die von ihm unterzeichneten detaillierten Dokumente zur Baugenehmigung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau belegen, dass er genau informiert war, was passierte; aber dennoch verdrängte er es wohl aus seinem Bewusstsein.“[10] Speer benutzt Anfang der 70er Jahre weiterhin antisemitische Klischees für seine Wahrnehmung. Dennoch entging er dem Tod durch den Strang und wurde zu nur 20 Jahre Zuchthaus in Spandau verurteilt, wo es ihm gelang, „seine“ Geschichte oder „mentale Selbstorganisation“[11] zu erfinden, die durch Vanessa Lapa und ihr Team jetzt auf der Berlinale entlarvt wurde.

Torsten Flüh

Berlinale 2020
noch bis Sonntag 01.03.2020


[1] Siehe Sthalpuran. Indien 2020 https://www.berlinale.de/de/programm/programm/detail.html?film_id=202007596

[2] Ebenda.

[3] Siehe Speer Goes to Hollywood. Israel 2020 https://www.berlinale.de/de/programm/programm/detail.html?film_id=202011814

[4] Siehe Wikipedia: Wolf Jobst Siedler: Kritik.

[5] Albert Speer: Erinnerungen. Berlin: Propyläen/Ullstein, 1969, S. 44.

[6] Siehe zu Gustav Gründgens: Torsten Flüh: aufFÜHRUNG. Zu Performativität von Erika Fischer-Lichte und Gustaf Gründgens von Thomas Blubacher. In: NIGHT OUT @ BERLIN April 16, 2013 20:38.

[7] Friedrich Merz: „Ich schaue rein physisch auf viele Menschen von oben“. In: Der Spiegel 28.02.2020, 12:00 Uhr.

[8] Wolfgang Schroeter: Albert Speer. Aufstieg und Fall eines Mythos. Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2019, S. 84.

[9] Ebenda 108-111.

[10] Ebenda S. 110.

[11] Magnus Brechtken: Albert Speer. Eine deutsche Karriere, München 2006 zitiert nach ebenda S. 111.

Une Éducation sentimentale et imaginaire – Ulrike Ottingers Film Paris Calligrammes auf der Berlinale 2020

Erinnerung – Episode – Erziehung

Une Éducation sentimentale et imaginaire

Ulrike Ottinger erhält die Berlinale Kamera und zeigt Paris Calligrammes als Weltpremiere auf der Berlinale 2020

Paris Calligrammes von Ulrike Ottinger (Buch, Kamera, Regie) ist ein Film der Erinnerung an ihre Pariser Jahre zwischen 1962 und 1969 geworden. Zeitgeschichte und die Erinnerung an die individuelle Wahrnehmung der Zeit und ihrer Ereignisse überschneiden einander. Fast ist es ein wenig wie bei Goethe, wenn er in Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit vom Historisch werden des Selbst schreibt. Im Haus der Kulturen der Welt hatte Ulrike Ottinger mit Paris Calligrammes eine „Erinnerungslandschaft“ installiert.[1] Nun gibt im Film das Medium eine gewisse Linearität von der nächtlichen Ankunft als Mitfahrerin in Paris bis zur Abreise vor. Die Erinnerung wird mit harten Schnitten von historischem Bildmaterial auf aktuelle Beobachtungen kontrastiert.

Bevor es zur Weltpremiere kam, verliehen Carlo Chatrian und Marietta Rissenbeck als Leiter*innen des Internationalen Filmfestivals die Berlinale Kamera an Ulrike Ottinger. Dafür hatten sie die Schriftstellerin Yoko Tawada als Laudatorin eingeladen. Sie hatte 2011 in Ulrike Ottingers Film Unter Schnee mitgewirkt.[2] Yoko Tawada hat nicht nur in Deutschland die wichtigsten Literaturpreise erhalten, vielmehr noch hat sie kürzlich den Asahi Literaturpreis in Tokyo entgegengenommen. Sie würdigte in ihrer Rede insbesondere die Kamerafrau Ulrike Ottinger, die in einem Sturm am Meer auf der japanischen Insel Sado mit der Kamera ausharrte, als schon alle anderen Schutz suchten: „Der gnadenlose Schneesturm erteilt ihr heftige Ohrfeigen, aber sie weicht kein bisschen ab von ihrem Standpunkt und hält ihre Kamera millimetergenau auf die Naturgewalt. Ich erinnere mich, wie ich mich heimlich ins geheizte Auto geflüchtet habe. (…) Sie begegnete dem Klima sowie den Menschen, die sie filmte, stets körperlich und persönlich.“ Ausschnitte des Films wurden bei der Verleihung des Kleist-Preises an Yoko Tawada 2016 im Berliner Ensemble gezeigt.[3]

Yoko Tawada erwähnte in ihrer Laudatio auf Deutsch auch das ethnographische Forschungsinteresse von Ulrike Ottinger. Durch sie werden Gegenstände aus der „Scheune“, wie ein alter japanischer „Strohmantel“ für die Kamera praktisch erprobt. Dabei habe sich bei den Dreharbeiten herausgestellt, dass der Regenmantel aus Stroh nicht nur ohne Plastik auskomme, sondern „atmungsaktiv“ sei. Derartig mitgeteilte Beobachtungen von den Dreharbeiten erregten beim Publikum im Haus der Berliner Festspiele Heiterkeit. Ulrike Ottingers Filme sind immer zugleich visuelle und praktische Erforschung. Indem eine traditionelle, japanische Färbetechnik oder ein „alter Strohmantel“ für die Kamera angewendet werden, wird das ethnologische Wissen befragt, kinematographisch umformatiert und auf oft auch rätselhafte Weise sichtbar.
„Der Strohmantel war nicht wasserdicht wie ein Mantel aus Kunststoff, aber alle Wassertropfen wurden von den Strohhalmen fehlerfrei nach unten geleitet, so dass die Feuchtigkeit nie durchsickerte. Außerdem war er warm und atmungsaktiv. In manchen Hinsichten hat die Zivilisation vor der Verbreitung von Plastik ihren Höhepunkt erreicht. Ottingers Filme enthalten ökologische Ideen jenseits von Moral und Ideologie. Vom bösen Plastik ist nie die Rede.“

Im literarischen Format der Laudatio führte Yoko Tawada beispielsweise mit dem Begriff „atmungsaktiv“ eine Operation aus, die in den Filmen von Ulrike Ottinger visuell und narrativ auf andere Weise praktiziert wird. Man kann das als eine verfremdende Wissensoperation beschreiben. Denn der Begriff „atmungsaktiv“ kommt als Werbeversprechen der Outdoor-Bekleidungsindustrie allenthalben vor. Wer will keine „atmungsaktive“ Jacke oder Arbeitsschuhe? Google findet für den Suchbegriff „atmungsaktiv“ in weniger als einer Sekunde „(0,46 Sekunden)“ heute „(u)ngefähr 9.870.000 Ergebnisse“.[4] Anders gesagt: fast 10 Millionen Mal kommt der Begriff in Datensätzen vor. Er hat eine sehr hohe Gebrauchsfrequenz[5] in der deutschen Sprache und ist damit als Wissen besonders stark verbreitet. Im Deutschen wissen fast alle Menschen, was „atmungsaktiv“ heißt. Doch:
„Der Strohmantel war nicht nur funktionell gedacht, sondern auch mythologisch beladen. Man spricht vom magischen Strohmantel „Kakuremino“, den das beflügelte Fabelwesen Tengu besitzt. Wer ihn anzieht, wird unsichtbar.“

Wenn der modische, häufig gebrauchte Begriff von Yoko Tawada in ihrer Laudatio dann auf einen ganz anderen und geradezu widersinnigen Kontext eines alten Strohumhangs angewendet wird, kommt es plötzlich zu einer entlarvenden Komik des Wissens. Ulrike Ottinger hat in ihren Filmen wie im zwölfstündigen Chamissos Schatten (2016) immer wieder ungewöhnliche Kameraperspektiven und sehr lange Einstellungen benutzt, um Sehgewohnheiten und Wahrnehmungen als Wissen zu hinterfragen.[6] Wenn in der Ausstellung Weltreise 2015 lange Einstellungen vom Beringmeer gezeigt wurden, dann passiert alles oder nichts, wird alles oder nichts sichtbar und konfrontiert die Betrachter*innen auch mit ihrem Wissen von einer Weltreise, die vermeintlich die ganze Welt zeigt.[7] Andererseits rückt Ulrike Ottinger vor die Kameralinse, was sonst nicht gesehen wird oder nur dem fragenden Forscherauge auffällt. Auf diese Weise arbeitet die Kamerafrau Ottinger am visuellen Wissen. Dafür nutzte sie die Logbücher der Forscher Chamisso, Steller, Cook.

Nachdem Ulrike Ottinger aus den Händen von Carlo Chatrian die Berlinale Kamera entgegengenommen hatte, wurde Paris Calligrammes als Weltpremiere gezeigt. In ihrer kurzen Dankesrede sagte Ottinger, dass sie sich besonders über den Preis, den 2019 Wieland Speck zusammen mit Agnès Varda, Sandra Schulberg und Hermann Zschoche erhalten hatte[8], freue, weil er aus dem Modell einer analogen Filmkamera bestehe. Denn es sei die Arbeit mit der Kamera, die ihr immer besonders wichtig gewesen sei, obwohl sie immer auch das Drehbuch geschrieben und Regie geführt habe. Die Berlinale Kamera ist letztlich eine Montage aus 128 Einzelteilen von Silber oder Titan. Dabei sind viele der Teile vom Schwenkkopf bis zum Stativ beweglich. Insofern steckt in der Trophäe eine unbedingte Liebe zum Handwerk. Ulrike Ottinger verband den Preis mit dem Wunsch, dass er ihr bei der Realisierung eines ihrer großer Spielfilmprojekte helfen möge.[9]

Für Paris Calligrammes zeichnet Ulrike Ottinger mit Buch, Regie & Kamera verantwortlich, während der Film eine materialreiche Montage aus unterschiedlichem Material ist. Vor allem enthält er neben eigenen Aufnahmen aus den letzten Jahren umfangreich recherchiertes Material aus Film- und Fernseharchiven, wofür Marguerite Vappereau zuständig war. Denn Ulrike Ottinger arbeitete als Malerin und Grafikerin in Paris und hörte Vorlesungen u.a. von Claude Levi-Strauss an der Sorbonne, in deren Nachbarschaft sie in einem winzigen Dachstudio ohne Küche und Bad lebte. Durch die räumliche Nähe zur Sorbonne bekam sie denn auch die Revolte der Student*innen an der Universität direkt mit. Die Rauch- und Tränengasschwaden drangen durch das Fenster und die Tür so unangenehm in ihre Wohnung ein, dass sie sie verkleben musste. Doch diese Formulierungen sind schon wieder ein anderer Modus als der ihrer(!) filmischen Erzählung.

© Ulrike Ottinger. Schaufenster der Librairie Calligrammes: Für den Film mit meinen Büchern wiederhergestellt, Paris, 2018

Ulrike Ottinger erzählt im Off die Geschichte ihrer Ankunft in Paris, nachdem ihre Isetta auf der Fahrt von Konstanz ein gutes Stück vor Paris, sagen wir, den Geist aufgegeben hatte, mit ruhiger Kommentarstimme anders als es die Montage aus einem Gangsterfilm in Schwarzweiß vorführt. Es liegt in ihrer Erzählung im Unterschied zum Drehbuch und der „Erinnerungslandschaft“ eine Geste des Wissens. Die zwanzigjährige, bildende Künstlerin fuhr mit dem Anspruch, wenn nicht aller so doch sehr vieler junger Menschen nach Paris, um berühmt zu werden. Die politisch-sozialen Zeitumstände führten allerdings nicht dazu, dass sie als Malerin schlagartig berühmt wurde. Vielmehr wurde die Rückkehr nach Konstanz 1969 zu einem ambivalenten Erfolg der Gefühle, der politischen und akademischen, ebenso wie der visuellen Erfahrung – und Erziehung. Die Erinnerung wird zu einem überreichen Strom der Faszinationen, Bilder, Bruchstücke, Sounds, Gerüche (Tränengas, Barrikadenrauch!) und Gefühle. Im Entwicklerbad der Erinnerung verwandeln sich die Ereignisse in kleine Sensationen.

© Ulrike Ottinger. Fritz Picard, Paris, ca. 1966

Der bewegende Film in seinem visuellen und akustischen Materialreichtum ist in 10 thematische Episoden eingeteilt. Und an dieser Stelle muss der Berichterstatter einfügen, dass die Kamerafrau Ulrike Ottinger über das Visuelle hinaus sinnlich erzählt. Eine der ersten Sequenzen erzählt von einem Geräusch, das sie eines Morgens wahrnahm, doch nicht einordnen konnte, bis sie diesem folgte, um herauszufinden, dass die Straßen und vor allem Plätze in Paris morgens durch das Aufdrehen kleiner Hydranten im Bordstein gereinigt werden. Tatsächlich handelt es sich dabei um ein Pariser Geräusch der Moderne. Die grünen Straßenfeger fegen den Staub an den Bordstein, um diesen dann mit dem Wasser in die Kanalisation zu spülen. Im Film wird diese Erinnerung und Praxis auf einem kleinen, stillen Platz mit 4 grüngekleideten Straßenfegern zelebriert. An einer anderen Stelle spricht sie von den Geräuschen von der Straße, wenn die Bistrotische nachts rein und morgens wieder hinausgestellt werden. Dann wieder erwähnt sie Gerüche auf den Märkten oder des Tränengases.

© Ulrike Ottinger. Brasserie Lipp, Paris, 2018

Nach einer Art Vorspiel der Ankunft wird der Film mit der Episode „Fritz Picard und die Librairie Calligrammes“ in der Rue du Dragon eröffnet. Ulrike Ottinger durfte das Schaufenster der antiquarischen Buchhandlung dekorieren, wie zu Zeiten Fritz Picards in den 60er Jahren. Offenbar hat auch Georg Stefan Troller in den 60er Jahren für das Fernsehen des Westdeutschen Rundfunks in seiner Sendung Pariser Journal über Fritz Picard und die Librairie Calligrammes berichtet. Ulrike Ottinger erinnert das Innere an eine dadaistische Skulptur. In den Fernsehfilmsequenzen aus dem Antiquariat sind die Bücher nach einer gewiss eigensinnigen Systematik geschichtet und gestapelt. Der sozialistische und jüdische Emigrant Fritz Picard kaufte in Paris die deutschen Bücher auf Flohmärkten, die die deutschen Juden auf der weiteren Flucht oder Deportation zurücklassen mussten. So wurde die Librairie Calligrammes zu einem Memorial oder einzigartigen Erinnerungskunstwerk des Verlustes und der deutschen Intelligenz vor der Machtergreifung der Nationalsozialistischen Partei Deutschlands (NSDAP).

© Ulrike Ottinger.

Ulrike Ottingers Film zeigt auf sehr ruhige Weise eine unerschütterliche Haltung zur Geschichte der Flucht vor den rassistischen Verbrechen vor allem in Paris. Sie lässt die Verbrechen fast unkommentiert. Das Calligrammes bearbeitete ein Trauma. Die erinnernde Erzählung wird zu einem Kommentar in einer Zeit, in der sich ein Landespolitiker der FDP von der geschichtsrevisionistischen und offen rassistischen Partei Alternative für Deutschland wählen und sich von deren Landesvorsitzenden zum Ministerpräsidentenamt beglückwünschen lässt. Anders gesagt: Man kann heute sehr ruhig erinnerte Fakten erzählen, um die Ungeheuerlichkeit taktischer Politiken in ihrer Schamlosigkeit bloßzustellen. In der Episode „Das Atelier Friedlaender“ erinnert sich Ulrike Ottinger an die Arbeit mit dem Druckgrafiker Johnny Friedlaender, bei dem sie verschiedene Drucktechniken erlernte ebenso wie auf homosexuelle Männer und Frauen traf.

© Ulrike Ottinger. Mein Malerfreund Fernand Teyssier desertierte, um nicht in den brutal geführten Algerienkrieg ziehen zu müssen. Paris, 1965/66

Die Künstler*innen und Autor*innen, die Ulrike Ottinger im Calligrammes von Fritz Picard traf, waren nicht nur deutsche Emigranten, die als Juden verfolgt wurden, sondern zum Großteil auch politisch verfolgte Sozialisten. Die Fotografin Gisèle Freund, die der Berichterstatter 1993 für Recherchen in ihrer Dachwohnung in Paris aufsuchte, war beispielsweise nicht geflohen, weil sie 1933 schon diskriminiert wurde, sondern weil sie in Frankfurt studierte und Kontakte zum Sozialistischen Studentenbund hatte. Ähnliche Erfahrungen machten auch Johnny Friedlaender, Fritz Picard und dessen Frau Ruth Fabian. Doch Ulrike Ottinger analysiert ihr faszinierendes Umfeld in Paris nicht. Vielmehr lässt sie sich auf das Pariser savoir vivre der Künstler*innen und Literat*innen ein. Die Episode „Saint-Germain-des-Prés“ gerät zum Mythos einer Literatur- und Kunstszene, die heute nicht nur gänzlich gentrifiziert, sondern zur internationalen Immobilienanlage geworden ist. 72m² kosten im 6eme Arrondissement schon mal 3 Millionen US Dollar.

© Ulrike Ottinger. Monument zu Ehren der für Frankreich gefallenen Soldaten aus den Kolonien Kambodscha und Laos. Ehemaliger Parc Colonial, Paris, 2017

Ulrike Ottinger war wie man heute sagen müsste nah dran an den französischen Diskussionen und Verwerfungen, was in der Episode „Meine Pariser Freunde und das algerische Trauma“ deutlich wird. Noch in Konstanz verhalf sie einem Freund aus der französischen Armee zur Desertation, weil dieser nicht in den Krieg nach Algerien ziehen wollte. Wie tief dieses Trauma immer noch in der französischen Gesellschaft eingegraben ist, wird deutlich an dem sogenannten Massaker von Paris am 17. Oktober 1961, das der Polizeipräsident von Paris Maurice Papon zu verantworten hatte. Doch er wurde nie dafür belangt. Es gab keinen Untersuchungsausschuss und Papon verstarb im Alter von 96 Jahren am 17. Februar 2007. Zudem war er als Beamter der Vichy-Regierung für die Deportation der Juden aus Frankreich nach Auschwitz verantwortlich gewesen.

Über die Episoden „Pop! Meine Pariser Formenexperimente“ und „Die Künstler des Montparnasse“ als Stationen einer Kunsterfahrung kommt Ottinger zur „Präsenz des Kolonialen – Mein ethnografischer Blick in die Welt“. Sie war von den Architekturen des französischen Kolonialismus und die Ethnologie fasziniert. Das Versprechen der Schönheit und der Vielfalt faszinierten sie im Parc Colonial im Bois de Vincennes für die in den Kolonien gefallenen, französischen Soldaten des 19. und 20. Jahrhunderts oder des Musée nationale de l’histoire de l’immigration zeugten in den 60er Jahren noch vom Kolonialreich der Franzosen und einer glorreichen Kolonialgeschichte. Die Denkmäler für die Kolonialkrieger sind heute verfallen. Doch als Jardin d’agronomie tropicale de Paris erfreut sich das koloniale Erbe heute als Natur- und Architekturtableau einer gewissen Beliebtheit. Offenbar gibt es zum wenigstens problematischen, historischen Hintergrund keine ausführlichere Diskussion oder gar Erinnerungskultur.[10]   

© Ulrike Ottinger. Opfertempel zu Ehren der für Frankreich gefallenen Vietnamesen, ehemaliger Parc Colonial, Paris, 2017

Die Präsenz der ambivalenten Kolonialgeschichte Frankreichs finde Ulrike Ottinger in den afrikanischen Friseurläden am Gare du Nord. Ihr „ethnografischer Blick“ sieht in den geflochtenen Haartrachten der Afrikanerinnen eine andere Lebenspraxis aus Sorgfalt und Schönheit. Das Kolonialmuseum im Palais de la Porte Dorée von 1931 ist mehrfach umbenannt worden. Es widmet sich nun der Geschichte der Immigration, die in diesem Jahr auf 200 Jahre zurückblickt. Faszination, Edukation und Schrecken überschneiden während der Pariser Jahre von Ulrike Ottinger und gewinnen durch die Erinnerung wechselnde Perspektiven. In Paris wird die bildende Künstlerin, die sich an einer künstlerischen Form der narrativen Grafik ausprobiert, mit einer neuen Sichtweise auf das Kino vertraut gemacht. Die Episode „Kosmos Kino – Die Cinémathèque Française“ bekommt eine wunderbare Pointe dadurch, dass Ottinger als Kind mit ihren Eltern in Konstanz immer die französischen Filme im Kino sah. Als sie später ihren ersten Film mit deutscher Sprache sah, wollte sie gar nicht glauben, dass das richtiges Kino sei.

© Ulrike Ottinger. , „Allen Ginsberg“, 1966, Puzzle, Acryl auf Holz, 85 x 115 cm

Das Geheimnisvolle der fremden Sprache im Kino der Kindheit hat Ulrike Ottingers Verhältnis zum Film und zu den Sprachen geprägt. Ihr geht es, so lässt sich auch mit Paris Calligrammes sagen um eine Geheimniskunst, eine Kladestinographie in einer Welt, in der die Sichtbarkeit des Films landläufig zum Offensichtlichen und zum punktuellen Wissen geworden ist. Die Kladestinographie lädt zur Bildforschung ein. Sie zeigt nicht einfach. Mit den Episoden „Schatztruhen der Künste“ und „Politische Revolte“ endet der Film nach einem „Epilog“. Mit der politischen Revolte wird nicht zuletzt daran erinnert, wie Daniel Cohn-Bendit an der Sorbonne zur Identifikationsfigur für die protestierenden Studenten und von der Presse als „le juif allemand“ diskreditiert wurde. Frankreich und Paris waren keinesfalls frei von einem tief verwurzelten Antisemitismus. Der Generalstreik und die Revolte führten für Ulrike Ottinger, wie sie im Film sagt, zum Verlust von Freundschaften.

Nicht zuletzt die Malerei und die Bildkaskaden von Gustave Moreau, dessen Museum sie in Paris häufig besuchte, montierte Ulrike Ottinger später in ihre Bühnenbilder. Die Pariser Bilderwelten schimmern 1972 in ihrem ersten, no-budget Film Laokoon & Söhne durch. Die riesige Schlange des Laokoon, die über die Hänge am Bodensee getragen wird, erinnert an Gustave Moreau. Der Film als Kladestinographie wird von Ulrike Ottinger mit Paris Calligrammes intensiv gefeiert, eingedenk der Tatsache, dass bei 129 Minuten nur ein Bruchteil des Bildmaterials gezeigt werden kann. Statt 12 Stunden wie bei Chamissos Schatten sollte sich jede/r Zeit nehmen für die Geheimniskunst der Bilder in etwas mehr als 2 Stunden.

Ulrike Ottinger
Paris Calligrammes
im Kino ab 5. März 2020


[1] Siehe Torsten Flüh: Erinnerungslandschaft und animiertes Drehbuch. Zu Ulrike Ottingers Ausstellung Paris Calligrammes im Haus der Kulturen der Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN 26. August 2019.

[2] Siehe Torsten Flüh: Magie der Archive. Floating Food und Unter Schnee von Ulrike Ottinger. In: NIGHT OUT @ BERLIN September 13, 2011 12:37.

[3] Siehe Torsten Flüh: Vom Netz der Sprachen und Literaturen. Zur Kleist-Preis-Verleihung an Yoko Tawada im Berliner Ensemble. In: NIGHT OUT @ BERLIN November 22, 2016 22:24.

[4] Google Suchergebnisse für „atmungsaktiv“ um 11:40 Uhr am 25.02.2020.

[5] Der Begriff „Gebrauchsfrequenz“ wird in Analysen zur Sprachökonomie angewendet. Untersucht werden mit der „Gebrauchshäufigkeit“ nach Arne Zeschel Effekte für „Prozesse der Konstruktion anhand (impliziter) Sprechereinschätzungen zum Verarbeitungsaufwand“. Insofern wird der Begriff hier ein wenig verschoben. Arne Zeschel: Gebrauchsfrequenz und Registerspezifik als Determinanten der Konstruktionswahl. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik. Stuttgart [u.a.]: Metzler, 2013. Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (Publikationsserver 2017)

[6] Siehe auch: Ulrike Ottinger: Chamissos Schatten. Eine Filmreise zur Beringsee in drei Kapiteln. 2016, Farbe, 35mm/DCP, 12St. (Website)

[7] Siehe: Torsten Flüh: Ein Fest der Faszination. Zur Ausstellung Weltreise – Forster, Humboldt, Chamisso, Ottinger im Dietrich-Bonhoeffer-Saal der Staatsbibliothek zu Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN Dezember 15, 2015 20:56.

[8] Siehe: Torsten Flüh: Wie Menschen versklavt werden. Zu Rodd Rathjens Buoyancy als Weltpremiere in der Sektion Panorama und die Berlinale Kamera für Wieland Speck. In: NIGHT OUT @ BERLIN Februar 11, 2019 23:11.

[9] Berlinale Kamera: Preisverleihung im Haus der Berliner Festspiele. (Website)

[10] Sieh Wikipedia Jardin d’agronomie tropicale de Paris

Traumhafte Animationskünste – Das Wachsfigurenkabinett – Berlinale Classics 2020

Leben – Wachsfigur – Erzählen

Traumhafte Animationskünste

Zur Weltpremiere der digital restaurierten Fassung von Das Wachsfigurenkabinett auf der Berlinale 2020 

Schon am frühen Freitagabend erlebte im Friedrichstadt Palast die digital restaurierte Fassung von Paul Lenis Stummfilm Das Wachsfigurenkabinett mit neuer Live-Musik des Ensembles Musikfabrik ihre Weltpremiere. Am Montag, den 24. Februar wird der Film ab 23:25 Uhr ausgestrahlt und gestreamt. Auf einem Jahrmarkt wird ein junger Dichter (Wilhelm Dieterle) von einem Schausteller (John Gottowt) engagiert, Geschichten für die Wachsfiguren zu erfinden, um sie zu beleben. Die scheinbar simple Anlage der Handlung gibt einen um so stärkeren Wink auf das Genre der Wachsfiguren und ihrer Belebung durch Erzählungen, die zugleich als imaginärer Traumfilm ablaufen. Durch die Traumerzählungen werden Harun al-Raschid, Iwan der Schreckliche und Jack the Ripper „lebendig“. Das Genre Stummfilm erweckte 1924 die Wachsfiguren zum Leben durch Imagination. Der Stummfilm erzählt somit von seiner medialen Geschichte.

Die Geschichte kommt in Das Wachsfigurenkabinett zweimal vor. Einerseits werden auf dem Jahrmarkt zum Vergnügen Wachsfiguren aus der Geschichte gezeigt, die für das Unheimliche bereits bekannt sind. Doch als Wachsfiguren bleiben Harun al-Raschid (Emil Jannings), Iwan der Schreckliche (Conrad Veidt) und Jack the Ripper (Werner Krauß) geradezu sprichwörtlich tot. Sie bewegen sich nicht und ihr Gesicht bleibt ausdrucklos wächsern. Es muss etwas hinzukommen, das eine Bewegung in Gang setzt. Diese Bewegung wird sowohl maschinell wie emotional sein. Vor allem aber beginnt sie erst einmal mit einem vagen Wissen von den Wachsfiguren, das vom Dichter mit seinem Begehren nach der Tochter (Olga Belajeff) des Schaustellers verknüpft wird. Das Begehren des Dichters wird auf die Figuren eines Bäckers, eines russischen Bräutigams und ihm selbst im Angsttraum übertragen. Er kämpft jeweils gegen die lebendig gewordenen Wachsfiguren um eine Frau.

Das Wachsfigurenkabinett von Paul Leni ist in der deutschen Originalversion verbrannt. Eine englische Version des British Film Institut mit englischen Zwischentiteln wurde nun als Grundlage für die Rekonstruktion des Films mit weiteren Kopien aus Frankreich und Tschechien kombiniert. Da die unterschiedlichen Nitratkopien verschiedene Grade an Veränderungen des Filmmaterials aufweisen, mussten die Teile und Ergänzungen digital angepasst werden. Der Film hat nun eine brillante Bildqualität, die nicht zuletzt zahlreiche visuelle Experimente in der Bildgestaltung zur Geltung bringen. Überblendungen, Mehrfachbelichtungen und Spiegelungen werden von dem, wie es 1924 hieß, „Operateur“ also Kameramann Helmar Lerski mehrfach eingesetzt. Die Kamera arbeitet insofern mit visuellen Innovationen und nachträglichen Kolorierungen am Traum mit. Bernd Schultheis, Olav Lervik, Jan Kohl haben als Komponisten mit dem Ensemble Musikfabrik unter Leitung von Elena Schwarz ein neuartiges Klangkonzept für den Film erarbeitet. Es wird darauf zurück zu kommen sein.

Was ist ein Wachsfigurenkabinett oder Panoptikum? Das Wachsfigurenkabinett trägt im Film das Schild „Panopticum“. Die Begriffe werden alternativ gebraucht. In Hamburg wurde am Spielbudenplatz 1879 das noch heute existierende Panoptikum gegründet. In einem Panoptikum mit seiner Nähe zum Jahrmarkt oder Vergnügungsviertel wie der Reeperbahn vor dem Stadttor, Millerntor, wird weitgehend triviales Wissen in Wachsfiguren verkörpert. Das reicht von landläufig bekannten Berühmtheiten, denen sich das Publikum lebend kaum nähern kann, bis zu plastischen Darstellungen von sexuell übertragbaren Krankheiten, den Geschlechtskrankheiten, wie sie im Panoptikum am Spielbudenplatz gezeigt wurden. Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett soll seinen Ursprung in dem während der französischen Revolution durch eine Guillotine am 16. Oktober 1793 auf dem Place de la Concorde abgetrennten Kopf der französischen Königin, Marie Antoinette, haben. Anders gesagt: Im Panoptikum geht das Versprechen alles in einer „Gesamtschau“ zu sehen zu bekommen, auf erstens eine eigenartige Kombination von Tod und Leben und zweitens ein vages Wissen, das von den Besucher*innen affiziert wird.

Henrik Galeen als Drehbuchautor führt insofern mit dem Dichter als Erzähler und Wissensvermittler eine Verdopplung der Wissensfunktion des Panoptikums vor. Gleichzeitig wird mit dem Dichter für die Kritiker um 1924 erkennbar das Verhältnis von Literatur und Film angesprochen. Das nicht mehr ganz so junge Genre Film bzw. Bioscope oder Kinematographie wird noch im Feld zwischen Literatur und Bild diskutiert, was besonders deutlich an Das Wachsfigurenkabinett zum Beispiel von Dr. Mendel in der Lichtbild-Bühne am 15.11.1924 kritisiert wird. Die Frage nach dem literarischen Anspruch des Films wird von ihm entschieden verworfen.
„Ach nein! Mit „Literatur“ hat dieser Film gar nichts zu tun. Im Gegenteil. Literarisch schwächeres als das Manuskript Henrik Galeens gibt es kaum noch: Sprunghaft, ohne innere Zusammenhänge, ohne dramatische Steigerung. Also literarisch und dramaturgisch fast wertlos (hier wohl auch einer der Hauptgründe für den lauen Erfolg!).“[1]

Die Sprunghaftigkeit des Manuskripts ließe sich ebenso gut als Innovation der Filmerzählung formulieren. Sie folgt keiner Logik der linearen Dramaturgie. Vielmehr wird wie mit dem Arm der Wachsfigur Harun al-Raschid motivisch oder traumlogisch erzählt. Der Schausteller repariert gerade den Arm der Wachsfigur, als seine Tochter den Dichter hereinführt. Dieser sozusagen lose Arm wird vom Dichter fast surrealistisch zum Anlass genommen, um die Geschichte zu erzählen, wie der Kalif seinen Arm verlor. Die Sprunghaftigkeit der Erzählung zeigt sich nun darin, dass zunächst gar nicht von dem Arm erzählt wird. Stattdessen wird die durchaus komische Geschichte vom Bäcker und seiner bezaubernd schönen Frau vorgeführt. Sie überschneidet sich mit der märchenhaften Erzählung vom Kalifen, der jede Nacht eine andere Frau begehrte, um sich nicht zu langweilen. Insofern montiert Galeen zwei Erzählungen, indem die Frau eine Mutprobe von ihrem Mann verlangt. Er entscheidet sich den sagenhaften Wunschring des Kalifen zu stehlen.

Ein weiterer Aspekt der Sprunghaftigkeit besteht darin, dass eben die drei sehr unterschiedlichen Geschichten in einer Montage kaum auf einander Bezug nehmen. Verknüpft werden sie allein durch den Umstand, dass der Dichter sie schreibt und sich sowie die Tochter des Schaustellers als Paar imaginiert bzw. erträumt. Doch genau darin bezieht sich Henrik Galeen sehr genau auf das Wissenskonzept des Panoptikums. Denn dort haben die ausgestellten Wachsfiguren nichts miteinander zu tun, außer dass sie ein leichter oder stärkerer Grusel der Betrachter*innen miteinander verbindet. Das Wissen von der Wachsfigur wird nicht kontextualisiert. Oft werden sie von den Besucher*innen gar nicht erkannt und erhalten erst mit dem Namen und einer kurzen Geschichte ihren Reiz. Genau dafür wird eben kein Wissenschaftler, Historiker oder Forscher angestellt, sondern der Dichter als Literatur- und Wissensproduzent.

Das Wachsfigurenkabinett oder Panoptikum als Raum des Wissens, Raum einer Begegnung mit dem Wissen tendiert zum Museum, beansprucht dessen Sichtbarkeitsversprechen und erweckt die imaginäre Affizierung mit diesem Wissen. Man könnte sagen, dass Henrik Galeen (Drehbuch) und Paul Leni (Regisseur) sehr gut verstanden haben, wie ein Panoptikum funktioniert. Genau diese Funktionsweise generiert sozusagen den Plot oder auch Literatur. Der visuelle Expressionismus des Films mit seinen Überzeichnungen, Vervielfältigungen, Vertauschungen, Verzerrungen, Kolorierungen speist sich bereits aus der Funktionsweise des Panoptikums. Die orientalische Stadt des Kalifen wird als außerordentlich labyrinthisch inszeniert. Damit wird zugleich eine durchaus panische Orientierungslosigkeit im Raum des Wissens für die Besucher*innen gespiegelt.

Screenshot Trailer „Das Wachsfigurenkabinett“ (Torsten Flüh)

Das visuelle Wissen des Panoptikums/Wachsfigurenkabinetts wird in seiner Aneinanderreihung zur Herausforderung für die Besucher*innen, worauf der Kritiker in Lichtbild-Bühne einen Wink gibt. Insofern scheitert der Dichterautor an der Erwartung, „innere Zusammenhänge“ herzustellen. Das Wachsfigurenkabinett als Medium sträubt sich geradezu gegen „innere Zusammenhänge“. Sie können einzig und allein in der Übertragung des Wissens auf die Wahrnehmung bzw. als Imagination hergestellt werden. Genau davon erzählt der Film. Auch im Film-Kurier wird Das Wachsfigurenkabinett genau mit dieser Problematik von Eduard Jawitz diskutiert. Denn was die (vermeintliche) Literatur nicht lösen kann, erscheint nun als „Bild“:
„Eins ist der Film zunächst: Bild! Ohne den Maler, den Architekten, ist er auch nicht Bild, sondern etwas anderes. (Man ahnt: was!!) Ausgenommen zweieinhalb Filmdichter gibt es die guten Literaten, die schuld sein sollen, daß man den Film in weiteren Kreisen nicht Kunst nennt: woraus manche schließen, daß die schlechten Literaten die guten Filme machen, was falsch ist.“[2]

Screenshot Trailer „Das Wachsfigurenkabinett“ (Torsten Flüh)

Insbesondere in den 1920er bildet sich in den Wissenschaften wie z.B. mit Magnus Hirschfelds Sexualwissenschaftlichen Bilderatlas ein neuartiges Bildwissen heraus.[3] Dieses Bildwissen wird nicht zuletzt von Paul Leni mit seinem Stummfilm verknüpft. Es ist als biete nicht zuletzt Das Wachsfigurenkabinett jene flüchtigen Traumbilder, die mit Jack The Ripper zu einer beängstigenden Größe und Macht heranwachsen können, die in der Psychopathologie mit Psychosen benannt werden. Die Vielzahl der Bilder und ihre Überlagerungen durch filmtechnische Doppelbelichtungen, vereiteln ein Bild, in das sich Wissen deponieren ließe. Oder mit Paul Lenis Worten:
„Statt eines einzigen Bildes fünfzig, sechzig machen, Leben zerlegen, bis noch das Wegwerfen eines Streichholzes seelisch-malerische Symbolhandlung wird, das ist Filmkunst! Wie der Dichter im Film malerisch sehen muß, so muß der Maler dichterisch empfinden. Es gibt nicht Rücksichten auf ein Milieu, jedes Milieu ist nichts anderes als Ausdruck von Menschen, die sich in ihm bewegen.
Das Theater kann vor einfachem, schwarzen Vorhang spielen, hier tönt alles das Wort. Der Film braucht Hintergründe; Aspekte, die Schauplätze werden, Seelenschauplätze!“[4]

Screenshot Trailer „Das Wachsfigurenkabinett“ (Torsten Flüh)

Wenn man den Film Das Wachsfigurenkabinett beschreiben, besprechen möchte, dann wird die Vielzahl und Diversität der Bilder durchaus zum Problem. Jede Einstellung als „Seelenschauplatz“ ist mit ihren Kulissen und vor allem der „Beleuchtung“ genau ausgeleuchtet. Die orientalische Stadt mit ihren Zwiebeltürmen und der Dachterrasse des Palastes spiegelt ein helles, herrschaftliches Leben des Kalifen. Die enge Behausung des Bäckers erhält kaum „Sonnenlicht“, alles wird zu Schatten verzerrt. Das Schlafgemach des Kalifen wird zum Schauplatz für die Verwandtschaft von Wachsfigurenkabinett und Film. Was auf dem Schauplatz stattfindet, unterliegt selbst schon immer dem Imaginären. Denn Harun al-Raschid liegt in einem Schlafgemach. In seinem Ring spiegelt sich der Bäcker als sein Begehren kaleidoskopartig. Voller Schauder schlägt er den Arm des Kalifen mit einem Säbel ab, während die Zuschauer*innen wissen könnten, dass er Harun al-Raschid gar nicht den Arm abschlagen kann, weil dieser bei seiner Frau ist.

Screenshot Trailer „Das Wachsfigurenkabinett“ (Torsten Flüh)

Die Verwechslung der Körper und der toten Bilder mit dem Leben, mit dem lebendigen Körper, die im Medium Kinematographie visuell immer angelegt ist, wird insofern selbst vorgeführt. Die Dramatik verfängt sich in den Betrachter*innen, wenn der Arm abgeschlagen wird. Deshalb auch ist es in der Auflösung so wichtig, dass der Kalif selbst die Verwechslung als Täuschung aufklärt. Immer wenn er sich in der Stadt zu schönen Frauen begebe, lege er eine Wachsfigur in sein Bett. Die Pointe liegt nun gerade darin, dass der überaus dicke Kalif von Emil Jannings derart komisch überzeichnet wird, dass ihm ein sexueller Übergriff kaum noch zuzutrauen ist. Es ist alles eine Frage der „Beleuchtung“. So heißt es über Ernst Stern bei Eduard Jawitz:   
„Weil es nicht filmwirksame oder unwirksame Farben gibt, hingegen viele Vorurteile von Operateuren und Regisseuren, hat Stern im WACHSFIGURENKABINETT (das er gemeinsam mit Leni machte) die Kostüme gelb oder blau getönt und es überstrahlt nicht, sofern nur der Operateur richtig beleuchtet. … Das Objektiv muß durch Malerei getäuscht werden! Noch ist ja alles viel zu literarisch und bühnenmäßig. Eins aber dankt man dem Film: die Sicherheit in bezug auf das Formale der Architektur, die ganz präzise Sicherheit, den Kern des Architektonischen auszudrücken. Soll der Bau eine Idee interpretieren, so sind die Baustile mit unsäglicher Sorgfalt durchzuführen. Es wird jedes Bild einprägsam sein, sofern der Filmbau seinen Kern adäquat wiedergibt.“[5]

Screenshot Trailer „Das Wachsfigurenkabinett“ (Torsten Flüh)

Am stärksten wird die Beleuchtung in der Iwan-Sequenz. Das Halbdunkel und die labyrinthischen Treppen und Gänge der Kerker werden Angst-Räumen, in denen sich auf auch komische Weise – deutliches Lachen im Publikum bei der Weltpremiere – Iwan selbst verfängt. Denn das überdimensionale Stundenglas, das seinen Gifttod anzeigen soll, dreht er, in der Angst zu sterben, bis an das Ende seiner Tage. Wodurch wurde Iwan vergiftet? Das Stundenglas funktioniert nicht zuletzt als Prognose, dass derjenige dessen Namen auf das Glas geschrieben ist, sterben wird. Iwan kann sich an diesem machtvollen Wissen delektieren. Doch genau das wird ihm zum Verhängnis. Er wird in einem Zustand zwischen Leben und Tod sein Stundenglas drehen, bis er stirbt. Die Angst vor dem Tod verhindert sozusagen sein Leben.

Screenshot Trailer „Das Wachsfigurenkabinett“ (Torsten Flüh)

Die Komponisten Bernd Schultheis, Olav Lervik, Jan Kohl haben mit dem Ensemble Musikfabrik eine Stummfilmmusik ausgearbeitet, die den Film bisweilen sprechen, gar schimpfen lässt. Violine und Posaune werden für eine Musiksprache eingesetzt, die das Komische, Komödiantische hervorheben. Aber auch Spannung wird akustisch aufgebaut. Dann wieder kommentiert die Musik die Filmsequenz. Insofern spricht die Musik nicht nur das Imaginäre an, es wird auch auf vielfache Weise gewendet. Bei konventionellerer Stummfilmmusik könnte der nicht zuletzt literarische Reichtum von Das Wachsfigurenkabinett abgeflacht werden. Vielleicht auch war das dem Film bei seiner Uraufführung 1924 passiert. Doch davon berichtete niemand, obwohl es doch so viel zum Bild beiträgt.

Torsten Flüh  

ARTE
Das Wachsfigurenkabinett
Paul Leni 1924
24. Februar 2020 23:25 Uhr
danach bis 24.03.2020 in der Mediathek


[1] Dr. M–l. (= Dr. Mendel), Lichtbild-Bühne, Nr. 134, 15.11.1924.

[2] Eduard Jawitz: Malerei, Architektur, Plastik und Kunstgewerbe im Film. Eine Rundfrage über dekorative Probleme. In: Film-Kurier, Nr. 33, 7.2.1924.

[3] Vgl. zu Magnus Hirschfelds „Bilderatlas“ bzw. „Sexualwissenschaftlicher Bilderatlas zur Geschlechtskunde“ (1930): Torsten Flüh:  Gefeierte Enden der Sexualwissenschaft. Zum Festakt für Magnus Hirschfelds 150. Geburtstag im Haus der Kulturen der Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN Mai 18, 2018 16:46.

[4] Paul Leni nach Eduard Jawitz: Malerei … [wie Anm. 2].

[5] Ebenda.

Richard Wagners Späße mit dem Bürgertum – Die Meistersinger von Nürnberg an der Semperoper

Uhr – Ehe – Maschine

Richard Wagners Späße mit dem Bürgertum

Zur Neuinszenierung Die Meistersinger von Nürnberg an der Semperoper unter der Leitung von Christian Thielemann

Ende Januar hatte die Inszenierung Die Meistersinger von Nürnberg an der Semperoper in Dresden Premiere. Die Sächsische Staatskapelle Dresden, die auf eine 472jährige Geschichte zurückblicken darf, während die Staatskapelle Berlin in diesem Jahr erst das Jubiläum seiner 450jährigen Geschichte feiert, spielte unter ihrem Chefdirigenten Christian Thielemann als „fließ(e) (alles) scheinbar natürlich ineinander“, wie es der Dirigent selbst formuliert.[1] Ein Ohrgenuss aus 45 einzelnen Leitmotiven. Gleich einem allerfeinsten, hochausdifferenzierten, exquisiten Uhrwerk schnurrt die Musik aus dem Orchestergraben in den dritten Rang erste Reihe Mitte. Das Orchester ist etwas präsenter als die Stimmen der Weltklassesänger*innen. Sixtus Beckmessers verstimmte Laute aus der Harfe im Orchestergraben setzt sich hart durch. Am Schluss dann Lindenbaum, Meisterehr‘ und Meisterverwerfung – Riesenapplaus!

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Klaus Florian Vogt als Walther von Stolzing, „ein junger Ritter aus Franken“ ist nicht mehr ganz so jung. Aber das zählt gerade auf der Opernbühne als Raum des Imaginären wenig. Dafür singt Vogt den Stolzing in den lyrischen Höhen berückend schön. Sein Preislied kann er auf der Festwiese kaum beenden, sogleich müssen alle Anwesenden in den Sound einstimmen. Bei Wagner geht es nicht mehr um Klang und Töne, sondern Sound auf der Opernbühne, wo das Publikum als „Volk“ gespiegelt teilhaben soll. Nach den alten Regeln der Opernkultur müsste ein Beifallssturm nach Stolzings Preislied, fast einer Arie gleich, losbrechen. Nicht so nach des Meisters Richard Wagner kompositorischen Regeln. Stolzings Preislied unter dem Lindenbaum um des Goldschmiedemeisters Tochter Eva (Sara Jakubiak) ehelichen zu dürfen, löst sich auf in einer fast infektiologischen Polyphonie im „Volk“. Scheinbar „natürlich“ als wären ’s die Leut‘ selbst, zieht Wagner insbesondere durch das Dirigat von Christian Thielemann das Publikum in seinen pulsierenden, letztlich erotischen Bann.

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Die Opernbühne ist eine verkehrte Welt, wo genau das aufgeführt wird, was das Publikum zu hören und zu sehen wünscht. Richard Wagners „Oper“ Die Meistersinger von Nürnberg mit dem „Libretto vom Komponisten“ von 1868 wird landläufig als romantische, gar sprichwörtliche „Butzenscheiben“-Romantik rezipiert und gepflegt, so wie es der Regisseur des Abends Jens-Daniel Herzog schon am Nationaltheater Mannheim erfahren hat.[2] Doch wie funktioniert das in Libretto- und Partiturtext? Auch die Partitur ist zunächst einmal Text aus einem Schriftsystem, man könnte sagen, dass sie eine Notenliteratur ist. Libretto und Partitur, zumindest wenn Christian Thielemann sie liest und vorführt, klaffen auf merkwürdige Weise auseinander. Das fällt insbesondere dann auf, wenn eine hohe Textverständlichkeit durch Sänger wie Georg Zeppenfeld als Schuster Hans Sachs gewährleistet wird. Die differenzierten Auseinandersetzungen des 1. Aktes, die schnell ermüden können, werden auf einmal wichtig und spannend.  

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Der grobe, aber auch subtile Witz des Librettos führt bis auf Beckmessers Gesänge kaum zu Folgen in der Musik. Bei Beckmesser wird die Dissonanz indessen auch gebrochen. Gerade die Harfe als harmonisches Instrument steuert Störgeräusche bei. Doch es sind nicht nur falsche Harfentöne, vielmehr erinnert Beckmessers Dichten an vormoderne Klangkonzepte der Renaissancemusik. Wovon erzählen also die Meistersinger von Nürnberg? Jenseits der Butzenscheiben eröffnet sich die Welt des 19. Jahrhunderts, ihre Transformationen und Verwerfungen. Und es könnte sein, dass Richard Wagner dieser Weltsicht sein Misstrauen eingeschrieben hat. Denn die Meister wollen keinesfalls Demokratie wagen. Sie sehen sich als Hüter der Wahrheit und Vernunft. Doch Wagner lässt genau diese Meisterschaft medial auf der Festwiese enden:
SACHS erhebt sich.
Verzeiht,
vielleicht schon ginget ihr zu weit.
Ein Mädchenherz und Meisterkunst
erglühn nicht stets von gleicher Brunst:
der Frauen Sinn, gar unbelehrt;
dünkt mich dem Sinn des Volks gleich wert.
Wollt ihr nun vor dem Volke zeigen,
wie hoch die Kunst ihr ehrt,
und laßt ihr dem Kind die Wahl zu eigen,
wollt nicht, daß dem Spruch es wehrt –,
so laßt das Volk auch Richter sein:
mit dem Kinde sicher stimmt’s überein.
DIE MEISTER.
Oho! Das Volk? Ja, das wäre schön!
Ade dann Kunst und Meister-Tön‘! (1. Akt, 3. Szene)

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Als der Berichterstatter zum ersten Mal in der Semperoper im dritten Rang erste Reihe Mitte Platz nimmt, fällt ihm eine merkwürdige Zahlenkombination mittig über dem Bühnenportal unter zwei mit einer Taube spielenden Engelein auf: „II 55“. Über dem Wappen des Königreichs Sachsen im 19. Jahrhundert springt, nachdem sich der Bühnenprospekt mit den Musen gehoben hat, die Zahlenkombination plötzlich auf „III 00“. Zeitgleich betritt Christian Thielmann den Orchestergraben und geht ans Dirigentenpult. Die Zahlenkombination, denkt der Berichterstatter, muss eine Uhr sein. Denn die Vorstellung sollte um 15:00 Uhr beginnen. Aus dem Parkett kann man die Uhr nur unter Gefahr einer Nackenwirbelverrenkung sehen. Auch aus der Königsloge im ersten Rang Mitte, wird die Uhr nicht direkt ins Auge fallen. Wie sich heute unschwer recherchieren lässt, ist die Digitalanzeigende Fünf-Minuten-Uhr der Semperoper berühmt. Ein Novum. Meiner Erfahrung nach sogar ziemlich einzigartig. Die Digitaluhr(!) gehört seit dem Bau der ersten Oper von 1838-1841 durch Gottfried Semper zu ihrer genuinen Ausstattung. Richard Wagner muss die Uhr von Friedrich Gutkaes gekannt haben, als er von April 1842 bis 1849 an der Dresdner Hofoper von Semper als Komponist und Königlich-Sächsischer Kapellmeister verkehrte.

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„IIII 55“, 5 Minuten vor 5, kehrt der Berichterstatter nach dem 1. Akt und Pause auf seinen Platz zurück. Die Digitaluhr ist schon außergewöhnlich in ihrer Anzeige. Denn eigentlich müsste die 4 als IV angezeigt werden. Sie gehört immerhin sosehr zur Semperoper, dass sie nach Wiederauf- und Um- und Wiederaufbau in ihrer Mechanik zwar nicht, aber in ihrer Anzeige unverändert geblieben ist. Während das Publikum nicht zuletzt in der Oper Die Meistersinger von Nürnberg den Zeitunterschied zwischen 1868 und der imaginären Zeit des Nürnberger Mittelalters vergessen soll, läuft über dem Portal die Zeit sichtbar genau ab. Wofür braucht das Publikum die Uhrzeit? Oder brauchte der Uhrmacher das Publikum gewissermaßen zur Werbung? Die Uhr und ihre Mechanik waren jeweils auf dem neuesten technischen Stand, eine Materialisierung von Fortschritt im Wissen gewissermaßen. Trotzdem lässt sich die Funktionsweise selbst im Fachblatt Allgemeiner Anzeiger für Uhrmacher schwer ohne „Abbildung“ beschreiben.  
„Wie aus der Abbildung ersichtlich, befindet sich inmitten derselben, auf einem Sockel befestigt, das Gehwerk, von welchem aus die beiden seitlich angebrachten Metalltrommeln, auf deren Umfang Zahlen befestigt sind, in Bewegung resp. Umdrehung versetzt werden. Die Trommel rechts ist mit Minutenzahlen 5, 10, 15 u. s. f. bis 60 versehen und rückt dementsprechend in Zwischenpausen von je fünf Minuten um eine solche Zahl vor, die dann in dem auf einem Fusse stehenden verzierten Rahmen zum Vorschein kommt.“[3]

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Wenn der Vorhang nach dem Vorspiel aufgeht, wird in der Inszenierung von Jens-Daniel Herzog der Zuschauerraum auf die Bühne mit Kulissen verlängert. Auf der Bühne sehen sich in einer Stuhlreihe Menschen die chorische Gemeindeszene in der Katharinenkirche zu Nürnberg an. Doch anders als in Wagners rahmenden Regieanweisungen sehen wir keine Gemeinde beim Gottesdienst, vielmehr wird diese bereits in der Kunst des Tableau vivant vorgeführt. Die Tableaux vivants oder Lebenden Bilder waren selbst schon eine bürgerliche Darstellungskunst der „Gebärde“ um 1800. Einerseits kleiden und verwandeln sich Bürger in historische Szenen, ohne dazu einen Text sprechen zu müssen. Es werden verschiedene Posen, wie sie aus Gemälden oder Plastik bekannt sind, zu „Gebärden“. Andererseits soll das Bildwissen der Kunstgeschichte so für die Zuschauer*innen erlebbar gemacht werden. Sie sollen sich im wahrsten Sinne des Wortes im Bilde finden. Durch diese dramaturgische Operation schlägt Herzog eine imaginäre Brücke für das Publikum. Wir sehen auf der Bühne das Bürgertum des 19. Jahrhunderts, das sich durch „Gebärden“ als Gemeinde in Nürnberg imaginiert. In Wagners minutiöser Regieanweisung steht:
Walther drückt durch Gebärde eine schmachtende Frage an Eva aus. (…) Evas Blick und Gebärde sucht zu antworten; doch beschämt schlägt Sie das Auge wieder nieder. (…) Walther nimmt die dringende Gebärde wieder auf, mildert sie aber sogleich wieder, um dadurch sanft um eine Unterredung zu bitten.“ (1. Akt, 1. Szene)

©Ludwig Olah

Wortreich und witzig wird im 1. Akt der Meistersinger das diskursive Wissen des 19. Jahrhunderts über Handwerkskunst, Gesellschaftsstrukturen, Geschlechterpolitik und Ehe verhandelt. Die Verehelichungen z.B. des Uhrmachers Friedrich Gutkaes und seines Sohnes wie seiner Gesellen finden im Kreis der Uhrmacher statt. Am 21. September 1815 heiratete Gutkaes Friederica Charlotte Schuhmann, Tochter des Königl.-sächsischen Hofuhrmachers Schuhmann.[4] Gleichzeitig finden u.a. von der Königlich Technischen Deputation Berlin seit 1821 wichtige industrielle Umwälzungen statt, die das Handwerk in seinen traditionellen Strukturen entschieden verändern. Zwischen 1821 und 1837 erscheinen in Berlin durch Christian Peter Wilhelm Beuth und mit genauen Kupferstichen nach Zeichnungen von Karl Friedrich Schinkel die Vorbilder für Fabrikanten und Handwerker als Musterbücher. Sie verbreiten das Wissen über historische „Vorbilder“ für die Anfertigung industrieller Produkte durch Eisenguss oder andere Gießverfahren. Überall in Europa entstehen Eisengießereien, die zugleich Vervielfältigungen und Normierungen hervorbringen.[5] Im Vorwort der Gesamtausgabe schreibt Beuth:
„Es liegt außer den Grenzen dieser, zunächst für die kurze Erläuterung der Kupfer bestimmten Blätter, den Gewerbetreibenden ausführlich auseinander zu setzen, wie nöthig und nützlich es ist, ihren Arbeiten, neben der technischen Vollendung, die höchste Vollkommenheit der Form zu geben. Nur eine Ausführung, die beides vereinigt, nähert die Arbeit des Handwerkers dem Kunstwerke, drückt ihr den Stempel der Bildung auf, und giebt ihr einen bleibenden Werth, als die Kostbarkeit des Materials, woraus sie gefertigt wurde.“[6]   

©Ludwig Olah

In Wagners Meistersingern kommen die Eisengießer nicht vor, weil es sie im Mittelalter so noch nicht gibt. Trotzdem dreht sich alles um die Eisengießer und Maschinenbauer, die nicht nur in Berlin wie August Borsig in den 1840er Jahren so reich werden, wie es zuvor nur die Könige waren. Borsig war als Zimmermann(!) nach Berlin gekommen und wurde auf der Chausseestraße vor dem Oranienburger Tor erst zum Eisengießer und Lokomotivkönig. In seiner Maschinenbauanstalt führte er feste Regeln für die Arbeiter ein. 1848 wurde u.a. das Arbeiten nach bestimmten Uhrzeiten festgeschrieben. Musterbücher wie die Vorbilder verbreiten das Wissen, das dem Produkt „den Stempel der Bildung“ als „bleibenden Werth“ aufdrücken soll. Das ist ein neuartiges Handwerkerwissen, von dem das Mittelalter noch nichts weiß. Lehr- und Gesellenjahre müssen zur Übertragung des Wissens nicht mehr durch Verheiratung in der Familie „fortgepflanzt“ werden. Mit den Vorbilder(n) wird das handwerkliche Wissen nun ganz anderen Menschen außerhalb der traditionellen Zünfte zugänglich. Dieser epochale Umbruch verursacht eine Krise des Handwerks.[7] Richard Wagner führt insofern mit den Meistersingern nicht nur eine Klasse vor, die durch die Industrialisierung wie z.B. die Weber unter extremen Innovationsdruck leiden, er ermöglicht es zugleich den bürgerlichen Gewinnern der Industrialisierung, sich als rechtschaffene Handwerker zu imaginieren. Das aufsteigende Bürgertum darf deshalb nicht durch Heirat in das Handwerkertum einbrechen, vielmehr braucht es einen Dritten als Medium und Projektionsfläche.

©Ludwig Olah

Dieser Dritte ist Walther von Stolzing. Der Adlige Stolzing ist bei Richard Wagner (k)ein romantischer Held. Der soziale Konflikt findet zwischen dem aufsteigenden Bürgertum, den Fabrikanten, und den Handwerkern statt. Da knirscht und reibt es sich. Stolzing ist kein Möchtegernhandwerker in Zimmermannskluft (Kostüme: Sibylle Gädeke), vielmehr erlaubt er es sich als wirtschaftlich Unabhängiger, eine Handwerkertochter zu begehren. Diese Art des adligen, grenzenlosen Begehrens gehört noch zur Hofkultur des 18. Jahrhunderts. Dass Stolzing adeliger Ritter ist, zählt zu den Paradoxien mit einem Hauch von Märchen in Wagners Konzept und Handlung. Der Adlige, der Handwerker werden will aus Liebe zu einem Mädchen, das er in der Kirche getroffen hat, wird zwar als „normal“ vorgeführt. Doch dürfte eine derartige Geschlechterpolitik schon aus dynastischen Gründen im Mittelalter völlig unmöglich gewesen sein. Die unmögliche Verbindung wird erst unter den Mustern des Bürgertums zur Normalität. Wie kann das möglich werden?  

©Ludwig Olah

Das Begehren Stolzings gibt sehr deutlich einen Wink auf den Klassenkonflikt zwischen Adel und Bürgertum an der Schwelle zum 19. Jahrhundert. Denn das Bürgertum will das Begehren vor allem der Frau, insbesondere der Tochter zügeln. Der Goldschmied Veit Pogner (Vitalij Kowaljow) als imaginärer Stellvertreter der Bürger setzt seine Tochter als Preis für den Meistersinger-Wettbewerb. Lehnt sie den Gewinner ab, darf sie keinen anderen heiraten und begehren. Sie muss lebenslang auf Begehren und Lust verzichten. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts schwelt das Problem des Begehrens und seiner Ausübung in der Wollust, die Friedrich II. an Voltaire anknüpfend unmittelbar nach seiner Thronbesteigung zur „Herrscherin der Welt“ erklärt hatte.[8] Derartige Freiheiten kann sich das Bürgertum schon finanziell nicht leisten. Das Begehren muss reguliert werden. Dieser Wunsch nach Regulierung wird von Johann Gottlieb Fichte mit dem Ehe- und Familienrecht als Anhang der Grundlage des Naturrechts in Preußen 1797 formuliert. Dabei geht im ausführlichen Titel nicht zuletzt um ein Wissenschaftskonzept, wenn es heißt: „nach Principien der Wissenschaftslehre“. Fichte schafft damit nicht nur die juristischen, vielmehr noch die wissenschaftlichen Grundlagen für das Verhältnis zwischen Mann und Frau im Bürgertum. Fichte formuliert in dreißig Paragraphen die neue Ordnung der Geschlechter.

„§. 2.
Die besondere Bestimmung dieser Natureinrichtung ist die, daß bei der Befriedigung des Triebes, oder Beförderung des Naturzwecks, was den eigentlichen Akt der Zeugung anbelangt, das eine Geschlecht sich nur thätig, das andere sich nur leidend verhalte.“[9]

©Ludwig Olah

Die Meistersinger von Nürnberg sind nicht zuletzt ein Ehe-, Familien- und Generationendrama unter den Bedingungen des Familienrechts und der „Deduktion der Ehe“ von Johann Gottlieb Fichte. Aus dem Naturrecht wird die Ehe abgeleitet, womit durch eine letztlich mathematische Operation die Ehe als natürliche Lebenspraxis festgelegt wird. Richard Wagners Begehrens-, Wollust- und Ehepraktiken waren bekanntlich mit Cosima Bülow, geborene Liszt, andere. Was bei Fichte und nicht etwa nur beim „natürlichen“ Spießbürger als Familien-, „Trieb()“- und Ehepraxis ordentlich in Paragraphen ausformuliert wird, findet sich teilweise wörtlich in den Reden der Meistersinger wieder. Der Mann als das „thätig(e)“ und die Frau als das „leidend(e)“ Geschlecht werden nahezu prototypisch in Stolzing und Eva vorgeführt. Eva wird zum Preis für eine Arbeitsleistung zwischen Handwerk und Kunst ausgesetzt, um die Regeln der Meister zu bestätigen. Von Sachs und den Meistern wird ihr von Anfang an, die Entscheidungsfähigkeit zur Ehe abgesprochen, wie bereits zitiert wurde. Gleich wie in Fichtes § 4 der „Deduktion der Ehe“ wird ihr abgesprochen, über ihre Lust entscheiden zu können. Sie muss den Mann „befriedigen“.
„Das Weib kann sich nicht gestehen, daß sie sich hingebe – und da in dem vernünftigen Wesen etwas nur insofern ist, inwiefern es sich desselben bewußt wird – das Weib kann überhaupt sich nicht hingeben der Geschlechtslust, um ihren eigenen Trieb zu befriedigen; und das sie sich denn doch zufolge eines Triebes hingeben muß, kann dieser Trieb kein anderer seyn, als der, den Mann zu befriedigen.“[10]   

©Ludwig Olah

Die Konstruktion des Ehe- als ersten Teil des Familienrechts von Johann Gottlieb Wilhelm Fichte ließe sich sicher noch genauer diskutieren. Auffällig ist beispielsweise, wie Fichte in § 1 die „Natur“ als Argument einführt – „Die Natur hat ihren Zweck Fortpflanzung des Menschengeschlechts auf einen Naturtrieb in zwei besondern Geschlechtern gegründet“ –, um in Klammern zu § 1 anzumerken, dass „diese Untersuchung nicht eigentlich hieher gehört“.[11] Die Biologie gehört „eigentlich“ nicht in den juridischen Diskurs, aber Fichte kann nicht den „Naturtrieb“ einführen, ohne eine Hetero-, Verschieden- oder Zweigeschlechtlichkeit zu formulieren. Auf diese Weise wird der Rechtsphilosoph Fichte zum Autor der Normierung der Geschlechter und der Heteronormativität.[12] Die Regulierung des „Naturtrieb(s)“ durch die „Vernunft“ wird zum moralischen Auftrag für die (bürgerliche) Frau.  
„Es ist daher nothwendig, daß dieser Trieb beim Weibe unter einer andern Gestalt, und, um neben der Vernünftigkeit bestehen zu können, selbst als Trieb zur Thätigkeit erscheine; und zwar, als charakteristischer Naturtrieb zu einer nur diesem Geschlechte zukommenden Thätigkeit.“[13] 

©Ludwig Olah

Unter welcher „Gestalt“ könnte der „Naturtrieb“ der Frau erscheinen? Fichte wie Wagner haben dafür eine klare Antwort: „Liebe also ist die Gestalt, unter welcher der Geschlechtstrieb im Weibe sich zeigt.“[14] Bei Wagner wird die Frau und adamitische Modellfrau „Eva“ zur „Freundin“. Fichtes „Geschlechtstrieb“ wird nicht nur zur „Liebe“ nach den Modi der Meistersinger zu einer gegenseitig versicherten Freundschaft. Wenn Fichte in § 15 formuliert, die Ehe sei „eine Verbindung der Herzen und der Willen“[15], dann ist darin bereits die Freundschaft des Ehepaars angelegt, wie sie von Eva und Walther vorgeführt wird: „EVA außer sich./Ja. Ihr seid es;/nein, du bist es!/Alles sag ich,/denn Ihr wißt es;/alles klag‘ ich,/denn ich weiß es:/Ihr seid Beides,/Held des Preises/und mein einz’ger Freund!“ Während Eva als Weib „außer sich“ geraten muss, um in Walther von Stolzing emphatisch und durchaus den „Geschlechtstrieb“ transformierend zu erkennen, ist Walther „leidenschaftlich“ ganz bei sich selbst:
„WALTHER leidenschaftlich.
Ach, du irrst:
bin nur dein Freund,
doch des Preises
noch nicht würdig,
nicht den Meistern
ebenbürtig:
mein Begeistern
fand Verachten,
und ich weiß es,
darf nicht trachten
nach der Freundin Hand.“ (1. Akt, 5. Szene)

©Ludwig Olah

Die „Würde“ des Mannes hängt auch bei Fichte anders als bei der Frau, nicht von der Regulierung des Geschlechtstriebes, sondern von der gesellschaftlichen Arbeitsleistung ab. Genau diese heteronormative Logik wird im Text von Wagner ausgestaltet, während die Musik sich in einen hastigen „Geschlechtstrieb“ steigert. Die Freundschaftslogik in Richard Wagners Meistersingern unterscheidet sich beispielsweise deutlich von der, welche Johann Wolfgang Goethe noch im Vorwort zu Winckelmann und sein Jahrhundert (1805) formuliert. Während bei Wagner der „Freund“ nicht mit dem Geliebten im Verhältnis von Eva zu Hans Sachs gleichgesetzt wird, formuliert Goethe den „Freund“ als psychisch wie physisch Geliebten.[16] Ganz wie es Eva und Walther formulieren, schließt die Freundschaft einerseits den sexuellen Genuss aus, andererseits wird dieser in der Musik angespielt. Was im ersten Aufzug als dramaturgisches Problem angelegt ist, wird im 2. und 3. Aufzug durchgespielt und endet nach einigen schwankhaften Umwegen und Einfügungen mit Walthers erfolgreichem Preislied auf der Festwiese. Doch der Erfolg führt zu einer Verwerfung der Meisterehre durch Stolzing – „Will ohne Meister selig sein!“.

©Ludwig Olah

Die skandalöse Verwerfung zieht des Schusters und Freundes Hans Sachs‘ Protest nach sich: „Verachtet mir die Meister nicht,/und ehrt mir ihre Kunst!“ Der Protest ist nicht als Frage oder Bitte formuliert, sondern mit dem Ausrufezeichen als Befehl. Dieser Befehlsförmigkeit ist auch die Tragik der Reform und Hans Sachs‘ als Reformator eingeschrieben. Denn Hans Sachs hatte quasi auf Eva verzichtet, um zum Lehrer und Reformator für Walthers Preislied zu werden. Er beansprucht insofern die symbolische Funktion des Vaters als Gesetzgeber. Doch diesem Anspruch müssen sich Walther und Eva keinesfalls mehr beugen bzw. unterwerfen. Walther von Stolzing hat das Meistersingerspiel bis zu seinem Sieg mitgespielt und gewonnen. In der Inszenierung von Jens-Daniel Herzog wird Sachs‘ Protest zum persönlichen Drama eines Machtverlustes. Der Vorhang zur Festwiese geht zu, Sachs will an Walther die Unterwerfung unter die Meisterehre durchsetzen: „Drum sag ich Euch:/ehrt Eure deutschen Meister!/Dann bannt Ihr gute Geister;/und gebt Ihr ihrem Wirken Gunst,/zerging in Dunst/das heil’ge röm’sche Reich,/uns bliebe gleich/die heil’ge deutsche Kunst!“

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In der Musik wird Hans Sachs‘ verzweifelter Protest zum Triumph. Nicht genau entscheiden lässt sich, ob Wagner sich der schwierigen Forderung ernsthaft anschließen wollte. Für Thielemann sucht man vergebens in einem „360-Grad-Tableau in gleißendem C-Dur, an dessen Kulminationspunkten … nach Brüchen oder Zweifeln“. Dafür hätte es Anlass für mehr als genug Zweifel gegeben. Das Heilige Römische Reich war bereits 1806 zerfallen und aufgelöst. Das Deutsche Reich existiert noch nicht. Erst 1871 wird das Kaiserreich unter der Führung des Hauses Hohenzollern in Preußen ausgerufen. Und eine „heil’ge deutsche Kunst“ ist noch nicht einmal museumsreif. Das Alte Museum in Berlin zeigt seit 1830 antike Kunst. Die Nationalgalerie wird erst 1876 in einem neo-klassizistischen Tempelbau also alles anderem als einem „deutschen“ Meisterstil eröffnen. Statt Nürnberger Butzenscheiben gilt ein an der Front fensterloser Tempelbau mit Renaissanceelementen wie einem Reiterstandbild „Der Deutschen Kunst“, so die Inschrift, als Ausstellungsraum. Volker Hagedorn hat in seinem kenntnisreichen Roman Der Klang von Paris (2019) darauf hingewiesen, dass Richard Wagner an die neuartigen Kompositionsweisen von Hector Berlioz anknüpft, die er in Paris gehört hatte. Dessen Oper Benvenuto Cellini (1838) erzählt vor dem Hintergrund der Pariser Industrialisierung die Geschichte eines Meistergusses mit den Goldschmieden als Handwerksgilde – „Honneur aux maître ciseleurs!“. Berlioz nennt das Genre seiner Oper „Opéra semi-sérieux“. Sie enthält komische wie tragische Elemente.[17]

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Insofern als Hans Sachs das „Welsche“ im Bedeutungsspektrum von romanisch, keltisch, italienisch, vor allem französisch verwirft, um dagegen das Deutsche und die deutsche Kunst zu bejahen, formuliert er Richard Wagners eigene künstlerische Verwerfung. Ohne Berlioz‘ Benvenuto Cellini hätte es die Oper Meistersinger nie gegeben. Sie sind quasi französischer Herkunft. Die „heil’ge deutsche Kunst“ des Hans Sachs ist paradoxerweise aus dem Geiste Hector Berlioz‘ geboren, um einmal Nietzsche zu paraphrasieren. Der weitgehende Autodidakt Hector Berlioz als Erneuerer der französischen Sinfonik und Oper kehrt selbst in der Künstlerfigur des Walther von Stolzing wieder. Wagner nennt seine Meistersinger von Nürnberg eine „Oper“, was als Genre mehr versteckt, als dass es offenlegt. Sonst kommt es Wagner doch so sehr darauf an, neue Genre wie „Bühnenfestspiel“ oder „Musikdrama“ oder „Bühnenweihfestspiel“ zu komponieren. Denn diese Oper ist wenigstens halbernst angelegt. Die „Spießbürger“ (Wagner) werden auf äußerst komische Weise bis zur nächtlichen Rauferei in der libidonös besetzten Johannisnacht vorgeführt. Raufen als Triebabfuhr. Wenn die Musik nicht ständig ein schallendes Lachen vereiteln würde, müsste das Publikum sich vor den Witzen biegen. Das kann man wohl zurecht halbernst oder eben „semi-sérieux“ nennen.

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Auf diese Weise treibt Wagner allerdings mit dem Publikum seinen Scherz, vor lauter Ernsthaftigkeit in der Musik bekommt es vielleicht bis auf bei Beckmessers Gesängen die Witze gar nicht mit. Hört es die Harfe oder lässt es sich die Harfe für eine „Laute“ vormachen? Leider wird in den Aufführungen der Oper Die Meistersinger von Nürnberg selten, so gut wie nie gelacht. Mit Benvenuto Cellini geht es Berlioz um die Ausgestaltung einer Handwerker- und Künstlerpersönlichkeit in der Moderne. Diese Thematik nimmt Richard Wagner mit Walther von Stolzing auf. Verhandelt werden von Hans Sachs mit Stolzing die Regeln, die in der Dichtung eine Rolle spielen sollen. Oder wie er im zweiten Akt sagt und singt: „Ich fühl’s – und kann’s nicht verstehn; – /kann’s nicht behalten, – doch auch nicht vergessen;/ und fass ich es ganz, – kann ich’s nicht messen.“ Der künstlerische Prozesse lässt sich „nicht messen“. Doch Regeln ermöglichen eine vermeintliche Messbarkeit, wie sie nicht zuletzt mit der neuartigen Dresdner „Normaluhr“ im Bericht über die Ausstellung sächsischer Gewerbe-Erzeugnisse in Dresden im Jahre 1845 angezeigt wird.[18] Alles wird normiert, vermessen und normalisiert:
„Die verschiedenen Richtungen, nach welchen hin sich außerdem die Thätigkeit der Uhrmacher erstreckt, wurden dargestellt durch die Oelgemälde mit 3 Uhrwerken, Laufwerken und Musik, und die Wächtercontrole mit Schlagwerk von dem Hofuhrmacher F. Gutkaes in Dresden (…) – durch die Normaluhr und Carcel’sche Lampe des Uhrmachers Carl August Weise in Dresden …“[19]

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Seit Descartes sind Uhren, die sich immer weiter ausdifferenzieren, das Modell für die berechenbare Maschine, die um 1800 zur Dampfmaschine und schließlich zur Lokomotive transformiert wird. Nun müssen die Uhrzeiten mit der „Normaluhr“ abgestimmt werden. In der Musik wird das mechanische Metronom seit Ludwig van Beethoven immer wichtiger. Nun lassen sich die Tempi genauer bestimmen. Überhaupt setzt sich ein neuartiges Wissen von der Zeit in der Überschneidung mit Gefühlen durch, wenn es bei Wagner für das „Vorspiel“ der Meistersinger heißt „Sehr mässig bewegt“.[20] Einerseits „bewegt“ sich das Pendel des Metronoms „sehr mässig“, andererseits werden erst die bewegenden Gefühle eingeführt. Für das Vorspiel des Dritten Aufzugs heißt es dann „Etwas gedehnt“ bei Wagner. Christian Thielemann fragt sich angesichts der Partitur „Was ist das für eine Musik?“[21] Vielleicht liegt gerade darin das Geheimnis der Musik der Meistersinger von Nürnberg, dass „scheinbar natürlich“, aber maschinenartig wie in einer Uhr ineinandergreift und möglichst genau bemessen wird, was im Librettotext montiert wurde und auseinander zu fliegen droht. In der Semperoper in Dresden kann man nun jedenfalls eine Inszenierung sehen und hören, in der Eva und nicht Stolzing am Schluss das Meisterbildnis mit der Faust durchschlägt. Anders lässt es sich heute auch kaum noch aufführen, da sie doch zum Objekt einer Männergesellschaft gemacht worden war. – Der Magdalene der Inszenierung, Christa Mayer, wird am 26. Februar der Ehrentitel „Kammersängerin des Freistaates Sachsen“ verliehen.

Torsten Flüh

Richard Wagner
Die Meistersinger von Nürnberg
Semperoper Dresden
Weitere Aufführungen in der Spielzeit 2020/2021.


[1] Christian Thielemann: Ein Plädoyer für Toleranz. In: Richard Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg. Dresden: Semperoper, 2020, S. 22.

[2] Jens-Daniel Herzog: Von der Utopie, dass die Kunst einen unersetzlichen Beitrag zu einem friedlichen und respektvollen Umgang der Menschen miteinander leistet … In: Ebenda S. 11.

[3] Allgemeiner Anzeiger für Uhrmacher, Ausgabe Nr: 15 vom 1. August 1897.

[4] Siehe: Gutkaes, Johann Christian Friedrich Uhrenlexikon.

[5] Vgl. dazu Hector Berlioz‘ „Opéra semi-sérieux“ Benvenuto Cellini von 1838, in der es um einen Metallguss geht. Torsten Flüh: Pariser Industrialisierung glüht durch Hector Berlioz‘ Benvenuto Cellini. Sir John Eliot Gardiner beschenkt das Musikfest Berlin mit einer Ophicleide, Saxhörnern und einem Streikchor. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. September 2019.

[6] Christian Peter Wilhelm Beuth: Vorwort. In: Königl. Technische Deputation für Gewerbe (Hg.): Vorbilder für Fabrikanten und Handwerker. 1821 bis 1830. Berlin: August Petsch, 1830, S. 3.

[7] Gutkaes … [wie Anm. 4].

[8] Siehe dazu: Torsten Flüh: Für eine Kulturforschung der Sexualitäten. Zu Tim Blannings neuer „Biographie“ FRIEDRICH DER GROSSE. König von Preußen. In: NIGHT OUT @ BERLIN Februar 25, 2019 18:52.

[9] Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre. Band II. Jena und Leipzig: Christian Ernst Gabler, 1797, S. 161. (Digitalisat)

[10] Ebenda S. 166.

[11] Ebenda S. 159-160.

[12] Vgl. zu Fichte auch Katrin Pahl: Sex Changes with Kleist. Evanston: Northwestern University Press, 2019, S. 54.

[13] Johann Gottlieb Fichte: Grundlage … [wie Anm. 8] S. 162.

[14] Ebenda S. 166.

[15] Ebenda S. 187.

[16] Siehe dazu: Torsten Flüh: Zur Verfertigung der Wissenschaft mit Briefen. Die Weimarer Ausstellung und der Katalog Winckelmann. Moderne Antike und die aktuelle Winckelmann-Forschung. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juli 31, 2017 19:29

[17] Vgl. Torsten Flüh: Pariser … [wie Anm. 5]

[18] Die Dresdner „Normaluhr“ ist unmittelbar durch den Uhrmacher Wilhelm Gotthelf Lohrmann mit dem Ausbau der ersten „Eisenbahnlinien in Sachsen“ verknüpft. Sie diente der Vereinheitlichung der „Uhrzeitverhältnisse“ als Grundlage und wurde 1842 in das Mittelfenster des Mathematisch-physikalischen Salons eingebaut. Vgl. dazu: Helmut Grötzsch, Jürgen Karpinski: Dresden – Mathematisch-physikalischer Salon. Leipzig: VEB E. A. Seemann, 1978, S. 13.

[19] Bericht über die Ausstellung sächsischer Gewerbe-Erzeugnisse in Dresden im Jahre 1845. Leipzig: Teuber, 1846, S. 229.

[20] Siehe Autograph: Richard Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg. Genf Triebschen 1866/67. (Germanisches Nationalmuseum)

[21] Christian Thielemann: Ein … [wie Anm. 1] S. 22.

Vom Verpassen der Welt – Zum Salon Sophie Charlotte 2020

Welt – Mensch – Bild

Vom Verpassen der Welt

Zum Salon Sophie Charlotte 2020 der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften mit dem Thema Weltbilder

Auf dem Gendarmenmarkt vor dem Akademiegebäude setzten Lichtinszenierungen aktuelle Weltbilder in Szene. Studierende der Beuth Hochschule für Technik Berlin beleuchteten mit Laserstrahlern das Schauspielhaus von Karl Friedrich Schinkel mit seinem antikisierenden Weltbild aus Gött*innen und Musen und verpassten den Skulpturen am heutigen Konzerthaus eine faszinierende Plastizität. Darunter quasi vor dem Schiller-Denkmal von Reinhold Begas keine Klassik, sondern Klimawandel in farbigen Lichtstreifen bzw. Neonröhren nach dem Modell des Klimaforschers Ed Hawkins von der University of Reading. Die künstlerische Intervention Warming Stripes von Julius Hübener visualisiert nach dem Konzept showyourstripes[1] von Hawkins am Institute for Environmental Analytics die Klimaerwärmung. Sie regt zum Nachsehen und Nachforschen an.  

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Die Akademie der Wissenschaften ist gewissermaßen seit ihrer Gründung für ein Weltbild zuständig. Im Unterschied zum Plural Weltbilder als Thema des Salons Sophie Charlotte ging es bei der Gründung der Akademie um ein neues Weltbild, das sich nach und nach von dem der Religion in Form der Evangelischen Kirchen, nämlich der Evangelisch Reformierten und der Evangelisch Lutherischen in Berlin ablösen sollte. Markgraf Friedrich III. von Brandenburg machte die „General-Instruction der Societät“ vom 11. Juli 1700 zu einem Lehrstück darin, wie sehr er darauf Acht geben musste, die Evangelischen Kirchen in Berlin und Brandburg durch die Erlaubnis zur Arbeit am neuen Weltbild sich nicht zum Feind zu machen. Am 18. Januar ging es nun um eine Vielzahl von Weltbildern zwischen Physik und Hologrammen, Paternoster und Astronomie, Theaterwissenschaft und Kunsthistorik.

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Die Welt ist nicht zuletzt deshalb schwierig zu fassen, weil auch beim Salon Sophie Charlotte an mehreren Orten zugleich Weltbilder, Kunst- und Filmwelten, Sterne, Steinzeit, Zukunftswelten, Wissen schafft Perspektiven: Blicke des Humboldt-Netzwerks auf eine Welt in Bewegung, Weltbilder – Ursprünge, Preußen und die Welt, ROTurning, Klangwelten, Literarischer Salon, Zwischenwelten etc. besprochen wurden. Entscheidet sich der Salongast für einen Vortrag der Weltbilder, verpasst er gleich ein gutes Dutzend andere. Das zerreißt ein geschlossenes Weltbild – und macht bescheiden. Es lädt anderseits zum Science Surfing ein. Trotz oder gerade wegen des umfangreichen Programms, entschließt sich die eine oder andere einmal hier hineinzuhören und dann dort statt einer Party, die Science zu crashen. Völlig uneingeladen stolpert der Berichterstatter im Einstein-Saal in den Klimawandel „Die Macht von Politik und Bildern“.

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Die Weltbilder sind oft sogar unterhaltend angelegt, was am Salonformat der Veranstaltung liegt. Die Veranstaltung ist für alle offen. Während Wissenschaft meistens nicht barrierefrei ist, weil ein gewisses terminologischen Handwerkszeug erfordert wird, gilt der Salon als Ermunterung, sich fast voraussetzungslos mit den Wissenschaften zu befassen, wenn der Akademiepräsident Martin Grötschel im Programm schreibt: „Über 100 Wissenschaftlerinnen und Künstlerinnen eröffnen Ihnen neue Zugänge zur Welt. Erfahren Sie etwa vom Astronauten Thomas Reiter, wie die Sicht auf die Erde von außen sie Perspektive verändert“.[2] Im Salon darf es zwar konkurrierende Ansätze in den „Zugänge(n) zur Welt“ geben, doch hat dies nichts gemein mit der Absicherung, die Markgraf Friedrich III. bei Gründung der Akademie gegenüber den Evangelischen Kirchen vornehmen musste:
„Und weil Wir Uns der gemeinen Angelegenheiten der evangelischen Kirchen allezeit hochlöbl. angenommen, so haben Wir auch zugleich Unser Absehn dahin  gerichtet, wie mittelst der Scienzen bey Ungläubigen oder sonst in Irthum steckenden Völckern die Bahne bereitet werde, damit an deren Bekehrung zur reinen christlichen Lehre unter Gottes Segen fruchtbarlich gearbeitet und denen Evangelischen keine Nachlässigkeit darin aufgebürdet werden könne.“[3]

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Das Weltbild des Christentums gilt 1700 weiterhin als verbindlich, selbst dann wenn die „Scienzen bey Ungläubigen“ bereits zur Spaltung desselben führen. Die „Bekehrung zur reinen christlichen Lehre“ muss für derartig Ungläubige noch in die Statuten geschrieben werden. Allerdings ist die Gründung der Akademie für Friedrich III. durchaus ein emanzipatorisches Projekt von den Kirchen nach dem Vorbild der Gründung der Pariser Académie des sciences, die erst am 20. Januar 1699 durch Louis XIV. ihre offiziellen Statuten erhalten hatte. Als protestantischer Fürst zog Friedrich III. in Berlin also ziemlich zügig nach, um sich nicht zuletzt am 18. Januar 1701 in Königsberg zum König Friedrich I. von Preußen selbst zu krönen. Die Gründung der Akademie unter des Schutz des Markgrafen und seiner Nachfolger wird in der Urkunde vom 11. Juli 1700 ausdrücklich formuliert:
„… Zu allmähliger Erreichung nun dieses Unsers völligen Absehens in allen Stücken haben Wir vor Uns und Unsere Successoren und Nachkommen erwehnte Societaet (sic!) durch ein besonders Diploma aufs Beständigste fundiret, dieselbe mit einem Praeside, bequehmen Gliedern, Secretario, Adjunctis oder Eleven, Laboranten und andern Bedienten, sodann Observatorio, Laboratorio, Bibliothec, Instrumenten, Musaeo und Rariteten-Kammer (sic!) oder Theatro der Natur und Kunst, auch andern ober- und unterirdischen Behaltnüßen, Plätzen und Gelegenheiten, auch dazu dienlichen (sic!) Apparaten (sic!) naturalium et artificialium und allem dem, so zu Untersuchung derer drey Reiche, der Natur- und Kunstwercke, auch sonst zu neuen und größeren Wachsthum nützlicher Studien als dem Objecto Societatis dienlich, theils schon versehen, theils noch ferner nach und nach zu versehen gnädigst entschloßen. …“

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Die Blüte der Akademie der Wissenschaften setzte allerdings erst über 40 Jahre später mit der Krönung Friedrich II. zum König ein. So beruft er u.a. Julien Offray de la Mettrie aus Frankreich und auf Empfehlung von Voltaire zum Mitglied der Akademie. Sein L’homme MACHINE wird 1748 noch anonym in der niederländischen Universitätsstadt Leiden bei dem Hugenotten Elie Luzac verlegt.[4] Denn die Seele des Menschen als Maschine zu beschreiben, lässt sich selbst für Friedrich II. nicht vor den christlichen Kirchen verantworten. Das Weltbild wird radikal ein anderes, atheistisches mit de la Mettrie. Denn der menschliche Körper wie die Seele funktionieren bei ihm nach den Mechanismen einer Maschine:
„Cependant, reprit-il, l’Univers ne sera jamais Heureux, à moins qu’il ne soi Athée.“[5]
(“Das Universum/Die Welt wird jedoch niemals glücklich sein, es sei denn, sie wird atheistisch.“)    

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Was heißt bei Julien Offray de la Mettrie Maschine? Wie ist sie konstruiert? Und wie gelingt es de la Mettrie, die Wirkungsweise der Maschine herauszuarbeiten? Als Mediziner und Arzt ist er dem Wissen der Medizin seiner Zeit verschrieben. Dieses Wissen der Medizin z.B. der „humeurs“, der Säfte, Temperamente oder Stimmungen wird transformiert und kombiniert. Wenn sich „le Mécanisme des Corps“[6] (der Mechanismus der Körper) beschreiben lässt, der menschliche Körper überhaupt als Maschine aus Ursachen und Wirkungen formuliert werden kann, dann lässt sich „l’Ame“[7] (die Seele) ebenfalls mit einem mechanischen Modell beschreiben. Statt der Seele wird nun der Grad und die Kombination der Stimmungen oder Säfte zum Wesen der Menschen in ihren Unterschieden.
„Il est vrai la Mélancolie, la Bile, le Phlegme, le Sang &c. suivant la nature, l’abondance & la diverse combinaison de ces humeurs, de chaque Homme sont un Homme différent.“[8]
(Es ist wahr, dass Melancholie, Galle, Schleim, Blut etc. von der Natur abhängig sind, durch die Fülle und die unterschiedliche Kombination dieser Stimmungen ist jeder Mensch ein anderer Mensch.)

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Julien Offray de la Mettrie nimmt für die Konstruktion seiner Mensch-Maschine insbesondere zwei Operationen vor. Erstens werden die Stimmungen (humeurs) zwar elastisch, aber materiell mit einem Säftehaushalt aus Melancholie, Galle, Schleim, Blut und anderem mehr begründet. Zweitens ist es vor allem die Kombination der materiellen Stimmungen, die Unterschiede und Eigenheiten bewirken. Welche organischen Stimmungen es genau sind und wie sie produziert werden, bleibt ungenau bzw. elastisch. Der Mensch nach dem Maschinenmodell von de la Mettrie ist keinesfalls immer gleich, vielmehr eröffnet es Diversität durch Unterschiede. Und die Mensch-Maschine läuft aus sich selbst heraus.
„Le corps humain est une Machine qui montre elle même ses ressorts; vivante image du mouvement perpetuel. Les alimens entretiennent ce que la fièvre excite. Sans eux l’Ame languit, entre en fureur & meurt abatue.“[9]  
(Der menschliche Körper ist eine Maschine, die ihre Federn zeigt; lebendiges Bild der ewigen Bewegung. Essen erhält, was Fieber erregt. Ohne sie schwindet die Seele, gerät in Wut und stirbt ab.)

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Es ist für Julien Offray de la Mettrie gar nicht so leicht, die Mensch-Maschine in Worte zu fassen. Wenn er sie genauer formulieren will, muss er literarische Techniken anwenden. Die „ressorts“/Federn werden zum lebhaften Bild für die Bewegung aus eigenem Antrieb. Einerseits benennen sie jenes mechanische Teil der Uhr, das mit einer Spiralfeder auch Unruhe genannt wird. Andererseits wird die Analogie des Körpers zum Uhrwerk sogleich metonymisch durch die Ernährung gerechtfertigt. Die Engführung des Mechanismus der Uhr mit der Ernährung rechtfertigt, dass die Seele an die Körpermaschine gebunden bleibt. Das Modell des mechanischen Uhrwerks samt einer Kombination aus „ressorts“/Federn wird auf Körper und Seele übertragen, um sie aus ihrem religiösen Zugriff zu befreien. Die mechanischen Federn sind bedenkenswert als Modell für eine perpetuelle Bewegung, die zugleich als Lebendigkeit oder gar Leben beschrieben wird. Es sind insofern nicht die ineinander greifenden Zahnräder der Uhrwerke, vielmehr werden Spiralfedern zum Lebensbild.
„Mais puis que toutes les facultés de l’Ame dépendent tellement de la propre Organisation du Cerveau & de tout le Corps, qu’elles ne sont visiblement que cette Organisation même; Voilà une Machine bien éclairée! Car enfin quand l’Homme seul auroit reçu en partage la Loi Naturelle, en seroit-il moin une Machine?“[10]
(Aber dann, dass alle Fähigkeiten der Seele so sehr von der eigenen Organisation des Gehirns und des gesamten Körpers abhängen, dass sie sichtbar nur diese Organisation selbst sind; Hier ist eine gut beleuchtete Maschine! Denn wenn schließlich der Mensch allein das Naturgesetz beim Teilen erhalten hätte, wäre es dann weniger eine Maschine?)

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Die Pluralität der Menschen- und Weltbilder wird quasi mit der Gründung der Akademie der Wissenschaften angelegt. In einer späteren Ausgabe von L’Homme Machine wird bereits eine „Pluralité des Mondes“ in der Widmung erwähnt.[11] Künstlerische bzw. visuelle Interventionen gehören beim Salon Sophie Charlotte am Paternoster oder in der Rotunde zu den Befragungen der Weltbilder. Gleicht der Paternoster in seinen wiederkehrenden Bewegungen nicht einem stellaren Weltbild? Im Raum 327 unterhielt sich Jule Specht von der Humboldt Universität über „Die Welt im Kopf“ mittels einem Neurobiologen, einem Mathematiker, Philosophinnen und einer Filmemacherin. Der Braunschweiger Neurobiologe und Akademiemitglied Martin Korte stellte „Neueste Einsichten der Gehirnforschung in das Älterwerden“ vor. Der Choreograf Niels Weijer nutzte den Paternoster für die Installation eines Universums aus Spiegeln und Lampen. Eingedenk, dass die frühe, verkettete Aufzugmaschine Paternoster ihren Namen vom christlichen Gebet Pater noster bzw. Vater unser erhalten hat, könnte man scherzhaft sagen, dass sich im Akademiegebäude die Welt in Maschinen verwandelt.

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Im Einstein-Saal im 5. Stock diskutierte die Medienökologin Birgit Schneider mit der Politökonomin Maja Göpel über die Macht von Politik und Bildern hinsichtlich des Klimas. Das Klima als meteorologisches Weltbild beschäftigt uns gewiss besonders stark. Wie hat der Mensch das Klima durch seinen Verbrauch von fossilen Brennstoffen verändert bzw. beeinflusst? Wie kann der Klimawandel beeinflusst oder gestoppt werden? Vor allem wurde mit dem Moderator Maximillian Probst die Frage diskutiert, welche Bilder vom Klima besonders mächtig sind. Und welche die Klimapolitik zum Beispiel der freudigen Politiker*innen, die sich beim Klimaabkommen im Dezember 2015 in Paris in Siegespose an den Händen hielten, repräsentieren oder verschleiern?[12] Hat die Abschlusserklärung der Klimakonferenz wirklich die Probleme gelöst? War der emotionale Überschwang angesichts des Abkommens berechtigt?

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Das Wissen vom Klima wird heute eng mit Bildern verknüpft. Was sich errechnen lässt, kann visuell nicht zuletzt dank digitaler Bildgebungsverfahren grafisch dargestellt werden. Während sich die projizierte Grafik des IPCC (Intergovernmental Panel of Climate Change) zum Global Warming of 1,5°C[13] von 2019 erst nach genauerem Studium erfassen lässt, emotionalisiert das Pressefoto von der Pariser Klimakonferenz das Verhältnis zum Klimawandel. Das bildlich-grafische Wissen vom Global Warming wird zwar in 92 Grafiken umfangreich dargestellt, aber gerade diese grafische Überfülle stellt eher eine Barriere zum Verständnis der Anforderung für eine Minimierung der Globalen Klimaerwärmung von 1,5°C dar. Das gebündelte Expertenwissen zu Grafiken transformiert, erfordert ein zeitintensives Studium. An Wissen vom Klima und seinem folgenreichen Wandel mangelt es nicht, doch zersplittert dieses in der Vielzahl der Grafiken, während die mediale Wahrnehmung eher darauf trainiert wird, dass ein Bild die Gefahren des Klimawandels symbolisiert. Birgit Schneider hat mit Klimabilder eine „Genealogie globaler Bildpolitiken von Klima und Klimawandel“ 2018 vorgelegt.[14]        

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Das Paradox der Bilder vom Klima ist keinesfalls ein neues.[15] Maja Göpel ist als Generalsekretärin des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderung sozusagen verantwortlich dafür, dass sich hinsichtlich der Klimapolitik etwas ändert.[16] An der „Schnittstelle zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft“ arbeitet sie zum „Thema Nachhaltigkeitstransformationen mit einem Schwerpunkt auf Wissenschaftskommunikation“. Denn Wissenschaftskommunikation betrifft heutzutage insbesondere die Bilder und Erzählungen, die Veränderungen in den Denk- und Handlungsweisen bewirken sollen. Greta Thunberg trat nicht zuletzt eine ganze Serie von Bildern los. Sie erklärt den Klimawandel weniger, als dass sie Bilder eines Protestes produziert. Damit wird das Bild vom Klima nicht nur mit ihrem Porträt symbolisiert, vielmehr wird die Aktivität einer durchaus generationellen Bewegung visualisiert. Sie kommuniziert durchaus Wissen aus den Wissenschaften, doch Bild wird es erst durch sie. Das Paradox der Bilder und ihr Gebrauch zwischen stereotyper Wiederholung und plötzlicher Kristallisation ließ sich auch von Birgit Schneider und Maja Göpel nicht auflösen.

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Alexander von Humboldt kam als Weltreisender und berühmtes Akademiemitglied gleich in mehrfacher und unterschiedlicher, ja, durchaus kontroverser Weise beim Salon Sophie Charlotte zur Sprache. In Raum 228 fungierte Étienne François als Gastgeber für Die Humboldts und die Welt. Im Seminarraum Taubenschlag der Studienstiftung des deutschen Volkes e.V. hielt der Potsdamer Romanist, Literaturwissenschaftler und Akademiemitglied Ottmar Ette seinen Vortrag Alexander von Humboldt: Natur Kultur Leben. Vielleicht bricht an Alexander von Humboldt die Frage nach Wissenschaft und Kunst oder wie es Ette formuliert „Natur Kultur Leben“ besonders stark auf. Wusste Humboldt alles, wie es das schwierige, doch weiterhin kursierende Lable als „Universalgelehrter“ behauptet? Oder lässt sich in der, wie es Ette nennt, „Humboldtian Science“ keine Unterscheidung zwischen Naturwissenschaft, Kultur und Leben treffen?[17] Für Ottmar Ette ist bei Humboldt alles in Bewegung.

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Ottmar Ette positionierte seinen frei gehaltenen Vortrag von Anfang an in einer Gegenhaltung zur immer noch vorherrschenden Rezeption Alexander von Humboldts als Naturwissenschaftler und Mathematiker. 2019 war zum Humboldt-Jahr sein Buch Alexander von Humboldt und die Globalisierung – Das Mobile des Wissens im Suhrkamp Verlag erschienen. Humboldt hat nicht alles durch Vermessung schon immer alles gewusst, so dass es heute durch Neuberechnungen bewahrheitet werden kann, vielmehr spricht und schreibt Ette vom „Mobile des Wissens“ als „Offene Wissenschaft und Forum der Kulturen“.[18] Das „Mobile des Wissens“ ist unablässig in Bewegung und verändert ständig seine „Konstellation(en)“ so wie Ette sein Buch in zwei „Achse(n)“ und acht „Figur(en)“ gliedert, das indessen auch in mehreren „Lektüreparcours“ gelesen werden kann.

„Dieses Buch
bietet seinen Leserinnen
und Lesern mehrere Lektüreparcours an.
Es kann entlang der durchnummerierten Unterkapitel
fortlaufend vom Anfang der ersten bis zum Ende der letzten
Seite gelesen werden. Des weiteren lassen sich die einzelnen
Achsen und Figuren auch separat und in der jeweils bevorzugten
Abfolge und Konstellation durchlaufen. Zudem können die Unterkapitel
des nachfolgenden Bandes auch einem Kursbuch folgend gelesen
werden, das einen dritten, transversalen Weg vorschlägt:
58 – 1 – 2 – 30 – 6 – 7 – 15 – 8 – 51 – 52 – 9 – 25
– 16 – 20 – 21 – 35 – 22 – 36 – 37 – 23 – 38 – 3 –
54 – 10 – 56 – 11 – 24 – 42 – 12 – 43 – 17
– 44 – 4 – 18 – 45 – 39 – 46 – 40 – 13 –
14 – 19 – 47 – 48 – 26 – 27 – 31
– 28 – 33 – 49 – 50 – 32 –
34 – 29 – 55 – 5
– 57 – 41 –
53 – 5“
[19]

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Bei Ottmar Ette tendiert die Wissenschaft von Alexander von Humboldt zum Schriftbild. Damit verändert sich nicht nur die Funktion der Bilder, vielmehr eröffnen sich auch ganz andere Einschreibungen. Einerseits ist er als Literaturwissenschaftler ein Schüler Roland Barthes‘. Andererseits vermag er als Romanist, was vielen Verfechter*innen der Naturwissenschaften mit deutscher Provenienz zu lesen verstellt bleibt. Denn Humboldt schrieb und korrespondierte überwiegend in Französisch. Die Natur kommt bei Humboldt allererst durch die Kultur und Sprache zur Geltung. Das verändert nicht nur eine immer wieder biographische Normalisierung von Alexander von Humboldt, vielmehr liest Ette ihn als „Querdenker seiner Zeit“ und macht ihn zum „Denker der Globalität“.
„Das gesamte Schaffen Alexander von Humboldts (1769-1859) läßt sich als eine höchst komplexe und kreative wissenschaftliche Antwort auf die Herausforderungen jener Epoche begreifen, die wir mit Blick auf die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts als zweite Phase beschleunigter Globalisierung bezeichnen dürfen. Der Autor der Ansichten der Natur ist ein Denker der Globalität, der als Querdenker seiner Zeit bis heute nichts von seiner Aktualität für die Bewältigung der Herausforderungen unserer Zeit verloren hat. Sein Schaffen als Natur- und Kulturforscher, als Philosoph, Gelehrter und Schriftsteller ist für uns heute vielmehr unentbehrlich, um die gegenwärtige Phase beschleunigter Globalisierung in ihrer Geschichte, aber auch in ihren Chancen und Risiken analysieren und historisch fundiert denken zu können.“[20]  

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Ottmar Ette hatte sein Buch bereits 2009 zuerst veröffentlicht. 2019 wurde die Globalisierungsthese in der landläufigen Jubiläumsliteratur und weiterhin verbreiteten  „Kehlmannisierung“[21] durchaus zurückgefahren.[22] Es gibt mehrere Wissenstraditionen zu Alexander von Humboldt, die oft nicht zuletzt eurozentrische, wenn nicht gar nationalistische Ressentiments schüren, um ihn zum Weißen Mann zu machen. Das hat vielleicht nicht zuletzt mit einem eurozentrischen Weltbild zu tun, dem Ottmar Ette entschieden gegenhält.
„Wiewohl kein anderer seiner Zeit war er sich der pluralité des mondes, der Pluralität der Welten, bewußt und bemühte sich, kommunikativ zwischen diesen Welten zu vermitteln. Sein französisch- und deutschsprachiges Œuvre siedelt sich stets zwischen verschiedenen Sprachen, zwischen verschiedenen Kulturen an und bezeugt sein Bestreben, der Herrschaft eines einzigen Denkens, einer einzigen pensée systématique, zu entgehen. Sollte sich das Mobile seines Wissens jedoch um eine Leitvorstellung drehen, so dürfte es wohl keine andere als diese sein: »Alles ist Wechselwirkung.«“[23]

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Mit mehreren Karten und Skizzen als Bildmedien zeigte Ottmar Ette in seinem Vortrag, dass Alexander von Humboldt sich gerade nicht auf ein Bild von der Welt festgelegt hat. Vielmehr faszinierten Humboldt die Weltdarstellungen der Inkas und südamerikanischen Ureinwohner ebenso wie die unter seiner Mitwirkung entstandene Carte des diverses Routes par lesquelles les richesse métalliques refluent d’un Continent à l’autre (Karte der verschiedenen Routen, auf denen metallischer Reichtum von einem Kontinent zum anderen fließt), die 1811 in Paris veröffentlicht wurde. [24] Ebenso lehnte Alexander von Humboldt nach Ette eine Superiorität der Europäer ab, während 2019 vielfach die Superiorität im deutschen Feuilleton mitschwang und die AfD mit einer Re-Nationalisierung und Re-Geschlechtung Stimmen fängt.  
„Es wäre schlicht vermessen – und zeugte vom Fehlen jeglicher Textkenntnis –, ihn auf die Dimensionen eines simplen Weltvermessers zu reduzieren. Nach einer gewissen »Kehlmannisierung« der Feuilletons gilt es, zu den Schriften Alexander von Humboldts zurückzukehren. Und Humboldts Texte sprechen eine andere Sprache: Sie skizzieren die Umrisse einer künftigen Kosmopolitik, die sich nicht nur einer aktuellen, sondern auch der jeweiligen historischen Globalisierungsphasen und ihrer Chancen bewußt ist.“[25]

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Alexander von Humboldts Kosmos-Vorlesungen wurden vielfach ergänzt, umgeschrieben und nie ganz fertig, weil sich das kosmographisches Weltbild immer in Bewegung fand. In seiner Vorrede zum ersten Band des Kosmos erklärt er die Mitschriften der Vorlesungen für ungültig, um damit doch den wissenschaftlichen wie literarischen Prozess seiner Kosmographie nur um so deutlicher zu markieren. Sie kündigt sich bereits mit der Carte des diverses Routes … an, insofern sie selbst eine endlose Bewegung um die Welt anzeigt, als sie sich an den Rändern über den nullten Breitengrad hinaus wiederholt. Das Weltbild bleibt in Bewegung.

Torsten Flüh


[1] Siehe: Ed Hawkins: Warming Stripes from 1881 to 2018: www.showyourstripes.info

[2] Weltbilder Salon Sophie Charlotte 2020 (Homepage)

[3] Die General-Instruction der Societät. In: Adolf Harnack: Geschichte der Königlich Preussischen Wissenschaften Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Band 2: Urkunden und Actenstücke zur Geschichte der Königlich-Preussischen Akademie der Wissenschaften. Berlin: Reichsdruckerei, 1900, S. 104. (Digitalisat)

[4] (Julien Offray de la Mettrie:) L’home machine. Leide: Luzac, 1748. Siehe Digitalisat der Akademiebibliothek.

[5] Ebenda S. 69.

[6] Ebenda S. 7.

[7] Ebenda S. 9.

[8] Ebenda.

[9] Ebenda S. 14.

[10] Ebenda S. 70.

[11] Julien Offray de la Mettrie: L’HOMME MACHINE. Avex une introduction et de notes de J. Assézay. Paris: Frédéric Henry, 1865, S. 11. (Digitalisat)  

[12] Siehe: Europäische Kommission: Klimapolitik: Internationale Maßnahmen gegen den Klimawandel: Pariser Abkommen.

[13] IPCC: Global Warming of 1,5°C. 2019 (Special Report)

[14] Birgit Schneider: Klimabilder. Eine Genealogie globaler Bildpolitiken von Klima und Klimawandel. Berlin: Matthes & Seitz, 2018.

[15] Zur Meteorologie siehe auch: Torsten Flüh: „Atlantik-Bläser“ und „Schneewirbel“. Marianne Schuller und Michael Gamper in der Ringvorlesung Source Code der Technischen Universität Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN Dezember 23, 2012 17:39.  

[16] Profil WBGU: Prof. Dr. Maja Göpel (Generalsekretärin)

[17] Zur „Humboldtian Science“ siehe: Torsten Flüh: Wasserzeichen vom Orinoco. Zum 2. Alexander von Humboldt-Symposium „Forschen & Edieren“. In: NIGHT OUT @ BERLIN Mai 30, 2015 19:05. Siehe auch Tag: Humboldtian Science.

[18] Ottmar Ette: Alexander von Humboldt und die Globalisierung – Das Mobile des Wissens. Berlin: Suhrkamp, 2019, Ohne Seitenzahl (S. 11).

[19] Ebenda S. 9.

[20] Ebenda S. 13.

[21] Ebenda S. 18.

[22] Vgl. dazu auch: Torsten Flüh: Ich als Datenwesen. Zur netzpolitischen Diskussion um Datensicherheit und Datenteilung mit einem Exkurs zu Alexander von Humboldt. In: NIGHT OUT @ BERLIN 21. Mai 2019.

[23] Ottmar Ette: Alexander … [wie Anm. 18] S. 14.

[24] Carte des diverses Routes par lesquelles les richesses metalliques refluent d’un Continent a l’autre. 19. Dessine par J.B. Poirson d’apres une exquisee de Mr. de Humboldt. Grave par L. Aubert. In: Atlas Geographique Et Physique Du Royaume De La Nouvelle-Espagne, Fonde Sur Des Observations Astronomiques, Des Mesures Trigonometriques Et Des Nivellemens Barometriques. Par Al. De Humboldt. Paris: F. Schoell, 1811. 

[25] Ottmar Ette: Alexander … [wie Anm. 18] S. 18.

Der Name der Maschine und sein Versprechen

Mensch – Intellektronik – Musiktheater

Der Name der Maschine und sein Versprechen

Zur Uraufführung von Also sprach Golem von Kommando Himmelfahrt & Kaj Duncan David nach Stanislaw Lem bei ultraschall berlin

Die polnische Originalausgabe des Buches wiederholte 1973 auf dem Cover unter dem Namen des Autors, Stanisław Lem, siebenmal den Titel GOLEM XIV. Erst in der Übersetzung und deutschen Ausgabe des Textes im Insel Verlag transformierte der Titel anspielungsreich zu Also sprach Golem. Die Anspielungen im Titel lassen sich einerseits im Hebräischen, גולם, als Versprechen auf einen noch unförmigen oder auch ungebildeten ebenso wie gespenstischen Menschen in Kombination mit der römischen Zahl vierzehn als Wink auf eine gleichfalls kabbalistische und serielle Herkunft auffächern. Andererseits wird im deutschen Titel Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra unweigerlich mitgelesen. Am 18. Januar erlebte nun im Radialsystem V das Musiktheaterstück Also sprach Golem seine gefeierte, auf Deutschlandfunk Kultur live übertragene Uraufführung.

Das Theater als imaginärer Raum mit einem Rednerpult wird einerseits von Thomas Fiedler (Buch, Konzeption, Inszenierung) auf der Bühne mit Graham F. Valentine als Computer-Ingenieur und Konstrukteur von Golem XIV, Richard Popp, sowie Medienkunst von Carl-John Hoffmann in Szene gesetzt. Unter der Leitung des Komponisten Kaj Duncan David wird hinter der Projektionsfläche live analoge und digitale Musik gemacht und gemischt. Doch vielleicht ist der Sog des Imaginären beim Hören im Radio noch stärker, während auf der Bühne das Theater selbst in einer Maschinenförmigkeit vorgeführt wird. Die visuelle Medienkunst von Carl-John Hoffmann projiziert weniger Golem XIV als „Intellektronik“, wie es Friedrich Griese übersetzt,[1] denn verschiedene Modi deren Darstellung seit den frühen Bildschirmschriften vom orangen Monochrom-Monitor der 1980er bis hin zum 3D-Rendering der Gegenwart.

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Also sprach Golem wird im Radialsystem V zur Darstellung von „Intellektronik“ und durch die Wiederholung der historischen Darstellungsweisen zu deren Erforschung. Als die ersten digitalen Buchstaben in Orange von Golems „Antrittsvorlesung Dreierlei über den Menschen“ auf der großflächigen Bühnenrückwand erscheinen, fühlt sich der Berichterstatter unwillkürlich genervt. Ihm geht ungefähr durch den Kopf: Okay, das ist jetzt aber sehr altmodisch. Haben die nicht genug Geld gehabt, um das ein wenig professioneller zu machen? Da könnte man doch nun ein bisschen zaubern auf der Bühne mit Hologrammen wie beim Salon Sophie Charlotte in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. So wirkt Golem XIV doch völlig veraltet. Etwas fantasielos geradezu. Irgendwann werden dann Arme, Beine und eine Taube im 3D-Rendering projiziert, bis sich schließlich gegen Ende die ganze Projektionsfläche technisch auflöst und die Bühnen- und Musikmaschinerie durchscheint.

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Kommando Himmelfahrt & Kaj Duncan David geht es weniger um eine, sagen wir, Stanley Kubrick-mäßige, 2001 – A Space Odyssey (1968) mit dem sprechenden Computer HAL 9000, als vielmehr um die Show der „Intellektronik“, die wir zwischenzeitlich „Künstliche Intelligenz“ nennen, und ihre Dekonstruktion. Julia Warnemünde schreibt dazu für das Programm: „Golem XIV ist eine große Show orchestriert durch den Wissenschaftler Popp und seine Gehilfen, ein Ensemble aus Musikern, die die virtuellen Atemzüge der Maschine in einen hörbaren Hauch übersetzen.“[2] Und wieviel Show ist jedes neue IPhone von Apple? Oder auch: Wieviel Show sind die Buchpräsentationen von Brad Smith, wenn es mit Microsoft um The Future Computed – Artificial Intelligence and its Role in Society geht?[3] Richard Pop behauptet großspurig am Rednerpult, GOLEM XIV verstehe keine Ironie. Doch schon in der frühen, rudimentären Bildschirmschrift erscheint wenig später „;-)“, Semikolon, Strich, runde Endklammer, als Zeichenkombination für Ironie.

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Kommando Himmelfahrt & Kaj Duncan David verarbeiten Stanislaw Lems Text Golem XIV in eine Show, die beispielsweise mit einer Ansage durch eine junge Frau die aktuellen Modi der Show wiederholt demonstrativ vorführt, wenn es in der Ansage heißt, man möge die Mobiltelefone ausschalten und das Fotografieren sei verboten. Das könnte dann auch soviel heißen, dass das visuelle Bühnengeschehen und die Projektionen so neuartig sind, dass sie geheim bleiben müssten, weil sie noch nicht an die Öffentlichkeit dringen dürfen. Doch jede neue Gadget Launch, jede digitale Innovation wird heute als Show inszeniert und darauf angelegt, dass sie mit der Millionen-Pixel-Smartphone-Kamera in Social Media geteilt wird.

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Während Stanislaw Lem heute landläufig als prognostischer Autor der Maschinenintelligenz[4] und Sinn gelesen wird oder Golem XIV als „Angehöriger der Maschinenintelligenz“ vom Suhrkamp Verlag angepriesen wird[5], thematisieren Kommando Himmelfahrt & Kaj Duncan David vielmehr die Darstellungsweisen. Deshalb empfiehlt es sich, genauer den Text und seine Schreibweise zu analysieren. Ist Golem XIV bzw. Also sprach Golem ein Roman? Was macht den Roman zu Science Fiktion? Und in wieweit überschneiden sich Literatur, Philosophie und Technik(voraus)wissen? Die unsichere Grenze von Literatur und Wissenschaft soll genauer bedacht werden. Bernd Gräfrath hat schon früh auf die Verzahnung von „unterhaltsame(r) Belletristik“ und „ernsthafte(r) Wissenschaft“ in Golem XIV von Lem hingewiesen.[6]
„Die ungewöhnliche Kombination von literarischer Form und kognitivem Gehalt hatte allerdings den Nachteil, daß das Werk durch die Netze des üblichen Rezensentenwesens fiel. Trotz hoher Auflagen ist die Wahrscheinlichkeit gering, daß Lem zum intendierten Leser vorgedrungen ist: Die einen suchen bloß unterhaltsame Sience-fiction (und sind von dem Buch vielleicht sogar enttäuscht), die anderen haben kognitive Interessen und nehmen ein Buch aus dem Regal »Sience-fiction« gar nicht erst in die Hand.“[7]

Die Veröffentlichung von Also sprach Golem im Deutschen bis zur aktuellen Textgestalt unterlief mehrere Phasen, die teilweise Stanislaw Lem selbst, teilweise der Übersetzer Friedrich Griese mit dem Lektorat des Suhrkamp Verlages vornahmen. Es gibt insofern eine Textgenese, die von Stanislaw Lem selbst in literarischen Modi thematisiert worden ist.[8] Zunächst werden Teile des Textes in Lems Buch Wielkość urojona/Imaginäre Größe (1973/1976) neben anderen als „Vorwort“ etc. veröffentlicht. Stanislaw Lem hatte sich als Programm für das Buch vorgenommen, Vorworte als eigene Kunst bzw. literarisches Genre zu schreiben. Die Vorworte zu den Büchern bzw. Geschichten wie die in der „Presses Universitaires Paris 2009“ veröffentlichten „Geschichte der bitischen Literatur“[9]  gibt es nicht. Das Vorwort wird gleichfalls zum Versprechen und zum Imaginarium von Büchern, die es (noch) nicht gibt.
„Die Kunst, Vorworte zu schreiben, erhebt schon lange Anspruch auf ein Heimatrecht. Und ich spüre schon längst das Bedürfnis, diesem okkupierten Schrifttum Genüge zu tun, das seit vierzig Jahrhunderten in der Sklaverei der Werke, an die es gefesselt ist, über sich selbst schweigt.“[10]  
Stanislaw Lem will mit dem ungewöhnlichen Buch das Vorwort über seine Funktionen zum Sprechen bringen, könnte man sagen.

Die Rahmung des Textes zu Golem XIV wird von Lem nicht nur durch das Vorwort, vielmehr noch visuell und typographisch durch ein Titelblatt mit ausdrücklich wissenschaftlicher Verortung angelegt. Denn er zitiert das führende westliche Institut für Technologie als Herausgeber, wenn es in Englisch inklusive akademischem Titel und militärischem Rang heißt „Massachusetts Institute of Technology presents: GOLEM XIV. Foreword by Irving T. Greve, M. A., Ph. D., and Thomas B. Fuller II., General US Army, Ret. MIT Press 2029“.[11] Das fiktionale Titelblatt wird in modifizierter Form mit „Indiana University Press 2047“ für die polnische Originalausgabe von „Golem XIV“ 1981 übernommen.[12] Nicht so für die deutsche. In den Ausgaben der Bundesrepublik Deutschland bei Insel bzw. Suhrkamp gibt es ebenso im Buch Imaginäre Größe eine „Vorrede“[13] und das kursiv gedruckte „Vorwort“.[14] Zudem enthält der Golem-Abschnitt in dem Buch Imaginäre Größe eine „Belehrung“ als weitere Rahmung des Textes.[15]

Vorworte unterliegen einer bedenkenswerten Zeitlichkeit. Sie sollen im Voraus, vor dem Text gelesen werden, den sie nachträglich ankündigen. Erst wenn der Text im Buch fertig, gar schon ein Nachwort geschrieben worden ist, wird das Vorwort verfasst. Während die Texte in Imaginäre Größe noch undatiert bleiben und lediglich das Titelblatt mit „2029“ datiert ist, wird das Vorwort als „Vorrede“ für Also sprach Golem mit dem Jahr „2027“, das „Nachwort“ mit „Juli 2047“ angegeben, weil das Buch mit den Texten von GOLEM XIV nicht abgeschlossen werden konnte. (Also sprach Zarathustra S. 159) Insofern bleibt das Buch fragmentarisch. Auch Nietzsches Buch beginnt mit einer „Vorrede“. Die aufwendige oder zumindest detaillierte Datierung des Textes im Kontext der Vorworte gibt auch einen Wink auf das Genre Science Fiction. Denn die Zukunft bleibt der Nachträglichkeit der Erzählung unterworfen. Die Befreiung der Vorworte kündigt Lem als paradoxe an, denn die vermeintliche Hinführung der Vorworte zum Text soll nunmehr „nirgendwo einführen“.
„..; und deshalb habe ich, der ich das Vorwort zur Kleinen Anthologie der Vorworte schreibe, sehr wohl das Recht dazu, denn ich schlage Einführungen vor, die nirgendwohin einführen, sowie Vorreden, denen keine Reden folgen.“ (S. 14)

In der Ausgabe des Ost-Berliner Verlags „Volk und Welt Berlin“ rahmt eine Collage als Einbandentwurf von Carl Hoffmann das Buch der „Vorwort(e) zum Nichts“.[16] Vor einer Wand oder einem Horizont, auf dem mehrere Kugeln wie Planeten aufgereiht sind, steht ein affenartiges Wesen, das ein weißes Tuch an einem gesenkten Stock hält, als wolle es mit einer Parlamentärflagge um die Wahrung seiner völkerrechtlich garantierten Unverletzlichkeit bitten. Das Gesicht des Wesens changiert zwischen einem Menschenmann und einem Affen. Doch das Buch der „prachtvoll geschnitzte(n), goldgeschmiedete(n), mit allerhand Greifen und Grafen in majestätischen Supraporten gekrönte Türrahmen“ ist nur geschrieben worden, „um den Leser ins Nichts zu stoßen“.
„Der Entdecker des Nichts ist der Mensch. Aber es ist so schwierig, so ungewöhnlich, weil es eine unwirkliche Sache ist, die man nicht ohne eine sorgfältige Vorbereitung, nicht ohne geistige Übungen, nicht ohne eine langwierige Initiation und ohne Training versuchen kann; Unvorbereitete läßt sie zur Säule erstarren – daher muß man sich für eine Kommunikation mit dem präzis gestimmten, reich orchestrierten Nichts sehr gewissenhaft präparieren und jeden Schritt in seiner Richtung möglichst gewichtig, markant, materiell gestalten.“[17]      

Das Nichts betrifft auch GOLEM XIV. Denn wie die „Geschichte der bitischen Literatur“ im Buch Imaginäre Größe bereits vorschlägt, lässt sich nicht mehr sicher entscheiden, welche Texte von Menschen und welche von Maschinen geschrieben worden sind. In der Abfolge der „Vorworte“ im Buch ordnete Stanislaw Lem die „Geschichte der bitischen Literatur“ vor „GOLEM XIV“ an, das „GOLEMS Inaugurationsvortrag“ als Maschinenliteratur enthält. Als „bitische Literatur“ formuliert Lem „jedes Erzeugnis nichtmenschlicher Herkunft, das heißt ein solches, dessen eigentlicher Autor kein Mensch gewesen ist (er konnte es hingegen mittelbar gewesen sein – indem er Tätigkeiten ausführte, die den eigentlichen Autor zu schöpferischen Akten provozierten)“.[18] Mit dem „Inaugurationsvortrag“ wird indessen, eine posthumane Literatur geschrieben zu haben, beansprucht. Reproduziert und collagiert wird von Golem ein quasi evolutionistischer Diskurs, der mit einer polemisch-antihumanistischen Philosophie nach Friedrich Nietzsches „Buch für Alle und Keinen“ unter dem Titel Also sprach Zarathustra kombiniert wird.
„Ihr seid ja erst unlängst vom Stamm des Wildlings abgestoßen, eure Verwandtschaft mit den Lemuren und Äffchen ist noch so stark, daß ihr zur Abstraktion strebt, ohne die Augenscheinlichkeit verschmerzen zu können, wodurch ein Vortrag, der nicht von kräftiger Sinnlichkeit getragen ist, ein Vortrag voller Formeln, die über den Stein mehr sagen, als euch ein erblickter, beleckter und betasteter Stein vermitteln kann –“.[19]

 Für das Buch Also sprach Golem und in der Übersetzung von Friedrich Griese wird die polemische oder auch agitatorische Geste der einsetzenden, direkten Ansprache der (menschlichen) Leser – „Ihr seid ja“ – durch eine syntaktische Umstellung und formalisierte Lexik abgeschwächt: „So kurz erst habt ihr euch vom wilden Stammbaum abgelöst, so eng seid ihr noch mit den Lemuren und Halbaffen verwandt, daß ihr, nach Abstraktion strebend, der Anschaulichkeit nicht entbehren könnt …“[20] Der „Inaugurationsvortrag“ wird zur „Antrittsvorlesung“ und korrespondiert zugleich mit Franz Kafkas Text Ein Bericht für eine Akademie (1917), wo ein Affe von seiner Menschwerdung vor „Hohe(n) Herren von der Akademie“ berichtet.[21] Doch Golem wird meistens typographisch in Majuskeln – GOLEM – geschrieben, was ihn auch aus einer Syntax wie Semantik herauslöst, um ihn zugleich für die Presse humoristisch als „Governments Lamentable Expense of Money“ lesbar zu machen, woran Irving T. Creve 2027 erinnert.[22]  

Doch der Titel und Name „GOLEM XIV“ eröffnet noch eine weitere Möglichkeit der Entzifferung. Geht es doch mit der Maschinenliteratur immer um ein Entziffern und Anders-kombinieren. GOLEM wird in den englischsprachigen USA konstruiert und schließlich dem „MIT“ überlassen, womit ein „Go Lem“ (Geh Lem) als Entzifferung möglich wird. Anders gesagt: entgegen aller Behauptung der Maschinenhaftigkeit ist es doch gerade der polnische Autor Stanislaw Lem, der sich in GOLEM einschreibt, indem er Lektüren zur Science Fiction montiert. Zwischen der „Geschichte der bitischen Literatur“ und GOLEM XIV siedelt Lem „Vestrands Extelopädie“ als „PROBEBOGEN GRATIS!“ an und spielt unter „PROGRNOLINGUISTIK“ auf „N. Chomsky“, nach dem „der Amblyon-Effekt das grundlegende Gesetz der Sprachentwicklung – des Zusammenlaufens ganzer Artikulationsperioden zu neu entstehenden Begriffen und ihren Bezeichnungen“ sei.[23] War es doch gerade Noam Chomsky am Massachusets Insitute of Technology (MIT), der 1957 Syntactic Structures, gefolgt 1965 von Aspects of the Theory of Syntax nicht zuletzt als strukturtheoretische Grundlage für Maschinenübersetzung und -literatur veröffentlichte.   

Stanislaw Lem verarbeitet in GOLEM XIV/Also sprach Golem nicht nur philosophisches und literarisches Wissen durch lexikalische Anspielungen und Zitate, vielmehr noch transformiert er Chomskys Theorie der strukturalistischen Linguistik in eine mehrfach als Wissenschaft gerahmte, erzählerische Form. Die Frage nach dem Menschen wird von ihm narrativ diskutiert, indem er sie durch ein Maschinenkonzept konterkariert. Denn seit Aspects of the Theory of Syntax veröffentlicht in „THE M.I.T. PRESS“ wird die (menschliche) Sprache in Anknüpfung an Wilhelm von Humboldt als ein „system of rules“ formuliert, das mit einer „generative grammar“ beschrieben werden soll, um jene Prozesse herausfinden, die „furthermore, an outgrowth of a persistent concern, within rationalistic philosophy of language and mind, with this „creative“ aspect of language use“.[24] Der „kreative“ Aspekt im Gebrauch „innerhalb der rationalistischen Philosophie von Sprache und Geist“ wie durch den Menschen wird von Noam Chomsky im Vorwort, „Preface“, ausdrücklich angeschrieben. In dem Moment, in dem die Regelhaftigkeit der Sprache zur Theorie erklärt wird, verwandelt sie sich in einen maschinenartigen Prozess, der sich nicht zuletzt durch eine Grammatik der Titelblätter und Vorworte als ein unendlicher Aufschub und ein Versprechen formulieren lässt.

Ist es doch gerade die Logik der evolutionistisch erhöhten Schnelligkeit der operationellen Prozesse in der Sprache, die GOLEM zum sogenannten „Übermenschen“ werden und schließlich verstummen lässt. Wobei Nietzsche paradoxerweise frühzeitig Autoren als „intelligente Maschinen“ und „Schreibmaschine“ kritisierte.[25] Was wäre Intelligenz anderes als sprachlich-regelhafte Prozesse? Ist es doch die „über 1900mal größere() Informationskapazität als die menschliche und eine() Intelligenzleistung (IQ) von 450 bis 500 Zentilen“[26], die GOLEM schon in der ersten Generation als dem Menschen überlegen ausweisen. Durch die Anordnung der Texte im Buch – „Vorrede“, „GOLEMs Antrittsvorlesung“, „XLII. Vorlesung“ und „Nachwort“ – werden die GOLEM-Texte mittels einer ebenso fiktiven wie kohärenten Wissenschaftsgeschichte und einer Nacherzählung zu einem Maschinentext gemacht. Gleichzeitig verwischt und übersetzt Lem die theoretisch-lexikalischen Anknüpfungen, indem er trotzdem Begriffe wie „Verstand“ oder „Persönlichkeit“ einstreut. GO Lem formuliert streng nach einer generativen Grammatik, wenn es in der „Antrittsvorlesung“ heißt:
„DER SINN DES BOTEN IST DIE BOTSCHAFT. DIE GATTUNGEN ENTSTEHEN AUS EINER KETTE VON FEHLERN.“[27]

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Stanislaw Lem spricht mit den Begriffen „Intelektronik“ und „Psychonik“ in der „Vorrede“ von GOLEM XIV neuartige Wissenschaften an, die eben jenes Feld benennen, das bereits vor der Jahrhundertwende mit der Psychologie und durch Intelligenztests zu erfassen gesucht wird, um es als Wissen zu strukturieren. Die Psychologie soll die Menschen um 1900 nicht zuletzt für die neuen Berufe in der zunehmend technifizierten Wirtschaft berechenbar machen. So entwickelt z. B. 1912 Hugo Münsterberg eine „Intelligenzprüfung“ für Kandidatinnen einer Telefonistinausbildung in Psychologie und das Wirtschaftsleben, um die Kosten für die Telefongesellschaften zu senken.[28] Die vermeintliche Verwandlung des Menschen in eine Maschine, die sich in ihren Prozessen selbst beschleunigt und verselbständigt, wird bereits in der „rationalistic philosophy of language and mind“, um noch einmal Noam Chomsky zu zitieren, konzeptionell angelegt.

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Kommando Himmelfahrt & Kaj Duncan David spielen mit ihrer Show, die Verschaltung von Text, visueller und akustischer Kunst für GOLEM XIV durch, als generiere es sich aus seiner Grammatik selbst. Doch es bleibt immer noch der Mensch als Medium, als Mittler, der die ganze Show anstößt und für eine geraume Zeit am Laufen hält. Der vermeintlich selbstlernende Computer wird in einer wilden Apotheose zwischen Rock und Punk nicht zerstört, aber durch die Dramaturgie der Show abgeschaltet. Und dann sind es Menschen mit Namen – Graham F. Valentine, das dänische Ensemble SCENATET und Kaj Duncan David etc. –, die für Applaus vor Menschen auf die Bühne treten, sich verbeugen und die Show beenden.

Torsten Flüh

Kommando Himmelfahrt & Kaj Duncan David
Also sprach Golem
rbbKultur
Musik der Gegenwart
1. April 2020 20:04 Uhr


[1] Stanislaw Lem: Also sprach GOLEM. Aus dem Polnischen von Friedrich Griese. Frankfurt am Main: suhrkamp taschenbuch, 2009, S. 7. (Zuerst Insel Verlag 1981)

[2] Julia Warnemünde/KOMMANDO HIMMELFAHRT: Also sprach Golem. Deutschlandfunk Kultur (Hg.): ultraschall berlin. festival für neue musik. Berlin 2020, S. 76. (Digital)

[3] Siehe dazu: Torsten Flüh: Kant und die Ethikrichtlinien aus dem Internetkonzern. Brad Smith stellt The Future Computed im Microsoft Atrium in Berlin und beim Weltwirtschaftsgipfel in Davos vor. In: NIGHT OUT @ BERLIN Januar 29, 2018 19:01.

[4] Siehe z.B. die Zusammenfassung ohne Autornamen und Publikationsdatum auf getabstract von Patrick Brigger und Thomas Bergen unter https://www.getabstract.com/de/zusammenfassung/also-sprach-golem/30530

[5] Siehe folgende PDF: https://www.suhrkamp.de/buecher/also_sprach_golem-stanislaw_lem_37766.pdf

[6] Bernd Gräfrath: Lems >Golem< Parerga und Parlipomena. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1996, S. 9.

[7] Ebenda S. 10.

[8] Siehe dazu: Bernd Gräfrath: Textaufbau und Textgesichte. In: Ebenda S. 13.

[9] Stanislaw Lem: Imaginäre Größe. (Autorisierte Übersetzung aus dem Polnischen von Caesar Ramarowicz) Berlin: Verlag Volk und Welt, 1976, S. 49-82.

[10] Ebenda S. 5.

[11] Bernd Gräfrath: Textbau … [wie Anm. 8] S. 13.

[12] Stanislaw Lem: Imaginäre … [wie Anm. 9] o. Seitenzahl (S. 107).

[13] Ebenda S. 109-131.

[14] Ebenda S. 133-137. Vgl. auch Stanislaw Lem: Imaginäre Größe. Frankfurt am Main: Insel, 1976, S. 136-141.

[15] Ebenda S. 139-141.

[16] Ebenda S. 14.

[17] Ebenda S. 15.

[18] Ebenda S. 51.

[19] Ebenda S. 143.

[20] Stanislaw Lem: Also … [wie Anm. 1] S. 31.

[21] Franz Kafka: Ein Bericht für eine Akademie. In: Der Jude. Eine Monatsschrift. Jg. 2, Heft 8. November 1917. Berlin/Wien: R. Löwit, S. 559.

[22] Stanislaw Lem: Also … [wie Anm. 1] S. 20.

[23] Stanislaw Lem: Imaginäre … [wie Anm. 9] S. 101.

[24] Noam Chomsky: Aspects of the Theory of Syntax. Cambridge: The M.I.T. Press, 1965, S. V.

[25] Siehe: Torsten Flüh: Nietzsches „intelligente Maschinen“. Zur Intelligenz und Maschine bei Nietzsche, dem Technikmuseum Berlin und dem Riesen-Dampfhammer. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. Juli 2019.

[26] Stanislaw Lem: Also … [wie Anm. 1] S. 16.

[27] Ebenda S. 51.

[28] Hugo Münsterberg: Psychologie und das Wirtschaftsleben. Ein Beitrag zur angewandten Experimental-Psychologie. Leipzig: Barth, 1912, S. 69.

Von der Notwendigkeit des Agonismus für das politische Leben

Demokratie – Affekte – Populismus

Von der Notwendigkeit des Agonismus für das politische Leben

Chantal Mouffe spricht mit Peter Engelmann über Demokratie, Populismus und Affekte im Roten Salon der Volksbühne Berlin

Das Politische klang zuletzt in meiner ersten Besprechung zur neuen musik beim Festival ultralschall berlin und indirekt auch in der des Benefizkonzertes an. Doch was könnte das Politische heißen? Das Politische ist von verschiedenen Theoretiker*innen be- und gedacht worden. Es spielt nicht zuletzt bei den Fragen nach den aktuellen Bedrohungen von Demokratien durch rechten Populismus eine wichtige Rolle. Hebelt der Populismus Donald Trumps die Institutionen und Praktiken der Demokratie in den USA aus? Seit dem Wintersemester 2016/2017 beschäftigt der Populismus u. a. immer wieder die Mosse-Lectures.[1] 2018 veröffentlichte Chantal Mouffe bei Verso ihr Plädoyer For a Left Populism, das noch im gleichen Jahr auf Deutsch in der edition suhrkamp erschien. Am 6. Dezember unterhielt sich Peter Engelmann im Passagen Gespräch mit Chantal Mouffe über die Gefahren und Chancen des Populismus.

Zusammen mit Ernesto Laclau veröffentlichte Chantal Mouffe 1985 Hegemony and Socialist Strategy, das 1991 in deutscher Übersetzung zugespitzt als Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus im Passagen Verlag Wien erschien. Die Begriffe der Hegemonie und des Antagonismus werden seither von der Politikforscherin und -theoretikerin für das Politische bearbeitet. Darauf ging sie auch im Gespräch mit Peter Engelmann ein, um unter anderem klarzustellen, dass diese Begriffe mutwillig falsch verstanden worden sind. Die Demokratie lebe vielmehr von Antagonismen, die um die Hegemonie in einer Gesellschaft kämpften. Doch den Antagonismus als „Freund-Feind-Beziehung“ verstanden, hat Mouffe zwischenzeitlich modifiziert. Sie hat dafür den Agonismus als „Beziehung zwischen Gegnern“ in ihre Demokratie-Theorie eingeführt.[2] 

Im Passagen Gespräch ging es nun um die Demokratie, wie Chantal Mouffe sie konzeptualisiert. Mit ihrer Haltung, dass der Populismus nicht etwa die Demokratie gefährde, sondern zum Wesen der Demokratie gehöre, steht sie zwar nicht völlig allein. Doch sie nimmt selbst in der jüngst erschienen Anthologie Wenn Demokratien demokratisch untergehen (2019) von Ludger Hagedorn, Katharina Hasewend und Shalini Randeria am Wiener Institut für die Wissenschaft vom Menschen eine Sonderstellung ein. Denn Chantal Mouffe führt nun in ihrer Demokratietheorie insbesondere die „Affekte“ als Unterscheidung zu einer rational verstandenen Demokratie an. Ludger Hagedorn sieht in dem „Konflikt und d(er) Konfrontation zwischen kollektiven politischen Identitäten (…) die konstitutive Grunddimension des Politischen“ in ihrer Theorie.
„Sie kann (und soll) weder durch einen Kompromiss aufgelöst noch durch einen Konsens aller überwunden werden, sondern manifestiert sich eben im Modus einer Konfrontation, deren Regeln von den Gegnern anerkannt werden.“[3]

Chantal Mouffe analysiert die aktuelle Politik in vielen Demokratien als Postdemokratie. Während es vielen Theoretiker*innen des Politischen um eine Rettung der Demokratie geht „charakterisiere (sie) die gegenwärtige Situation … als „postdemokratisch““, schreibt Hagedorn. „In dieser Situation geh(e) es darum, neue „Leidenschaften“ für die politische Auseinandersetzung zu wecken“.[4] Auch das Passagen Gespräch mit Peter Engelmann kreist um die Postdemokratie und die Funktion der Affekte in der Demokratie.[5] Sie betont im Gespräch, dass der Begriff der Postdemokratie die Notwendigkeit unterstreiche, die Demokratie neu zu denken.[6] Deshalb legt sie mit ihrem Demokratieverständnis entschieden Wert auf die Analyse der Praktiken.
„Das Soziale wird in dieser Perspektive durch sedimentierte hegemoniale Praktiken konstituiert, Praktiken also, die aus einer natürlichen Ordnung hervorzugehen scheinen und damit die Gründungsakte ihrer kontingenten, politischen Instituierung verschleiern. Diese Perspektive macht deutlich, dass jede Ordnung das Produkt einer temporären und prekären Artikulation kontingenter Praktiken ist. Sie ist Ausdruck einer bestimmten Struktur von Machtverhältnissen und wird stets durch den Ausschluss anderer Möglichkeiten errichtet. Sie ist daher stets politisch.“[7]

Das Politische aus seinen Praktiken der Ausschließung heraus zu denken, ist für Chantal Mouffe entscheidend. Philosophisch wendet sie sich damit gegen ein Denken der „Letztbegründung“.[8] Praktiken bleiben Prozessen unterworfen, die eine permanente Veränderung zur Folge haben. Bereits in Agonistics (2013) legt sie Wert auf „counter-hegemonic practices“.[9] Doch diese Praktiken werden von ihr zunächst nicht genauer definiert oder beschrieben. Vielmehr finden sie sich angelegt im Agonismus, wie Mouffe ihn einmal von Jacques Derridas Lektüre der Gastfreundschaft und der „deep ambivalence in the term `hospitality´, which comes from two words with the same roots: `hospis´(host) and `hostis´(enemy)“.[10] Gastfreundschaft und Feindschaft sind bei Derrida so stark in einander verzahnt, dass er den Begriff der „hostipitality“ prägte. In diesem Kontext hat Derrida einmal auf die Formulierung „Sprache ist Gastfreundschaft“ von Lévinas angespielt.[11] Das Ich muss sich allerdings auch der Sprache unterwerfen und wird von ihr gefangen genommen. Der Agonismus hebt den Antagonismus nicht auf, erinnert indessen immer an die tiefe Ambivalenz nicht zuletzt der Praktiken.

Im Interview mit James Martin hat Chantal Mouffe ihre Innovationen der Politiktheorie (political theory) insbesondere mit den poststrukturalistischen Denkern wie Derrida und Lacan beantwortet.[12] Während vor allem in den 1980er Jahren viele linke Theoretiker sich dem Liberalismus zugewendet hätten, habe sie zeigen wollen, dass es für das Politische in der liberalen Theorie keinen Platz gebe. Ohne die Schlüsse von Carl Schmitt über die Unmöglichkeit einer pluralistischen, demokratischen Regimes zu teilen, habe sie seine Kritik des Liberalismus sehr kraftvoll gefunden.[13] Die „Bedeutung von Praktiken“ für den Pluralismus und das Politische hat sie erst jüngst stärker im Kontext der Affekte ausgearbeitet.[14] Im Denken und Argumentieren von Chantal Mouffe spielt dies selbst eine wichtige Rolle, insofern sie weniger von einer Position des Wissens als von einer weitaus unsichereren der Inspiration ausgeht.
„Was die Bedeutung von Praktiken angeht, lasse ich mich von Wittgenstein inspirieren, der uns gelehrt hat, dass es deren Einschreibung in „Sprachspiele“ ist – in etwas, das wir als diskursive Praktiken bezeichnen können –, durch die soziale Akteure spezifische Überzeugungen und Begierden ausbilden und ihre Subjektivität erlangen.“[15]

Chantal Mouffe formuliert in ihrer politischen Theorie auf faszinierende Weise sehr genau und subtil. Die „Sprachspiele“ als „diskursive Praktiken“ werden von ihr genauer ausgeführt. Denn sie beziehe sich nicht allein auf Praktiken, „die mit Sprache oder Schrift zu tun haben, sondern auf jene der Signifikation, bei denen Bedeutung und Handlung nicht voneinander unterschieden werden können“.[16] Die Praktiken der Signifikation erlauben eine „Teilhabe an bestimmten Lebensformen“. Auf diese Weise werden durch Identifikation Identitäten generiert. Identitäten werden also nicht als vorgängig oder ursprünglich gedacht, vielmehr generieren sie sich durch das Politische. Darin sieht Mouffe eine Chance und entscheidenden Vorteil der Demokratie.
„Die Treue demokratischen Werten gegenüber ist eine Frage der Identifikation und wird nicht durch rationale Argumentation, sondern durch ein Ensemble von Sprachspielen generiert, die demokratische Formen von Individualität erzeugen. Wittgenstein erkennt hier klar die affektive Dimension dieser Loyalität an, die er mit einem „leidenschaftliche[n] Sich-entscheiden für ein Bezugssystem“ vergleicht.“[17]   

Was heißt dieses „leidenschaftliche Sich-entscheiden“ bei Wittgenstein? Was passiert beim Sich-entscheiden? Mouffe zitiert eine Formulierung aus Ludwig Wittgensteins Vermischten Bemerkungen, die sich „vom philosophischen Text (…) nicht immer (scharf)“ trennen ließen und lassen.[18] Wiederum geht es weniger um ein Entscheiden aus einem Wissen heraus, das man ein Entscheidungswissen nennen könnte, als vielmehr um ein leidenschaftliches „Ergreifen dieser Auffassung“, das, wie es Ilse Somavilla nennt, immer auch ein „Sprung ins Ungewisse“ ist.[19] Das Entscheidungswissen unterläge insofern der Nachträglichkeit. Die Praxis des Sich-entscheidens bezieht sich bei Wittgenstein auf „ein(en) religiöse(n) Glaube(n)“, wobei „Glaube“ von ihm kursiv angeschrieben wird. [20] Der Moment des Sich-entscheidens lässt sich nicht in Bedeutung und Handlung unterscheiden, weil die Handlung bedeutend wird.

Die leidenschaftliche Handlung folgt nicht einfach einem Gefühl oder einem „Bauchgefühl“ als diskretes Wissen, vielmehr kann das leidenschaftliche Sich-entscheiden allererst Leiden schaffen. Denn nach Wittgesteins „Bemerkung“ bewirkt das „leidenschaftliche Sich-entscheiden“ durch die Instruktion des Glauben „zugleich ein in’s-Gewissen-reden“.[21] Mouffe geht an Freud und Spinoza anknüpfend davon aus, „dass die Begierde Menschen zum Handeln bewegt“.[22] Doch diese ist weder eine rationales noch ein emotionales Wissen.
„Indem ich Spinoza, Freud und Wittgenstein zusammenbringe, schlage ich vor, Einschreibungen in diskursive Praktiken als etwas zu verstehen, das jene Affektionen bereitstellt, die für Spinoza Affekte erzeugen. Diese Affekte wiederum erregen Begierden und führen zu bestimmten Handlungen. Aus diese Weise trage ich der Tatsache Rechnung, dass Affekte und Begierden für die Bildung kollektiver Formen von Identifikation eine zentrale Rolle spielen und die Triebkräfte politischen Handelns sind.“[23]

Das leidenschaftliche Sich-entscheiden generiert Unterschiede und Unterscheidungen, die für Chantal Mouffe im Denken der Demokratie notwendig sind. In der „Postpolitik“ dagegen verschwimmt die „politische() Grenze zwischen rechts und links“.[24] Diese nahezu unterschiedlose Situation des Politischen hat nach ihr dazu geführt, dass rechte Parteien wieder ein Volk konstruieren konnten, das sich aus einem fremdenfeindlichen und, so muss man insbesondere in Deutschland diagnostizieren, antisemitischen wie geschichtsrevisionistischem Vokabular speist. Die Funktion der brandgefährlichen „Sprachspiele“ lässt sich nicht überhören. Das Volk als ein homogenes deutsches behauptet dies als ein essentielles. Mouffe hält dagegen:
„Deshalb behaupte ich, dass es ohne einen antiessentialistischen diskursiven Ansatz nicht möglich ist, das Wesen der populistischen Herausforderung zu erfassen. Dieser zu begegnen, setzt die Anerkennung der Tatsache voraus, dass das „Volk“ als politische Kategorie auf sehr verschiedene Weisen konsturiert werden kann, unter denen nicht jede progressiv ist. Tatsächlich ist in vielen europäischen Ländern das Streben nach einer Rückeroberung der demokratischen Ideale der Gleichheit und der Volkssouveränität, die unter der Postdemokratie verworfen wurden, von rechtspopulistischen Parteien gekapert worden.“[25]

In der Diskussion mit dem Publikum zum Passagen Gespräch, in dem Chantal Mouffe ähnliche Ausführungen machte, kam es nun zu der kuriosen Situation, dass ein junger Mann fragte, ob sie ihre Argumentation nicht einmal bei der Stiftung der Partei Die Linke, der Rosa-Luxemburg-Stiftung, vortragen wolle. Zu dem war das Gespräch an der Volksbühne im durchaus symbolischen Roten Salon angesiedelt. Die Theoretikerin des Politischen konnte nicht sogleich auf die Frage reagieren, weil sie weder die Partei noch die Stiftung kannte oder einordnen konnte. Deshalb blieb die Antwort auf die Frage aus.

Politiktheorie ist zwar politisch, macht aber noch keine Politik. Sie kann ein Analysewerkzeug und vielleicht sogar eine Leitlinie sein. Insbesondere der praxeologische Aspekt von Chantal Mouffes Theorie verdient Beachtung. Allerdings haben sich einige Parteien aus Strukturen heraus gebildet, die wie gerade bei der Partei Die Linke eine weiterhin wenig im Sinne Chantal Mouffes populistische als vielmehr eine kaderförmige aufweist. Wahrscheinlich müssten demokratische Parteien sich genauer ihre diskursiven Praktiken anschauen, was bei Die Linke kaum, bei der SPD erstaunlich tief, aber vorerst bei Wahlen wenig erfolgversprechend geschehen ist, während Die Grünen vielleicht am stärksten aus einem linken Populismus hervorgegangen sind und diesen haben quasi perpetuieren können.

Torsten Flüh

Ludger Hagedorn, Katharina Hasewend, Shalini Randeria (Hg.):
Wenn Demokratien demokratisch untergehen.
Erschienen 2019, Aufl. 1
ISBN 9783709203583
235 x 140 mm, 184 Seiten
Preis 24,70 EUR


[1] Vgl. u.a. Torsten Flüh: Die Katastrophe akzeptieren. Slavoj Žižek eröffnet mit Rage, Rebellion, New Power die Vorlesungsreihe Populismus und Politik der Mosse-Lectures. In: NIGHT OUT @ BERLIN Oktober 30, 2016 21:29. Siehe auch den Tag „Populismus“ mit 6 weiteren Besprechungen.

[2] Chantal Mouffe: Die Affekte der Demokratie. In: Ludger Hagedorn, Katharina Hasewend, Shalini Randeria (Hg.): Wenn Demokratien demokratisch untergehen. Wien: Passagen, 2019, S. 150.

[3] Ludger Hagedorn: Einleitung zu diesem Band. In: Ebenda S. 23.

[4] Ebenda.

[5] Passagen Gespräch mit Chantal Mouffe (Volksbühne | Roter Salon | 06.12.2019) YouTube.

[6] Ebenda ab 13:29.

[7] Chantal Mouffe: Die Affekte … [wie Anm. 2] S. 149.

[8] Ebenda S. 148.

[9] Chantal Mouffe: Agonistics. Thinking The World Politically. London/New York: Verso, 2013, S. XIV.

[10] Ebenda S. 41.

[11] Jacques Derrida: Von der Gastfreundschaft. Wien: Passagen, 2001, S. 96.

[12] Chantal Mouffe: Hegemony, radical democracy and the political. London: Routeledge, S. 228.

[13] Ebenda.

[14] Chantal Mouffe: Die Affekte … [wie Anm. 2] S. 155.

[15] Ebenda.

[16] Ebenda.

[17] Ebenda.

[18] Ludwig Wittgenstein: Vermischte Bemerkungen. Eine Auswahl auf de Nachlaß Herausgegeben von Georg Henrik von Wright unter Mitarbeit von Heikki Nyman. Frankfurt am Main: Bibliothek Suhrkamp, 1987, S. 7.

[19] Siehe auch: Ilse Somavilla: Aspekte philosophischer und religiöser Gewißheit bei Ludwig Wittgenstein. Innbruck. Last change 18.12.2013.

[20] Ludwig Wittgenstein: Vermischte … [wie Anm. 18] S. 125.

[21] Ebenda.

[22] Chantal Mouffe: Die Affekte … [wie Anm. 2] S. 154.

[23] Ebenda S. 155-156.

[24] Ebenda S. 157.

[25] Ebenda S. 159.