Maschine – Bakterien – Menschen
Unheimlich unheimlich
Zum „bakterielle(n) Live Talk des Mondmaschine-Teams mit … Claudia Reiche“ via zoom
Am 1. April 2020 hätte auf Kampnagel in Hamburg im Rahmen des Festivals HAUPTSACHE FREI die Lecture-Performance Die Mondmaschine von Brigitte Helbling mit Antonia Labs als Produktion von MASS & FIEBER OST aufgeführt werden sollen. Doch der Festivalleiter Julian Kamphausen und sein Team mussten das Festival in HAUPTSACHE ONLINE transformieren. Kurz vor 20:30 Uhr suchte der Berichterstatter schon ein wenig gespannt auf der angegebenen Seite den Link zum Live Talk via zoom. Hatte er vergessen, irgendeine App herunterzuladen? Live-Aufgeregtheit wie im Theater zur Premiere. Ziemlich genau um 20:30 Uhr erschien eine neue Zeile auf der Seite mit einem Link zur zoom-App. „Wollen Sie zulassen, dass Zoom auf ihrem PC installiert wird?“ Ja. Fenster öffnen sich. Animierte Grafiken zeigen Arbeitsvorgänge als Darstellung von Datenaustausch. Dann erscheint die zoom-Screen, die Teilnehmer*innen schalten sich in Echtzeit zu. Julian Kamphausen, Brigitte Helbling, Antonia Labs, Leonardo Raab und Claudia Reiche kommen nach und nach in eigenen Fenstern zusammen.
Live ist anders als auf YouTube aufgezeichnet, wo der Live-Talk weiterhin abgerufen werden kann. Live ist spannender. Auf dem Hauptfenster wird ein Trailer zu Die Mondmaschine eingespielt. Julian Kamphausens Stimme erklärt über den Trailer und die Musik noch die Software, wodurch sich Trailerton und Live auf seltsame Weise vermischen. „DIE MONDMASCHINE Lecture Performance zu Maschinen, Menschen und Bakterien mit Antonia Labs Text: Brigitte Helbling MASS + FIEBER OST“. Dann nach Vorstellung der Teilnehmer*innen: „Ihr habt den digitalen Raum. Herzlich Willkommen.“ Währenddessen fotografiert der Berichterstatter den Bildschirm. Brigitte Helbling sitzt vor einem Bücherregal. Claudia Reiche sitzt mit Brille, Mütze und Jacke am Laptop vor einem offenen Fenster in die dunkle, leere Nacht. Es ist der erste „bakterielle() Live Talk“, an dem der Berichterstatter als Gast teilnimmt. Worum geht es mit der Mondmaschine und den Bakterien?
Das offene Fenster in die Nacht, vor dem sich Claudia Reiche als Künstlerin und Philosophin für das Live eingerichtet hat, gibt einen Wink. Fenster/Windows gelten im Bauwesen schlicht als Lichtöffnungen. Das Flügelfenster im Live von Claudia Reiche geht nicht auf ein Licht oder einen Sternenhimmel hinaus. Es öffnet sich in ein schwarzes Nichts. Dementgegen erscheinen heutzutage auf den Bildschirmen der Computer ein oder mehrere Fenster mit „Content“, mit Inhalt. Auch zoom ist auf das Öffnen der Fenster designed, programmiert, in denen die Konferenzteilnehmer*innen visuell zusammenkommen. Oder der Bildschirm bleibt schwarz, gleich einer Maske, wenn die Teilnehmer*in die Kamera nicht freischaltet. Fenster oder auch nur Licht- oder Sehschlitze gehen seit Platons Höhlengleichnis der Politeia auf das Versprechen eines Ausbruchs aus einer Gefangenschaft in einer Höhle hinaus, um neues Wissen, Erkenntnis über sich selbst und die Welt zu erlangen, woran die Aufklärung in Europa transformierend anknüpfte.[1]
Fenster sind heute gewissermaßen intelligent bzw. werden von Künstlicher Intelligenz gesteuert.[2] Fenster wird in der deutschen Sprache für eine Öffnung im Bauwerk, für gerahmtes Glas, eine temporäre Öffnung, ein Zeitfenster, und das variable Element auf dem digitalen Bildschirm gebraucht. Das Deutsche Wörterbuch weist ebenso auf die Bezüge „zwischen fenster und auge“ in der Literatur hin, wie dass es auf Lücke, Luke, Loch für Fenster verweist.[3] Als digitales Fenster werden sie mit unterschiedlichen Schrift- und Wissensformationen gefüllt, so dass Fenster nicht zuletzt zur Observation und Wissensgenerierung genutzt werden. Das Fenster von Brigitte Helbling wird mit einem Bücherregal als Lektüreraum inszeniert, an dessen mittigen Platz eine DVD-Hülle mit „Symbiotic Earth: How Lynn Margulis rocked the boat and started a scientific revolution“ von John Feldmann aus dem Jahr 2017 platziert ist.
Brigitte Helbling knüpft mit ihrem Text Die Mondmaschine an die Forschungen zu Bakterien von Lynn Margulis an. Doch zunächst tritt für das Publikum erst einmal die „MFO-Wissenschaftlerin Celeste Abernathy“ (Antonia Labs) auf, um einen Vortrag zu Raumfahrtprojekten der NASA zu halten. Es geht um die Mondlandung und den ersten Schritt von Louis Armstrong auf dem Mond, der ein großer für die Menschheit gewesen sein soll. Yuri Gagarin und sein Flug um die Erde[4] verarbeitet Celeste Abernathy ebenso in ihrem Vortrag wie A Cyborg Manifesto (1985) von Donna Harraway. Unterschiedliche Wissensbereiche werden von Celeste Abernathy unter professionellen Vortragsgesten miteinander überzeugend verknüpft. NASA-Talk müsste man vielleicht eine derartige Vortragsweise nennen, die von Antonia Labs wohl deshalb so souverän verwendet wird – Regie: Niklaus Helbling, Maske: Miria Germano, Kostüm: Genia Leis –, weil sie in Charisma-Seminaren etc. vermittelt und massenhaft erlernt werden kann. Zugleich gibt der Name Abernathy einen Wink auf ein Leben als gut ausgeklügelte und strukturierte Lüge. Denn Google weiß, dass Dolores Abernathy am prominentesten für eine Figur aus der Science-Fiktion-Serie Westworld von Jonathan Nolan gebraucht wird.
Das Weltraumfahrtwissen wird von Brigitte Helbling in ihrem Text auf verschiedene Weise montiert und verarbeitet, so dass schließlich die prototypische Bakterienforschung von Lynn Margulis hinzugezogen wird. Mit den Worten des Berichterstatters aus der Erinnerung des Live-Talks: Wie wäre es denn, wenn die Mondmaschine, mit der Armstrong zum Mond geflogen ist, sich aus symbiotischen Bakterien zusammengesetzt hätte. Brigitte Helbling bemerkt im Live Talk sehr wohl, dass Bakterien und Viren ganz unterschiedliche Mikroorganismen sind. Trotzdem bekomme ihr Text eine unheimliche Nähe zur aktuellen Corona-Pandemie, die immerhin die Aufführung verhindert habe. Bakterien, so wird im Talk getalkt, seien immer und überall. Es sei immer nur eine Frage, ob sie am richtigen Ort wären. Darmbakterien z.B. seien für unser Überleben unverzichtbar. Und man werde deshalb mit Margulis auch von einem symbiotischen Leben des Menschen mit Bakterien sprechen können. Das Bakterienmodell Raumkapsel bringt den Menschen zum Mond.
Wann verwandelt sich ein Mensch in eine Maschine? Wann tritt eine Schauspielerin als „Mensch“ auf? Und wann werden Bakterien zur „ultimativen Fiktion“, wie es Claudia Reiche nennt? – Bakterien sind zunächst einmal keine Viren. Auf der Website des Robert-Koch-Instituts, eben jenes Instituts dessen Präsident Prof. Dr. Lothar H. Wieler seit Wochen für Reporter*innen die neuesten epidemiologischen Statistiken für SARS-CoV-2 verkündet, gibt es die Rubrik „Geschichte“, in der die Geschichte „1901 bis 1910: Erregern auf der Spur – die Rolle der Mikroskopie bei der Erkennung und Erforschung von Krankheitserregern“ mit Bildern erzählt wird.[5] Allerdings kann man noch ein Stückchen weiter zurück gehen, um in Robert Kochs Entdeckung der Mikroorganismen mittels Fotografie und Mikroskop eine Mediengeschichte der Biomedizin freizulegen. Mit dem Mikroskop, der Fotografie und der Färbung des Gewebes wird für Robert Koch seiner eigenen Darstellung zu folge, allererst die Wissenschaft von den Mikroorganismen konzeptualisiert haben.
„In einem Aufsatze über Untersuchung und Photographiren der Bakterien (…) hatte ich den Wunsch ausgesprochen, dass, um möglichst naturgetreue Abbildungen der pathogenen Bakterien zu erhalten, dieselben photographirt werden möchten. Um so mehr fühlte ich die Verpflichtung, die bei den Wundinfectionskrankheiten in thierischen Geweben aufgefundenen Bakterien photographisch abzubilden und habe es an Mühe, dieser Pflicht nachzukommen, auch nicht fehlen lassen. Die kleinsten und gerade die am meisten interessierenden Bakterien lassen sich jedoch nur durch Färbung und Benutzung ihres Farbenbildes in thierischen Geweben sichtbar machen und es hat in diesem Falle die photographische Aufnahme mit demselben Schwierigkeiten zu thun, wie bei der Photographie makroskopischer gefärbter Objekte z.B. eines farbigen Tapetenmuster.“[6]
Bakterien bilden visuelle Muster wie ein „Tapetenmuster“, schreibt Robert Koch diskret, die durch Färbung stärker kontrastiert werden können, indessen mit der Photographie auf beschichteten Glasplatten um 1878 noch nicht in Farbe abgebildet werden können. Dennoch ist Robert Kochs Ätiologie, als Ursachenforschung von den Wundinfektionskrankheiten mit 5 Tafeln in Schwarzweiß ein epochaler Umbruch. Die Kombination von Mikroskop und Fotoapparat liefert zum ersten Mal Muster, die allererst durch die Einfärbung sichtbar werden und aus denen sich verschiedene Formen isolieren lassen, die als das Bakterium selbst eingeteilt werden können. Anders gesagt: Gleichsam zwischen Kunstbeschreibung und den Differenzen durch Details wird die Bakteriologie unter dem Mikroskop herausgelesen. Historisch fällt die Genese der Bakteriologie mit jener „Spurensicherung“ zusammen, die Carlo Ginzburg für die Zeit „(z)wischen 1874 und 1876“ in einer „Reihe von Aufsätzen über italienische Malerei“ ausgemacht hat[7], nämlich die Herausbildung des Details als Wissensgegenstand.
„Gegen Ende des 19. Jahrhunderts – genauer: zwischen 1870 und 1880 – begann sich in den Humanwissenschaften ein Indizienparadigma durchzusetzen, das sich eben auf die Semiotik stützte.“[8]
Robert Koch schreibt beiläufig von „Färbung“. Doch mit welchem Farbstoff färbte er sein Material unter dem Mikroskop ein? Der Farbstoff müsste besonders dünnflüssig sein, was für viele Farben in der Malerei gerade nicht zutrifft. Man müsste Robert Kochs Färbemethode noch einmal genauer rekonstruieren. Doch der Berichterstatter vermutet, dass er die neuartigen Anilinfarben aus der chemischen Industrie verwendete. Denn seit den frühen 1860er Jahren stellten mehrere Unternehmen in Deutschland aus Steinkohlenteer ein breites Spektrum neuer Farben für die Textil- und sogar Lebensmittelindustrie her. Während sich Bakterien also unter dem Mikroskop sichtbar machen ließen, wurde dies bei Viren viel schwieriger. Doch wir sehen heute hochauflösende, farbige SARS-CoV-2-Virus-Bilder. Für die Sichtbarkeit von Viren sind umfangreiche Rechenprozesse notwendig, um visuelle Modelle als Bilder zu generieren. Das Foto mit Celeste Abernathy zeigt als Hintergrund offenbar ein Stäbchenbakterium, das als Wissensgegenstand vorgeführt wird. Und im Trailer kommen mehrfach animierte und gefärbte Stäbchenbakterien zum Einsatz. Wir haben die farbigen Bilder von Bakterien als ihre Natur und „naturgetreue Abbildung“ akzeptiert.
Corona-Viren werden als bunte Kugeln mit Zacken dargestellt. Niemand hat jemals ein derartig farbiges, also gefärbtes Corona-Virus gesehen. Doch das Verfahren der Färbung zur Sichtbarmachung hat sich seit Robert Koch weiterentwickelt. D. h. nicht, dass es keine Viren gibt, aber die Funktion einer beobachtbaren Sichtbarkeit durch Färbung wird als Paradigma für die Forschungen von Lynn Margulis entscheidend. Denn Lynn Margulis beschreibt recht bildhaft Organismen und Mikroben als bakteriellen Prozess. Das Bakterium wird für sie gar zum Ursprung aller Organismen.
„Life is bacterial and those organisms that are not bacteria have evolved from organisms that were. …Gene exchanges were indispensable to those that would rid themselves of environmental toxins. …Replicating gene-carrying plasmids owned by the biosphere at large, when borrowed and returned by bacterial metabolic geniuses, alleviated most local environmental dangers, provided said plasmids could temporarily be incorporated into the cells of the threatened bacteria. The tiny bodies of the planetary patina spread to every reach, all microbes reproducing too rapidly for all offspring to survive in any finite universe. Undercover and unwitnessed, life back then was the prodigious progeny of bacteria. It still is.“[9]
Wenn sich das Leben der Bakterien beobachten lässt, dann können auch andere Beschreibungsverfahren generiert werden. Für Lynn Margulis wird das Leben schlechthin bakteriell. Damit lässt sich nicht zuletzt ein Paradigmenwechsel des Bakteriellen und eine literarische Operation beschreiben. Denn zuvor hatten die Autor*innen Lynn Margulis und Dorion Sagan bereits phänomenologisch formuliert: „Life today is an autopoietic, photosynthetic phenomenon, planetary in scale.“[10] (Das heutige Leben ist ein autopoetisches, photosynthetisches Phänomen von planetarischer Größe.) In der Praxis der Autopoiesis überschneidet sich der Prozess der Selbstreferenzialität des Lebens in den Lebenswissenschaften mit jener der Literatur in der Literaturforschung. Das Indizienparadigma ist, man darf davon ausgehen nicht ohne Zwischenschritte, zu einem Autopoiesisparadigma gewechselt. Insofern formuliert das Bakterielle einen Prozess des Sichselbstmachens als Lebensbeschreibungen. Bakterien bilden aus sich selbst Filme, Schleime, Boote und Raumschiffe. Oder mit der Einführung „Life: The Eternal Enigma“:
„Life—from bacterium to biosphere—maintains by making more of itself.”[11]
(Das Leben – vom Bakterium bis zur Biosphäre – erhält sich, indem es mehr aus sich selbst macht.)
Für Lynn Margulis gibt es unter den Mikroorganismen keine Viren. Sie glaubte aus ihrem bakteriellen Denken heraus, dass AIDS in Wirklichkeit bakterielle Syphilis sei und leugnete noch 2011 in einem Interview im Magazin Discover, dass AIDS viral sei.[12] Um es einmal in Anknüpfung an Robert Koch zu sagen: Es gibt sowohl Bakterien wie das Mycobacterium tubercolosis[13] als auch Viren wie die Human-Immundefizienz-Viren (HIV)[14], die sich durch keinen Impfstoff behandeln lassen. Bekanntlich versuchte Robert Koch 1890 einen Impfstoff gegen die Tuberkulose zu entwickeln und testete das sogenannte Tuberkulin an sich selbst, seiner 17jährigen Geliebten Hedwig Freiberg und seinem japanischen Assistenten Kitasato Shibasaburō. Liebe, Verehrung, Opferbereitschaft und der Wunsch, eine Heilung zu wissen, waren im Spiel. Nach erheblichen körperlichen Abwehrreaktionen wie starkem Fieber genasen sie alle wieder und Koch ließ sich unter Zeitdruck und politischem Druck dazu hinreißen, die Impfung mit Tuberkulin als Therapie zu verkünden. Es kam in Berlin zu einem plötzlichen, zuvor nie gekannten, massenhaften Tuberkulin-Tourismus. Doch Tuberkulin war wirkungslos. Die Tuberkulose und HIV sind lediglich durch Medikamenten-Kombinationen zu behandeln.
Da im Live-Talk die Frage nach dem Unterschied von Bakterien und Viren aufkam und schnell zu beantworten versucht wurde, erschien mir der hier entfaltete kurze mikrologische Exkurs notwendig, zumal ich mich seit einigen Jahren mit den Forschungen von Robert Koch befasse.[15] Konzeptuell sind Bakterien nach Margulis expansiv, während Virenkonzepte eher invasiv angelegt werden. Vor allem lassen sich Bakterien und Viren als Wissensformate von Mikroorganismen formulieren, die durch Praktiken wie z.B. Mikroskopieren, Einfärben und Fotografieren oder Elektronenrastermikroskopieren, Berechnen, Färben und Formatieren generiert worden sind und mehr oder weniger gut in Therapien funktionieren. Was im Kontext von Die Mondmaschine als unheimlich wahrgenommen wird, sind weniger die bakterio- oder virologischen Ähnlichkeiten als vielmehr das epidemiologische Geschehen der Ausbreitung. Dementsprechend wird die Verdopplung des Unheimlichen im Titel aus einem Brief über eine aktuelle Leseerfahrung von Albert Camus‘ La Peste (1947) zitiert. Dabei ist zu bemerken, dass der Pesterreger Yersinia (Y.) pestis als „ein fakultativ anaerobes, gramnegatives, nicht sporenbildendes, unbegeißeltes, kleines (0,5-3 µm) Stäbchenbakterium“ beschrieben wird.[16]
Unheimlich unheimlich ließe sich insofern als Kombination des Adverbs mit dem Adjektiv in ein nicht messbares, gesteigertes Unheimliches bzw. das Unheimliche bei Sigmund Freud auflösen. Die Erzählung vom epidemiologischen Geschehen in Kombination mit der Unsichtbarkeit des Erregers konfrontiert die Leser*innen oder Zuschauer*innen mit einer existentialistischen Geworfenheit ihrer Existenz. Mit dem Unheimlichen nach Freud wird allerdings eine weitere, für Die Mondmaschine relevante Lektüre möglich. Denn Brigitte Helbling zitiert und montiert in ihrem Text die Arie der Olympia aus Jacques Offenbachs Oper Hoffmanns Erzählungen, die dieser wiederum aus der Novelle Der Sandmann von E.T.A. Hoffmann zitiert. Sigmund Freud wiederum zitiert E.T.A. Hoffmann in einer literarisch durchgearbeiteten Beschreibung über Das Unheimliche (1919). Er fragt nach dem Unheimlichen als Gefühl des „Schreckhaften, Angst- und Grauenerregenden“.[17] Nathanael verguckt sich[18], wie man sagt, verliebt sich in Olympia und bekundet seine Liebe vor einer Festgesellschaft. Doch Olympia ist nicht nur eine Puppe, sie ist eine Maschine, die Nathanael als Mensch/Frau wahrnimmt.[19] Die geradezu automatische Verliebtheit in eine Maschine dürfte für Nathanael weit unheimlicher sein als die Maschine Olympia selbst.
Während Freud in seinem Text mehrfach die Formulierung gebraucht, dass sich etwas „nicht verkennen“ lasse, geht es doch um die Figur einer Verkennung. Was als bekannt wahrgenommen wird, lässt sich gerade nicht kennen bzw. wissen. Die Liebe zu Olympia unterliegt einer Verkennung. Oder auch auf Lynn Margulis bakterielles Wissen vom Leben – „Life is bacterial“ – bezogen: Das Wissen vom Leben als „Symbiotic Earth“ bleibt Fiktion. Es geht bei Margulis mit dem Bakteriellen einerseits um einen antievolutionistischen Transhumanismus mit einer transkapitalistischen Prägung – „making more of itself“ – und anderseits um eine permanente Übertragung als Bewegung in einem Modus, der sich Ansteckung nennen ließe. Doch das heißt nicht, dass der Text von Brigitte Helbling genauso funktioniert. Sie montiert vielmehr mehrere Texte so, dass sich Fragen zu Menschen, Maschinen und Bakterien aufwerfen, worauf an anderer Stelle zurückzukommen sein wird. In gewisser Weise wirft Claudia Reiche im Life Talk zu Die Mondmaschine in diesem Moment den Anarchisten Pjotr Alexejewitsch Kropotkin ins Gespräch.
Reiche erzählt die Geschichte von Kropotkin als eine des Unterschieds. Denn er macht vieles anders, als es für ihn nach seiner Herkunft aus dem russischen Hochadel vorgesehen war. Er macht zwar zunächst eine Karriere als Page am Hof Zar Alexander II., geht dann aber nach Sibirien in die Verwaltung, was eigentlich ein Abstieg in seiner Karriere bedeutete. Dann entdeckt er als „Fürst“ und „Prinz von Smolensk“ seine Leidenschaft für die Geographie und Geologie als Leitwissenschaften seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Er knüpft damit quasi an Alexander von Humboldt und seine Russlandreise an.[20] 1887 und 1888 erscheinen in der 9. Ausgabe der Encyclopedia Britannica mehrere Einträge, die sowohl geographische wie geologische Beschreibungen der Orte enthalten.[21] Zur 11. Ausgabe der Enzyklopädie steuert er zwischen Altai und Yeniseisk ca. 70 Artikel bei.[22] Doch Claudia Reiche will nicht so sehr auf den Wissenschaftler, sondern den Anarchisten hinaus, der aus seinen Beobachtungen in der Natur zwischen 1890 und 1896 in dem englischen Periodikum The Nineteenth Century eine Reihe von Aufsätzen zum Thema „Mutual Aid“ veröffentlicht, die 1902 bei McClure in New York als Buch unter dem Titel Mutual Aid: A Factor of Evolution und 1904 als Gegenseitige Hilfe in der Entwickelung als Übersetzung von Gustav Landauer erscheinen.[23]
Kropotkin entwirft mit Mutual Aid eine andere Evolutionstheorie im Unterschied zu Charles Darwins Dictum des „Survival of the Fittest“, das sich als kapitalistischer Sozialdarwinismus verbreitet hatte, eine Entwicklung durch gegenseitige Hilfe. In der deutschen Übersetzung verschwindet ein wenig, dass die gegenseitige Hilfe, ein Faktor in der Evolution wäre. Claudia Reiche verschiebt den Begriff der Anarchie von altgr. ἄναρχος (ánarchos) „ohne Oberhaupt, führerlos“ aus verneinendem ἄ– (á–) bzw. an vor Vokal zu griech. ἄρχειν (árchein) wie der erste sein, vorangehen, anfangen, herrschen zu einer Verneinung des Herrschens. Anarchie nimmt damit nicht nur die Bedeutung einer schreckenerregenden Führungslosigkeit an, vielmehr wird nunmehr mit ihr das Prinzip der Führung und des Herrschens umgangen, wie es dem Darwinismus inhärent ist. Die Gegenseitige Hilfe wird somit zum Modell der Anarchie.
Gustav Landauer ordnete Mutual Aid im Vorwort seiner Übersetzung in den Kontext der Anarchie ein, während im Englischen Originaltext der Begriff aufgespart wird. Auch von ihm wird Kropotkins Anarchismusbegriff gegen den landläufigen Gebrauch umgeschrieben. Kropotkin spreche stattdessen lieber von „communisme litertaire; libertaire im Gegensatz zum communisme autoritaire oder étatiste, freiheitlicher oder freiwilliger Kommunismus (sei) eine Übersetzung, die für beide Worte nicht die richtigen Nuancen (gebe), indem vor allem communisme von uns Deutschen nicht richtig verstanden (werde), wenn wir nicht dabei an die Organisationsform der Commune oder Gemeinde denken“.[24] Mutual Aid wird nicht nur als gegenseitige Hilfe gebraucht, vielmehr wird mutual auch für gemeinsam, wechselseitig, korrelativ, einvernehmlich, beiderseitig benutzt. Kropotkin grenzt sich vor allem im Vorwort gegen die Darwinisten ab:
“Paucity of life, under-population–not over-population–being the distinctive feature of that immense part of the globe which we name Northern Asia, I conceived since then serious doubts–which subsequent study has only confirmed– as to the reality of that fearful competition for food and life within each species, which was an article of faith with most Darwinists, and, consequently, as to the dominant part which this sort of competition was supposed to play in the evolution of new species.[25]
(Der Mangel an Leben, Unterbevölkerung – nicht Überbevölkerung – als charakteristisches Merkmal dieses riesigen Teils der Welt, den wir Nordasien nennen, habe ich seitdem ernsthafte Zweifel – die die nachfolgende Studie nur bestätigt hat – in Bezug auf die Realität dieses furchtbaren Wettbewerbs um Nahrung und Leben innerhalb jeder Art, der bei den meisten Darwinisten ein Glaubensartikel war, und folglich die dominierende Rolle, die diese Art von Wettbewerb bei der Entwicklung neuer Arten spielen sollte.)[26]
Kropotkin formuliert sein Anarchismuskonzept strategisch als Erfahrungswissen seiner Reisen und Studien in Nordasien. Vor allem aber dreht er damit den marktkapitalistischen „furchtbaren Wettbewerb um Nahrung und Leben“ in eine Notwendigkeit der Hilfe für das Überleben um. Mehr noch in großen Populationen sieht er ein intelligentes Verhalten der gegenseitigen Hilfe und Unterstützung. Mit den intelligenten Tieren (intelligent animals) setzt Kropotkin um die Jahrhundertwende einen Schlüsselbegriff für die Konkurrenz gegenläufig für die gegenseitige Unterstützung ein.
“On the other hand, wherever I saw animal life in abundance, as, for instance, on the lakes where scores of species and millions of individuals came together to rear their progeny; in the colonies of rodents; in the migrations of birds which took place at that time on a truly American scale along the Usuri; and especially in a migration of fallow-deer which I witnessed on the Amur, and during which scores of thousands of these intelligent animals came together from an immense territory, flying before the coming deep snow, in order to cross the Amur where it is narrowest–in all these scenes of animal life which passed before my eyes, I saw Mutual Aid and Mutual Support carried on to an extent which made me suspect in it a feature of the greatest importance for the maintenance of life, the preservation of each species, and its further evolution.”[27]
(Auf der anderen Seite, wo immer ich Tierleben im Überfluss sah, wie zum Beispiel auf den Seen, wo Dutzende von Arten und Millionen von Individuen zusammenkamen, um ihre Nachkommen zu erziehen; in den Kolonien der Nagetiere; bei den Vogelwanderungen, die zu dieser Zeit im wirklich amerikanischen Maßstab entlang der Usuri stattfanden; und besonders bei einer Damwildwanderung, die ich auf dem Amur gesehen habe und bei der Dutzende von Tausenden dieser intelligenten Tiere aus einem riesigen Gebiet zusammenkamen, das vor dem kommenden Tiefschnee flog, um den Amur dort zu überqueren, wo er am engsten ist – In all diesen Szenen des Tierlebens, die vor meinen Augen vergingen, sah ich gegenseitige Hilfe und gegenseitige Unterstützung in einem Ausmaß, das mich darin verdächtigte, ein Merkmal von größter Bedeutung für die Erhaltung des Lebens, die Erhaltung jeder Art, zu sein und seine weitere Entwicklung.)
Claudia Reiche sieht nicht nur im Neo-Darwinismus, sondern auch in dieser neu interpretierten Erzählung vom Leben als kooperativem Miteinander bei Kropotkin wie bei Margulis eine ideologische Geste, mit der eine Fiktion des Wissens einhergeht, die zur biologistischen Grundlegung gesellschaftlicher Gestaltung angeboten wird. Die Intelligenz nimmt bei Kropotkin wie bei Margulis eine interessante Funktion ein. Denn während Kropotkin das Damwild in seinen Wanderungen als intelligent handelnd, weil sich gegenseitig unterstützend, beschreibt, wird bei Margulis das Bakterielle selbst zur Intelligenz, gleich einem „bakteriellen Gespräch“. Die Intelligenz wird nicht von einem zum anderen Bakterium durch Ansteckung übertragen, vielmehr wird die kollektive Verhaltensweise der Bakterien zur Emergenz von Intelligenz z.B. hinsichtlich der Klimakrise. In den Ökowissenschaften werden mittlerweile Lynn Margulis‘ Thesen zum Bakterium als breiter Konsens eingesetzt. Was bei Kropotkin und Margulis nicht zuletzt als eine antikapitalistische oder zumindest kapitalismuskritische Bewegung gegen ein vorherrschendes Wissen begonnen hat, wird als Ideologie herrschaftsförmig. – Was könnte das in der SARS-Cov-2-Pandemie heißen?
Brigitte Helbling, Antonia Labs, Leonardo Raab und Claudia Reiche sprechen mit anderen Worten und in anderer Reihenfolge über Die Mondmaschine und Menschen, Maschinen, Bakterien sowie vom Wissen und der Intelligenz in Zeiten der Pandemie, was sich im Video des Live Talk anhören und ansehen lässt. Das wenige, äußerst vage Wissen von dem neuartigen Corona-Virus – und diese Formulierung wird vermutlich jeder Virologe teilen können – entfaltet durch seine Einwirkungen auf das Volk bzw. die globale Bevölkerung gemäß des altgriechischen ἐπί epí ‚auf, bei, dazu‘ und δῆμος dēmos ‚Volk‘ als teilweise tödliche Erkrankung und Wissen eine kaum zuvor für möglich gehaltene Macht. So wären einige finanzpolitische Maßnahmen z.B. der Bundesregierung oder der EU noch vor kurzem als blanker Kommunismus bekämpft worden. Heute gelten sie als systemerhaltend. Wir befinden uns mitten in einer Umwertung aller Werte.
Torsten Flüh
Nur für kurze Zeit können der Live Talk und eine Aufzeichnung von Die Mondmaschine hier abgerufen werden:
Das Mondmaschinen-Team und Claudia Reiche:
Live Talk
MASS & FIEBER OST
Die Mondmaschine
mit Antonia Labs und Leonardo Raab
Regie: Niklaus Helbling
Text: Brigitte Helbling
Video: Georg Lendorff
Musik: Felix Huber
Kostüm: Genia Leis
Maske: Miria Germano
Artwork: Thomas Rhyner
Assistenz: Leonardo Raab
Produktion: Manu Wiessner
www.massundfieber.ch
19. und 20. Mai 2020
Zürich, Hörsaal, spartenübergreifende Koproduktion
Theater Winkelwiese, Universität Zürich, Helferei Kulturzentrum
Termine für die Aufführung der Lecture-Performance.
Mehr online von
HAUPTSACHE FREI
Festival der darstellenden Künste Hamburgs
[1] Vgl. zum Höhlengleichnis Torsten Flüh: Kunst-Nebel-Rebell. Zu Sebastian Hartmanns Woyzeck am Deutschen Theater mit Benjamin Lillie. In: NIGHT OUT @ BERLIN Dezember 31, 2014 12:00.
[2] Die Steuerung von Fenstern durch KI gilt in zweierlei Hinsicht. Einerseits sind die Fenster immer schon ein visuelles Design durch Programmierung, andererseits werden heute diverse Fenster an Bauwerken von Museen bis zum Eigenheim oder z.B. auf Schiffen digital verdunkelt oder geöffnet. Zeitfenster sind in digitalen Kalenderprogrammen mit Erinnerungen etc. programmiert.
[3] Jacob und Wilhelm Grimm: Das deutsche Wörterbuch: fenster.
[4] Zu Yuri Gagarins Flug und Raumanzug siehe auch: Torsten Flüh: Sehen, was Juri Gagarin sah. Christopher Rileys Film The first Orbit auf YouTube. In: NIGHT OUT @ BERLIN Mai 5, 2011 22:56 und ders.: Das Ding mit der Kleidung. Zur Buchvorstellung Von Kopf bis Fuß im Museum der Dinge. In: ebenda November 17, 2015 20:52.
[5] Robert-Koch-Institut: Geschichte: 1901-1910.
[6] Robert Koch: Untersuchungen über die Ätiologie der Wundinfectionskrankheiten. Mit 5 Tafeln Abbildungen. Leipzig: Vogel, 1878, S. 4. (Digitalisat)
[7] Carlo Ginzburg: Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Such nach sich selbst. In: Spurensicherungen. München: dtv, 1988, S. 78.
[8] Ebenda S. 87.
[9] Lynn Margulis, Dorion Sagan: What Is Life? New York: Simon & Schuster, 1995.
[10] Ebenda (Zitiert nach Wikiquote Lynn Margulis.)
[11] Ebenda S. 3.
[12] Jerry Coyne: Lynn Margulis disses evolution in Discover magazine, embarrasses both herself and the field. In: Why Evolution is true April 12, 2011 at 10:00.
[13] Robert-Koch-Institut: Tuberkulose.
[14] Robert-Koch-Institut: HIV/AIDS.
[15] Die Forschungen sind eingegangen in einen Roman und eine Stadtführung:
Torsten Flüh: Beriberi. Robert Kochs Reise um die Welt. Berlin: Kindle, 2012. (Amazon)
Berlin-Feuerland: Robert Koch.
[16] Robert-Koch-Institut: Pest.
[17] Sigmund Freud: Das Unheimliche. In: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften V (1919). S. 297. (Digitalisat)
[18] Nathanaels „vergucken“ wird relativ ausführlich und umständlich über den Optiker Giuseppe Coppola erzählt. Der preist nämlich Okuli für lateinisch Augen an: »Ei nix Wetterglas, nix Wetterglas! – hab auch sköne Oke – sköne Oke.« Diese Okuli sind als Brillen Augen und Fenster(!) zugleich. Und auch das „Taschenperspektiv“, das Nathanael Coppola abkauft, lässt sich als eine Art Fenster denken. Mehr noch der Verkäufer namens „Coppola“ (ver)koppelt beim Autor E.T.A. Hoffmann, einem Juristen, mehrere Wissensbereiche miteinander. Siehe DWDS: koppeln.
[19] In der Fußnote 4 wendet Freud seine Analyse der „automatischen Puppe“ in „die Materialisation von Nathaniels femininer Einstellung zu seinem Vater in früher Kindheit“.
[20] Siehe zu Alexander von Humboldts Russlandreise: Torsten Flüh: Leben und Tod in der Platovskischen Steppe. Zu Alexander von Humboldt und Russland in der Botschaft der Russischen Föderation. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juni 25, 2015 21:04.
[21] Siehe Wikisource: Peter Kropotkin.
[22] Ebenda.
[23] Peter Kropotkin: Mutual Aid: A Factor of Evolution. New York: McClure, 1902. (Digitalisat)
[24] Gustav Landauer: Vorwort des Übersetzers. In: Peter Kropotkin: Gegenseitige Hilfe in der Entwickelung. Leipzig: Thomas, S. 6-7.
[25] Peter Kropotkin: Mutual … [wie Anm. 23].
[26] Die eigene Übersetzung weicht hier von der Gustav Landauers ab.
[27] Peter Kropotkin: Mutual … [wie Anm. 23].