Unheimlich unheimlich – Zum Live Talk über Die Mondmaschine

Maschine – Bakterien – Menschen

Unheimlich unheimlich

Zum „bakterielle(n) Live Talk des Mondmaschine-Teams mit … Claudia Reiche“ via zoom

Am 1. April 2020 hätte auf Kampnagel in Hamburg im Rahmen des Festivals HAUPTSACHE FREI die Lecture-Performance Die Mondmaschine von Brigitte Helbling mit Antonia Labs als Produktion von MASS & FIEBER OST aufgeführt werden sollen. Doch der Festivalleiter Julian Kamphausen und sein Team mussten das Festival in HAUPTSACHE ONLINE transformieren. Kurz vor 20:30 Uhr suchte der Berichterstatter schon ein wenig gespannt auf der angegebenen Seite den Link zum Live Talk via zoom. Hatte er vergessen, irgendeine App herunterzuladen? Live-Aufgeregtheit wie im Theater zur Premiere. Ziemlich genau um 20:30 Uhr erschien eine neue Zeile auf der Seite mit einem Link zur zoom-App. „Wollen Sie zulassen, dass Zoom auf ihrem PC installiert wird?“ Ja. Fenster öffnen sich. Animierte Grafiken zeigen Arbeitsvorgänge als Darstellung von Datenaustausch. Dann erscheint die zoom-Screen, die Teilnehmer*innen schalten sich in Echtzeit zu. Julian Kamphausen, Brigitte Helbling, Antonia Labs, Leonardo Raab und Claudia Reiche kommen nach und nach in eigenen Fenstern zusammen.

.

Live ist anders als auf YouTube aufgezeichnet, wo der Live-Talk weiterhin abgerufen werden kann. Live ist spannender. Auf dem Hauptfenster wird ein Trailer zu Die Mondmaschine eingespielt. Julian Kamphausens Stimme erklärt über den Trailer und die Musik noch die Software, wodurch sich Trailerton und Live auf seltsame Weise vermischen. „DIE MONDMASCHINE Lecture Performance zu Maschinen, Menschen und Bakterien mit Antonia Labs Text: Brigitte Helbling MASS + FIEBER OST“. Dann nach Vorstellung der Teilnehmer*innen: „Ihr habt den digitalen Raum. Herzlich Willkommen.“ Währenddessen fotografiert der Berichterstatter den Bildschirm. Brigitte Helbling sitzt vor einem Bücherregal. Claudia Reiche sitzt mit Brille, Mütze und Jacke am Laptop vor einem offenen Fenster in die dunkle, leere Nacht. Es ist der erste „bakterielle() Live Talk“, an dem der Berichterstatter als Gast teilnimmt. Worum geht es mit der Mondmaschine und den Bakterien?

.

Das offene Fenster in die Nacht, vor dem sich Claudia Reiche als Künstlerin und Philosophin für das Live eingerichtet hat, gibt einen Wink. Fenster/Windows gelten im Bauwesen schlicht als Lichtöffnungen. Das Flügelfenster im Live von Claudia Reiche geht nicht auf ein Licht oder einen Sternenhimmel hinaus. Es öffnet sich in ein schwarzes Nichts. Dementgegen erscheinen heutzutage auf den Bildschirmen der Computer ein oder mehrere Fenster mit „Content“, mit Inhalt. Auch zoom ist auf das Öffnen der Fenster designed, programmiert, in denen die Konferenzteilnehmer*innen visuell zusammenkommen. Oder der Bildschirm bleibt schwarz, gleich einer Maske, wenn die Teilnehmer*in die Kamera nicht freischaltet. Fenster oder auch nur Licht- oder Sehschlitze gehen seit Platons Höhlengleichnis der Politeia auf das Versprechen eines Ausbruchs aus einer Gefangenschaft in einer Höhle hinaus, um neues Wissen, Erkenntnis über sich selbst und die Welt zu erlangen, woran die Aufklärung in Europa transformierend anknüpfte.[1]   

.

Fenster sind heute gewissermaßen intelligent bzw. werden von Künstlicher Intelligenz gesteuert.[2] Fenster wird in der deutschen Sprache für eine Öffnung im Bauwerk, für gerahmtes Glas, eine temporäre Öffnung, ein Zeitfenster, und das variable Element auf dem digitalen Bildschirm gebraucht. Das Deutsche Wörterbuch weist ebenso auf die Bezüge „zwischen fenster und auge“ in der Literatur hin, wie dass es auf Lücke, Luke, Loch für Fenster verweist.[3] Als digitales Fenster werden sie mit unterschiedlichen Schrift- und Wissensformationen gefüllt, so dass Fenster nicht zuletzt zur Observation und Wissensgenerierung genutzt werden. Das Fenster von Brigitte Helbling wird mit einem Bücherregal als Lektüreraum inszeniert, an dessen mittigen Platz eine DVD-Hülle mit „Symbiotic Earth: How Lynn Margulis rocked the boat and started a scientific revolution“ von John Feldmann aus dem Jahr 2017 platziert ist.

.

Brigitte Helbling knüpft mit ihrem Text Die Mondmaschine an die Forschungen zu Bakterien von Lynn Margulis an. Doch zunächst tritt für das Publikum erst einmal die „MFO-Wissenschaftlerin Celeste Abernathy“ (Antonia Labs) auf, um einen Vortrag zu Raumfahrtprojekten der NASA zu halten. Es geht um die Mondlandung und den ersten Schritt von Louis Armstrong auf dem Mond, der ein großer für die Menschheit gewesen sein soll. Yuri Gagarin und sein Flug um die Erde[4] verarbeitet Celeste Abernathy ebenso in ihrem Vortrag wie A Cyborg Manifesto (1985) von Donna Harraway. Unterschiedliche Wissensbereiche werden von Celeste Abernathy unter professionellen Vortragsgesten miteinander überzeugend verknüpft. NASA-Talk müsste man vielleicht eine derartige Vortragsweise nennen, die von Antonia Labs wohl deshalb so souverän verwendet wird – Regie: Niklaus Helbling, Maske: Miria Germano, Kostüm: Genia Leis –, weil sie in Charisma-Seminaren etc. vermittelt und massenhaft erlernt werden kann. Zugleich gibt der Name Abernathy einen Wink auf ein Leben als gut ausgeklügelte und strukturierte Lüge. Denn Google weiß, dass Dolores Abernathy am prominentesten für eine Figur aus der Science-Fiktion-Serie Westworld von Jonathan Nolan gebraucht wird.

.

Das Weltraumfahrtwissen wird von Brigitte Helbling in ihrem Text auf verschiedene Weise montiert und verarbeitet, so dass schließlich die prototypische Bakterienforschung von Lynn Margulis hinzugezogen wird. Mit den Worten des Berichterstatters aus der Erinnerung des Live-Talks: Wie wäre es denn, wenn die Mondmaschine, mit der Armstrong zum Mond geflogen ist, sich aus symbiotischen Bakterien zusammengesetzt hätte. Brigitte Helbling bemerkt im Live Talk sehr wohl, dass Bakterien und Viren ganz unterschiedliche Mikroorganismen sind. Trotzdem bekomme ihr Text eine unheimliche Nähe zur aktuellen Corona-Pandemie, die immerhin die Aufführung verhindert habe. Bakterien, so wird im Talk getalkt, seien immer und überall. Es sei immer nur eine Frage, ob sie am richtigen Ort wären. Darmbakterien z.B. seien für unser Überleben unverzichtbar. Und man werde deshalb mit Margulis auch von einem symbiotischen Leben des Menschen mit Bakterien sprechen können. Das Bakterienmodell Raumkapsel bringt den Menschen zum Mond.

.

Wann verwandelt sich ein Mensch in eine Maschine? Wann tritt eine Schauspielerin als „Mensch“ auf? Und wann werden Bakterien zur „ultimativen Fiktion“, wie es Claudia Reiche nennt? – Bakterien sind zunächst einmal keine Viren. Auf der Website des Robert-Koch-Instituts, eben jenes Instituts dessen Präsident Prof. Dr. Lothar H. Wieler seit Wochen für Reporter*innen die neuesten epidemiologischen Statistiken für SARS-CoV-2 verkündet, gibt es die Rubrik „Geschichte“, in der die Geschichte „1901 bis 1910: Erregern auf der Spur – die Rolle der Mikroskopie bei der Erkennung und Erforschung von Krankheitserregern“ mit Bildern erzählt wird.[5] Allerdings kann man noch ein Stückchen weiter zurück gehen, um in Robert Kochs Entdeckung der Mikroorganismen mittels Fotografie und Mikroskop eine Mediengeschichte der Biomedizin freizulegen. Mit dem Mikroskop, der Fotografie und der Färbung des Gewebes wird für Robert Koch seiner eigenen Darstellung zu folge, allererst die Wissenschaft von den Mikroorganismen konzeptualisiert haben.
„In einem Aufsatze über Untersuchung und Photographiren der Bakterien (…) hatte ich den Wunsch ausgesprochen, dass, um möglichst naturgetreue Abbildungen der pathogenen Bakterien zu erhalten, dieselben photographirt werden möchten. Um so mehr fühlte ich die Verpflichtung, die bei den Wundinfectionskrankheiten in thierischen Geweben aufgefundenen Bakterien photographisch abzubilden und habe es an Mühe, dieser Pflicht nachzukommen, auch nicht fehlen lassen. Die kleinsten und gerade die am meisten interessierenden Bakterien lassen sich jedoch nur durch Färbung und Benutzung ihres Farbenbildes in thierischen Geweben sichtbar machen und es hat in diesem Falle die photographische Aufnahme mit demselben Schwierigkeiten zu thun, wie bei der Photographie makroskopischer gefärbter Objekte z.B. eines farbigen Tapetenmuster.“[6]

.

Bakterien bilden visuelle Muster wie ein „Tapetenmuster“, schreibt Robert Koch diskret, die durch Färbung stärker kontrastiert werden können, indessen mit der Photographie auf beschichteten Glasplatten um 1878 noch nicht in Farbe abgebildet werden können. Dennoch ist Robert Kochs Ätiologie, als Ursachenforschung von den Wundinfektionskrankheiten mit 5 Tafeln in Schwarzweiß ein epochaler Umbruch. Die Kombination von Mikroskop und Fotoapparat liefert zum ersten Mal Muster, die allererst durch die Einfärbung sichtbar werden und aus denen sich verschiedene Formen isolieren lassen, die als das Bakterium selbst eingeteilt werden können. Anders gesagt: Gleichsam zwischen Kunstbeschreibung und den Differenzen durch Details wird die Bakteriologie unter dem Mikroskop herausgelesen. Historisch fällt die Genese der Bakteriologie mit jener „Spurensicherung“ zusammen, die Carlo Ginzburg für die Zeit „(z)wischen 1874 und 1876“ in einer „Reihe von Aufsätzen über italienische Malerei“ ausgemacht hat[7], nämlich die Herausbildung des Details als Wissensgegenstand.
„Gegen Ende des 19. Jahrhunderts – genauer: zwischen 1870 und 1880 – begann sich in den Humanwissenschaften ein Indizienparadigma durchzusetzen, das sich eben auf die Semiotik stützte.“[8]

.

Robert Koch schreibt beiläufig von „Färbung“. Doch mit welchem Farbstoff färbte er sein Material unter dem Mikroskop ein? Der Farbstoff müsste besonders dünnflüssig sein, was für viele Farben in der Malerei gerade nicht zutrifft. Man müsste Robert Kochs Färbemethode noch einmal genauer rekonstruieren. Doch der Berichterstatter vermutet, dass er die neuartigen Anilinfarben aus der chemischen Industrie verwendete. Denn seit den frühen 1860er Jahren stellten mehrere Unternehmen in Deutschland aus Steinkohlenteer ein breites Spektrum neuer Farben für die Textil- und sogar Lebensmittelindustrie her. Während sich Bakterien also unter dem Mikroskop sichtbar machen ließen, wurde dies bei Viren viel schwieriger. Doch wir sehen heute hochauflösende, farbige SARS-CoV-2-Virus-Bilder. Für die Sichtbarkeit von Viren sind umfangreiche Rechenprozesse notwendig, um visuelle Modelle als Bilder zu generieren. Das Foto mit Celeste Abernathy zeigt als Hintergrund offenbar ein Stäbchenbakterium, das als Wissensgegenstand vorgeführt wird. Und im Trailer kommen mehrfach animierte und gefärbte Stäbchenbakterien zum Einsatz. Wir haben die farbigen Bilder von Bakterien als ihre Natur und „naturgetreue Abbildung“ akzeptiert.

.

Corona-Viren werden als bunte Kugeln mit Zacken dargestellt. Niemand hat jemals ein derartig farbiges, also gefärbtes Corona-Virus gesehen. Doch das Verfahren der Färbung zur Sichtbarmachung hat sich seit Robert Koch weiterentwickelt. D. h. nicht, dass es keine Viren gibt, aber die Funktion einer beobachtbaren Sichtbarkeit durch Färbung wird als Paradigma für die Forschungen von Lynn Margulis entscheidend. Denn Lynn Margulis beschreibt recht bildhaft Organismen und Mikroben als bakteriellen Prozess. Das Bakterium wird für sie gar zum Ursprung aller Organismen.
„Life is bacterial and those organisms that are not bacteria have evolved from organisms that were. …Gene exchanges were indispensable to those that would rid themselves of environmental toxins. …Replicating gene-carrying plasmids owned by the biosphere at large, when borrowed and returned by bacterial metabolic geniuses, alleviated most local environmental dangers, provided said plasmids could temporarily be incorporated into the cells of the threatened bacteria. The tiny bodies of the planetary patina spread to every reach, all microbes reproducing too rapidly for all offspring to survive in any finite universe. Undercover and unwitnessed, life back then was the prodigious progeny of bacteria. It still is.“[9]

.

Wenn sich das Leben der Bakterien beobachten lässt, dann können auch andere Beschreibungsverfahren generiert werden. Für Lynn Margulis wird das Leben schlechthin bakteriell. Damit lässt sich nicht zuletzt ein Paradigmenwechsel des Bakteriellen und eine literarische Operation beschreiben. Denn zuvor hatten die Autor*innen Lynn Margulis und Dorion Sagan bereits phänomenologisch formuliert: „Life today is an autopoietic, photosynthetic phenomenon, planetary in scale.“[10] (Das heutige Leben ist ein autopoetisches, photosynthetisches Phänomen von planetarischer Größe.) In der Praxis der Autopoiesis überschneidet sich der Prozess der Selbstreferenzialität des Lebens in den Lebenswissenschaften mit jener der Literatur in der Literaturforschung. Das Indizienparadigma ist, man darf davon ausgehen nicht ohne Zwischenschritte, zu einem Autopoiesisparadigma gewechselt. Insofern formuliert das Bakterielle einen Prozess des Sichselbstmachens als Lebensbeschreibungen. Bakterien bilden aus sich selbst Filme, Schleime, Boote und Raumschiffe. Oder mit der Einführung „Life: The Eternal Enigma“:
„Life—from bacterium to biosphere—maintains by making more of itself.”[11]
(Das Leben – vom Bakterium bis zur Biosphäre – erhält sich, indem es mehr aus sich selbst macht.)

.

Für Lynn Margulis gibt es unter den Mikroorganismen keine Viren. Sie glaubte aus ihrem bakteriellen Denken heraus, dass AIDS in Wirklichkeit bakterielle Syphilis sei und leugnete noch 2011 in einem Interview im Magazin Discover, dass AIDS viral sei.[12] Um es einmal in Anknüpfung an Robert Koch zu sagen: Es gibt sowohl Bakterien wie das Mycobacterium tubercolosis[13] als auch Viren wie die Human-Immundefizienz-Viren (HIV)[14], die sich durch keinen Impfstoff behandeln lassen. Bekanntlich versuchte Robert Koch 1890 einen Impfstoff gegen die Tuberkulose zu entwickeln und testete das sogenannte Tuberkulin an sich selbst, seiner 17jährigen Geliebten Hedwig Freiberg und seinem japanischen Assistenten Kitasato Shibasaburō. Liebe, Verehrung, Opferbereitschaft und der Wunsch, eine Heilung zu wissen, waren im Spiel. Nach erheblichen körperlichen Abwehrreaktionen wie starkem Fieber genasen sie alle wieder und Koch ließ sich unter Zeitdruck und politischem Druck dazu hinreißen, die Impfung mit Tuberkulin als Therapie zu verkünden. Es kam in Berlin zu einem plötzlichen, zuvor nie gekannten, massenhaften Tuberkulin-Tourismus. Doch Tuberkulin war wirkungslos. Die Tuberkulose und HIV sind lediglich durch Medikamenten-Kombinationen zu behandeln.

.

Da im Live-Talk die Frage nach dem Unterschied von Bakterien und Viren aufkam und schnell zu beantworten versucht wurde, erschien mir der hier entfaltete kurze mikrologische Exkurs notwendig, zumal ich mich seit einigen Jahren mit den Forschungen von Robert Koch befasse.[15] Konzeptuell sind Bakterien nach Margulis expansiv, während Virenkonzepte eher invasiv angelegt werden. Vor allem lassen sich Bakterien und Viren als Wissensformate von Mikroorganismen formulieren, die durch Praktiken wie z.B. Mikroskopieren, Einfärben und Fotografieren oder Elektronenrastermikroskopieren, Berechnen, Färben und Formatieren generiert worden sind und mehr oder weniger gut in Therapien funktionieren. Was im Kontext von Die Mondmaschine als unheimlich wahrgenommen wird, sind weniger die bakterio- oder virologischen Ähnlichkeiten als vielmehr das epidemiologische Geschehen der Ausbreitung. Dementsprechend wird die Verdopplung des Unheimlichen im Titel aus einem Brief über eine aktuelle Leseerfahrung von Albert Camus‘ La Peste (1947) zitiert. Dabei ist zu bemerken, dass der Pesterreger Yersinia (Y.) pestis als „ein fakultativ anaerobes, gramnegatives, nicht sporenbildendes, unbegeißeltes, kleines (0,5-3 µm) Stäbchenbakterium“ beschrieben wird.[16]

.

Unheimlich unheimlich ließe sich insofern als Kombination des Adverbs mit dem Adjektiv in ein nicht messbares, gesteigertes Unheimliches bzw. das Unheimliche bei Sigmund Freud auflösen. Die Erzählung vom epidemiologischen Geschehen in Kombination mit der Unsichtbarkeit des Erregers konfrontiert die Leser*innen oder Zuschauer*innen mit einer existentialistischen Geworfenheit ihrer Existenz. Mit dem Unheimlichen nach Freud wird allerdings eine weitere, für Die Mondmaschine relevante Lektüre möglich. Denn Brigitte Helbling zitiert und montiert in ihrem Text die Arie der Olympia aus Jacques Offenbachs Oper Hoffmanns Erzählungen, die dieser wiederum aus der Novelle Der Sandmann von E.T.A. Hoffmann zitiert. Sigmund Freud wiederum zitiert E.T.A. Hoffmann in einer literarisch durchgearbeiteten Beschreibung über Das Unheimliche (1919). Er fragt nach dem Unheimlichen als Gefühl des „Schreckhaften, Angst- und Grauenerregenden“.[17] Nathanael verguckt sich[18], wie man sagt, verliebt sich in Olympia und bekundet seine Liebe vor einer Festgesellschaft. Doch Olympia ist nicht nur eine Puppe, sie ist eine Maschine, die Nathanael als Mensch/Frau wahrnimmt.[19] Die geradezu automatische Verliebtheit in eine Maschine dürfte für Nathanael weit unheimlicher sein als die Maschine Olympia selbst.

.

Während Freud in seinem Text mehrfach die Formulierung gebraucht, dass sich etwas „nicht verkennen“ lasse, geht es doch um die Figur einer Verkennung. Was als bekannt wahrgenommen wird, lässt sich gerade nicht kennen bzw. wissen. Die Liebe zu Olympia unterliegt einer Verkennung. Oder auch auf Lynn Margulis bakterielles Wissen vom Leben – „Life is bacterial“ – bezogen: Das Wissen vom Leben als „Symbiotic Earth“ bleibt Fiktion. Es geht bei Margulis mit dem Bakteriellen einerseits um einen antievolutionistischen Transhumanismus mit einer transkapitalistischen Prägung – „making more of itself“ – und anderseits um eine permanente Übertragung als Bewegung in einem Modus, der sich Ansteckung nennen ließe. Doch das heißt nicht, dass der Text von Brigitte Helbling genauso funktioniert. Sie montiert vielmehr mehrere Texte so, dass sich Fragen zu Menschen, Maschinen und Bakterien aufwerfen, worauf an anderer Stelle zurückzukommen sein wird. In gewisser Weise wirft Claudia Reiche im Life Talk zu Die Mondmaschine in diesem Moment den Anarchisten Pjotr Alexejewitsch Kropotkin ins Gespräch.  

.

Reiche erzählt die Geschichte von Kropotkin als eine des Unterschieds. Denn er macht vieles anders, als es für ihn nach seiner Herkunft aus dem russischen Hochadel vorgesehen war. Er macht zwar zunächst eine Karriere als Page am Hof Zar Alexander II., geht dann aber nach Sibirien in die Verwaltung, was eigentlich ein Abstieg in seiner Karriere bedeutete. Dann entdeckt er als „Fürst“ und „Prinz von Smolensk“ seine Leidenschaft für die Geographie und Geologie als Leitwissenschaften seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Er knüpft damit quasi an Alexander von Humboldt und seine Russlandreise an.[20] 1887 und 1888 erscheinen in der 9. Ausgabe der Encyclopedia Britannica mehrere Einträge, die sowohl geographische wie geologische Beschreibungen der Orte enthalten.[21] Zur 11. Ausgabe der Enzyklopädie steuert er zwischen Altai und Yeniseisk ca. 70 Artikel bei.[22] Doch Claudia Reiche will nicht so sehr auf den Wissenschaftler, sondern den Anarchisten hinaus, der aus seinen Beobachtungen in der Natur zwischen 1890 und 1896 in dem englischen Periodikum The Nineteenth Century eine Reihe von Aufsätzen zum Thema „Mutual Aid“ veröffentlicht, die 1902 bei McClure in New York als Buch unter dem Titel Mutual Aid: A Factor of Evolution und 1904 als Gegenseitige Hilfe in der Entwickelung als Übersetzung von Gustav Landauer erscheinen.[23] 

.

Kropotkin entwirft mit Mutual Aid eine andere Evolutionstheorie im Unterschied zu Charles Darwins Dictum des „Survival of the Fittest“, das sich als kapitalistischer Sozialdarwinismus verbreitet hatte, eine Entwicklung durch gegenseitige Hilfe. In der deutschen Übersetzung verschwindet ein wenig, dass die gegenseitige Hilfe, ein Faktor in der Evolution wäre. Claudia Reiche verschiebt den Begriff der Anarchie von altgr. ἄναρχος (ánarchos) „ohne Oberhaupt, führerlos“ aus verneinendem ἄ– (á–) bzw. an vor Vokal zu griech. ἄρχειν (árchein) wie der erste sein, vorangehen, anfangen, herrschen zu einer Verneinung des Herrschens. Anarchie nimmt damit nicht nur die Bedeutung einer schreckenerregenden Führungslosigkeit an, vielmehr wird nunmehr mit ihr das Prinzip der Führung und des Herrschens umgangen, wie es dem Darwinismus inhärent ist. Die Gegenseitige Hilfe wird somit zum Modell der Anarchie.

.

Gustav Landauer ordnete Mutual Aid im Vorwort seiner Übersetzung in den Kontext der Anarchie ein, während im Englischen Originaltext der Begriff aufgespart wird. Auch von ihm wird Kropotkins Anarchismusbegriff gegen den landläufigen Gebrauch umgeschrieben. Kropotkin spreche stattdessen lieber von „communisme litertaire; libertaire im Gegensatz zum communisme autoritaire oder étatiste, freiheitlicher oder freiwilliger Kommunismus (sei) eine Übersetzung, die für beide Worte nicht die richtigen Nuancen (gebe), indem vor allem communisme von uns Deutschen nicht richtig verstanden (werde), wenn wir nicht dabei an die Organisationsform der Commune oder Gemeinde denken“.[24] Mutual Aid wird nicht nur als gegenseitige Hilfe gebraucht, vielmehr wird mutual auch für gemeinsam, wechselseitig, korrelativ, einvernehmlich, beiderseitig benutzt. Kropotkin grenzt sich vor allem im Vorwort gegen die Darwinisten ab:
“Paucity of life, under-population–not over-population–being the distinctive feature of that immense part of the globe which we name Northern Asia, I conceived since then serious doubts–which subsequent study has only confirmed– as to the reality of that fearful competition for food and life within each species, which was an article of faith with most Darwinists, and, consequently, as to the dominant part which this sort of competition was supposed to play in the evolution of new species.[25]
(Der Mangel an Leben, Unterbevölkerung – nicht Überbevölkerung – als charakteristisches Merkmal dieses riesigen Teils der Welt, den wir Nordasien nennen, habe ich seitdem ernsthafte Zweifel – die die nachfolgende Studie nur bestätigt hat – in Bezug auf die Realität dieses furchtbaren Wettbewerbs um Nahrung und Leben innerhalb jeder Art, der bei den meisten Darwinisten ein Glaubensartikel war, und folglich die dominierende Rolle, die diese Art von Wettbewerb bei der Entwicklung neuer Arten spielen sollte.)[26]

.

Kropotkin formuliert sein Anarchismuskonzept strategisch als Erfahrungswissen seiner Reisen und Studien in Nordasien. Vor allem aber dreht er damit den marktkapitalistischen „furchtbaren Wettbewerb um Nahrung und Leben“ in eine Notwendigkeit der Hilfe für das Überleben um. Mehr noch in großen Populationen sieht er ein intelligentes Verhalten der gegenseitigen Hilfe und Unterstützung. Mit den intelligenten Tieren (intelligent animals) setzt Kropotkin um die Jahrhundertwende einen Schlüsselbegriff für die Konkurrenz gegenläufig für die gegenseitige Unterstützung ein.
“On the other hand, wherever I saw animal life in abundance, as, for instance, on the lakes where scores of species and millions of individuals came together to rear their progeny; in the colonies of rodents; in the migrations of birds which took place at that time on a truly American scale along the Usuri; and especially in a migration of fallow-deer which I witnessed on the Amur, and during which scores of thousands of these intelligent animals came together from an immense territory, flying before the coming deep snow, in order to cross the Amur where it is narrowest–in all these scenes of animal life which passed before my eyes, I saw Mutual Aid and Mutual Support carried on to an extent which made me suspect in it a feature of the greatest importance for the maintenance of life, the preservation of each species, and its further evolution.”[27]
(Auf der anderen Seite, wo immer ich Tierleben im Überfluss sah, wie zum Beispiel auf den Seen, wo Dutzende von Arten und Millionen von Individuen zusammenkamen, um ihre Nachkommen zu erziehen; in den Kolonien der Nagetiere; bei den Vogelwanderungen, die zu dieser Zeit im wirklich amerikanischen Maßstab entlang der Usuri stattfanden; und besonders bei einer Damwildwanderung, die ich auf dem Amur gesehen habe und bei der Dutzende von Tausenden dieser intelligenten Tiere aus einem riesigen Gebiet zusammenkamen, das vor dem kommenden Tiefschnee flog, um den Amur dort zu überqueren, wo er am engsten ist – In all diesen Szenen des Tierlebens, die vor meinen Augen vergingen, sah ich gegenseitige Hilfe und gegenseitige Unterstützung in einem Ausmaß, das mich darin verdächtigte, ein Merkmal von größter Bedeutung für die Erhaltung des Lebens, die Erhaltung jeder Art, zu sein und seine weitere Entwicklung.)

.

Claudia Reiche sieht nicht nur im Neo-Darwinismus, sondern auch in dieser neu interpretierten Erzählung vom Leben als kooperativem Miteinander bei Kropotkin wie bei Margulis eine ideologische Geste, mit der eine Fiktion des Wissens einhergeht, die zur biologistischen Grundlegung gesellschaftlicher Gestaltung angeboten wird. Die Intelligenz nimmt bei Kropotkin wie bei Margulis eine interessante Funktion ein. Denn während Kropotkin das Damwild in seinen Wanderungen als intelligent handelnd, weil sich gegenseitig unterstützend, beschreibt, wird bei Margulis das Bakterielle selbst zur Intelligenz, gleich einem „bakteriellen Gespräch“. Die Intelligenz wird nicht von einem zum anderen Bakterium durch Ansteckung übertragen, vielmehr wird die kollektive Verhaltensweise der Bakterien zur Emergenz von Intelligenz z.B. hinsichtlich der Klimakrise. In den Ökowissenschaften werden mittlerweile Lynn Margulis‘ Thesen zum Bakterium als breiter Konsens eingesetzt. Was bei Kropotkin und Margulis nicht zuletzt als eine antikapitalistische oder zumindest kapitalismuskritische Bewegung gegen ein vorherrschendes Wissen begonnen hat, wird als Ideologie herrschaftsförmig. – Was könnte das in der SARS-Cov-2-Pandemie heißen?

.

Brigitte Helbling, Antonia Labs, Leonardo Raab und Claudia Reiche sprechen mit anderen Worten und in anderer Reihenfolge über Die Mondmaschine und Menschen, Maschinen, Bakterien sowie vom Wissen und der Intelligenz in Zeiten der Pandemie, was sich im Video des Live Talk anhören und ansehen lässt. Das wenige, äußerst vage Wissen von dem neuartigen Corona-Virus – und diese Formulierung wird vermutlich jeder Virologe teilen können – entfaltet durch seine Einwirkungen auf das Volk bzw. die globale Bevölkerung gemäß des altgriechischen ἐπί epí ‚auf, bei, dazu‘ und δῆμος dēmos ‚Volk‘ als teilweise tödliche Erkrankung und Wissen eine kaum zuvor für möglich gehaltene Macht. So wären einige finanzpolitische Maßnahmen z.B. der Bundesregierung oder der EU noch vor kurzem als blanker Kommunismus bekämpft worden. Heute gelten sie als systemerhaltend. Wir befinden uns mitten in einer Umwertung aller Werte.

Torsten Flüh

Nur für kurze Zeit können der Live Talk und eine Aufzeichnung von Die Mondmaschine hier abgerufen werden:
Das Mondmaschinen-Team und Claudia Reiche:
Live Talk

MASS & FIEBER OST
Die Mondmaschine
mit Antonia Labs und Leonardo Raab
Regie: Niklaus Helbling
Text: Brigitte Helbling
Video: Georg Lendorff
Musik: Felix Huber
Kostüm: Genia Leis
Maske: Miria Germano
Artwork: Thomas Rhyner
Assistenz: Leonardo Raab
Produktion: Manu Wiessner
www.massundfieber.ch
19. und 20. Mai 2020
Zürich, Hörsaal, spartenübergreifende Koproduktion
Theater Winkelwiese, Universität Zürich, Helferei Kulturzentrum

Termine für die Aufführung der Lecture-Performance.

Mehr online von
HAUPTSACHE FREI
Festival der darstellenden Künste Hamburgs


[1] Vgl. zum Höhlengleichnis Torsten Flüh: Kunst-Nebel-Rebell. Zu Sebastian Hartmanns Woyzeck am Deutschen Theater mit Benjamin Lillie. In: NIGHT OUT @ BERLIN Dezember 31, 2014 12:00.

[2] Die Steuerung von Fenstern durch KI gilt in zweierlei Hinsicht. Einerseits sind die Fenster immer schon ein visuelles Design durch Programmierung, andererseits werden heute diverse Fenster an Bauwerken von Museen bis zum Eigenheim oder z.B. auf Schiffen digital verdunkelt oder geöffnet. Zeitfenster sind in digitalen Kalenderprogrammen mit Erinnerungen etc. programmiert.

[3] Jacob und Wilhelm Grimm: Das deutsche Wörterbuch: fenster.

[4] Zu Yuri Gagarins Flug und Raumanzug siehe auch: Torsten Flüh: Sehen, was Juri Gagarin sah. Christopher Rileys Film The first Orbit auf YouTube. In: NIGHT OUT @ BERLIN Mai 5, 2011 22:56 und ders.: Das Ding mit der Kleidung. Zur Buchvorstellung Von Kopf bis Fuß im Museum der Dinge. In: ebenda November 17, 2015 20:52.

[5] Robert-Koch-Institut: Geschichte: 1901-1910.

[6] Robert Koch: Untersuchungen über die Ätiologie der Wundinfectionskrankheiten. Mit 5 Tafeln Abbildungen. Leipzig: Vogel, 1878, S. 4. (Digitalisat)

[7] Carlo Ginzburg: Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Such nach sich selbst. In: Spurensicherungen. München: dtv, 1988, S. 78.

[8] Ebenda S. 87.

[9] Lynn Margulis, Dorion Sagan: What Is Life? New York: Simon & Schuster, 1995.

[10] Ebenda (Zitiert nach Wikiquote Lynn Margulis.)

[11] Ebenda S. 3.

[12] Jerry Coyne: Lynn Margulis disses evolution in Discover magazine, embarrasses both herself and the field. In: Why Evolution is true April 12, 2011 at 10:00.

[13] Robert-Koch-Institut: Tuberkulose.

[14] Robert-Koch-Institut: HIV/AIDS.

[15] Die Forschungen sind eingegangen in einen Roman und eine Stadtführung:
Torsten Flüh: Beriberi. Robert Kochs Reise um die Welt. Berlin: Kindle, 2012. (Amazon)
Berlin-Feuerland: Robert Koch.

[16] Robert-Koch-Institut: Pest.

[17] Sigmund Freud: Das Unheimliche. In: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften V (1919). S. 297. (Digitalisat)

[18] Nathanaels „vergucken“ wird relativ ausführlich und umständlich über den Optiker Giuseppe Coppola erzählt. Der preist nämlich Okuli für lateinisch Augen an: »Ei nix Wetterglas, nix Wetterglas! – hab auch sköne Oke – sköne Oke.« Diese Okuli sind als Brillen Augen und Fenster(!) zugleich. Und auch das „Taschenperspektiv“, das Nathanael Coppola abkauft, lässt sich als eine Art Fenster denken. Mehr noch der Verkäufer namens „Coppola“ (ver)koppelt beim Autor E.T.A. Hoffmann, einem Juristen, mehrere Wissensbereiche miteinander. Siehe DWDS: koppeln.  

[19] In der Fußnote 4 wendet Freud seine Analyse der „automatischen Puppe“ in „die Materialisation von Nathaniels femininer Einstellung zu seinem Vater in früher Kindheit“.

[20] Siehe zu Alexander von Humboldts Russlandreise: Torsten Flüh: Leben und Tod in der Platovskischen Steppe. Zu Alexander von Humboldt und Russland in der Botschaft der Russischen Föderation. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juni 25, 2015 21:04.

[21] Siehe Wikisource: Peter Kropotkin.

[22] Ebenda.

[23] Peter Kropotkin: Mutual Aid: A Factor of Evolution. New York: McClure, 1902. (Digitalisat)

[24] Gustav Landauer: Vorwort des Übersetzers. In: Peter Kropotkin: Gegenseitige Hilfe in der Entwickelung. Leipzig: Thomas, S. 6-7.

[25] Peter Kropotkin: Mutual … [wie Anm. 23].

[26] Die eigene Übersetzung weicht hier von der Gustav Landauers ab.

[27] Peter Kropotkin:  Mutual … [wie Anm. 23].

Von der Liebe zu Büchern und dem Hass

Lesen – Bücher – Dresden

Von der Liebe zu Büchern und dem Hass

Zur Buchpremiere von Ingo Schulzes Roman Die rechtschaffenen Mörder und dem Buchhandel in Zeiten der COVID-19-Pandemie

Als Ingo Schulze am 4. März 2020 im Plenarsaal der Akademie der Künste am Pariser Platz unterstützt von Ulrike Vedder und Thomas Rosenlöcher seinen Roman Die rechtschaffenen Mörder vorstellte, ahnte niemand, dass Angela Merkel 14 Tage später, am 18. März, nicht zuletzt die Schließung aller Antiquariate und Buchläden einleiten würde. Was würde Ingo Schulzes Protagonist, der Antiquar Norbert Paulini, zu dieser staatlichen Maßnahme sagen? Allein die Vorstellung einer „Kontaktsperre“, die Angela Merkel am 22. März in Abstimmung mit den Ministerpräsidenten der Länder verkündete, war undenkbar. Beim anschließenden Empfang unterhielt man sich noch über den Aufenthalt von Freunden in Santa Barbara wie Kalifornien überhaupt und das kontaktfreudige Leben dort. Am 20. März hat der Gouverneur von Kalifornien schon ein „stay-at-home order“ erlassen.

Die rechtschaffenen Mörder wird eröffnet als ein Bücherroman. Zu Zeiten der DDR ist das Antiquariat von Norbert Paulini ein Faszinosum und er Herrscher eines Königreichs aus Büchern. „Lesehungrige“ reisen selbst von den Ostseeinseln Rügen und Usedom an, um in das Reich der Bücher eingelassen zu werden. Paulini selbst lebt mit und von Büchern, in einer Bücherwelt, wie man sie sich zumindest noch vor dreißig Jahren oder so erträumt hat. Das Antiquariat ist eine Art Schutzraum, wenn Ingo Schulze aus dem ersten Kapitel vorliest. Und dann kommt es zu einem Medienwechsel, der sich mit einem Politikwechsel überschneidet oder umgekehrt. Ingo Schulze führt seinen Protagonisten in Dresden-Blasewitz liebevoll ein. Der Autor liebt Bücher. Thomas Rosenlöcher liebt ebenfalls Bücher und erinnert sich an das Leben in den Antiquariaten als Kulturgut. Im Plenarsaal sitzen mit u.a. Volker Braun und Ginka Steinwachs, Kerstin Hensel und anderen mehr ebenfalls nur Menschen, die gern lesen und Bücher lieben.

In Deutschland sind wegen Maßnahmen zur Abflachung der Infektionswelle – „Flatten the curve!“, wird jetzt auf Verkehrsinformationstafeln angezeigt – nicht nur Antiquariate und Buchhandlungen geschlossen, sondern auch Bibliotheken, Lesesäle und Bücherhallen. Allein in Berlin und Sachsen-Anhalt dürfen Buchhandlungen geöffnet bleiben, teilt der Börsenverein des Deutschen Buchhandels auf seiner Website mit. Das „Kulturkaufhaus“ Dussmann am Bahnhof Friedrichstraße hat trotzdem seit dem „21.03. bis auf weiteres geschlossen“. Was gerade stattfindet im Buchhandel, könnte selbst Norbert Paulini interessieren. Die Bundesregierung wird ungeahnte Mengen Geld selbst in den deutschen Buchhandel pumpen. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Stefan Kaufmann veröffentlicht am Sonntag, den 29.03. um ca. 17:00 Uhr einen Post mit der Formulierung: „Wichtige Korrektur bei Anträgen auf Soforthilfe: kein Verbrauch von Privatvermögen erforderlich!“ Es ist wahrhaftig eine Zeit der Umwertung aller Werte selbst im Buchhandel. Das geht über sozialistische Zeiten in Dresden-Blasewitz weit hinaus.

foto  ©gezett

Ingo Schulze sagt im Gespräch mit Ulrike Vedder über sein Erzählen, dass er nicht gewusst habe, wie sich sein Protagonist Norbert Paulini im Roman entwickele. Erzählen hat etwas mit Empathie zu tun, die Thomas Rosenlöcher auf dem Podium und am Rednerpult bestätigt. In einem sächsischen Idiom hält Rosenlöcher, der mittlerweile in Prenzlauer Berg lebt, eine Laudatio auf das feine erzählerische Gespür Schulzes. Selbst das Geräusch der Straßenbahn habe er beschrieben und sich unwillkürlich gefragt „Wie hieß der doch eigentlich“. Schulze sei als Erzähler ganz nah dran an der Geschichte. Man könne im Text finden, was nur er gespürt habe. Es geht Rosenlöcher anscheinend darum, eine Authentizität des Erzählten zu beschreiben. Allein schon das sächsische Idiom verleiht Rosenlöcher eine gewisse Autorität für die Einschätzung der Straßenbahnpassage.
„Plötzlich hörte er das Singen der Straßenbahn in der Kurve am Schillerplatz. Ihr Klang spannte sich tröstlich über den Nachthimmel. Seine Großmutter würde dasselbe Geräusch hören und an ihn denken. Norbert sah die Straßenbahnfahrerin, die aufrecht saß wie immer und ernst und konzentriert an den Kurbeln drehte. Sie war für alle da, die ganze Nacht. Aber nur ihm nickte sie zu. Er sollte nun einsteigen, sie würde ihn zur Großmutter bringen.“[1]

foto  ©gezett

Mich erinnert die Erzählung vom Antiquariat und den Büchern ein wenig an eines von Friedrich Kröhnke mit dem Titel Ein Geheimnisbuch[2], das Ingo Schulze sicher nicht gelesen hat. Es ist auch ganz anders geschrieben, weil Kröhnke mit den Büchern nicht vom Aufstieg und Fall des Antiquars Norbert Paulini erzählen will oder muss. Vielmehr erzählt er von seiner Büchersammelleidenschaft, die er schon in frühester Jugend mit seinem Bruder Karl entwickelte. Im Geheimnisbuch reisen Alexander und Abel gar bis nach Hamburg, um Antiquariate zu durchstöbern. Wenn ich mich hier zu einer Abschweifung und Kontextualisierung hinreißen lasse, dann wegen des Erzählens von Büchern und Antiquariaten. Das kann nämlich unterschiedlich ausfallen. Von Büchern und Antiquariaten in Büchern zu erzählen, hat fast immer Aussicht auf Erfolg, gelesen zu werden. Deshalb hier nun ein Einschub aus Ein Geheimnisbuch:  
„In Hamburg konzentriert sich die Arbeit auf gewisse Ecken der Grindelallee, aber auch auf jenen scheinbar schon immer existierenden Pavillon am U-Bahnhof Stephansplatz nahe Planten un Blomen, um den auch Hubert Fichte herumstreifte: Fundgrube für Bücherfreunde. Da gibt es eine ganze Wand von Reisebeschreibungen aus dem 20. Jahrhundert, in denen die Wüsten noch schwarz und weiß sind und die Welt wunderschön.“[3]  

foto  ©gezett

Das Antiquariat als Buchhandlung hatte – und hat es bisweilen heute noch – einen besonderen Zauber, der vom Geheimnis der Bücher ausgeht. Dabei handelt es sich nicht nur um alte Bücher, sondern um benutzte, bereits von einer oder mehreren Menschen gelesenen Büchern. Es hat fast die Intimität einer Vereinigung durch‘s Lesen. Bei neuen Büchern ist das nicht so. Die Gerüche von alten Büchern und ihr Äußeres bekommen etwas Voyeuristisches. Ingo Schulz beschreibt das Antiquariat in der Brucknerstraße von Dresden-Blasewitz nicht nur als Ort des Lesens, vielmehr als Lebensraum mit Büchern.
„Ob die Bücher in den drei schönsten Zimmern Norbert Paulinis wohnten oder ob er sich bei den Büchern niedergelassen hatte, blieb unentschieden. Die Bücher und der Antiquar lebten zusammen, am Tag und in der Nacht, und da vor den Fenstern zur Straße Ahornbäume standen und vom Hof aus eine große Kastanie das Haus beschirmte, verloren sich die Tages- und die Jahreszeiten in einem Halbdunkel, das jederzeit das Licht einer Leselampe rechtfertigte.“[4]

foto  ©gezett

Das Verhältnis zu den Büchern und zur Macht, vielleicht gar der Macht des Imaginären, wie es Ulrike Vedder mit Michel Foucault bei der Buchpremiere nennt, unterscheidet sich z. B. von der erotischen Begeisterung für Bücher der Gebrüder Alexander und Abel Amelung. Die andere Seite der Bibliophilie nimmt der Antiquar ein. Die alten Bücher verleihen Paulini Macht, die er genießt. Er vermag das Begehren nach den anderen Büchern, nach dem anderen Wissen jenseits der Nomenklatura zu kontrollieren. Ingo Schulze beschreibt von Anfang an Machtverhältnisse, wenn es heißt:
„Norbert Paulini ähnelte einem Kirchendiener oder Museumspförtner, wenn er den Türspalt mit seinem Körper schützend, den Besucher über die Brille hinweg musterte und sein »Sie wünschen?« in Verlegenheit brachte oder gar zum Unbefugten degradierte, der die Parole nicht wusste. Erkannte der Herrscher über die Bücher einen denn nicht? Hatte er die gemeinsamen Gespräche vergessen?“[5]

foto  ©gezett

Welches Gespür für Aktualität muss ein Autor haben, um in seinem gerade veröffentlichten Buch den vor noch ein paar Wochen gänzlich aus dem Gebrauch gekommenen, abwegigen Begriff Hamsterkäufe in seinem Roman über einen Antiquar zu verwenden? „Hamsterkäufe“ ist binnen Tagen zu einem Zeitwort geworden. Die allererste Einrichtung des Antiquariats „sah aus, als hätten die Bewohner Hamsterkäufe getätigt.“[6] Sehen Antiquariate nicht immer nach „Hamsterkäufe(n)“ aus? Plötzlich sind da die Aufnahmen der Buchhandlung Calligrammes von Fritz Picard im Film Paris Calligrammes von Ulrike Ottinger.[7] Die Genese des Antiquariats wird von Ingo Schulze in die Nähe von Hamsterkäufen gerückt. Das gibt einen Wink auf die Hamsterkäufe von Klopapier, Nudeln, Tomatensoßen und Fertiggerichten, wie sie auch am gestrigen Montag wieder ansatzweise bei Aldi zu beobachten waren. Hamsterkäufe werden nicht getätigt, weil es zu Versorgungsengpässen kommt, weil womöglich gar Hunger droht. Aber warum dann? Geht es um einen Hygienewunsch? Geht es um Kontrollwünsche im Kontrollverlust? Oder gibt das Klopapierhamstern einen Wink auf eine Regression in die anale Phase von Kleinkindern? Hamstern und eine einzigartige Ordnung, die sich auf keinen Fall verändern darf wie bei Norbert Paulini, bedingen einander.
„Was die Regale nicht fassen konnten, wuchs an den Wänden dicht an dicht in Stapeln empor. Es sah aus, als hätten die Bewohner Hamsterkäufe getätigt. Doch anstelle von Konserven, Zucker- und Mehltüten horteten sie Bücher. Die Registrierkasse thronte auf dem Nähmaschinentisch wie ein selbstherrlicher Bonze.“[8]

Es sind derartige Formulierungen, durch die nicht etwa eine ebenso imaginäre wie harmonische Welt der antiquarischen Bücher aufgebaut wird, vielmehr kontaminiert Ingo Schulze das Antiquariat und den Antiquar mit einem Begehren nach Macht, weil seine Welt eine vermeintliche Alternative zum Machtapparat bilden soll. Dorothea Paulini stirbt nach der Geburt ihres Sohnes, um ihrem Mann und ihrem Sohn ein Antiquariat in Kartons zu hinterlassen. Klaus Paulinis „Traum“ besteht nicht zuletzt darin, „als Gehilfe einer stillen und sauberen Arbeit nachzugehen, statt sich einer lärmenden Maschine zu verschreiben, die seinen Körper Tag für Tag von den Sohlen bis in die Haarwurzeln durchdrang und ihm den verbrauchten Odem einer von Schmieröl gesättigten Luft ins Gesicht blies“.[9] Das Antiquariat wird insofern als eine Gegenmaschine formuliert. Doch genau diese imaginäre Formation einer Maschine wird sich später gegen Norbert den Sohn wenden. Man kann in der Exposition des Romans also fragen, was die Maschine und ihr imaginärer Gegenentwurf ausmacht.

foto  ©gezett

Der „Dreher“ Klaus Paulini imaginiert (s)eine Maschine als eine, von der er träumt, ihr zu entkommen. Wir wissen nicht, ob und wie intensiv Ingo Schulze Franz Kafkas In der Strafkolonie gelesen hat.[10] Kafkas Maschine wird genauer beschrieben. Dennoch lässt sie sich mitlesen. Die „lärmende Maschine“ ist zumindest für Klaus Paulini in den 50er Jahren in Dresden eine andere imaginäre Größe als für den Maschinisten bei Kafka. Doch das Durchdrungenwerden von der Maschine ähnelt jenem stark. Die Maschine ohne Namen und genauere Funktion „(durchdrang) seinen Körper Tag für Tag von den Sohlen bis in die Haarwurzeln und (blies) ihm den verbrauchten Odem einer von Schmieröl gesättigten Luft ins Gesicht“. Anders gesagt: die imaginäre Maschine verwandelt den Körper und das Ich in eine ebensolche oder in ihren „Gehilfe(n)“, wie es Schulze nennt. Die auslöschende Transformation des Menschen in eine Maschine gehört nicht erst seit Kafka zu den Schrecken der Moderne. In der Produktionsästhetik des Sozialismus in der Prägung der DDR wird der Schrecken in ein Heilsversprechen umgewandelt. Doch nicht der Maschinist beherrscht die Maschine, vielmehr muss er sich ihr „verschreiben“ bzw. unterwerfen.

Das Verhältnis von Antiquariat und Maschine bildet insofern eine Ausgangslage für die Erzählung, als es als Machtverhältnis formuliert wird. Norbert Paulini wird bereits als „Neugeborene(r)“ ganz dem Antiquariat verschrieben. Der 1953 geborene Norbert hatte quasi keine andere Existenzmöglichkeit, als den alten Büchern und dem wuchernden Antiquariat verschrieben zu werden. Warum setzt Ingo Schulze die Platzierung seines Protagonisten derart stark in Szene? Geht es um einen Charakter? Oder geht es um eine Schuldfrage, die von vornherein entschieden wird? Es gibt für Norbert Paulini so gut wie kein Entkommen. Er wird lesen müssen, weil er quasi gleich der Matratzen ohne Bettgestell auf den Büchern abgelagert wird. Fluch oder Segen? Macht oder Ohnmacht? Man könnte das eine Erzähllogik oder einen Determinismus durch Sozialisation unter den Randbedingungen der DDR nennen.
„Klaus Paulini verkaufte zum Leidwesen seiner Mutter die Bettgestelle. Fortan lagerten die Matratzen auf Büchern. Auch der Korb mit dem Neugeborenen ruhte auf einem Unterbau gleichen Materials.“[11]   

foto  ©gezett

Was heißt lesen für Norbert Paulini? Im fortgeschrittenen Jugendalter des VI. Kapitels will er „Leser werden“.[12] Die rechtschaffenen Mörder ist nicht zuletzt ein Roman über das Lesen, insbesondere das von Büchern. Wie liest er? Was liest er und was soll er lesen bzw. studieren? Das Lesen wird als brotlose Profession vorgeführt und von Vater und Sohn mit der Nachbarin Frau Kate diskutiert. „Frau Kate befragte die Karten.“ Auch das lässt sich als eine Art des Lesens bedenken. Vielleicht ist es die Lesepraxis, die eben die Nachbarin, aber nicht Norbert anwendet. Denn das Kartenlesen gibt keine eindeutigen Antworten, sondern zutiefst widersprüchliche, nach denen sich bei Schulze zumindest nicht entscheiden lässt. Die „Klassenlehrerin“ bietet da schon eher ein berechenbares Lesen an, das im produktionsorientierten Sozialismus der DDR Macht verspricht. Er „beugte sich der Entscheidung wie einem Urteil“, heißt es. Die höchste Macht besteht darin als „BMSR-Techniker“ die Maschinen lesen und steuern zu können. Norbert wird „als Kind eines Arbeiters und als Halbwaise das Privileg (eingeräumt), eine Ausbildung zum BMSR-Techniker mit Abitur zu beginnen“.
„»Betriebs-, Mess-, Steuer- und Regeltechnik«, klärte sie ihn auf. »Danach steht dir die Welt offen.«“[13]

Lesen heißt demnach algorithmische Entscheidungen treffen. Lange bevor das Internet zugreift, hat sich Norbert Paulini auf Zeit qua seiner Ausbildung als „BMSR-Techniker“ den Algorithmen verschrieben. Die heißen noch nicht so, aber sie folgen der algorithmischen Maschinenlogik. Lesen und Algorithmen werden insofern miteinander verkoppelt. Betreiben, messen, steuern, regeln läuft immer auf binäre, Entweder-Oder-Entscheidungen hinaus. Nichts könnte dem Wunsch „Leser (zu) werden“, ferner liegen. Nichts könnte der Ambiguität des Kartenlesens ferner sein. Es gehört zu Ingo Schulzes Erzähltalent, mit wenigen Formulierungen gravierende Unterschiede aufzureißen. Norbert positioniert sich schließlich wie sein Vater gegen die Maschine. Denn ihn „bestürzte (…) die Vorstellung, sein Leben fortan zwischen Apparaten in Betrieben zu vertrödeln“. Er schmeißt die Ausbildung hin und wird Gefreiter und trifft einen Kameraden in der Bibliothek, der zwei Bücher ausleiht.
„»Wie kommen die denn hierher?«, fragte der Soldat und legte die beiden Bücher vor ihm ab. Das eine, von einem polnische Autor namens Gombrowicz, hatte einen unaussprechlichen Titel und noch nie ausgeliehen worden, das andere, das schlicht »Das Schloß/Der Prozeß« hieß und von Kafka stammte, trug zwei Ausleihstempel.“[14] 

Während der „Soldat“ dem Lesen ein geradewegs analytisches Interesse an Erzählpraktiken entgegenbringt, bleibt Norbert Paulini erstaunlich defensiv, obwohl er sich zu einer „Ausbildung zum Buchhändler“ entschlossen hat. Zum Abschied schenkt er dem Soldaten Gräbendorf nicht etwa Kafka oder Gombrowicz, sondern „ein antiquarisches Exemplar von Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg, was freilich literarisch weit zurückbleibt. Lesen, so lässt sich mit dem Zitat aus den Wanderungen sagen, heißt für Norbert Paulini vor allem ein Wiederlesen, ein Spiegeln und Kennen. Das Fontane-Zitat lässt sich durchaus als charakteristisch verfehlt beschreiben. Denn Fontane formuliert sein Lesen als kennen und „heimisch“. Fontane beschreibt und imaginiert Schloß Oranienburg als Ort seines Wissens. Die Wanderungen sind immer auch Wissensverarbeitung und Andeutung eines Gemeinwissens. Es gibt bei Fonatane häufig in den Wanderungen eine Wissensgeste des Wir.
„»Wir lieben das Stück, aber wir kennen es, und während die Sonne hinter Schloß und Park versinkt, ziehen wir es vor, in Bilder und Träume gewiegt, auf >Schloß Oranienburg< zu blicken, eine jener wirklichen Schaubühnen, auf der die Gestalten jenes Stücks mit ihrem Haß und ihrer Liebe heimisch waren.«[15]    

Das Jahr 1989 und der 9. November werden für Norbert Paulini zu einer ambivalenten Erfahrung von Ausbleiben seiner Kunden im Antiquariat und politischen Neuerungen, die er begrüßt. Plötzlich passiert ihm auf einem Spaziergang ein Ausbleiben der Sprache, das mit einer Leseerfahrung beschrieben wird. Die Leseanordnung korrespondiert durchaus mit Fontanes Wahrnehmung und Lesen als Wissen von sich selbst. Paulini nimmt sich mit einem Mal als „»Opfer«“ wahr.
„Doch plötzlich, nur für einen Augenblick, vor sich das »Blaue Wunder«, um ihn die rauchige Luft und das Gekreisch einer einzelnen Möwe, wusste Norbert Paulini nicht mehr, wer er war. Es besaß keine Sprache, keinen Wunsch, kein Ziel. Er lief weiter, er schob den Wagen mit dem Kind, ein sanftes Holpern – und schon war es wieder vorbei. Früher war ihm das nur beim Lesen widerfahren.“[16]   

foto ©gezett

In gewisser Weise erodiert der Roman als Erzählung gegen Ende des zweiten Teils. Während zunächst vom Antiquariat und dem Lesen erzählt wird, wechselt Ingo Schulze nun die Perspektive auf (s)eine Auseinandersetzung mit Norbert Paulini. Es geht nun mehr um das Schreiben eines Romans in Auseinandersetzung mit dem Antiquar und seinem apodiktischen Wissen von den Büchern und der Literatur. Ingo Schulze blendet den Medienwechsel weitgehend aus. Was sich noch im ersten Teil als Frage des Lesens ankündigte, wird im zweiten Teil kaum noch komponiert, sondern in einer Art Bericht erzählt. Dabei ist Pegida zutiefst in einem Medienwechsel verstrickt, der nicht thematisiert wird. Bei Pegida und AfD geht es ausschließlich ums Erzählen, um Erzählungen und Gegenerzählungen, ums Imaginäre, um die Anderen und Wir, ums Internet und Apps. Doch das findet bei Ingo Schulze enttäuschender Weise keine Berücksichtigung.
„Ich hatte diesem Dresdner ein Denkmal setzen wollen, den Westlern zeigen, wo wahre Bildung lebte, und nebenbei auch meine Herkunft adeln. Ich hatte uns Ostlern die eigene Geschichte bewusst machen wollen. Aber ich hatte Paulini verkannt, verkannt, wozu ihn das, was wir an ihm bewundert hatten, prädestinierte: zum Herrschaftswahn, zur Überhebung, zum Blick von oben herab. Ich hatte ein Manuskript in den Sand gesetzt, aus Liebe zu Lisa, aus der Hoffnung auf eine Kontinuität meines Lebens. Aber auch ich war der Hybris erlegen. Denn was sonst als Selbstüberhebung und Anmaßung war meine Hoffnung gewesen, mein Schreiben für etwas einsetzen, für etwas benutzen zu können, auch wenn dieses Etwas die Liebe war. Was für ein Irrtum, was für ein Verrat!“[17]  

foto  ©gezett

Ist die Frage, ob Norbert Paulini zu einem Reaktionär oder Revoluzzer geworden war, eine Medienfrage? „Die Medien, also die regionalen“, werden im Dritten Teil mit Nachrufen auf Norbert Paulini erwähnt. Doch das Lesen wird nicht im Kontext der Medien bedacht. Es gibt Über-Neunzigjährige, die fröhliche Urständ im Internet feiern. Das wird weniger beachtet und thematisiert. Man bekommt es eher nur vom Hörensagen mit. Doch eben diese Über-Neunzigjährigen oder etwas Jüngeren genießen im Netz eine hohe Glaubwürdigkeit mit Erzählungen aus ihrer Kindheit von Adolf und ich. Meistens haben diese Menschen ihre Meinungen und Ansichten seit 70 und mehr Jahren nicht verändert. Aber sie sind im Internet auf eine andere Plattform getroffen, auf der sie bereitwillig und begierig gehört und gelesen werden. Der Medienwechsel, die Aufmerksamkeitswünsche und Leseweisen hätten insofern in einem Roman mit dem Anspruch auf Darstellung eines Dresdner Bildungsmilieus wie auch immer erzählt werden müssen. Es ist eben ganz und gar eine Herausforderung des Erzählens und der Erzählweisen. Selbst Bücher und gerade der Buchmarkt existiert heute insbesondere über das Internet.

Torsten Flüh

Ingo Schulze
Die rechtschaffenen Mörder


[1] Ingo Schulze: Die rechtschaffenen Mörder. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2020, S. 58.

[2] Friedrich Kröhnke: Ein Geheimnisbuch. Zürich: Ammann, 2009. (Siehe auch: Torsten Flüh: Der Mythograph. Ein Werkaufriss zum 60. Geburtstag des Schriftstellers Friedrich Kröhnke. In: NIGHT OUT @ BERLIN März 9, 2016 17:31.)  

[3] Ebenda S. 137.

[4] Ingo Schulze: Die … [wie Anm. 1] S. 12.

[5] Ebenda S. 10.

[6] Kapitel II hier ohne Seitenzahl, weil ein dummer EPUB-Reader ohne Seitenzahlen benutzt wird. EPUB-Reader, stellt der Blogger fest, sind nichts für ihn. Bücher kann und will er nicht ohne Seitenzahl lesen.

[7] Siehe: Torsten Flüh: Une Éducation sentimentale et imaginaire. Ulrike Ottinger erhält die Berlinale Kamera und zeigt Paris Calligrammes als Weltpremiere auf der Berlinale 2020. In: NIGHT OUT @ BERLIN 25. Februar 2020.

[8] Ingo Schulze: Die … [wie Anm. 6] Ebenda.

[9] Ebenda.

[10] Vgl. zur Maschine: Torsten Flüh: Kafkas Schreibmaschine. Die Oliver 5-Schreibmaschine und Franz Kafkas In der Strafkolonie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 15. August 2019.

[11] Ingo Schulze: Die … [wie Anm. 6] Ebenda.

[12] Ebenda Kapitel VI.

[13] Ebenda.

[14] Ebenda Kapitel VII.

[15] Ebenda.

[16] Ebenda Kapitel XIX.

[17] Ebenda Teil II.

Ratten auf dem Dachboden und in der Wissenschaft

Realismus – Ratten – Rhetorik

Ratten auf dem Dachboden und in der Wissenschaft

Zu Bridge Marklands ratten in the box von Gerhart Hauptmann mit Handpuppen in der brotfabrik

Die Aufführung von ratten in the box findet am 15. Februar auf dem Dachboden in der brotfabrik am Caligariplatz statt. Das passt. Denn Schauplatz der „Berliner Tragikomödie“ Die Ratten von Gerhart Hauptmann aus dem Jahr 1911 ist das „Dachgeschoß einer ehemaligen Kavalleriekaserne zu Berlin“, das als „Theaterfundus“ des „Ex-Theaterdirektor(s) Harro Hassenreuter“ genutzt wird.[1] Bereits das Deutsche Wörterbuch kennt den Gebrauch des Begriffs dach vor allem „(i)n niedriger sprache für kopf, hirnschädel“ und Friedrich Schiller dichtete „das mädel ist schön, schlank, führt seinen netten fusz. unterm dach mags aussehen wies will“.[2] Ferner kommt um 1900 das Wort Dachschaden nicht nur für ein kaputtes Dach, vielmehr noch für „ist nicht ganz richtig im Kopf“ in scherzhaften Gebrauch.[3] Dabei ist auffällig, dass der „Dachschaden“ um 1900 mit der fortgeschrittenen Herausbildung der Neurowissenschaften einsetzt und nicht etwa als Schaden eines Hausdaches vorher aufkommt.

Bridge Markland hat mit Nils Foerster Gerhart Hauptmanns Theaterstück, das mit dem Theaterdirektor nicht zuletzt selbst vom Theater und seinen Konzepten handelt, den Titel wörtlich genommen. Denn schon im Schaukasten wird mit einem Zettel in Alarmorange und einem Ratten-Piktogramm gewarnt: „Achtung Ratten!“ Ratten galten und gelten zugleich als ebenso possierliche wie provozierende Haustiere z. B. von Punks. Überall wird in der brotfabrik vor der Tür zur Bühne auf dem Dachboden vor „Ratten“ gewarnt. Warum nannte Gerhart Hauptmann sein schon 1911 hoch erfolgreiches Stück Die Ratten? Wen oder was sollen die um 1900 keinesfalls als possierlich empfundenen Ratten bezeichnen? Ratten werden zwar als Schädlinge im Stück erwähnt, doch dafür müssten sie nicht gleich den Titel geben. Oder empfand die sogenannte Bessere Gesellschaft die verarmten und ungebildeten Menschen in der „ehemaligen Kavalleriekaserne“ am Alexanderplatz als Ratten? Auf der Dachbodenbühne sind mehrere Ratten als Puppen angebracht.

Bridge Markland und Nils Foerster haben für ihre One-woman-und-viele-Handpuppen-Inszenierung regelrechte Rattenstudien am Alexanderplatz betrieben. Es gibt unter dem Fernsehturm fast so viele Ratten wie Menschen, die allerdings weniger sichtbar sind. Rattus rattus, die gemeine Hausratte, flieht den Menschen nicht, vielmehr sucht sie dessen Nähe, weil sie selten sichtbar von seinen Vorräten und Abfällen lebt. Hat Gerhart Hauptmann mit dem Stück gar eine Rattenkomödie geschrieben, so wie Heinrich von Kleist seine Penthesilea eine „Hundekomödie“ auf einem „Komödienzettel“ nannte?[4] Hat er sich mit dem Titel gleich der Metalepsis als rhetorische Praxis einen schlechten Witz erlaubt?[5] – Wir wissen es nicht. Aber die Frage betrifft den „Theaterrealismus“ wie es Hermann Korte nennt, wenn er in seiner Einführung zu Deutsche Literatur, 20. Jahrhundert auf Die Ratten zu sprechen kommt.
„Das Erfolgsstück spielt auf dem Dachboden eines Berliner Mietshauses und skizziert mit sprachlicher Prägnanz ein kleinbürgerlich-proletarisches Milieu. Indem er einen Nebenhandlungsstrang einbezieht – Theaterdirektor Hassenreuther unterrichtet einen Schauspielschüler und räsonniert über das Pathos verstaubter Klassiker – ironisierte Hauptmann tradierte, vom Illusionstheater bestimmte Aufführungsstile und legitimierte den eigenen, auf die soziale Wirklichkeit rekurrierenden Theaterrealismus. Das moderne Theater wurde zu einem Ort der Gesellschaftskritik und die Bühne zum unverklärten Bild einer tristen sozialen Realität.“[6]

Pop, Rock und Punk etc. kommen in Bridge Marklands und Nils Foersters Version der „Berliner Tragikomödie“ wieder als Montage, die den Dramentext verstärken, pointieren, aktualisieren und queeren, zur Anwendung. Plötzlich springt ein anderer Sinn aus der Montage, wenn etwa Direktor Hassenreuter im Dritten Akt zu seiner Tochter Walburga energisch sagt: „Du bist kein Mann.“ Und diese daraufhin mit „Wenn ich ein Junge wär. Das wäre wunderschööön…“ von Rita Pavone aus dem Jahr 1963 antwortet. Das vermeintliche Kinderlied, das Rita Pavone mit 18 Jahren sang, wird plötzlich queer als imaginierter Geschlechtswechsel. Im Playback singt Bridge Markland dann mit blonder Lockenperücke als Walburga die väterliche Ermahnung in Grund und Boden. Bereits Hauptmann hat Die Ratten im Übergang zum 20. Jahrhundert aus verschiedenen Genres montiert, wie Korte dargestellt hat.
„Das Stück vermischt Elemente der Groteske, des Trauerspiels und des Komödiantischen und experimentiert mit neuartigen Formen der Simultanbühne. Allerdings beließ Hauptmann die dramaturgische Grundstruktur weitgehend im tradierten Rahmen, arbeitete also mit Akt- und Szenen-Einteilungen und konzipierte die Handlung aus einer Abfolge von Dialogen, die auf einen pointierten Schlusspunkt – den Selbstmord der Heldin – zuläuft.“[7]

Wieviel „soziale Realität“ und Realismus stecken in der „Berliner Tragikomödie“? Elisabeth Strowick und Ulrike Vedder haben in Wirklichkeit und Wahrnehmung Neue Perspektiven zu Theodor Storm eine methodologische Diskussion zu „aktuelle(n) Ansätze(n) zur Realismus-Forschung, welche die realistische Literatur in epistemischen Formationen der Moderne situieren“, angestoßen.[8] Daran anknüpfend lässt sich die Frage formulieren, wie Gerhart Hauptmann sein Versprechen einer „Berliner Tragikomödie“ generiert. Mit dem Dachboden als Schauplatz des eröffnenden und die Handlung situierenden Ersten Aktes, gibt Hauptmann einen Wink auf mehr als den Ort in Berlin – Alexanderstraße 10/Ecke Voltairestraße – und den historischen Fall „von Kinderunterschiebung“ im Jahr 1907. Denn Ratten sind nicht erst seit Wilhelm Buschs humoristischer Dichtung Die kluge Ratte von 1868 im Münchner Bilderbogen literarisch ver- und bearbeitet worden.[9] Vielmehr noch machen Ratten um 1900 eine Karriere als Labortiere zum Beispiel für die Krebsforschung.[10]

Um 1910 findet insbesondere in der medizinischen Forschung eine Umwertung der Ratten statt. Sie werden als empirische Referenz für das Wissen vom Zellwachstum, insbesondere Tumoren aufgewertet und im Dienst der Wissenschaft vom Menschen verbraucht. In der Berliner Klinischen Wochenschrift erscheinen 1910 zwei „Sonderdrucke“ zur Tumorfoschung mit Ratten von Florentin Medigreceanu, der am Imperial Cancer Research Fund London forschte.[11] Bemerkenswert sind die beiden „Sonderdrucke“ insofern, als das „Organ für praktische Ärzte. Mit Berücksichtigung der Medizinalverwaltung und Medizinalgesetzgebung“ nach oberflächlicher Sichtung ansonsten keine derartige Grundlagenforschung mit Ratten veröffentlichte. In seinem zweiten Aufsatz beschreibt Medigreceanu das Verhältnis von Tumorwachstum geimpfter Ratten und Gewichtzu- oder -abnahme durch Fütterung, ohne zu einem eindeutigen Ergebnis zu kommen. „Ob nun der Tumor sich direkt aus den eingeführten Nährsubstanzen bildet, oder ob die Ernährungsverhältnisse zwischen Organismus und Tumor kompliziertere sind, wäre es beim jetzigen Stand des Tatsachenmaterials verfrüht, entscheidend zu diskutieren.“[12] Dennoch machen beide Aufsätze den Einsatz von Ratten in der Krebsforschung zur Ausbildung des Wissens seit geraumer Zeit und zeit-räumlicher Nähe zur „Berliner Tragikomödie“ lesbar. Auch am Paul-Ehrlich-Institut für Immunitätsforschung in Berlin wird nach Medigreceanu mit Ratten experimentiert.[13]

Erst Mitte des 18. Jahrhunderts hatte eine Systematisierung der Ratte in der Zoologie durch Carl von Linné in seinem Systema Naturae (1758) unter den „Mammalia glires mus“ als „Rattus“[14] bzw. in der „IV. Ordnung“ der „Säugende(n) Thiere“ als „Rattenartige, oder nagende Thire. Glires.“ stattgefunden.[15] Entscheidend für die morphologische Ordnung ist das Gebiss, wenn es heißt: „Die Vorderzähne. Oben und unten zwey Schneidezähne. (…) Die Backenzähne sind gar nicht vorhanden. Die Füsse sind mit Klauen besetzt. Der Gang ist springend. Die Lebensart bestehet im Abnagen der Rinden und Früchte.“[16] 1804 findet mit Gotthelf Fischer von Waldheim eine weitere morphologische Ausdifferenzierung zu Rattus Rattus statt.[17] Bereits die Systematisierung der Ratte zu „nagende(n) Thiere(n)“ hatte das Wissen von der Ratte verschoben. Denn noch 1682 hatte Johannes Riemer unter dem Pseudonym „Lorindo“ an der Schnittstelle von politischer und unterhaltenden Literatur Der Politische Ratten und Mäuse Fänger „Maenniglich zu Verkürzung der Melancholischen Stunden und zu Nutz auch Besserung aller Aufschneider, Großthuer, Lügner, Land und Leut betrüger und anders dessen Gesellschaftern durch die Feder vorgestellt“ veröffentlicht.[18]  

Die Ratten kursieren insofern schon vor ihrer zoologischen Systematisierung auf vielfache Weise in der Literatur. Johannes Riemer verknüpft die früh mittelalterliche Sage des Rattenfängers von Hameln mit einem politischen Traktat gleichnishaft und adressiert es gegen solche „Personen“, die „manchmal unvermercket etwas darinnen () finden/ dadurch sie sich selbst verfärben/ und schämen/ weil sie die application müssen auf sich machen/ und können alsdenn ihre Gemüther ohne alle Mühe und leichter gewonnen werden/ als ob man mit Knütteln unter sie würffe“.[19] Anders gesagt: Rattenfänger wären jene politischen Akteure, die die Ratten in betrügerischer Absicht auszurotten versprechen. Zwischen dem Wunsch nach „Ausrottung von Ratten“[20] und ihrer Nutzung als Labortiere in der medizinischen Forschung pendelt die Wahrnehmung der bisweilen unaussprechlichen und dann nur als „Nager“ umschriebenen Tiere hin- und her. Bei Wilhelm Busch wird Die kluge Ratte 1868 auf ebenso humoristische wie kritische Weise zum Träger einer praktischen Intelligenz.
„Die kluge Ratte
          Es war einmal eine alte graue Ratte,
Die, wie man sieht, ein Faß gefunden hatte.
          Darauf, so schaut die Ratte hin und her,
Was in dem Fasse drin zu finden wär‘.
          Schau, schau! Ein süßer Honig ist darein,
Doch leider ist das Spundloch viel zu klein.
          Indes die Ratten sind nicht gar so dumm,
Sieh nur, die alte Ratte dreht sich um.
          Sie taucht den langen Schwanz hinab ins Faß
Und zieht ihn in die Höh‘ mit süßem Naß.
          Nun aber ist die Ratte gar nicht faul
Und zieht den Schwanz sich selber durch das Maul.“[21]

Der Titel des Berliner Dramas aus Tragödie und Komödie, „Groteske und Trauerspiel“, Die Ratten, lässt sich als durch Literaturen zwischen Wissenschaft und Witz hoch kontaminiert beschreiben. Wenn das schwangere Dienstmädchen Pauline Piperkarcka in der Eröffnungssequenz des ersten Aktes androht, sich „Vitriol“ zu kaufen, um dem Vater ihres Kindes die „janze verfluchte hübsche Visage kaput (zu brennen)“[22], kommt ein „Mittel“ zur Sprache, das schon 1800 in einem Ratgeber zur Schädlingsbekämpfung wie „Ratten“ eines namenlosen Verfassers aus dem Englischen ins Deutsche übertragen wird. „Als ein Liebhaber der Chemie“ sei der Verfasser „seit einem Jahr (…) mit Umarbeitung des Vitriols insonderheit beschäftigt gewesen“.[23] Dabei erweist sich die Bezeichnung „Vitriol“ als ebenso unpräzise wie dehnbar. Pauline imaginiert „Vitriol“ als eine Säure, mit der sie sich für den Betrug ihres untreuen Liebhabers rächen will. Doch in der Chemie gilt Vitriol als „veraltete Bezeichnung“ für z. B. „Salze der Schwefelsäure“.[24] Der Wunsch der Auslöschung des Geliebten durch ein Säureattentat auf sein Gesicht bringt unterdessen ein vages psychoanalytisches Wissen ins Spiel. Das Bild, das Pauline sich von ihrem Geliebten als Objekt des Begehrens gemacht hat, soll ausgelöscht werden, damit sich auch niemand anderes mehr in ihn verlieben kann.

Bridge Markland und Nils Foerster verschieben unterdessen den Theaterrealismus Gerhart Hauptmanns, der sich mit dem Titel aus sehr viel mehr als „realistischen“ Ratten auf dem Dachboden einer Armenunterkunft um 1900 in Berlin speist. Das Wissen von den Ratten, das mit dem Titel versprochen wird, gibt immer schon einen Wink auf ein vielfältiges und mehrdeutiges durch die literarischen Bezugsmöglichkeiten. Mit den Handpuppen (Puppen und Kostüme: Larissa Jenne und Eva Garland) und vor allem mit der Popmusik spielt Bridge Markland auf ein noch ganz anderes Wissen an, das der Musikgeschichte. Sie setzt nicht zuletzt ein profundes, genreübergreifendes Musikwissen aus ca. 145 Musikstücken ein von Peter Alexander Ich will dir helfen von 1971 über Nina Hagens legendärer Naturträne von 1978 und Rio Reisers Bye bye Junimond von 1986 bis Schrei von Tokio Hotel aus dem Jahr 2005. Die Musikzitate erzeugen auf vielfältige Weise einen anderen Realismus als Soundtrack. Dabei sind die Textassoziationen ebenso artifiziell wie expressiv, wenn Pauline in ihrer Not und Wut in Metal-Manier „Du bist schuld, du bist schuld an allem…“ der Rockband Knorkator von 2011 mehr grölt als singt.    

© Mauela Schneider, photogräphin

Die Handpuppen sind fast fragmentarisch für dieses Stück. Sie sind mehr angedeutet als gänzlich ausgebildet, wie beispielsweise Frau Johns grobschlächtiger Bruder Bruno oder der Mauerpolier John, der nur einen Arm hat und kopfüber neben den anderen Puppen hängt. Doch auch Pauline und Frau John mit ihren blauen Kopftüchern sind kaum ausgearbeitet. Frau John wird vielmehr mit ausgeprägten Brüsten ebenso unvollständig wie reduziert angelegt. Denn Frau John hat zwar einen Kinderwunsch, kann aber keine Kinder mehr bekommen. Ihr fehlt der Unterleib im Unterschied zu Pauline. Erich Spitta als Hauslehrer und Liebhaber von Walburga zeichnet sich durch eine fast rattenartig spitze Physiognomie aus. Durch die Physiognomie der Puppen verschwimmt die Grenze zwischen Menschen und Ratten. Das Grammatisch-Kritische Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart von Adelung, das 1793 zum ersten Mal erscheint, kennt die Ratte noch als kaum ausdifferenzierte „Ratz“ und „Nahme, welcher in den gemeinen Sprecharten verschiedenen Nagethieren beygeleget wird“.[25] „Die Ratte“ wird in der Ausgabe als „Nahme, welchen an einigen Orten derjenige Fisch führet, welcher unter dem Nahmen des Rochen am bekanntesten ist“, gebraucht.

© Mauela Schneider, photogräphin

Ratten werden nicht zuletzt mit Sexualität und einer hohen Fertilität in Verbindung gebracht. Dieser Bereich des Wissens von Ratten bildet sich besonders nach 1900 aus. Das ist insofern für Hauptmanns Ratten interessant, als es mit der „Kinderunterschiebung“ durch Pauline um eine außer-, mit Walburga eine voreheliche Schwangerschaft sowie den Kinderwunsch der Frau John geht. Über die „Wanderratte (Mus decumanus)“ heißt es in der Ausgabe von Meyers Großem Konversationslexikon 1907: „Wo sie einrückt, verschwinden alsbald die Hausratten, denn sie werden unbarmherzig von ihr niedergemacht. Die R. leben gern gesellig, kriechen oft in einem gemeinsamen Nest zusammen, fressen aber eine krepierte Genossin sofort auf. Jung gefangene R. werden sehr zahm. Das Weibchen wirft jährlich zwei- bis dreimal etwa einen Monat nach der Begattung 5-21 nackte Junge, die sie liebevoll pflegt.“[26] Die Laborratte gehört noch nicht zum „allgemeinen Wissen“ des „Nachschlagewerks“. In der Beschreibung der Geselligkeit der Ratten – „kriechen oft in einem gemeinsamen Nest zusammen“ – wird unverhohlen auf das Sexualverhalten angespielt, das sogleich moralisch abwertend mit einer kannibalischen Szene konterkariert wird. Die Ratte hat eine tendenzielle Anthropomorphisierung durch die Übertragung der humanen Sexual- wie Sozialwissenschaft erfahren.

© Mauela Schneider, photogräphin

Es ist John, der sprachlich vage die Übertragung des Wissens von Mensch und Ratte formuliert. Die auf Verwechslung angelegte Formulierung bringt wiederum den Dachboden als „Oberboden“ ins Spiel, wenn er dem Standesbeamten sagt: „Na denn, sach ick, mag et meinswegen uf’n Oberboden bei de Ratten und Mäuse jewesen sind! So kreppte ick mir, weil er doch sachte, det et womeglich jar nich sollte in meine eijene Wohnung sind jewesen. Denn schrie er: wat sind det for Redensarten!“ (Zweiter Akt, 1. Szene) Der gefälschte Ort der Geburt, der Niederkunft und Herkunft wird gleichzeitig zu einem der Vermischung von Menschen und Ratten. Der Standesbeamte springt als Person des Staates sogleich auf diese Vermischung an, in dem er als Ausdruck der Machtlosigkeit zu schreien beginnt. Bridge Markland kürzt die Szene nach „jewesen sind“ und legt die Titelmusik der Lindenstraße drunter. Der Ort der Geburt, der Ursprungsort, wird zu einem des vermischten Wissens von Menschen und Ratten. Dabei spielt das musikalische Thema der Lindenstraße auf eine überschaubare Heimat als Ursprungsort an.

Die besondere Faszination von Bridge Marklands und Nils Foersters Inszenierung liegt in der Audiovisualisierung der epistemischen Überschneidungen von Ratte und Mensch. Mit dem Warnzettel „Achtung Ratten!“ wird der Abend darauf angelegt, Ratten sehen zu wollen. Sie sind visuell auf der Dachbodenbühne da und werden zugleich immer überspielt. Die Wahrnehmung der Ratten als Menschen oder auch der Menschen als Ratten lässt sich nicht scharfstellen. Die Menschen als Handpuppen rutschen immer in die Nähe der Ratten. Doch gerade durch die Handpuppen diskreditieren sie nicht die Menschen als Ratten einer „sozialen Realität“. Vielmehr wird jene Ambiguität der Ratten ausgeleuchtet, die in ihrer Brutalität auch erschrecken mag. Doch schon in Gerhart Hauptmanns Dramentext bleibt offen, ob ausgerechnet die moralische Instanz des Pastors Spitta die brutalere ist oder der verzweifelte und desaströse Kinderwunsch der Frau John.

Torsten Flüh

Bridge Markland
ratten in the box
…*

*Bridge Markland als selbständige Künstlerin in Berlin hat durch die Beschränkung des öffentlichen Lebens wegen der Cov-19-Pandemie besonders stark unter Absagen ihrer Auftritte in Schulen und an kleineren Veranstaltungsorten zu leiden. Auch der Veranstaltungsort brotfabrik ist von den europaweiten Schließungen betroffen. Die Beantragung von Hilfsgeldern ist oft mit einem größeren Aufwand verbunden. Buchen Sie ratten in the box!


[1] Gerhart Hauptmann: Die Ratten. Berlin: S. Fischer, 1911, S. 9 (unnummeriert).

[2] Jacob und Wilhelm Grimm: Das deutsche Wörterbuch: Dach 2.

[3] Siehe insbesondere „Wortverlaufskurve“ zu Dachschaden in: Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache: Dachschaden.

[4] Siehe auch: Torsten Flüh: Eselsgeschrei, Hundekomödie und Champagner. Zur Kleist-Preis-Verleihung an Monika Rinck durch Heinrich Detering im Berliner Ensemble. In: NIGHT OUT @ BERLIN November 24, 2015 20:36.

[5] Zur Metalepsis bei Kleist siehe: Katrin Pahl: Sex Changes with Kleist. Evanston, Illinois: Northwestern University Press, 2019, S. 35-41.

[6] Hermann Korte: Kindler Kompakt: Deutsche Literatur, 20. Jahrhundert. Stuttgart: J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung, 2015, S. 18.

[7] Ebenda S. 18-19.

[8] Elisabeth Strowick, Ulrike Vedder (Hrsg.): Wirklichkeit und Wahrnehmung. Neue Perspektiven auf Theodor Storm. (Publikationen zur Zeitschrift für Gemanistik, Neue Folge, Band 27) Bern, Berlin: Peter Lang, 2013, S. 9.

[9] Wilhelm Busch: Die kluge Ratte. In: Münchner Bilderbogen. München: 1868.

[10] Rudolf Virchow hatte 1858 die Zellularpathologie als Grundlage für die Krebsforschung mit seiner Schrift Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre begründet. Als Pathologe baute er seine Forschungen zum Zellwachstum aus und legte eine Sammlung von Präparaten an, die vor allem abnormes Wachstum post mortem zu Studienzwecken sichtbar machen sollten. In einem Brief, der noch zu Beginn der 2000er im Medizinhistorischen Museum der Charité auf seinem Schreibtisch ausgelegt war, formulierte er, dass die Präparate-Sammlung sein liebstes Kind sei. Dieser Bereich wird mittlerweile als „schwierig empfunden“, wie es der Museumsdirektor Prof. Thomas Schalke zur Dauerausstellung nennt. Als Reichstagsabgeordneter nahm er vor allem an politischen Debatten zur Sozialpolitik teil. In der Berliner klein. Wochenschr. Nr. 17 erscheint 1910 der Aufsatz „Ergebnisse eines Fütterungsversuches bei Ratten, die überimpfte Tumore trugen.“ von Dr. Florentin Medigreceaunu aus Bukarest, der am Imperial Cancer Research Fund London forschte. Bereits mit der Nummer 13 hatte Medigreceanu „Ueber die Grössenverhältnisse einiger der wichtigsten Organe bei tumortragenden Mäusen und Ratten“ berichtet.   

[11] Siehe Florentin Medigreceaunu: Ueber die Grössenverhältnisse einiger der wichtigsten Organe bei tumortragenden Mäusen und Ratten. In: Berliner Medizinische Wochenschrift No. 13. Berlin: August Hirschwald, 1910. (Digitalisat)

[12] Florentin Medigreceaunu: Ergebnisse eines Fütterungsversuches bei Ratten, die überimpfte Tumore trugen. In: Berliner Medizinische Wochenschrift No. 17. Berlin: August Hirschwald, 1910, S. 9. (Digitalisat)

[13] Zu Bedenken ist dabei, dass Robert Koch noch 1890 sein Impfmittel gegen die Tuberkulose sogleich an sich im Selbstversuch als auch an seinem japanischen Assistenten Shibasaburo Kitasato wie an seiner 17jährigen Geliebten Hedwig Freiberg getestet hatte. Ratten kamen also nicht zum Einsatz. Wenig später 1891 holte Robert Koch Paul Ehrlich an sein Institut für Infektionskrankheiten, aus dem das Paul-Ehrlich-Institut für Impfstoffe hervorging. Siehe ebenda S. 9.

[14] Caroli Linaei: Systema Naturae. Upsala 1858, S. 61. (Digitalisat)

[15] Carl von Linné: 1. Theil Von den säugenden Thieren. In: Des Ritters Carl von Linné … vollständiges Natursystem. Nach der 12. lateinischen Ausgabe und nach Anleitung des holländischen Houttuynischen Werks … von Philipp Ludwig Statius Müller. 6 Teile in 8 Bänden + 1 Supplementband. Raspe, Nürnberg 1773–1789, S. 55. (Digitalisat)

[16] Ebenda.

[17] In Anatomie der Maki und der ihnen verwandten Thiere geht es dem Freund Alexander von Humboldts und Philosophen, Mediziners und Mitglieds mehrerer Akademien der Wissenschaften sowie Professors für Naturgeschichte in Moskau Gotthelf Fischer (von Waldheim) um eine weitere morphologische Ausdifferenzierung der Maki z. B. anhand ihres Gebisses als Säugetiere im Unterschied zu Primaten bzw. Affen. Die Anordnung der „Schneidezähne“ spielt dabei eine entscheidende Rolle. Im Rahmen dieser Ausdifferenzierung in der „Naturgeschichte“ unterscheidet. Während die Anatomie der Maki als Prachtband Alexander I. von Russland gewidmet ist, ließ sich die „Naturgeschichte“ mit Rattus Rattus nicht ermitteln. Gotthelf Fischer: Naturgeschichte der Maki überhaupt. In: Anatomie der Maki. Frankfurt am Mayn: Andräesche Buchhandlung, 1804, S. 3-13.     

[18] Lorindo (Johannes Riemer): Der Politische Ratten und Mäuse Fänger. (ohne Ort) 1682.

[19] Ebenda ohne Seitenzahl (S. 18).

[20] Vgl. in der Staatsbibliothek. Preußischer Kulturbesitz: Nachdem bei hoch-fuerstl. … [Verordnung betr. Ausrottung von Ratten, Mäusen, etc.]; Wilhelm Friedrich, Markgraf zu Brandenburg. Onolzbach, 3.11.1716.

[21] Wilhelm Busch: Die … [wie Anm. 9].

[22] Gerhart Hauptmann: Die … [wie Anm. 1] S. 16.

[23] Aus der Erfahrung bewährte und geprüfte Mittel, Fliegen, Wanzen, Schaben aus Kleidern und Kästen, Ratten und Mäuse, dann Flöhe, mit leichten und ganz unschuldigen Mitteln auf ein ganzes Jahr zu vertreiben: Aus dem Englischen übersetzt. Augsburg, 1800, S. 3.

[24] Siehe Chemie.de: Vitriol.

[25] Johann Christoph Adelung: Grammatisch-Kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Leipzig: Breitkopf, 1793. Ratz.

[26] Meyers Großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Bd. 16 Plaketten – Rinteln. Leipzig und Wien, 1907, S. 620: Ratten.

Das „Weib“* als Schwan und die Geschlechterfrage

Geschlecht – Text – Wechsel

Das „Weib“* als Schwan und die Geschlechterfrage

Zu Katrin Pahls queerer Kleist-Lektüre mit Sex Changes with Kleist

Ende Januar stellte Katrin Pahl von der Johns Hopkins University, Baltimore, Maryland, ihr in der Northwestern University Press erschienenes Buch Sex Changes with Kleist beim Kleist-Jour fixe vor. Der Kleist-Jour fixe findet seit Januar 2017 mit Mitgliedern der Heinrich-von-Kleist Gesellschaft e.V. aus Berlin und Brandenburg und Gästen alle zwei Monate als lockerer Gesprächskreis an verschiedenen Orten in und um Berlin herum, meistens aber im Clubraum des aufsturz‘ in der Oranienburger Straße 67 statt. Nach Kurzvorträgen z.B. über Heinrich von Kleist in der Bildenden Kunst (Barbara Wilk-Mincu) oder Michael Kohlhaasens letzte Speise – Von der Schwierigkeit der Literatur sich in der Welt ihr Recht zu verschaffen (Götz Wienold) oder Die Novellen des Freiherrn Franz von Gaudy aus Frankfurt/Oder (Doris Fouquet-Plümacher) etc. wird in lockerer Runde über das Thema gesprochen.

Der Vortrag zu Heinrich von Kleist aus der Haltung der Queer Theory von Katrin Pahl vor größerer Runde wurde sehr engagiert diskutiert. Wie lassen sich die von Heinrich von Kleist veröffentlichten Texte hinsichtlich ihrer Geschlechtlichkeit (Sex) lesen? Die Kleist-Forscherin und Associate Professor am Department of Modern Languages and Literatures, die dort im German Program lehrt, liest Kleists geschlechtliche Verschiebungen vor allem in den Dramentexten queer, um semantische Überschneidungen freizulegen. Kleists Texte funktionieren an vielen Punkten nicht nach der heteronormativen Ordnung, die sich zu seiner Zeit für das Bürgertum als Klasse nicht zuletzt mit Johann Gottlieb Fichte herauszubilden beginnt. Es lassen sich wiederholt nicht nur in der Penthesilea lesbische Szenen lesen. Bei einigen älteren Teilnehmer*innen des Jours erregte die Lektüre teilweise energischen Protest bis zur Kritik, dass so deutsche Literatur an einer namhaften Universität in den Vereinigten Staaten von Amerika doch nicht repräsentiert werden sollte. Warum fiel die Kritik an der Schnittstelle von Literatur, Geschlecht und Nation so energisch aus?

Das Titelbild für das Buch Sex Changes with Kleist nutzt Katrin Pahl in ihrer Danksagung an Masayo Kajimura schon für einen methodologischen Wink. „Her technique echoes the mackles that I discuss in this book.“ Der Scherenschnitt bestehe aus mehreren Schichten (layers) von Papier mit unterschiedlichen Texturen und Motiven.[1] Die Praxis des Scherenschnitts war von der Videokünstlerin Masayo Kajimura und Katrin Pahl als Medium gewählt worden, weil sie erlaubt, zwei Bilder, einen Schwan und eine Amazone mit freier Brust, übereinander zu schichten. Der Original-Scherenschnitt wurde beim Jour auf einem Flip-Board gezeigt. Die textuellen und motivischen Schichtungen lassen auch immer die darunter liegenden durchschimmern. Oder wie Pahl es in ihrer Einführung formuliert:
“Quite at odds with historical development, Kleist lingered in the interstices of these enormous shifts, overlaid the new with the old, elaborated a poetics of incongruity—or of mackles, as I call it—and dared to generate a logic of confusion and to experiment with alternative symbolic structures, all the while developing a distinctive humor.”[2]
(Ganz im Widerspruch zur historischen Entwicklung verweilte Kleist in den Zwischenräumen dieser enormen Verschiebungen, überlagerte das Neue mit dem Alten, entwickelte eine Poetik der Inkongruenz – oder von mackles, wie ich es nenne – und wagte es, eine Logik der Verwirrung zu erzeugen und mit alternativen symbolischen Ordnungen zu experimentieren, die gleichzeitig einen unverwechselbaren Humor entwickeln.|Übersetzung T.F.)

Der Körper der Amazone ist mit roten Rosen am linken Arm versehen oder überwuchert. Gerötete Wurzeln eines Dornengestrüpps erinnern ebenso an Arterien oder wuchern aus dem rechten Fuß der Amazone wie ein Wurzelgeflecht. Die Bildkomposition thematisiert das Geschlecht (Englisch: sex) auf mehrfache Weise. Der anthropomorphe Körper der Amazone lässt ebenso botanische Züge sehen. Zugleich wird ein sexuelles Verhältnis, Begehrensverhältnis zwischen dem Schwan und der Amazone in Szene gesetzt. Schwan wie Amazone „werfen sich“, wie man sagt, „in die Brust“. (Wobei das „Brust-Bild“ bei Kleist ein derart häufiges und queer gebrauchtes ist, dass Pahl ihm mit Mammologie and Analgrammar ein ganzes Kapitel widmet.) Doch der Schwan erinnert nach Pahl an keine männliche Figur aus Kleists Dramenpersonal, vielmehr wird die Figur Käthchen aus dem „große(n) historische(n) Ritterschauspiel“ Das Käthchen von Heilbronn im sechsten Auftritt des vierten Akts von Eleonore auf irritierende, ja, erotische Weise als „Schwan“ imaginiert:
„Ei, Käthchen! Bist du schon im Bad gewesen?
Schaut, wie das Mädchen funkelt, wie es glänzet!
Dem Schwane gleich, der in die Brust geworfen,
Aus des Krystallsees blauen Fluthen steigt!
– Hast du die Glieder dir erfrischt?“[3]

Für Katrin Pahl gehört die geschlechtliche Ambiguität der Formulierung zu den entscheidenden Argumenten für Heinrich von Kleists sprachlichen Geschlechtertausch in seinen Dramentexten. Der Begriff Geschlecht wird im Deutschen wie im Englischen in einer Bedeutungsvielfalt von Art, Rasse, Sex, Sexus, Geschlechtsteil, Genital, Abteilung, Gattung, Nation, Sippe Abstammung, Dynastie, Familie, Geblüt, Generation, Menschenalter gebraucht.(u. a. Wiktionary) Die geschlechtliche Konstruktion der Amazonen und ihres Frauen-Staates hat seit jeher das heteronormative Geschlechtermodell, das sich um 1800 in Medizin, Recht bzw. Rechtsphilosophie und Gesellschaft systematisch über Akademien durchsetzt, konterkariert. Heinrich von Kleist hat in seiner „Welt der Worte“, so Pahl beim Jour, eine erstaunliche Sensibilität und Offenheit für das weibliche Geschlecht in einer nicht heteronormativen Weise. Damit modifiziert sie das Argument von Helga Gallas, dass Kleist zurück wolle zur „alten symbolischen Ordnung“.[4] Die Sensibilität, die Feinheit der Sinne und des Sinns werden von Kleist mit „mackles“ befragt. Mit Matthias Waltz Ordnung der Namen[5] beschreibt Pahl das Theater des Bürgertums als neue Ordnung, die Kleist in seinen Stücken nicht zuletzt hinsichtlich der Sinne und Gefühle unterläuft:
„At this theater of bourgeois self-formation, all feeling comes down to the same: the feeling of being alive. Given that the autonomous subject cultivates suspended animation by suppressing his impulses to (re)act and arresting himself in the spectator position, his need to feel alive is quite pronounced. At the same time, he can disavow such need by discrediting the scene of sentimentality as emotionality, theatricality, and hysteria.”[6]

Mit ihrer Lektüre von Kleists Der zerbrochne Krug erinnert Pahl an Johann Gottlieb Fichtes „Grundriss des Familienrechts“ als Anhang der Grundlagen des Naturrechts nach Principien der Wissenschaften[7] von 1797, in dem Sexualität als „Geschlechtstrieb“ ein derart grundlegendes Problem für die Würde der Frau darstellt, dass sie sich nur in die romantische Liebe retten könne.[8] Die moderne, bürgerliche Frau sieht sich in ihrer Intimsphäre den höchsten Risiken gegenüber. Deshalb finde Eves Drama im Schlafzimmer statt, wo angenommen wird, dass sie allein zu sein habe. Moderne, bürgerliche Männer werden um 1800 über ihr Berufsleben definiert, weshalb Adams Drama im Gerichtssaal stattfinde. Dass Kleist mit Eve und Adam die Namen des ersten Mannes und der ersten Frau der Abrahamitischen Religionen benutze, unterstreiche die „sex/gender“ Binarität.
„Yet, as usual, Kleist positions his play in a nonbourgeois context. Its characters are simple country folk living in a small village about two hundred years before Kleist’s time, that is, at a historical and local distance from modern middle-class life. Kleist doubles the old with the new and has the play hover on the cusp between a feudal and a bourgeois culture.”[9]

Kleists Geschichten als Handlung auf dem Theater, einem imaginären Raum, bzw. seine Dramentexte entsprechen nicht den eingeübten bürgerlichen Erwartungen, vielmehr funktionieren sie häufig, wenn überhaupt, in plötzlichen Wendungen oder Brüchen. Pahl entwickelt ihre Geschichtslektüre nicht aus einem persönlichen Trauma Kleists als homosexueller Außenseiter, wie es wiederholt gemacht wurde, wofür es allerdings kaum Belege gibt, vielmehr reagiere Kleist auf „a historical trauma that Europe underwent around 1800 and that radiated from there across the globe, producing the gay outlaw in the first place and still affecting the modern subject today“.[10] Das Trauma bestehe in der Produktion eines zweiten Geschlechts, während es in der alten Ordnung lediglich graduelle Unterschiede zwischen Mann und Frau gegeben habe, erschien nun ein neues Paradigma: „the female body“.[11] Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wird der weibliche Körper oder auch der Körper des Weibes zum Gegenstand unterschiedlicher Wissensformationen, die Sichtbarkeiten generieren, wie sie z.B. Claudia Reiche in ihren visuellen Installationen thematisiert.[12]

Die körperliche Natur des Weibes muss nach Johann Gottlieb Fichte reguliert werden, weil das Weib als „zweites Geschlecht“[13] „zur Erzeugung eines Körpers der gleichen Art“[14] bestimmt wird. Die Verschränkung von Reproduktionslogik, Körpermerkmalen und Ätiologie zu einer Ökonomie des Körpers des Weibes lässt sich bei Fichte nicht zuletzt in der Fußnote 1 zu § 3 über die Funktion der Vernunft – „Der Charakter der Vernunft ist absolute Selbsttätigkeit“ – beobachten. Die Vernunft soll den Körper des Weibes hinsichtlich des natürlichen Geschlechtstriebes regulieren. Während der Geschlechtstrieb des ersten Geschlechts oder Mannes kaum einer Regulierung bedarf, damit sich der Mann als Mann versteht, muss der als natürlich formulierte Geschlechtstrieb der Frau entschieden von ihr selbst beherrscht werden, um sich selbst als Weib, als Subjekt wahrnehmen zu dürfen. Die weitaus kompliziertere Konstruktion des „zweite(n) Geschlecht(s)“ zeigt sich in den ausführlichen Ergänzungen der Fußnote 1:
„Es ist hier von Natur, und einem Naturtriebe die Rede, d. i. von etwas, welches das Weib, wenn nur die beiden Bedingungen desselben, Vernunft und Treiben des Geschlechts da sind, ohne alle Anwendung ihrer Freiheit und ganz sich selbst überlassen, in sich finden wird, als etwas gegebenes, ursprüngliches, und aus keiner ihrer vorhergehenden, freien Handlungen zu erklärendes. Es wird dadurch aber gar nicht die Möglichkeit geläugnet, daß nicht das Weib entweder unter ihre Natur herabsinken, oder durch Freiheit sich über sie erheben könne; welche Erhebung – aber selbst nicht viel besser ist, als ein Herabsinken. Unter ihre Natur sinkt das Weib herab, wenn sie sich zur Vernunftlosigkeit erniedrigt. Dann kann der Geschlechtstrieb in seiner wahren Gestalt zum Bewußtseyn kommen, und bedachter Zweck des Handelns werden…“[15]

Es wird die Wissenschaften vor allem im 19. Jahrhundert unablässig beschäftigen, das Weib als Körper bis in das „innere Lustorgan“ der Klitoris zu beschreiben[16], um das Weibliche dort zu verorten. Anders formuliert: Weil sich das „zweite Geschlecht“ und sein „Geschlechtstrieb“, seine „Lust“ so schwer lokalisieren lassen, muss ein Organ, ein körperliches Merkmal dafür ausgebildet werden. Heinrich von Kleist lässt 1811 in der Realschulbuchhandlung in Berlin seinen Text Der zerbrochne Krug mit dem Untertitel „ein Lustspiel“ drucken. Während Fichte an ein biologisches Modell des „Geschlechtstrieb(s)“ anknüpft, bringt Kleist das ältere der „Lust“ als libertäre Wollust ins Spiel. Gerade diese Lust als Praxis der Freiheit wird von Fichte in Abgrenzung zum 18. Jahrhundert „als ein Herabsinken“ inkriminiert. Pahl formuliert ihre Lektüre des Lustspiels mit einer namentlichen Anspielung nicht zuletzt gegen einen Slogan konservativer Christen in den USA: „God made Adam and Eve, not Adam and Steve.“[17] Sie macht mit den quasi überlappenden Namen Eve und Steve einmal mehr ihr methodologisches Verfahren der „mackles“ deutlich.  
„Kleist not only inverts the original marriage plot of heterosexual love (Adam and Eve) by submitting it, at least on the surface, as a story of Adam’s transgression and Eve’s innocence, but he also slips in Steve.”[18]

Die „Mackles“, wie sie mit dem Scherenschnitt visuell in Szene gesetzt werden, lassen sich als entscheidende methodologische Invention des Buches benennen. Sie erweitern theoretisch die Ambiguität in einer praxeologischen Weise. Denn durch das leicht verschobene Übereinanderdrucken ergibt sich eine semantische Unschärfe als Mehrdeutigkeit. Der Begriff wird im Englischen verwendet für eine Fehlerscheinung im Druckprodukt des Offsetdrucks. In der Kunst hat Andy Warhol mackles z. B. bei Thomas Ammann 1978 und Max Bill 1980, beide Acryl und Siebdruck auf Leinwand, verwendet.[19] Für Kleist beschreibt Pahl mackles als eine Wiederholung und Schichtung leicht verschiedener Bilder oder Szenen des gleichen Ereignisses, Konflikts, Charakters, Gedanken oder Gefühls.
„Mackles result from a small shift—Verrücken—of plates during the printing process and present a blurred picture that might create the impression of movement in place—a slight jiggle or wiggle. (…) Kleist’s theatrical mackles shake the spectators’ sense of what exactly they are beholding to the point of rendering them quite mad (verrückt).”[20]

Das Verrücken von Wissensformationen in Kleists Texten wird von Pahl mit einem theoretischen Netzwerk der psychoanalytischen Forschung insbesondere mit der Terminologie Jacques Lacans durchgearbeitet. Seine Terminologie erlaubt es durch seine Praxis des freien Sprechens in seinen „Vorlesungen“, semantische Überlappungen zu beschreiben. Lacans Schriften sind bekanntlich Jacques-Alain Millers Mit- oder Nachschriften der Sprechtexte, wie besonders der Film Lacan parle (1972) von Françoise Wolff deutlich gemacht hat, der in einem anderen Kontext bereits besprochen wurde. Lacan spricht in einem Vortrag vor Student*innen vom Wissen: „Tatsächlich wissen sie einiges. Es ist genau wie das Unbewusste in seiner Definition. Sie wissen nicht, dass sie es wissen. Übertragung ist Liebe. Aber warum lieben wir so jemanden? … Wir wissen, dass Sprache niemals gibt, uns niemals erlaubt zu formulieren… … alles andere als Dinge, die drei, fünf, fünfundzwanzig Bedeutungen haben …“ (Übersetzung, T.F.) Insofern liest Pahl die Texte nicht mit einem Wissen der Psychoanalyse, vielmehr kontextualisiert sie Kleists Werk mit der Terminologie Lacans in „a larger argument“.[21]

Während mackles eine neue terminologische Entwicklung von Katrin Pahl im Kontext der Queer Theory sind, hat sie bereits 2011 die mit dem Begriff der Metalepsis rhetorische Praxis des Herübernehmens für diese fruchtbar gemacht. Eva von Redecker hat sie in Praxis und Revolution (2018) für eine praxis-orientierte Sozialtheorie des radikalen Wandels eingesetzt, woran Pahl wieder anknüpft.[22] Wenn Lacan sagt, dass „Dinge (…) drei, fünf, fünfundzwanzig Bedeutungen haben“ können, so knüpft Pahl mit der Metalepsis daran an, wenn sie argumentiert, „that metalepsis, with its oscillating between thing and word, renders things self-incongruous and thus emotional“. Metalepsis bringe Kontamination und Verwirrung mit sich.[23] Diese revolutionäre Taktik des praktischen Vorwegnehmens einer besseren oder anderen Zukunft, wie Eva von Redecker sie beschreibt, lasse sich bei Heinrich von Kleist als „a lame joke“ finden, wenn die neue Ordnung in der alten widerhalle. So sehe Penthesilea auf dem Wasserspiegel des Flusses die Sonne und nehme diese mit dem Ausspruch „Nimm mich —“ als das „actual object“ ihres Begehrens wahr. Diese halluzinative Verwechslung der gespiegelten Sonne mit Helios als Achilles sei eigentlich eine Art schlechter Witz, so wie wenn Kinder im Kasperletheater Kasper lautstark vor dem Krokodil warnten.[24]
Penthesilea.
Helios, 1385
Wenn er am Scheitel mir vorüberfleucht! 1386
Die Fürstinnen. 
(sehn sprachlos und mit Entsetzen einander an)
Die Oberpriesterinn.
Reißt mit Gewalt sie fort!
Penthesilea. 
( schaut in den Fluß nieder)
Ich, Rasende! 1387
Da liegt er mir zu Füssen ja! Nimm mich — 1388
(sie will in den Fluß sinken, Prothoe und Meroe halten sie)“ (Penthesilea.)

Katrin Pahl hat ihr Kleist-Buch in 6 Kapitel thematisch komponiert. Zwischen Mackles, Mess, and Metalepsis und Obscene Lesbians and Lost Queers entfaltet sie ein Kaleidoskop der queeren Lektüren zu Heinrich von Kleists Texten. Während es weiterhin als heteronormative Praxis geübt wird, die Texte zu normalisieren und mackles wie Käthchen als Schwan, „der in die Brust geworfen,/Aus des Krystallsees blauen Fluthen steigt“, geflissentlich zu überlesen, allenfalls eine Schwebe von Sinn mit der Lektüre zu erzeugen, knüpft Katrin Pahl schlüssig und überzeugend an die insbesondere amerikanische Geschlechterforschung bzw. Gender und Queer Studies an. Dabei geht es nicht um prothetisches Hilfswissen, das an die Texte herangeführt wird, vielmehr um die Texte in ihrer Abweichung und Verrückung zu (juristischen) Normtexten und zeitgenössischen Diskursen. So ist es denn lediglich eine Bestätigung der Methodik und der daraus generierten Thesen, wenn Expert*innen zum Werk Fichtes die Lektüre von Pahl mit Ausrufen und Gesten meinen abwehren zu müssen. Sie bestätigen sich streng der Fichteschen Werke als deren Adept*innen.

Torsten Flüh

*Der in Anführungszeichen gesetzte Begriff Weib wird als Zitat von Fichte gebraucht. Alles hängt von dem Gebrauch eines Begriffes oder Wortes ab. Gerade das zeichnet eine praxeologische Queer Theory aus. Ein häufig abwertender Gebrauch kann und wird wie „schwul“ stolz als Selbstbestimmung angewendet, um das vermeintliche Wissen, das dem Begriff anhaftet, zu unterwandern und machtlos werden zu lassen.

Katrin Pahl
Sex Changes
with Kleist
Cloth Text – $99.95
ISBN 978-0-8101-4012-7
Paper Text – $34.95
ISBN 978-0-8101-4011-0
E-book – $34.95
ISBN 978-0-8101-4013-4     


[1] Katrin Pahl: Sex Changes with Kleist. Evanston, Illinois: Northwestern University Press, 2019, S. viii.

[2] Ebenda S. 3.

[3] Heinrich von Kleist: Das Käthchen von Heilbronn oder die Feuerprobe ein großes historisches Ritterschauspiel. Berlin: Realschulbuchhandlung, 1810, S. 162. (Digitalisat)

[4] Katrin Pahl: Sex … [wie Anm. 1] S. 6-7.

[5] Ebenda S. 10-11.

[6] Ebenda S. 11.

[7] Johann Gottlieb Fichte: Grundriss des Familienrechts. In: Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre. Band II. Jena und Leipzig: Christian Ernst Gabler, 1797, S. 158-247. (Digitalisat)

[8] Katrin Pahl: Sex … [wie Anm. 1] S. 54.

[9] Ebenda.

[10] Ebenda S. 13.

[11] Ebenda.

[12] Siehe zu Claudia Reiches Installation Argonaut_A (2019) In: Torsten Flüh: Von der Weiblichkeit der Kopffüßler Argonauta argo. Zur Ausstellung Power Cage – Experimentalraum Aquarium im State Studio Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. November 2019.

[13] Johann Gottlieb Fichte: Grundriss … [wie Anm. 7] S. 162.

[14] Ebenda S. 161,

[15] Ebenda S. 163.

[16] Vgl. zur feministischen Diskussion um Clitoris Design auch: Torsten Flüh: Palermo oder Bierbrunnen. Laden 52 präsentiert Visuelle Lektüren/Lektüren des Visuellen. In: NIGHT OUT @ Berlin Juni 26, 2010 10:13.

[17] Katrin Pahl: Sex … [wie Anm. 1] Anm. 24 S. 199.

[18] Ebenda S. 55.

[19] Hamburger Kunsthalle und The Andy Warhol Museum (Hg.): Andy Warhol Photography. Zürich, New York: Stemmle, 1999, S. 170-171.

[20] Katrin Pahl: Sex … [wie Anm. 1] S. 20.

[21] Ebenda S. 15.

[22] Eva von Redecker: Praxis und Revolution. Eine Sozialtheorie radikalen Wandels. Frankfurt am Main/New York: Campus, 2018.

[23] Katrin Pahl: Sex … [wie Anm. 1] S. 35.

[24] Ebenda S. 40.

Als Brad Smith in Redmond ein Video über Hohenschönhausen zeigte …

Design – Geschichte – Praxis

Als Brad Smith in Redmond ein Video über Hohenschönhausen zeigte …

Zur Buchvorstellung Tools and Weapons – Digitalisierung am Scheideweg von Brad Smith im Microsoft Atrium

Die Buchvorstellung am 13. Februar im Microsoft Atrium Unter den Linden bot eine Überraschung. Brad Smith hat zusammen mit Carol Ann Browne ein Buch geschrieben, das in seiner deutschen Fassung zur Mittagszeit um 12:30 Uhr fußläufig zu den Berliner Ministerien und zum Bundestag im Reichstagsgebäude vorgestellt wurde. Der Präsident der Microsoft Corporation war eigens aus Redmond, Washington, einem Vorort von Seattle, angereist. Denn bei seinem letzten Besuch in Berlin hatte er mit einem Kamerateam die Gedenkstätte Berlin Hohenschönhausen besucht, die an die Stasi und ihr Gefängnis erinnert. Der Datensammler Staatssicherheit hatte die Bevölkerung der Deutschen Demokratischen Republik flächendeckend ausspioniert, überwacht und verfolgt. Bis zum 30.12.2020 läuft dort noch die Sonderausstellung Überwachung und Repression in Ost und West.

Berlin und Deutschland sind für den Microsoft-Chef-Juristen und -Präsident Brad Smith zu einem Ort historischer Referenz für das digitale Zeitalter geworden. Was in Berlin geschah – er begann seinen kurzen Vortrag mit der wiederholten Formulierung „It was here in Berlin …“ –, nimmt Brad Smith zum Anlass, um über „Versprechen, Gefahren und neue Verantwortung im digitalen Zeitalter“ zu schreiben. Das kommt einem Paradigmenwechsel in der Technologie-Industrie gleich. Am MIT spricht man nur noch vom Design der Artificial Intelligence (AI). Und auch Google kennt nur Design für die Zukunft und keine Verantwortung aus der Geschichte für die Weltbevölkerung im digitalen Zeitalter. Fast klingt die Rückkehr der Geschichte in den Diskurs der Digitalisierung ein bisschen nach old school. Doch Brad Smith meint es mit der Verantwortung so ernst, dass er, wie er an jenem Mittag erzählte, nach einer Jahreshauptversammlung in Redmond den Zukunftsdesigner*innen von Microsoft sein Video über das Stasi-Gefängnis in Hohenschönhausen gezeigt hat.

Nach einer Begrüßung durch die Leiterin der Microsoft Repräsentanz in Deutschland Tanja Böhm hielt Constanze Stelzenmüller von der gemeinnützigen Brookings Institution für politische Analysen in Washington D.C. einen äußerst engagierten Vortrag über die transatlantischen Beziehungen mit dem Tenor, dass amerikanische Politiker sich zunehmend abschotten. Für diese neuartige Agenda in der amerikanischen Politik gebe es in Deutschland und Europa keine Strategie. Nicht nur Trump habe eine „America First“-Politik verfolgt, vielmehr müsse man sich selbst bei einem Präsidentenwechsel darauf einstellen, dass sich der Grundton in den transatlantischen Beziehungen nicht verbessere. Bereits 2018 wurde sie gefragt: „Do you see a structual breakdown of transatlantic relations or just temporary instances of disagreement?”[1] Gegenüber ihrer Einschätzung vom Oktober 2018 verschärfte Stelzenmüller ihre Kritik an den transatlantischen Beziehungen drastisch angesichts der technologischen Entwicklungen unter dem Begriff AI bzw. Künstliche Intelligenz und der globalen Klimakrise. Während es nur ein gemeinsames Ökosystem gebe, vermisse sie Strategien, wie Deutschland und Europa dem begegnen wollten.

Die Rahmung der Buchvorstellung von Brad Smith war insofern eine, die sich durchaus gesellschafts- wie außenpolitisch ausrichtete. Nicht zuletzt nahm der in Berlin auf internationalen Konferenzen im Bereich der Künstlichen Intelligenz recht umtriebige ehemalige Botschafter der USA in Deutschland John Kornblum an der Buchvorstellung teil. Brad Smith möchte sein Engagement und die Veröffentlichung von Tools and Weapons in einer deutschen Hardcover-Version offenbar im Kontext der transatlantischen Beziehungen sehen. Für ihn sind Regulierungsfragen der Künstlichen Intelligenz internationale, die mit Deutschland und der Europäischen Union ebenso wie mit anderen Ländern ausgehandelt werden müssen. Berlin nimmt für ihn dabei eine besondere Funktion ein, weil sich die historischen Fragen und Verwerfungen an diesem Ort fokussieren lassen. Die Fragen einer Ethik der Technologien in der Zukunft lassen sich für ihn hier am besten konkretisieren und diskutieren. Berlin als Ethik-Labor für Microsoft in Redmond, Washington: „It was here in Berlin …“   

Tools and Weapons lässt sich gewiss als Unternehmenspolitik und Werbung auffassen. Doch Brad Smith hat sich bereits im Januar 2018 zu Ethikrichtlinien im Microsoft Atrium geäußert, als er sein Buch The Future Computed vorstellte.[2] Er meint es ernst. Wie 2018 moderierte wieder Judith Rakers die Buchvorstellung. Sie meinte, dass das Buch disemal eher auf eine breitere Leserschicht ziele. Doch zwischen den beiden Büchern tut sich vor allem der Unterschied von Design und Geschichte auf. Von der Geschichte und einer Verantwortung aus der Geschichte war 2018 keine Rede. Was heißt das für die Künstliche Intelligenz? Verändert sich die KI mit der Wiederkehr der Geschichte als Paradigma? Es kommt Brad Smith in dem Buch darauf an, eine Geschichte (story) von der Geschichte (history) zu erzählen. Das kündigt bereits Bill Gates in seinem Vorwort an:
“Brad and his coauthor, Carol Ann Browne, are great storytellers who give you an insider’s view of what it is like to hammer out these issues in real time, in conference halls and courtrooms around the world… Brad has written a clear, compelling guide to some of the most pressing debates in technology today.”[3]   

Auf durchaus erstaunliche, für die Technologie-Industrie neuartige Weise geht es mit Tools and Weapons ums Geschichtenerzählen, das die beiden Autor*innen in ihrer Einführung über „The Cloud“ bestätigen und vertiefen.[4] Plötzlich werden die Technologie der „Cloud“ und die „Daten“ durch die Erzählung materialisiert. Die „Cloud“ ließe sich auch als eine digitale Dienstleistung beschreiben. In The Future Computed (2018) war vor allem der Dienstleistungsaspekt formuliert worden. „Digital technology powered by the cloud has made us smarter and helped us optimize our time, be more productive and communicate with one another more effectively. And this is just the beginning.”[5] Doch von der Zukunft als Science Fiction zu erzählen, ist für einen Technologiekonzern nicht so einfach. Leicht kann sie wie schon bei Stanislaw Lem mit Golem XIV von 1973 in eine Dystopie kippen.[6] Anders gesagt: das Geschichtenerzählen wird zu einer Frage des Genres, das möglichst einfach zugänglich sein sollte.

Brad Smith und Carol Ann Browne machen das unterhaltsame Geschichtenerzählen zu einer Geschichtserzählung, die dort ansetzt, wo sich die „Cloud“ quasi materialisiert. Ihnen kommt es darauf an, in geradewegs literarischer Weise den Ort der Datenspeicherung zu beschreiben. Anders gesagt, was als „Cloud“ der Inbegriff des Flüchtigen und Wandelbaren benannt wird, muss sozusagen geerdet und verortet werden. Dafür eignet sich besonders der Ort Quincy im Bundesstaat Washington, der als „the world’s capital of apples“ eingeführt wird.[7] Vielleicht ist der Titel „Welthauptstadt der Äpfel“ für Quincy etwas hoch gegriffen. Doch die Wasserkraftwerke der Grand-Coulee-Talsperre dienen heute nicht allein zur Bewässerung der Landwirtschaft und des Apfelanbaus, als vielmehr dem klimarelevanten „world’s biggest consumer of electricity, the modern data center“.[8] Die literarische Mehrdeutigkeit der „world’s capital of apples“ wird allerdings dadurch provoziert, dass der „Big Apple“ eben auch der Spitzname für New York ist und zugleich der biblische Sündenfall aufgerufen wird.

In Quincy, Washington, materialisiert sich die „Cloud“ in Rechenzentren nicht nur von Microsoft, sondern ebenso von Yahoo!, Dell und Intuit. Die Verfügbarkeit der Elektrizität aus der Wasserkraft machte Quincy zum Technologiestandort. Der „Columbia Data Center“ von Microsoft gilt als das größte Rechenzentrum der Welt, so dass die Autor*innen eine Führung durch die – „a bit eerie“[9] – Weltrechenzentrale starten. Es handelt sich dabei um ziemlich unheimliche, meistens menschenleere Straßen, Hochsicherheitsgelände und klimatisierte Hallen mit Regalen, in die Computer mit Festplatten eingebaut sind. Doch Smith und Browne machen diesen Ort gleichsam zu einem heiligen Ort, einem Archiv, in dem die Daten verwahrt, deponiert und doch auch ständig verändert werden können. Die Besonderheit der digitalen Daten wird eher heruntergespielt, um das Wesen der Datenaufbewahrung gleichsam zu sakralisieren.
„Finally, you center a cavernous room, a temple to the information age and cornerstone of our digital lives. A hushed hum welcomes you into the nerve center containing floor-to-ceiling racks filled with computers, lined up in a formation that extends beyond your line of sight. This massive library of steel and circuits contains servers each identical in footprint but containing its own unique volume of data. It is the world’s filing cabinet.”[10]    

Die literarische Verdichtung des im Deutschen recht abstrakten Rechenzentrums ist bemerkenswert. Wie soll man einer Leserschaft die Materialität der „Cloud“ nahebringen? Einerseits werden Daten im „filing cabinet“ als immer schon konstitutiv für die Zivilisation und „human history“[11] formuliert. Andererseits wird eine „massive Bibliothek aus Stahl“ beschrieben, die mit den bekannten Bibliotheken der Welt kurzgeschlossen werden kann. In der Forschung zur Künstlichen Intelligenz kamen die Rechenzentren als viel zu technische Anlagen bislang nicht vor. Wen sollte das außer Fachleute, Ingenieure, Techniker etc. schon interessieren? Es gehörte bislang nicht in den Forschungskontext. Doch die „Cloud“ und das Internet erhalten als Bibliothek und Nervenzentrum („the nerve center“) mit einem Mal eine Materialität, als könne man wirklich dorthin gehen und die „Cloud“ anfassen oder das Nervenzentrum im Gehirn freilegen. Man könnte das, wie es der Moderatorin Judith Rakers vorkam, eine Vereinfachung für breite Leserschichten nennen. Gleichzeitig wird die „Cloud“ indessen mit einem weit verzweigten lexikalischen Wissen – „inner sanctum“, „temple“, „library“, „filing cabinet“ (Aktenschrank), „cornerstone“, „nerve center“ etc. – verknüpft und aufgeladen.

Was machen Smith und Browne, wenn das Geschichtenerzählen derart über ein Fach- oder Sachbuch zum Roman ausgreift? Roland Barthes formulierte den „écrivain“ als „Subjekt einer Praxis“, das „die Hartnäckigkeit des Spähers haben (müsse), der sich am Kreuzungspunkt aller anderen Diskurse befindet, in trivialer Position im Verhältnis zur Reinheit der Doktrinen“.[12] Die „Cloud“ wird trivialisiert, indem sie an der Schnittstelle von Theologie, Architektur, Büro, Topografie und Neurologie etc. positioniert wird. Die Trivialität von Tools and Weapons kombiniert unterschiedliche Wissensbereiche in eher vager als einfacher Weise. Microsoft als Cloud-Anbieter wird von Brad Smith in einer hoch trivialen Position platziert, weil er als Chefjurist im Unterschied zum „software developer“[13] all jene Fragen abklären muss, die sich aus der Software ergeben. Um die Verflechtung der Software mit entscheidenden Rechtsfragen deutlich zu machen, handelt das erste Kapitel von der Gefahr der Überwachung – „Surveillance: A Three-Hour Fuse“. Die Dreistunden-Lunte beschreibt den PRISM-Skandal, der von Edward Snowden aufgedeckt wurde.[14]   

Die historische Erzählung von der Überwachung (suveillance) wird, wie es der Titel ankündigt, als spannungsgeladene Geschichte einer E-Mail mit dem Betreff „Microsoft/PRISM“ an Dominic Carr erzählt. Innerhalb von drei Stunden solle er dazu Stellung nehmen, ob Microsoft im PRISM-Programm der NSA mitarbeite. Nach drei Stunden geht in der Dramaturgie der Lunte die Bombe hoch und der Guardian veröffentlichte die Dokumente zu PRISM, die er von Edward Snowden erhalten hatte. Sofort geht Carr mit John Frank in das Büro von Brad Smith und hält mit ihm Rücksprache. Wenn die NSA auf User-Daten von Microsoft zugreife, dann tue sie dies ohne ihr Wissen und ihre Erlaubnis. Natürlich kann auch ein Guardian-Journalist nicht einfach eine E-Mail an Dominic Carr oder gar an Brad Smith schicken, deshalb werden die Weiterleitungen relativ genau beschrieben.
„No one at Microsoft had heard of PRISM… At three p.m. Pacific Time, the Guardian launched its bombshell: “NSA Prism Program Taps in to User Data of Apple, Google and Others.”“[15]     

Doch Brad Smith erzählt nicht nur die Geschichte vom Überwachungsskandal, der die Welt erschüttern sollte, vielmehr nutzt er ihn, um sogleich die der Privatsphäre anzukoppeln: „The assertions flew in the face of the privacy protections that democratic societies hat taken for granted for more than two centuries.“[16] Wie das Recht auf die Privatsphäre bzw. die Unverletzlichkeit der Wohnung in demokratischen Gesellschaften entstanden ist, erzählt er anhand der Geschichte von John Wilkes. Diese überschneidet sich im April 1763 mit der früheren von Sir Edward Coke, der schon 1604 die Unverletzlichkeit der Wohnung – „the house of every one is to him as his Castle and Fortress“ – als Richter erklärt hatte.[17] Die Geschichte von John Wilkes lässt sich gegenüber der von Coke besser personalisieren und auf die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika beziehen. Smith stellt die direkte Verbindung mit deren Erzählung her:
„These rights, which we rely on to protect your information in our Quincy data center today, were born in the eighteenth century during a boiling controversy in the streets of London.”[18]

Die Personalisierung der Geschichte durch eine direkte Ansprache mit dem, wie man im Deutschen sagen kann, besitzanzeigenden Fürwort – „your information“ – unterstreicht die Relevanz der Geschichte. Die Schere zwischen den Technologien der Software-Designer und der Verletzung der Privatsphäre durch die NSA habe Microsoft 2002 mit der Einrichtung der „Cloud“ nicht vorhersehen können. Doch Brad Smith will diese nun mit der Geschichte verkoppeln. Das heißt auch, dass sich das, was wir Künstliche Intelligenz nennen, durch die Geschichte verändern wird. John von Neumann ging es mit seinem erst postum erschienen Buch The Computer and The Brain (1958), wie Benjamin Peters gezeigt hat, mit der Analogie von Computer und Gehirn um die narzisstische Operation sein Denken bzw. seine Intelligenz über den Tod hinaus zu verlängern.[19] Dieses Paradigma des Software-Designs wird von Smith mit der Geschichte reguliert.
„While in 2002 we could not have predicted Edward Snowden and his famous flight, we could look back at history to predict more generally what was likely in store for the future. In times of a national crisis, trade-offs between individual freedoms and national security were nothing new.”[20]

Im Winter 2018 nutzte Brad Smith seinen Aufenthalt in Berlin, um das Gefängnis der Staatssicherheit (Stasi) der DDR in Hohenschönhausen zu besuchen. Die Privatsphäre wird von ihm als fundamentales Menschenrecht formuliert, indem er dessen Missachtung durch die Stasi als historische Erkenntnis erzählt. Brad Smith nimmt die amerikanischen und die Leser*innen weltweit mit nach Hohenschönhausen. Die Fahrt in der Dämmerung von Mitte in den Norden nach Hohenschönhausen wird als filmreife Architekturgeschichte Berlins erzählt. Die Architektur erzählt buchstäblich von der Vergangenheit der Stadt.
„The wintry light faded as we drove through the streets of the German capital. Through the car window a fast-moving reel of architecture told a tale of the city’s past. Edifices dating back to Prussia, the German Empire, Weimar, and Nazi eras gave a way to sterile Communist-era concrete blocks as we closed on our destination: the former German Democratic Republic’s Hohenschönhausen prison.”[21]    

Brad Smith traf mit seinem Team und Tanja Böhm den Zeitzeugen und ehemaligen Stasi-Gefangenen Hans-Jochen Scheidler. Nicht nur das gegenseitige Ausspionieren durch die Stasis und ihre IMs beschreibt Smith, sondern auch die ungeheuerliche Menge an Daten in Form von Berichten, Dokumenten, Bildern und Video sowie Audioaufnahmen von neunundsechzig Meilen führt er an. Noch entscheidender als das ungeheuerliche Ausmaß der Verletzung der Privatsphäre seiner Bürger durch den Staat DDR beeindruckt Smith die Geschichte von Hans-Jochen Scheidler, der nach dem Prager Frühling in Berlin-Hohenschönhausen inhaftiert wurde. Denn im Unterschied zu den Demonstrationen des Prager Frühlings auf der Straße werden für Smith nun die Demokratiebewegungen ins Internet verlagert.
„The point of our visit that day was suddenly clear.
Today, much of the world’s political activism doesn’t start on the streets, as in Scheidler’s time; it starts on the internet. Electronic communication and social media have provided a platform for people to mobilize support, spread messages, and voice dissent – accomplishing in days what would have taken weeks during the Prague Spring.”[22]

Das Erfahrungswissen der Deutschen aus der Überwachung durch die Gestapo der Nationalsozialisten und die Stasi der DDR hat Brad Smith so sehr beeindruckt, dass er von seinem Besuch in Hohenschönhausen ein Video drehen ließ, das er im Microsoft Hauptquartier in Redmond, Washington, auf einer ansonsten hoch erfreulichen Hauptversammlung als Schock zeigen ließ. Wir wissen nicht, auf welche Weise Brad Smiths Buch helfen kann oder wird, die Software von Microsoft mit Erfahrungswissen als Geschichte zu programmieren. Doch es spricht für ihn, dass er nicht nur das Gespräch und die Erzählung sucht, sondern in die technologische Entwicklung des Konzerns Microsoft einspeisen möchte. Wird die selbstlernende Künstliche Intelligenz aus dem Hause Microsoft künftig mit einem Erfahrungswissen aus der Geschichte arbeiten? Oder schätzen die Algorithmen der Finanzprogramme an den Börsen der Welt Covid-19 doch falsch ein und verursachen einen Crash?

Torsten Flüh

Brad Smith and Carol Ann Browne
Tools and Weapons
Digitalisierung am Scheideweg
Hardcover, 400 Seiten
Erschienen: Februar 2020
Gewicht: 610 g
ISBN: 978-3-86881-783-6
€ 24,99

Brad Smith and Carol Ann Browne
Tools and Weapons
The Promise and The Peril of The Digital Age
Pinguin Random House

Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen
Genslerstraße 66
13055 Berlin


[1] iE School of Global & Public Affairs: The Transatlantic Conference 2018- Constanze Stelzenmüller on Transatlantic Relations 24.10.2018.

[2] Siehe: Torsten Flüh: Kant und die Ethikrichtlinien aus dem Internetkonzern. Brad Smith stellt The Future Computed im Microsoft Atrium in Berlin und beim Weltwirtschaftsgipfel in Davos vor. In: NIGHT OUT @ BERLIN Januar 29, 2018 19:01.

[3] Bill Gates: Foreword. In: Brad Smith and Carol Ann Brown: Tools and Weapons. The Promise and the Peril of the Digital Age. New York: Pinguin, 2019, S. xi-xii.

[4] Brad Smith and Carol Ann Brown: Introduction: The Cloud: The World’s Filling Cabinet. In: Ebenda S. xii-xxii.

[5] Brad Smith and Harry Shum: The Future Computed. Redmond: Microsoft, 2018, S. 6.

[6] Siehe: Torsten Flüh: Der Name der Maschine und sein Versprechen. Zur Uraufführung von Also sprach Golem von Kommando Himmelfahrt & Kaj Duncan David nach Stanislaw Lem bei ultraschall berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. Februar 2020.

[7] Brad Smith and Carol Ann Brown: Introduction: The … [wie Anm. 4] S. xiv.

[8] Ebenda.

[9] Ebenda S. xv.

[10] Ebenda S. xvi.

[11] Ebenda S. xiii.

[12] Roland Barthes: Leçon/Lektion. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1980, S. 36-39.

[13] Bill Gates: Foreword … [wie Anm. 3] S. x.

[14] Brad Smith and Carol Ann Browne: Tools … [wie Anm. 4] S. 1-4. Siehe auch: Torsten Flüh: In Ritzen lesen. X-KEYSCORE und PRISM als Darstellungs- und Entschlüsselungsproblem. In: NIGHT OUT @ BERLIN August 10, 2013 19:18.

[15] Ebenda S. 3-4.

[16] Ebenda S. 5.

[17] Siehe auch: Torsten Flüh: Klassenfragen, Intelligenz und Obdachlosigkeit. Zu Mike Savages Mosse-Lecture über das Semesterthema Klassenfragen. In: NIGHT OUT @ BERLIN 13. Januar 2020.

[18] Brad Smith and Carol Ann Browne: Tools … [wie Anm. 4] S. 5.

[19] Benjamin Peters: The Computer Never Was a Brain, or the Curious Death and Designs of John von Neumann. In: Jeannie Moser, Christina Vagt (Hg.): Verhaltensdesign. Technologische und ästhetische Programme der 1960er und 1970er Jahre. Bielefeld: transcript, 2018, S. 121. (Open Access)

[20] Brad Smith and Carol Ann Browne: Tools … [wie Anm. 4] S. 9.

[21] Ebenda S. 39.

[22] Ebenda S. 41.

Berlin Alexanderplatz auf der Hasenheide

Gut – Fernsehen – Böse

Berlin Alexanderplatz auf der Hasenheide

Zu Burhan Qurbanis Berlin Alexanderplatz im Wettbewerb der Berlinale 2020

Am Morgen des 27. Februar 2020 um 9:15 Uhr war die 2. Vorstellung von Burhan Qurbanis Film Berlin Alexanderplatz im Friedrichstadt Palast, 1.899 Plätze, fast ausverkauft. Das spricht für das große, internationale Interesse an der Adaption des Romans von Alfred Döblin aus dem Jahr 1929. Ein Kinostart oder Sendetermin wurde bisher nicht angekündigt. Doch der Film wurde von ZDF und Arte co-produziert, so dass man davon ausgehen darf, dass er relativ bald im Fernsehen gezeigt werden wird. Doch eigentlich sind die 183 Minuten auf der ganz großen Leinwand des Friedrichstadt Palastes gut am Stück zu sehen. Im Fernsehen, auf dem Flachbildschirm oder Laptop, auf dem Tablett gar wird er schmerzhaft geschrumpft werden. Seit seinem ersten Film Shahada (2010) arbeitet Burhan Qurbani mit Yoshi Heimrath (Kamera) zusammen.

Der Großroman Berlin Alexanderplatz lässt sich schlecht in 90min. verfilmen selbst dann nicht, wenn er als Adaption verarbeitet wird. Rainer Werner Fassbinder brauchte 1979/1980 13 Episoden mit ca. 930 Minuten in der Fernsehfilmfassung. Burhan Qurbani (geb. 1980) hatte Döblins Roman als Abiturstoff in Münster und las ihn dann erst richtig viele Jahre später. Berlin Alexanderplatz gehört weiterhin zum deutschen Bildungswissen. Allerdings ist der Alexanderplatz in den letzten Jahren auch als Ort von Gewalttaten und Touristenansammlugen berüchtigt geworden. Auf dem angrenzenden, namenlosen Platz an der Rathausstraße unter dem Fernsehturm campierten zeitweilig größere Gruppen Obdachloser zum Beispiel aus Polen. Doch Qurbanis Film spielt eher nur sporadisch am Alexanderplatz, wichtiger wird die Hasenheide als Treffpunkt für eine Dealergang.

Friedrich Ludwig Jahn: Die Deutsche Turnkunst zur Einrichtung der Turnplätze. (1816) Plan Hasenheide.

Die Hasenheide ist nicht nur eine großstädtische Parkanlage, vielmehr spielen viele Szenen auf dem Platz vor dem Denkmal für Friedrich Ludwig Jahn, dem Turnvater, Proto-Nationalisten und Antisemiten. Kaum ein Drehort hätte symbolischer sein können. Die Hasenheide lässt sich geradezu als der neuralgische Dreh- und Angelpunkt der deutschen Geschichte beschreiben. Burhan Qurbani thematisiert das nicht in seiner Adaption explizit. Doch, wenn er in der Nachbarschaft wohnt, und so auf das Thema der Geflüchteten kam, dann wird er wenigstens einmal die Informationstafeln zum Denkmal gelesen haben. Hier gründete Friedrich Ludwig Jahn „im Frühjahr 1811“ die Turnbewegung und baute einen Turnplatz.[1] Auf die Spitze des Kletterturms setzte er das Eiserne Kreuz. Das Denkmal wurde am 10. August 1872 eingeweiht. An dessen Sockel sind über viele Jahre Ehrentafeln für Jahn von deutschen Turnvereinen im Inland und von deutschen Auswanderern bzw. aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen im 19. Jahrhundert Geflüchteten aus Amerika angebracht: „Gewidmet von der Turngemeinde Philadelphia Pennsylvania 1861.“ „Columbia Turnverein Washington D.C. 1911 USA.“ …

Friedrich Ludwig Jahn: Die Deutsche Turnkunst zur Einrichtung der Turnplätze. (1816) Plan Hasenheide.

Die Verknüpfung von deutscher Nation, Turnvereinen für Männer, die zugleich eine Form der Wehrertüchtigung waren, und Rassismus in konkreter Ausprägung des Antisemitismus‘ wird von Friedrich Ludwig Jahn in seiner programmatischen Schrift Die Deutsche Turnkunst 1816 formuliert: „Jeder Turner soll zum Wehrmann reifen, ohne verdrillt zu werden.“[2] In der „Berliner »Hasenheide«…; hier fanden sonst Bierfeste der Arbeiter statt“, habe er zum ersten Mal Hitler gesehen, gab Albert Speer in seinen zwielichtigen Erinnerungen an.[3] Der assoziationsreiche Name „Hasenheide“ gibt eher einen Wink auf eine Veranstaltung einer oder mehrerer Burschenschaften von der Berliner Universität und der Technischen Hochschule, die gerade keine für „Arbeiter“ war, wie Speer es fälschlich nahelegt.[4] Hitler hatte gezielt die Burschenschaften kommen lassen. 1936 wurde der Vorplatz für die gleichgeschaltete Turnerschaft zum Aufmarsch angelegt. Friedrich Ludwig Jahn war erklärter Antisemit und taucht in Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt als absonderlicher Kauz auf. An diesem Schauplatz deutscher Geschichte strandet Francis (Welket Bungué) aus Guinea-Bissau, Westafrika, und wird von Reinhold (Albrecht Schuch) zum Drogenhandel gedrängt.

Berlin Alexanderplatz (2020) (Screenshot aus Trailer von Torsten Flüh)

Wahrscheinlich ist das schon eine wichtige Beobachtung, dass sich in Burhan Qurbanis filmischer Romanadaption mehrere Ebenen visuell überschneiden. Es gibt das deutsche Bildungswissen in Form des großangelegten Romans aus den 20er Jahren des 20. Jahrhundert, das sich mit einem durchaus problematischen Geschichtswissen von der Nation überschneidet, um mit einer aktuellen Diskussion der Flüchtlinge aus Afrika und Syrien verknüpft zu werden. Auf diese Weise wird Berlin Alexanderplatz zu einem sehr deutschen Film, fast einer Deutschstunde in Berlin. Francis, der Flüchtling aus Westafrika, will wie Franz Biberkopf „gut sein“ und gerät in die Abhängigkeit von Reinhold, der ihm einen deutschen Pass verspricht.

Berlin Alexanderplatz (2020) (Screenshot aus Trailer von Torsten Flüh)

Berlin Alexanderplatz wird zum Drama eines Geflüchteten. Erst arbeitet Francis illegal auf der Baustelle für die U-Bahnlinie 5, wo er einem verunglückten Arbeitskollegen helfen will. Das ist aber kein guter Gedanke, weil auch dieser illegal auf der Baustelle arbeitet und keinesfalls durch einen Krankenwagen versorgt werden darf, weil dann die Illegalität auffliegt. Kurz: Der deutsche Vorarbeiter macht Francis verantwortlich und jagt ihn von der Baustelle. Damit hat Francis wieder keinen Job. Auf diese Weise gerät er an Reinhold, der den Geflüchteten in einer Unterkunft 50-Euro-Scheine verteilt, Flachbildschirm und Frauen verspricht, wenn sie für ihn mit Drogen handeln. Zunächst soll Francis allerdings nur die anderen Dealer mit selbst gekochten Essen aus einem Kinderwagen versorgen. Schnell erscheint der Obergangster Pums (Joachim Król) auf dem Platz in der Hasenheide.

Berlin Alexanderplatz (2020) (Screenshot aus Trailer von Torsten Flüh)

Berlin Alexanderplatz ist natürlich ein Berlin-Film geworden. Aber wenn Berlin Berlin spielen soll, kann es auch schwierig werden, weil das Publikum schon viel Berlin gesehen hat. So gerät Francis prompt in die Clubszene, die sich auf ebenso wohlfeile wie seltsame Weise ästhetisch mit Babylon Berlin im Delphi überschneidet. Für einen Maskenball wird es dann auch noch richtig 20er Jahre, indem Francis ein Gorilla-Kostüm anzieht wie weiland Marlene Dietrich in Josef von Sternbergs Blonde Venus (1932). Die Bauarbeiten für die U5 bieten spektakuläre Bilder für den „Zement- und Transportarbeiter Franz Biberkopf“ alias Francis. Und dann verliert Francis bei einem Raubüberfall seinen linken Unterarm, was heute dank Digitalisierung als Armstumpf mit Narbe ins Bild gerückt wird. Nein, lang werden die 183 Minuten nicht, aber manchmal einfach ein wenig zu dick und zu fernsehästhetisch, denkt der Berichterstatter nach ca. 120 Minuten.

Berlin Alexanderplatz (2020) (Screenshot aus Trailer von Torsten Flüh)

Fernsehästhetik[5] basiert auf einer Art von Common Sense oder einem visuellen Gedächtnis, das immer wieder angespielt wird. Es unterliegt somit dem Modus der Wiederholung durch leichte Verschiebungen. Man sieht das Material und Budget mit Wow-Effekt, um es dann doch als bekannt und wenig innovativ zu finden. Das ist bis in die Figurenkonstellationen des Drehbuchs von Martin Behnke und Burhan Qurbani und in das Casting von Suse Marquardt und Alexandra Koknat bestimmt gut gemeint, aber auch schwierig, um sich im Berlinale Wettbewerb zu platzieren. Es geht um eine Form des visuellen Wissens vom Guten und Richtigen, das sich sehr schnell verfangen kann. Der Armstumpf ist in gewisser Weise technisch brillant, State of the Art, aber braucht es ihn dramaturgisch wirklich, um Empathie für Francis zu wecken. Es ist quasi eine Geste des Dokumentarischen, „die Kamera draufhalten“, die allerdings genau an der digitalen Schnittstelle und Bearbeitung kippt, um damit zur Schwäche zu werden.

Berlin Alexanderplatz (2020) (Screenshot aus Trailer von Torsten Flüh)

Die Empathie wird zu einer entscheidenden Frage in Burhan Qurbanis Berlin Alexanderplatz. Spielt die Empathie für Alfred Döblins Franz Biberkopf eine Rolle? Es sind insbesondere die Vorworte zu den neun Büchern des Romans, die ihn nach Stationen der Leiden gliedern. Damit spielt Alfred Döblin auf den Kreuzweg an, transformiert ihn in das 20. Jahrhundert der Metropole Berlin und durchbricht das Schema doch, wenn es eben 9 und nicht 7 oder 15 Stationen sind. In der Anlage des Drehbuchs mit einem Pro- und einem Epilog sowie 5 Episoden bewegen sich Behnke und Qurbani sehr nah am Erzählmodus Alfred Döblins. Denn die Vorworte sind im Präsenz mit einem Zeigegestus – „Hier …“ – für ein Bild oder einen (Stumm-)Film geschrieben:
„Hier im Beginn verläßt Franz Biberkopf das Gefängnis Tegel, in das ihn ein früheres sinnloses Leben geführt hat. Er faßt in Berlin schwer wieder Fuß, aber schließlich gelingt es ihm doch, worüber er sich freut, und er tut nun den Schwur, anständig zu sein.“[6]   

Berlin Alexanderplatz (2020) (Screenshot aus Trailer von Torsten Flüh)

Die Vorworte übernehmen im Roman eine nicht nur erzählerische Funktion der Zusammenfassung oder Ankündigung, vielmehr fügen sie im Präsenz dem Erzählmodus zunächst des Präteritums, bevor „(d)ie Strafe beginnt“[7], eine Art Verfremdung hinzu. Das hat auch den Effekt, dass die Erzählung von Franz Biberkopf einen systemlogischen Verlauf bekommt. Es ist weniger eine schicksalhafte Notwendigkeit oder das Böse, als vielmehr das mangelnde Wissen von einem großstädtischen System, in das er hineingerät und das als „Strafe“ wahrgenommen wird. Das wird insofern wichtig, als Reinhold von Albrecht Schuch mit einem körperlichen Handikap als das Böse oder „Psychopath“ angelegt wird. Das Nichtwissen von Franz Biberkopf spielt eine wichtige Rolle:
„Es hat nichts genutzt. Es hat noch immer nichts genutzt. Franz Biberkopf hat den Hammerschlag erhalten, er weiß, daß er verloren ist, wer weiß noch immer nicht, warum.“[8]  

Berlin Alexanderplatz (2020) (Screenshot aus Trailer von Torsten Flüh)

Reinhold hat Probleme beim Sex mit den Frauen, die er doch eigentlich beherrschen will. In einer Geldscheinpistole schießt er im Sexclub um sich. Weil es nicht klappt mit den Frauen, begehrt er Francis als Ersatz und macht ihn abhängig. Vielleicht liegt schon bei Döblin in der Anlage des Reinhold ein Wink auf die Psyche von rechten, misogynen und rassistischen Attentätern, wie sie heute wiederkehren. Reinhold begehrt in mehreren Szenen bei Qurbani ganz offensichtlich Francis. Reinhold sieht Francis beim Sex zu. Er imaginiert sich an der Stelle von Francis, den er zugleich dafür hasst und verkrüppelt. In der Mordszene an Mieze (Yella Haase) sieht es eher so aus, dass Reinhold sie nur umbringt, weil er sie Francis aus Eifersucht nehmen will. Diese Szenen gehören zu den interessantesten der Adaption. Gemordet wird aus einer narzisstischen Kränkung heraus, die gerade mit dem Mordopfer nichts zu tun hat.

Berlin Alexanderplatz (2020) (Screenshot aus Trailer von Torsten Flüh)

Der Narzissmus, der in der Rolle des Reinhold hervorblitzt, korrespondiert mit der Deutsche(n) Turnkunst, wie sie Friedrich Ludwig Jahn konzipiert, wenn er alles darauf anlegt, den männlichen Körper zu ertüchtigen, zu formen und zu funktionalisieren. Der männliche Körper wird verwandelt in einen aus Tätigkeiten und Übungen. Dafür führt Jahn auf der Hasenheide zunächst eine eigene „Turnsprache“[9] ein, die als deutsche mit besonderer Berücksichtigung der „Mundarten“[10] formuliert wird. Es findet eine umfassende Funktionalisierung des Körpers statt, indem er gerade nicht ästhetisch beschrieben und gesehen, also geradezu verdrängt wird, wie sich mit einer Passage zum „Schwingen“ lesen lässt:
„Das Schwingen, eine der vorzüglichen Leibesübungen, wirkt fast auf alle Theile des Leibes gleich heilsam; stärkt besonders Arme und Beine, Bauch= und Rückenmuskeln, befördert sehr die Gelenkigkeit, und bildet außerordentlich den körperlichen Anstand.“[11]

Berlin Alexanderplatz, 27.02.2020 18:14 (Torsten Flüh)

Die Funktionalisierung der Männerkörper leitet den Narzissmus in messbare Leistungen um. Die „Bauch= und Rückmuskeln“ werden durch das „Schwingen“ nur in ihrer Leistungsfähigkeit und für den „körperlichen Anstand“ wahrgenommen. Damit wird der männliche Körper beispielsweise im Unterschied zu Johann Joachim Winckelmann[12] und zur Ästhetik der Klassik umformatiert, um zugleich bewundert werden zu können. Reinhold bewundert in Francis einen Leistungskörper, den er beschädigen und zerstören muss, weil er selbst seinen Leistungsansprüchen nicht genügen kann. Diese narzisstische Verdrehung wird als offensichtlicher Rassismus deutlich, wenn er Francis für den Maskenball ein Gorillakostüm schickt. Insofern bearbeitet Burhan Qurbani sehr genau ein deutsches Problem, für das sich der Berichterstatter teilweise innovativere Bilder gewünscht hätte.   

Torsten Flüh


[1] Friedrich Ludwig Jahn: Vorbericht. In: Ernst Eiselen, Friedrich Ludwig Jahn (Hg.): Die Deutsche Turnkunst zur Einrichtung der Turnplätze. Berlin (Auf Kosten der Herausgeber) 1816, S. IV.

[2] Ebenda S. XVII.

[3] Albert Speer: Erinnerungen. Berlin: Propyläen/Ullstein, 1969, S. 32. (Siehe: ders.: Inside the Third Reich. New York: MacMillan, 1970. S. 15)
Die Frage nach der Burschenschaft ist bislang in der Speer-Forschung nicht berücksichtigt worden. Es gibt allerdings eine Personenkonstellation, die einen Wink im Verhältnis von Architekturstudium, München, Turnverein und Nationalismus geben kann. „Im Sommersemester 1924 wechselte er an die Technische Hochschule München“, wo er „Rudolf Wolters begegnete …; eine mit wenigen Unterbrechungen lebenslange Verbindung“, schreibt Magnus Brechtken. Rudolf Wolters sollte für das Germania Projekt den „Runden Platz“ mit den „Apollo-Brunnen“ von Arno Breker bauen. Oberaufsicht für das Projekt hatte bekanntlich Speer. Von 1865 bis 1936 existierte in München die „Burschenschaft Apollo“, die „Studentenverbindung Apollo“ führte das „Lebensbundprinzip“ ein. 1919 traten etliche „Apolloniden“ den „Freikorps“ bei. Und zusammen mit dem „Akademischen Turnverein“ etc. gründete „Burschenschaft Apollo“ den „Allgemeinen Studentenausschuss“ in München. Ab 1920 galt für Neuzugänge das „arische Prinzip“. Und nun darf man dreimal raten, warum es ausgerechnet einen „Apollo-Brunnen“ in Germania geben sollte.
Siehe zu Rudolf Wolters: Markus Brechtken: Albert Speer. Eine deutsche Karriere. München: Siedler, 2017, S. 27. Und: Wikipedia: Münchner Burschenschaften.

[4] Anm.: Albert Speers Formulierungen von, wie man heute sagen müsste, „alternativen Fakten“ in seinen Erinnerungen ist atemberaubend. Die „Hasenheide“ zum Ort der Begegnung zu machen, unterstützt einzig und allein den deutschen Nationalismus Jahnscher Prägung, denn das Lokal, das angeblich Hasenheide geheißen haben soll, lässt sich schnell als Saal der »Neuen Welt« identifizieren. Das konnte jeder Kundige als Geschichtswissen mitlesen. Die „Hasenheide“ war eben nicht irgendein Name oder Ort, sondern die Geburtsstätte des deutschen Nationalismus in Abgrenzung zu Frankreich und Napoleon. Dass es sich dabei um eine schäbige Arbeiterkneipe gehandelt haben soll, nobilitiert einerseits die Arbeiter, andererseits stellt es für den Studenten aus großbürgerlicher Familie eine Verbindung zu eben jener „Klasse“ her, die für ihn nie bestanden hat. Die Überschneidung und Verdrehung von »Neue Welt« in »Hasenheide« ist allerdings nicht einmal Markus Brechtken aufgefallen. Doch daran lässt sich sehr genau das „literarische“ Lügenverfahren von Speer zeigen. Es appelliert nämlich gleichzeitig mit dem Wissen um den Namen an Gesinnungsgenossen.
Siehe auch: Markus Brechtken: Albert Speer. Eine deutsche Karriere. München: Siedler, 2017, S. 31.
Vgl. auch: Torsten Flüh: Bildgewaltige Faszination und Verstörung. Sthalpuran in der Sektion Generation und Speer Goes to Hollywood als Berlinale Special feiern Weltpremiere auf der 70. Berlinale. In: NIGHT OUT @ BERLIN 28. Februar 2020.

[5] Der Begriff der „Fernsehästhetik“ wurde von Knut Hickethier Anfang der 90er Jahre zur „Problemlage: Fernsehen und Kunst“ formuliert. Durch Streamingdienste und Mediatheken der Öffentlich-Rechtlichen Sender hat sich erstens das „Programm als Gesamtkunstwerk“ in seinen technischen Voraussetzungen verändert. Zweitens kann der Unterscheidung von „Fernsehen“ auf der einen und „Kunst“ auf der anderen Seite nicht mehr mit dem von Hickethier bemühten Begriff des „Kunstwerk(s)“ (S. 6) aufrecht gehalten werden. Deshalb rücke ich hier Wissenspraktiken in den Vordergrund.
Knut Hickethier: Fernsehästhetik. Kunst im Programm oder Programmkunst? In: Bundeszentrale für Politische Bildung (Hg.): Tele-Visionen. Fernsehgeschichte Deutschlands in West und Ost. (In: Hintergrund-Informationen) Bonn 2017. Zuerst 1992.  

[6] Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz. München: dtv, 1965 (2009), S. (ohne Seitenzahl 13).

[7] Ebenda S. 15.

[8] Ebenda S. 355.

[9] Friedrich Ludwig Jahn: Die … [wie Anm. 1] S. XIX.

[10] Ebenda S. XLI.

[11] Ebenda S. 35.

[12] Siehe dazu: Torsten Flüh: Die Geburt der Muckibude aus dem Altertum. 300 Jahre Johann Joachim Winckelmann mit Winckelmann – Das göttliche Geschlecht im Schwulen Museum*. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juli 2, 2017 22:24.

Bildgewaltige Faszination und Verstörung – Sthalpuran und Speer Goes to Hollywood als Weltpremieren auf der Berlinale 2020

Wahrnehmung – Narzissmus – Spielfilm

Bildgewaltige Faszination und Verstörung

Sthalpuran in der Sektion Generation und Speer Goes to Hollywood als Berlinale Special feiern Weltpremiere auf der 70. Berlinale

Zwei auf ihre Art sehr unterschiedlich bildgewaltige Filme zwischen Dokumentation und Spielfilm feierten am Mittwoch auf der 70. Berlinale ihre Weltpremiere. Für den indischen Regisseur Akshay Indikar aus Pune im südwestlichen Bundesstaat Maharashtra war die Weltpremiere im Zoo Palast 2 in der Sektion Generation Kplus gewiss ein Abenteuer und eine Ehre. Er hatte mit dem 8jährigen Neel Deshmukh in der Hauptrolle des Dighu, das Experiment gewagt, mythische Tamil-Literatur der Sthala Puranas über Zeit und Raum aus der Perspektive eines gerade schulpflichtigen Jungen zu erzählen. Im Publikum waren gefühlt 100 Kinder im ähnlichen Alter, die sich offenbar von der Naturdramatik und den Wahrnehmungen Dighus faszinieren ließen.

Während der Berichterstatter sehr gern mehr Standfotos aus dem indischen Film gezeigt hätte, sträubt es sich in ihm, überhaupt ein Porträtfoto von Albert Speer aus dem Film Speer Goes to Hollywood von Vanessa Lapa zu zeigen. Denn er war nicht nur einer der mächtigsten Nationalsozialisten bis 1945, vielmehr verrät sich der Narziss Speer im Originalton mehrfach auf kaum erträgliche Weise. Grundlage für den Dokumentarfilm sind Kassettenrecorder-Mitschnitte, die Andrew Birkin von Gesprächen mit Speer in dessen Villa in Heidelberg aufnahm, als sie das Drehbuch für die Verfilmung der hoch erfolgreichen Autobiographie besprachen. Paramount trug sich mit dem Gedanken, die Speer-Autobiographie von Stanley Kubrick als Spielfilm mit Starbesetzung verfilmen zu lassen. Vanessa Lapa hat an dem Projekt 4 Jahre gearbeitet.   

Wie lassen sich Raum und Zeit aus der Sicht eines Achtjährigen im Medium Film darstellen? Bei 84 Minuten Länge von Sthalpuran ist es durchaus eine Kunst, ein nicht sehr viel älteres Publikum so sehr zu faszinieren, dass es im Kino still ist.[1] Für Dighu, der seine Wahrnehmungen in ein Tagebuch notiert, hat sich mit der nächtlichen Abreise seiner Mutter mit seiner Schwester aus Pune an die ländlich geprägte Küste von Kokon alles verändert. Die Wahrnehmung von Raum und Zeit beginnt für Dighu damit, dass seine Ordnung zerbricht. Im Moment der Veränderung und des Verlustes der Zeitordnung entsteht der Wunsch nach ihrer Wiederherstellung. Dighus Zeiterleben kommt noch ohne Uhr aus. So kommt es in dem bescheidenen Haus der Großeltern dazu, dass der Großvater Dighu überhaupt erst die Uhr und Zeit erklärt.
„Großvater, die Uhr hat nur 12 Ziffern oder?“
„Das ist richtig.“
„Und warum hat ein Tag denn nur 24 Stunden?“ (Zitat aus dem Sthalpuran)[2]

Auf poetische – und witzige – Weise lernt Dighu im 21. Jahrhundert die Zeit kennen. Akshay Indikar hat neben Buch und Regie auch Montage und Sound Design übernommen. Für die Kamera zeichnet Jagadeesh Ravi verantwortlich. Es ist vor allem Regenzeit in weiten Teilen des Films. Das Meer ist ohrenbetäubend laut. Ein Fisch wird von den Wellen auf die felsige Küste geworfen. In einer geradezu malerischen Fabrik aus Holz läuft ein Fließband, an dem Dighus Mutter mit anderen Frauen arbeitet. Die archaische Fabrik ist so geheimnisvoll, dass der Berichterstatter nicht verstand, was hier eigentlich produziert wird. Werden hier Bilderrahmen hergestellt? Oder geht es dem Regisseur vielmehr um die Schattenspiele und das geheimnisvolle Fließband? Dighu ist von der Fabrik fasziniert und langweilt sich doch.

Das Tagebuch wird von Dighu in मराठी Marāṭhī geschrieben. Und zweifellos generiert ein Tagebuch eine Zeitwahrnehmung. Es ordnet die Zeit. Wenn Dighus Mutter (Rekha Thakur) mit ihrer Mutter (Medha Patil) bei der Hausarbeit spricht und diese ihr rät, bald wieder zu heiraten, ahnt das Publikum, was der Junge noch nicht weiß. Die Mutter hat Pune mit den Kindern verlassen, weil der Vater verstorben ist. Doch es ist anscheinend in der Kultur der Region nicht möglich, über den Tod zu sprechen. Die Trauer geschieht eher heimlich, wenn Dighu mitbekommt, dass die Mutter nachts wieder geweint hat. Während sich in Deutschland eine zum Teil ausgeprägte Trauerkultur für Erwachsene und Kinder entwickelt hat, weiß Dighu nicht, dass er um seinen Vater trauert, wenn er ihn auf dem Schulweg imaginiert.

Sthalpuran ( Screenshot aus Trailer Torsten Flüh)

Ist Sthalpuran ein Kinderfilm? Das ist zumindest aus europäischer Perspektive eine schwierige Frage. Denn das Drehbuch wie die vor allem naturgewaltige Bildsprache sind mythologisch angelegt. Vielleicht ist es für Kinder in Maharashtra schon sprachlich einfacher, Zugang zu finden. Doch gesprochen wird nicht sehr viel im Film. Erzählt wird explizit kaum. Deshalb nimmt die Bildersprache mit einem im Zoo Palast 2 beeindruckenden Sound Design eine erzählende Funktion ein. Stille und einzelne Regentropfen bis zum tosenden Meer brauchen einerseits viel Zeit. Die Zuschauer*innen können in die quasi epische Natur visuell und akustisch eintauchen. Bei der Weltpremiere sprach eine Übersetzerin den Text live ein, was vielleicht für die Kinder hilfreich war.

Sthalpuran ( Screenshot aus Trailer Torsten Flüh)

Im technologisch hochentwickelten Südindien ist es heute möglicherweise eine wohlkalkulierte Operation die Geschichte in eine nach Google Maps touristisch nicht gänzlich unerschlossene Küstenregion zu verlegen. Hier gibt es auch Ressorts. Der Lehrer fotografiert seine Schüler mit einem Smartphone. Doch durch Regie und Kamera wird die Region mythisch. In einer Sequenz wird denn auch eine Sequenz aus einem Sthalpuran-Mythos zwischen Göttern und Menschen von einer Wandertruppe aufgeführt. Dighu sitzt im Publikum, ohne dass er die Szenen wirklich einordnen könnte. Doch er ist von ihnen und vor allem den Kostümen fasziniert. Die Kamera versucht erst gar nicht eine Art Totale herzustellen. Vielmehr wandert der Blick über die einzelnen Figuren und deutet eher diskret an, dass es im Mythos auch um einen Jungen und dessen Verlust des Vaters gehen könnte.

Sthalpuran ( Screenshot aus Trailer Torsten Flüh)

Dighu hält den Verlust seines Vaters und seiner Freunde durch den Ortswechsel nicht aus, so dass er eines Tages heimlich mit dem Bus in die 3-Millionen-Stadt Pune fährt. Der Kontrast zum Dorf in der Küstenregion Konkan fällt stark aus. Als Stadtjunge findet sich Dighu in Pune zurecht, doch trifft er weder den Vater noch seine Klassenkameraden, die er vermisst. Es wird sein Geheimnis, dass er überhaupt in der Stadt war. Die Erzählung des Films aus der Perspektive Dighus vertauscht Größenverhältnisse und Ordnungen. Obwohl er ein Tagebuch führt, teilt Dighu die Tage nicht nach Uhrzeiten ein. Es gibt sogar Tage an denen „gar nichts“ passiert. Auf diese Weise wird der Film nicht nur mythologisch, sondern auch philosophisch und zu einem wunderbar ethnografischen Rätsel. – Wer weiß, wann er wo in Europa zu sehen sein wird, während Netflix die globale Filmindustrie umorganisiert.

Früher hieß Sound Design Ton und damit begannen die Spielstars zu sprechen und die Filmmusik eroberte das Unbewusste. Tomer Eliav zeichnet für das Sound Design in Speer Goes to Hollywood verantwortlich.[3] Da hört man dann die Schritte von Albert Speer, wenn er sich auf der Anklagebank, während des Nürnberger Prozesses bewegt. Die Bilder kennt man als Foto oder Film, aber nun erhält die Szenerie eine ganz andere Präsenz, weil das Holz knarzt. Die Montage von Bild und 0riginalton sowie dessen digitale Bearbeitung verändert viel in der Wahrnehmung. Überhaupt wäre der Film ohne Sound Design gar nicht möglich geworden, weil er eben jene Tonbandkassetten zur Grundlage hat, die Andrew Birkin bei den Gesprächen mit Albert Speer in Heidelberg aufnahm. Davon gibt es keine Filmaufnahmen, sondern nur ein paar Fotos und die Kassetten. Das heißt auch, dass ein Bild- und Textverhältnis anders als im Tonfilm erst einmal hergestellt werden muss. Von den Nürnberger Prozessen gibt es zwar Szenen aus Filmen mit Ton. Doch dieser musste, erst für den Film digital wiederhergestellt werden.

Wegen des Protagonisten Albert Speer und seiner Formulierungen zum Drehbuch für eine Verfilmung von Inside the Third Reich (1970) ist der Film schwer auszuhalten. Sehr schnell erweist sich Albert Speer als Protagonist in der mehrfachen Bedeutung des Begriffs nach dem altgriechischen πρωταγωνιστής protagonistés „Haupt-“ oder „Erst-Handelnder“ auf dem Theater und im „Wohnzimmer“ der Macht. Die Autobiographie war 1969 zunächst auf Deutsch unter dem unverfänglichen Titel Erinnerungen mit Hilfe des Journalisten Joachim Fest geschrieben und im Propyläen Verlag (Ullstein) unter Leitung von Wolf Jobst Siedler erschienen. Wolf Jobst Siedler war schon 1967 von Albert Speer mit einem Manuskript auf die Autobiographie aufmerksam gemacht worden und von der „noble(n) Weise“ der Erzählung begeistert.[4] 1970 erschien bereits die 4. Auflage von Erinnerungen mit „mit 78 zum Teil unbekannten Bild- und Textdokumenten auf Tafeln“ auf 610 Seiten.

Speer goes to Hollywood (Berlinale-Foto)

Obwohl der ganz große Hollywood-Spielfilm, wohl gar in der Regie von Stanley Kubrick nach dem autorisierten Drehbuch von Andrew Birkin nie gedreht wurde, produzierte die American Broadcasting Company (ABC) 1982 nach dessen Tod eine ergänzte 250minütige Kurzserie immerhin mit einer gewissen deutschen Starbesetzung von Maria Schell als Frau Speer, Elke Sommer als Magda Goebbels und Sky du Mont als Dr. Karl Gebhardt. Albert Speer wurde von Rutger Hauer gespielt, der im gleichen Jahr in Ridley Scotts Blade Runner weltberühmt wurde. In den Gesprächen genießt es Albert Speer in den Formulierungen hörbar, sich von einem berühmten Hollywood Star gespielt zu sehen. Seine Frau habe gesagt, er sehe Cary Grant ähnlich. Mit seinem Drehbuchautor diskutiert er einzelne Szenen auf ihre Wirkung.

Montiert werden auch Telefonate von Andrew Birkin mit Stanley Kubrick, in denen der Regisseur ihn vor den Manipulationen Speers warnt. Es wird nicht ganz klar, ob sich der Drehbuchautor wirklich manipulieren ließ oder ob er eine Freude daran hatte, dass sich Albert Speer mit seinen Formulierungen mehrfach als Narziss verrät. In seinen Erinnerungen wie in den Drehbuchgesprächen versteht es Speer wiederholt, sich von der verbrecherischen Führungselite des Dritten Reiches um Adolf Hitler zu distanzieren. Obwohl er sich einen Berghof ganz in der Nähe zu Hitlers hatte bauen lassen, inszeniert er sich als überlegener Gast, der die Mittelmäßigkeit und ideologische Verblendung der anderen durchschaut habe. Gegen diese Formulierungen montiert Vanessa Lapa Szenen vom Berghof mit Speer, Hitler und Gästen, in denen er sich offensichtlich mehrfach autoerotisch mit der Zunge über die Lippen leckt.

ACHTUNG!
FOTO gelöscht wegen Urheberstreits mit „copyrightagent Pilestræde 10.1 1112 København K“
Das Foto „Albert Speer vor der Villa seiner Eltern in Heidelberg“ (1972) wird angeblich seit 1974 von der „Imago Stock & People GmbH“ gehalten.

Das Bildmaterial vom Berghof, mit Hitler und Speer in einer scheinbar privaten Atmosphäre gezeigt werden und das selbst verständlich so im Regime nicht an die Öffentlichkeit kam, war schon allein deshalb inszeniert, weil die Gäste und der Protagonist Albert Speer wusste, wie er selbst auf eine Schmalfilmkamera wirkte. Als Sohn des Architekten Albert Friedrich Speer wuchs er in Berlin in der Prinz-Wilhelm-Straße, heute Stresemannstraße, Mannheim und Heidelberg in großbürgerlichen Verhältnissen auf. Adolf Hitler begegnete er nach seiner Geschichte zum ersten Mal 1930 in der Hasenheide. Im Film sagt er, es sei „Liebe“ auf den ersten Blick gewesen. Die Referenzen und Formulierungen seines Verhältnisses zu Adolf Hitler und der Staatsmacht geben einen Wink auf ein klassisches Bildungswissen wie dessen fälschende Erzählung.

In einer Sequenz beschreibt sich Alber Speer als Ödipus. Er sei wie Ödipus in der griechischen Tragödie gewesen, der nicht sehen konnte, in welche Verbrechen er verstrickt wurde. Neben Referenzen auf das Verhältnis von Faust, er, und Mephisto, Hitler, schreibt er schon in seinen Erinnerungen: „Für einen großen Bau hätte ich wie Faust meine Seele verkauft. Nun hatte ich meinen Mephisto gefunden.“[5] Im deutschen Bildungskanon auch der Nachkriegsjahre ist Faust ohne genauere Analyse zweifelsohne eine positive Figur, die von Mephisto verführt und hereingelegt wird. Die Verführung indessen funktioniert selbst in Goethes Faust über das erotische Liebesabenteuer mit Margarete. Gustav Gründgens Faust-Inszenierung wie erotische Mephisto-Darstellung dürfte Albert Speer noch aus dem Vorkriegs-Berlin bestens bekannt gewesen sein.[6] Wie sehr sah er sich selbst als Mephisto? Seine Formulierung „Nun hatte ich meinen Mephisto gefunden“, behauptet vielmehr, dass er Mephisto/Hitler instrumentalisiert habe, um „einen großen Bau“ entwerfen und realisieren zu können.

Man muss diese Stelle und Formulierung genau lesen, um den Verbrechen Albert Speers mit Speer Goes to Hollywood auf die Schliche zu kommen. Bildung, Bildungswissen und Redegewandtheit wird man ihm nicht absprechen können. Vielmehr verfängt diese sich in einem Narzissmus. Die neue „Welthauptstadt Germania“ ist weniger Hitlers Traum einer Überwachungszentrale, als vielmehr der Versuch, die Stadt als Soziotop auszulöschen. Hinter großen und vor allem opaken Fassaden soll ein System arbeiten, das sein Volk je nach den Arbeitseinsätzen verschiebt, ausbeutet und falls notwendig als Zwangsarbeiter durch Mangelernährung ermordet. Als einer der körperlich größten und am besten ausgebildeten Protagonisten der verbrecherischen NS-Elite und -Führung fühlte er sich dem System als Architekt überlegen. Immer ragt Speer mindestens um einen Kopf aus den Gruppenfotos heraus. Es ist ein wenig so, wie wenn Friedrich Merz sagt, er schaue „rein physisch auf viele Menschen von oben“.[7]        

Albert Speer war nicht zuletzt Architekt von Auschwitz selbst dann, wenn er die Pläne für das Vernichtungslager nicht entworfen hat. Er habe vielmehr darum gebeten, die KZ-Insassen für seine Projekte in der Rüstung nutzen zu dürfen. Mangelernährung und Zwangsmaßnahmen führten indessen für die Zwangsarbeiter zu den gleichen, tödlichen Ergebnissen. Als Rüstungsminister zeichnete Speer verantwortlich und organisierte er das „Massensterben“ der Kriegsgefangenen maßgeblich: „Nachdem anfänglich buchstäblich Millionen sowjetischer Kriegsgefangener verhungern mussten, wurden sie ab Juli 1941 auf Weisung Hitlers zu Hunderttausenden nach Deutschland gebracht, ohne dass es genügend Nahrungsmittel gab, so dass sich das Massensterben zunächst fortsetzte. Auch für die gleichzeitig in großer Menge herbeigeschafften Zivilarbeiter waren anfangs keine Unterbringungs- und Verpflegungsmittel vorhanden, so dass der wirtschaftliche Nutzen aufgrund der hohen Todesraten sehr gering war.“[8] Auf dem Tor von Auschwitz steht nach der Speer-Logik denn auch „Arbeit macht frei“. Albert Speer hat mehrfach und so auch in den Drehbuchgesprächen seinen Antisemitismus bestätigt, um einzuräumen, dass er niemals so weit gegangen wäre, sie zu vernichten. Die Deportationen sind ohne seine organisatorische Mithilfe undenkbar. In Mauthausen wurde er von einem Häftling im Nürnberger Prozess erkannt, wie im Film mit Ausschnitten aus dem Nürnberger Prozess gezeigt wird.

Der Antisemitismus Albert Speers ist im Kontext seines „Mythos“ nicht zu unterschätzen. Er ist bislang zuwenig analysiert worden, was gerade durch die Formulierungen in den Drehbuchgesprächen deutlich wird. Selbst Wolfgang Schroeter schenkt ihm zu wenig Aufmerksamkeit in seiner Analyse der generationellen Speer-Rezeption Albert Speer – Aufstieg und Fall eines Mythos.[9] Er billigt Speer Verdrängung zu, während doch der rassistisch definierte Antisemitismus allererst den Holocaust ermöglicht hat: „Die von ihm unterzeichneten detaillierten Dokumente zur Baugenehmigung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau belegen, dass er genau informiert war, was passierte; aber dennoch verdrängte er es wohl aus seinem Bewusstsein.“[10] Speer benutzt Anfang der 70er Jahre weiterhin antisemitische Klischees für seine Wahrnehmung. Dennoch entging er dem Tod durch den Strang und wurde zu nur 20 Jahre Zuchthaus in Spandau verurteilt, wo es ihm gelang, „seine“ Geschichte oder „mentale Selbstorganisation“[11] zu erfinden, die durch Vanessa Lapa und ihr Team jetzt auf der Berlinale entlarvt wurde.

Torsten Flüh

Berlinale 2020
noch bis Sonntag 01.03.2020


[1] Siehe Sthalpuran. Indien 2020 https://www.berlinale.de/de/programm/programm/detail.html?film_id=202007596

[2] Ebenda.

[3] Siehe Speer Goes to Hollywood. Israel 2020 https://www.berlinale.de/de/programm/programm/detail.html?film_id=202011814

[4] Siehe Wikipedia: Wolf Jobst Siedler: Kritik.

[5] Albert Speer: Erinnerungen. Berlin: Propyläen/Ullstein, 1969, S. 44.

[6] Siehe zu Gustav Gründgens: Torsten Flüh: aufFÜHRUNG. Zu Performativität von Erika Fischer-Lichte und Gustaf Gründgens von Thomas Blubacher. In: NIGHT OUT @ BERLIN April 16, 2013 20:38.

[7] Friedrich Merz: „Ich schaue rein physisch auf viele Menschen von oben“. In: Der Spiegel 28.02.2020, 12:00 Uhr.

[8] Wolfgang Schroeter: Albert Speer. Aufstieg und Fall eines Mythos. Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2019, S. 84.

[9] Ebenda 108-111.

[10] Ebenda S. 110.

[11] Magnus Brechtken: Albert Speer. Eine deutsche Karriere, München 2006 zitiert nach ebenda S. 111.

Une Éducation sentimentale et imaginaire – Ulrike Ottingers Film Paris Calligrammes auf der Berlinale 2020

Erinnerung – Episode – Erziehung

Une Éducation sentimentale et imaginaire

Ulrike Ottinger erhält die Berlinale Kamera und zeigt Paris Calligrammes als Weltpremiere auf der Berlinale 2020

Paris Calligrammes von Ulrike Ottinger (Buch, Kamera, Regie) ist ein Film der Erinnerung an ihre Pariser Jahre zwischen 1962 und 1969 geworden. Zeitgeschichte und die Erinnerung an die individuelle Wahrnehmung der Zeit und ihrer Ereignisse überschneiden einander. Fast ist es ein wenig wie bei Goethe, wenn er in Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit vom Historisch werden des Selbst schreibt. Im Haus der Kulturen der Welt hatte Ulrike Ottinger mit Paris Calligrammes eine „Erinnerungslandschaft“ installiert.[1] Nun gibt im Film das Medium eine gewisse Linearität von der nächtlichen Ankunft als Mitfahrerin in Paris bis zur Abreise vor. Die Erinnerung wird mit harten Schnitten von historischem Bildmaterial auf aktuelle Beobachtungen kontrastiert.

Bevor es zur Weltpremiere kam, verliehen Carlo Chatrian und Marietta Rissenbeck als Leiter*innen des Internationalen Filmfestivals die Berlinale Kamera an Ulrike Ottinger. Dafür hatten sie die Schriftstellerin Yoko Tawada als Laudatorin eingeladen. Sie hatte 2011 in Ulrike Ottingers Film Unter Schnee mitgewirkt.[2] Yoko Tawada hat nicht nur in Deutschland die wichtigsten Literaturpreise erhalten, vielmehr noch hat sie kürzlich den Asahi Literaturpreis in Tokyo entgegengenommen. Sie würdigte in ihrer Rede insbesondere die Kamerafrau Ulrike Ottinger, die in einem Sturm am Meer auf der japanischen Insel Sado mit der Kamera ausharrte, als schon alle anderen Schutz suchten: „Der gnadenlose Schneesturm erteilt ihr heftige Ohrfeigen, aber sie weicht kein bisschen ab von ihrem Standpunkt und hält ihre Kamera millimetergenau auf die Naturgewalt. Ich erinnere mich, wie ich mich heimlich ins geheizte Auto geflüchtet habe. (…) Sie begegnete dem Klima sowie den Menschen, die sie filmte, stets körperlich und persönlich.“ Ausschnitte des Films wurden bei der Verleihung des Kleist-Preises an Yoko Tawada 2016 im Berliner Ensemble gezeigt.[3]

Yoko Tawada erwähnte in ihrer Laudatio auf Deutsch auch das ethnographische Forschungsinteresse von Ulrike Ottinger. Durch sie werden Gegenstände aus der „Scheune“, wie ein alter japanischer „Strohmantel“ für die Kamera praktisch erprobt. Dabei habe sich bei den Dreharbeiten herausgestellt, dass der Regenmantel aus Stroh nicht nur ohne Plastik auskomme, sondern „atmungsaktiv“ sei. Derartig mitgeteilte Beobachtungen von den Dreharbeiten erregten beim Publikum im Haus der Berliner Festspiele Heiterkeit. Ulrike Ottingers Filme sind immer zugleich visuelle und praktische Erforschung. Indem eine traditionelle, japanische Färbetechnik oder ein „alter Strohmantel“ für die Kamera angewendet werden, wird das ethnologische Wissen befragt, kinematographisch umformatiert und auf oft auch rätselhafte Weise sichtbar.
„Der Strohmantel war nicht wasserdicht wie ein Mantel aus Kunststoff, aber alle Wassertropfen wurden von den Strohhalmen fehlerfrei nach unten geleitet, so dass die Feuchtigkeit nie durchsickerte. Außerdem war er warm und atmungsaktiv. In manchen Hinsichten hat die Zivilisation vor der Verbreitung von Plastik ihren Höhepunkt erreicht. Ottingers Filme enthalten ökologische Ideen jenseits von Moral und Ideologie. Vom bösen Plastik ist nie die Rede.“

Im literarischen Format der Laudatio führte Yoko Tawada beispielsweise mit dem Begriff „atmungsaktiv“ eine Operation aus, die in den Filmen von Ulrike Ottinger visuell und narrativ auf andere Weise praktiziert wird. Man kann das als eine verfremdende Wissensoperation beschreiben. Denn der Begriff „atmungsaktiv“ kommt als Werbeversprechen der Outdoor-Bekleidungsindustrie allenthalben vor. Wer will keine „atmungsaktive“ Jacke oder Arbeitsschuhe? Google findet für den Suchbegriff „atmungsaktiv“ in weniger als einer Sekunde „(0,46 Sekunden)“ heute „(u)ngefähr 9.870.000 Ergebnisse“.[4] Anders gesagt: fast 10 Millionen Mal kommt der Begriff in Datensätzen vor. Er hat eine sehr hohe Gebrauchsfrequenz[5] in der deutschen Sprache und ist damit als Wissen besonders stark verbreitet. Im Deutschen wissen fast alle Menschen, was „atmungsaktiv“ heißt. Doch:
„Der Strohmantel war nicht nur funktionell gedacht, sondern auch mythologisch beladen. Man spricht vom magischen Strohmantel „Kakuremino“, den das beflügelte Fabelwesen Tengu besitzt. Wer ihn anzieht, wird unsichtbar.“

Wenn der modische, häufig gebrauchte Begriff von Yoko Tawada in ihrer Laudatio dann auf einen ganz anderen und geradezu widersinnigen Kontext eines alten Strohumhangs angewendet wird, kommt es plötzlich zu einer entlarvenden Komik des Wissens. Ulrike Ottinger hat in ihren Filmen wie im zwölfstündigen Chamissos Schatten (2016) immer wieder ungewöhnliche Kameraperspektiven und sehr lange Einstellungen benutzt, um Sehgewohnheiten und Wahrnehmungen als Wissen zu hinterfragen.[6] Wenn in der Ausstellung Weltreise 2015 lange Einstellungen vom Beringmeer gezeigt wurden, dann passiert alles oder nichts, wird alles oder nichts sichtbar und konfrontiert die Betrachter*innen auch mit ihrem Wissen von einer Weltreise, die vermeintlich die ganze Welt zeigt.[7] Andererseits rückt Ulrike Ottinger vor die Kameralinse, was sonst nicht gesehen wird oder nur dem fragenden Forscherauge auffällt. Auf diese Weise arbeitet die Kamerafrau Ottinger am visuellen Wissen. Dafür nutzte sie die Logbücher der Forscher Chamisso, Steller, Cook.

Nachdem Ulrike Ottinger aus den Händen von Carlo Chatrian die Berlinale Kamera entgegengenommen hatte, wurde Paris Calligrammes als Weltpremiere gezeigt. In ihrer kurzen Dankesrede sagte Ottinger, dass sie sich besonders über den Preis, den 2019 Wieland Speck zusammen mit Agnès Varda, Sandra Schulberg und Hermann Zschoche erhalten hatte[8], freue, weil er aus dem Modell einer analogen Filmkamera bestehe. Denn es sei die Arbeit mit der Kamera, die ihr immer besonders wichtig gewesen sei, obwohl sie immer auch das Drehbuch geschrieben und Regie geführt habe. Die Berlinale Kamera ist letztlich eine Montage aus 128 Einzelteilen von Silber oder Titan. Dabei sind viele der Teile vom Schwenkkopf bis zum Stativ beweglich. Insofern steckt in der Trophäe eine unbedingte Liebe zum Handwerk. Ulrike Ottinger verband den Preis mit dem Wunsch, dass er ihr bei der Realisierung eines ihrer großer Spielfilmprojekte helfen möge.[9]

Für Paris Calligrammes zeichnet Ulrike Ottinger mit Buch, Regie & Kamera verantwortlich, während der Film eine materialreiche Montage aus unterschiedlichem Material ist. Vor allem enthält er neben eigenen Aufnahmen aus den letzten Jahren umfangreich recherchiertes Material aus Film- und Fernseharchiven, wofür Marguerite Vappereau zuständig war. Denn Ulrike Ottinger arbeitete als Malerin und Grafikerin in Paris und hörte Vorlesungen u.a. von Claude Levi-Strauss an der Sorbonne, in deren Nachbarschaft sie in einem winzigen Dachstudio ohne Küche und Bad lebte. Durch die räumliche Nähe zur Sorbonne bekam sie denn auch die Revolte der Student*innen an der Universität direkt mit. Die Rauch- und Tränengasschwaden drangen durch das Fenster und die Tür so unangenehm in ihre Wohnung ein, dass sie sie verkleben musste. Doch diese Formulierungen sind schon wieder ein anderer Modus als der ihrer(!) filmischen Erzählung.

© Ulrike Ottinger. Schaufenster der Librairie Calligrammes: Für den Film mit meinen Büchern wiederhergestellt, Paris, 2018

Ulrike Ottinger erzählt im Off die Geschichte ihrer Ankunft in Paris, nachdem ihre Isetta auf der Fahrt von Konstanz ein gutes Stück vor Paris, sagen wir, den Geist aufgegeben hatte, mit ruhiger Kommentarstimme anders als es die Montage aus einem Gangsterfilm in Schwarzweiß vorführt. Es liegt in ihrer Erzählung im Unterschied zum Drehbuch und der „Erinnerungslandschaft“ eine Geste des Wissens. Die zwanzigjährige, bildende Künstlerin fuhr mit dem Anspruch, wenn nicht aller so doch sehr vieler junger Menschen nach Paris, um berühmt zu werden. Die politisch-sozialen Zeitumstände führten allerdings nicht dazu, dass sie als Malerin schlagartig berühmt wurde. Vielmehr wurde die Rückkehr nach Konstanz 1969 zu einem ambivalenten Erfolg der Gefühle, der politischen und akademischen, ebenso wie der visuellen Erfahrung – und Erziehung. Die Erinnerung wird zu einem überreichen Strom der Faszinationen, Bilder, Bruchstücke, Sounds, Gerüche (Tränengas, Barrikadenrauch!) und Gefühle. Im Entwicklerbad der Erinnerung verwandeln sich die Ereignisse in kleine Sensationen.

© Ulrike Ottinger. Fritz Picard, Paris, ca. 1966

Der bewegende Film in seinem visuellen und akustischen Materialreichtum ist in 10 thematische Episoden eingeteilt. Und an dieser Stelle muss der Berichterstatter einfügen, dass die Kamerafrau Ulrike Ottinger über das Visuelle hinaus sinnlich erzählt. Eine der ersten Sequenzen erzählt von einem Geräusch, das sie eines Morgens wahrnahm, doch nicht einordnen konnte, bis sie diesem folgte, um herauszufinden, dass die Straßen und vor allem Plätze in Paris morgens durch das Aufdrehen kleiner Hydranten im Bordstein gereinigt werden. Tatsächlich handelt es sich dabei um ein Pariser Geräusch der Moderne. Die grünen Straßenfeger fegen den Staub an den Bordstein, um diesen dann mit dem Wasser in die Kanalisation zu spülen. Im Film wird diese Erinnerung und Praxis auf einem kleinen, stillen Platz mit 4 grüngekleideten Straßenfegern zelebriert. An einer anderen Stelle spricht sie von den Geräuschen von der Straße, wenn die Bistrotische nachts rein und morgens wieder hinausgestellt werden. Dann wieder erwähnt sie Gerüche auf den Märkten oder des Tränengases.

© Ulrike Ottinger. Brasserie Lipp, Paris, 2018

Nach einer Art Vorspiel der Ankunft wird der Film mit der Episode „Fritz Picard und die Librairie Calligrammes“ in der Rue du Dragon eröffnet. Ulrike Ottinger durfte das Schaufenster der antiquarischen Buchhandlung dekorieren, wie zu Zeiten Fritz Picards in den 60er Jahren. Offenbar hat auch Georg Stefan Troller in den 60er Jahren für das Fernsehen des Westdeutschen Rundfunks in seiner Sendung Pariser Journal über Fritz Picard und die Librairie Calligrammes berichtet. Ulrike Ottinger erinnert das Innere an eine dadaistische Skulptur. In den Fernsehfilmsequenzen aus dem Antiquariat sind die Bücher nach einer gewiss eigensinnigen Systematik geschichtet und gestapelt. Der sozialistische und jüdische Emigrant Fritz Picard kaufte in Paris die deutschen Bücher auf Flohmärkten, die die deutschen Juden auf der weiteren Flucht oder Deportation zurücklassen mussten. So wurde die Librairie Calligrammes zu einem Memorial oder einzigartigen Erinnerungskunstwerk des Verlustes und der deutschen Intelligenz vor der Machtergreifung der Nationalsozialistischen Partei Deutschlands (NSDAP).

© Ulrike Ottinger.

Ulrike Ottingers Film zeigt auf sehr ruhige Weise eine unerschütterliche Haltung zur Geschichte der Flucht vor den rassistischen Verbrechen vor allem in Paris. Sie lässt die Verbrechen fast unkommentiert. Das Calligrammes bearbeitete ein Trauma. Die erinnernde Erzählung wird zu einem Kommentar in einer Zeit, in der sich ein Landespolitiker der FDP von der geschichtsrevisionistischen und offen rassistischen Partei Alternative für Deutschland wählen und sich von deren Landesvorsitzenden zum Ministerpräsidentenamt beglückwünschen lässt. Anders gesagt: Man kann heute sehr ruhig erinnerte Fakten erzählen, um die Ungeheuerlichkeit taktischer Politiken in ihrer Schamlosigkeit bloßzustellen. In der Episode „Das Atelier Friedlaender“ erinnert sich Ulrike Ottinger an die Arbeit mit dem Druckgrafiker Johnny Friedlaender, bei dem sie verschiedene Drucktechniken erlernte ebenso wie auf homosexuelle Männer und Frauen traf.

© Ulrike Ottinger. Mein Malerfreund Fernand Teyssier desertierte, um nicht in den brutal geführten Algerienkrieg ziehen zu müssen. Paris, 1965/66

Die Künstler*innen und Autor*innen, die Ulrike Ottinger im Calligrammes von Fritz Picard traf, waren nicht nur deutsche Emigranten, die als Juden verfolgt wurden, sondern zum Großteil auch politisch verfolgte Sozialisten. Die Fotografin Gisèle Freund, die der Berichterstatter 1993 für Recherchen in ihrer Dachwohnung in Paris aufsuchte, war beispielsweise nicht geflohen, weil sie 1933 schon diskriminiert wurde, sondern weil sie in Frankfurt studierte und Kontakte zum Sozialistischen Studentenbund hatte. Ähnliche Erfahrungen machten auch Johnny Friedlaender, Fritz Picard und dessen Frau Ruth Fabian. Doch Ulrike Ottinger analysiert ihr faszinierendes Umfeld in Paris nicht. Vielmehr lässt sie sich auf das Pariser savoir vivre der Künstler*innen und Literat*innen ein. Die Episode „Saint-Germain-des-Prés“ gerät zum Mythos einer Literatur- und Kunstszene, die heute nicht nur gänzlich gentrifiziert, sondern zur internationalen Immobilienanlage geworden ist. 72m² kosten im 6eme Arrondissement schon mal 3 Millionen US Dollar.

© Ulrike Ottinger. Monument zu Ehren der für Frankreich gefallenen Soldaten aus den Kolonien Kambodscha und Laos. Ehemaliger Parc Colonial, Paris, 2017

Ulrike Ottinger war wie man heute sagen müsste nah dran an den französischen Diskussionen und Verwerfungen, was in der Episode „Meine Pariser Freunde und das algerische Trauma“ deutlich wird. Noch in Konstanz verhalf sie einem Freund aus der französischen Armee zur Desertation, weil dieser nicht in den Krieg nach Algerien ziehen wollte. Wie tief dieses Trauma immer noch in der französischen Gesellschaft eingegraben ist, wird deutlich an dem sogenannten Massaker von Paris am 17. Oktober 1961, das der Polizeipräsident von Paris Maurice Papon zu verantworten hatte. Doch er wurde nie dafür belangt. Es gab keinen Untersuchungsausschuss und Papon verstarb im Alter von 96 Jahren am 17. Februar 2007. Zudem war er als Beamter der Vichy-Regierung für die Deportation der Juden aus Frankreich nach Auschwitz verantwortlich gewesen.

Über die Episoden „Pop! Meine Pariser Formenexperimente“ und „Die Künstler des Montparnasse“ als Stationen einer Kunsterfahrung kommt Ottinger zur „Präsenz des Kolonialen – Mein ethnografischer Blick in die Welt“. Sie war von den Architekturen des französischen Kolonialismus und die Ethnologie fasziniert. Das Versprechen der Schönheit und der Vielfalt faszinierten sie im Parc Colonial im Bois de Vincennes für die in den Kolonien gefallenen, französischen Soldaten des 19. und 20. Jahrhunderts oder des Musée nationale de l’histoire de l’immigration zeugten in den 60er Jahren noch vom Kolonialreich der Franzosen und einer glorreichen Kolonialgeschichte. Die Denkmäler für die Kolonialkrieger sind heute verfallen. Doch als Jardin d’agronomie tropicale de Paris erfreut sich das koloniale Erbe heute als Natur- und Architekturtableau einer gewissen Beliebtheit. Offenbar gibt es zum wenigstens problematischen, historischen Hintergrund keine ausführlichere Diskussion oder gar Erinnerungskultur.[10]   

© Ulrike Ottinger. Opfertempel zu Ehren der für Frankreich gefallenen Vietnamesen, ehemaliger Parc Colonial, Paris, 2017

Die Präsenz der ambivalenten Kolonialgeschichte Frankreichs finde Ulrike Ottinger in den afrikanischen Friseurläden am Gare du Nord. Ihr „ethnografischer Blick“ sieht in den geflochtenen Haartrachten der Afrikanerinnen eine andere Lebenspraxis aus Sorgfalt und Schönheit. Das Kolonialmuseum im Palais de la Porte Dorée von 1931 ist mehrfach umbenannt worden. Es widmet sich nun der Geschichte der Immigration, die in diesem Jahr auf 200 Jahre zurückblickt. Faszination, Edukation und Schrecken überschneiden während der Pariser Jahre von Ulrike Ottinger und gewinnen durch die Erinnerung wechselnde Perspektiven. In Paris wird die bildende Künstlerin, die sich an einer künstlerischen Form der narrativen Grafik ausprobiert, mit einer neuen Sichtweise auf das Kino vertraut gemacht. Die Episode „Kosmos Kino – Die Cinémathèque Française“ bekommt eine wunderbare Pointe dadurch, dass Ottinger als Kind mit ihren Eltern in Konstanz immer die französischen Filme im Kino sah. Als sie später ihren ersten Film mit deutscher Sprache sah, wollte sie gar nicht glauben, dass das richtiges Kino sei.

© Ulrike Ottinger. , „Allen Ginsberg“, 1966, Puzzle, Acryl auf Holz, 85 x 115 cm

Das Geheimnisvolle der fremden Sprache im Kino der Kindheit hat Ulrike Ottingers Verhältnis zum Film und zu den Sprachen geprägt. Ihr geht es, so lässt sich auch mit Paris Calligrammes sagen um eine Geheimniskunst, eine Kladestinographie in einer Welt, in der die Sichtbarkeit des Films landläufig zum Offensichtlichen und zum punktuellen Wissen geworden ist. Die Kladestinographie lädt zur Bildforschung ein. Sie zeigt nicht einfach. Mit den Episoden „Schatztruhen der Künste“ und „Politische Revolte“ endet der Film nach einem „Epilog“. Mit der politischen Revolte wird nicht zuletzt daran erinnert, wie Daniel Cohn-Bendit an der Sorbonne zur Identifikationsfigur für die protestierenden Studenten und von der Presse als „le juif allemand“ diskreditiert wurde. Frankreich und Paris waren keinesfalls frei von einem tief verwurzelten Antisemitismus. Der Generalstreik und die Revolte führten für Ulrike Ottinger, wie sie im Film sagt, zum Verlust von Freundschaften.

Nicht zuletzt die Malerei und die Bildkaskaden von Gustave Moreau, dessen Museum sie in Paris häufig besuchte, montierte Ulrike Ottinger später in ihre Bühnenbilder. Die Pariser Bilderwelten schimmern 1972 in ihrem ersten, no-budget Film Laokoon & Söhne durch. Die riesige Schlange des Laokoon, die über die Hänge am Bodensee getragen wird, erinnert an Gustave Moreau. Der Film als Kladestinographie wird von Ulrike Ottinger mit Paris Calligrammes intensiv gefeiert, eingedenk der Tatsache, dass bei 129 Minuten nur ein Bruchteil des Bildmaterials gezeigt werden kann. Statt 12 Stunden wie bei Chamissos Schatten sollte sich jede/r Zeit nehmen für die Geheimniskunst der Bilder in etwas mehr als 2 Stunden.

Ulrike Ottinger
Paris Calligrammes
im Kino ab 5. März 2020


[1] Siehe Torsten Flüh: Erinnerungslandschaft und animiertes Drehbuch. Zu Ulrike Ottingers Ausstellung Paris Calligrammes im Haus der Kulturen der Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN 26. August 2019.

[2] Siehe Torsten Flüh: Magie der Archive. Floating Food und Unter Schnee von Ulrike Ottinger. In: NIGHT OUT @ BERLIN September 13, 2011 12:37.

[3] Siehe Torsten Flüh: Vom Netz der Sprachen und Literaturen. Zur Kleist-Preis-Verleihung an Yoko Tawada im Berliner Ensemble. In: NIGHT OUT @ BERLIN November 22, 2016 22:24.

[4] Google Suchergebnisse für „atmungsaktiv“ um 11:40 Uhr am 25.02.2020.

[5] Der Begriff „Gebrauchsfrequenz“ wird in Analysen zur Sprachökonomie angewendet. Untersucht werden mit der „Gebrauchshäufigkeit“ nach Arne Zeschel Effekte für „Prozesse der Konstruktion anhand (impliziter) Sprechereinschätzungen zum Verarbeitungsaufwand“. Insofern wird der Begriff hier ein wenig verschoben. Arne Zeschel: Gebrauchsfrequenz und Registerspezifik als Determinanten der Konstruktionswahl. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik. Stuttgart [u.a.]: Metzler, 2013. Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (Publikationsserver 2017)

[6] Siehe auch: Ulrike Ottinger: Chamissos Schatten. Eine Filmreise zur Beringsee in drei Kapiteln. 2016, Farbe, 35mm/DCP, 12St. (Website)

[7] Siehe: Torsten Flüh: Ein Fest der Faszination. Zur Ausstellung Weltreise – Forster, Humboldt, Chamisso, Ottinger im Dietrich-Bonhoeffer-Saal der Staatsbibliothek zu Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN Dezember 15, 2015 20:56.

[8] Siehe: Torsten Flüh: Wie Menschen versklavt werden. Zu Rodd Rathjens Buoyancy als Weltpremiere in der Sektion Panorama und die Berlinale Kamera für Wieland Speck. In: NIGHT OUT @ BERLIN Februar 11, 2019 23:11.

[9] Berlinale Kamera: Preisverleihung im Haus der Berliner Festspiele. (Website)

[10] Sieh Wikipedia Jardin d’agronomie tropicale de Paris

Traumhafte Animationskünste – Das Wachsfigurenkabinett – Berlinale Classics 2020

Leben – Wachsfigur – Erzählen

Traumhafte Animationskünste

Zur Weltpremiere der digital restaurierten Fassung von Das Wachsfigurenkabinett auf der Berlinale 2020 

Schon am frühen Freitagabend erlebte im Friedrichstadt Palast die digital restaurierte Fassung von Paul Lenis Stummfilm Das Wachsfigurenkabinett mit neuer Live-Musik des Ensembles Musikfabrik ihre Weltpremiere. Am Montag, den 24. Februar wird der Film ab 23:25 Uhr ausgestrahlt und gestreamt. Auf einem Jahrmarkt wird ein junger Dichter (Wilhelm Dieterle) von einem Schausteller (John Gottowt) engagiert, Geschichten für die Wachsfiguren zu erfinden, um sie zu beleben. Die scheinbar simple Anlage der Handlung gibt einen um so stärkeren Wink auf das Genre der Wachsfiguren und ihrer Belebung durch Erzählungen, die zugleich als imaginärer Traumfilm ablaufen. Durch die Traumerzählungen werden Harun al-Raschid, Iwan der Schreckliche und Jack the Ripper „lebendig“. Das Genre Stummfilm erweckte 1924 die Wachsfiguren zum Leben durch Imagination. Der Stummfilm erzählt somit von seiner medialen Geschichte.

Die Geschichte kommt in Das Wachsfigurenkabinett zweimal vor. Einerseits werden auf dem Jahrmarkt zum Vergnügen Wachsfiguren aus der Geschichte gezeigt, die für das Unheimliche bereits bekannt sind. Doch als Wachsfiguren bleiben Harun al-Raschid (Emil Jannings), Iwan der Schreckliche (Conrad Veidt) und Jack the Ripper (Werner Krauß) geradezu sprichwörtlich tot. Sie bewegen sich nicht und ihr Gesicht bleibt ausdrucklos wächsern. Es muss etwas hinzukommen, das eine Bewegung in Gang setzt. Diese Bewegung wird sowohl maschinell wie emotional sein. Vor allem aber beginnt sie erst einmal mit einem vagen Wissen von den Wachsfiguren, das vom Dichter mit seinem Begehren nach der Tochter (Olga Belajeff) des Schaustellers verknüpft wird. Das Begehren des Dichters wird auf die Figuren eines Bäckers, eines russischen Bräutigams und ihm selbst im Angsttraum übertragen. Er kämpft jeweils gegen die lebendig gewordenen Wachsfiguren um eine Frau.

Das Wachsfigurenkabinett von Paul Leni ist in der deutschen Originalversion verbrannt. Eine englische Version des British Film Institut mit englischen Zwischentiteln wurde nun als Grundlage für die Rekonstruktion des Films mit weiteren Kopien aus Frankreich und Tschechien kombiniert. Da die unterschiedlichen Nitratkopien verschiedene Grade an Veränderungen des Filmmaterials aufweisen, mussten die Teile und Ergänzungen digital angepasst werden. Der Film hat nun eine brillante Bildqualität, die nicht zuletzt zahlreiche visuelle Experimente in der Bildgestaltung zur Geltung bringen. Überblendungen, Mehrfachbelichtungen und Spiegelungen werden von dem, wie es 1924 hieß, „Operateur“ also Kameramann Helmar Lerski mehrfach eingesetzt. Die Kamera arbeitet insofern mit visuellen Innovationen und nachträglichen Kolorierungen am Traum mit. Bernd Schultheis, Olav Lervik, Jan Kohl haben als Komponisten mit dem Ensemble Musikfabrik unter Leitung von Elena Schwarz ein neuartiges Klangkonzept für den Film erarbeitet. Es wird darauf zurück zu kommen sein.

Was ist ein Wachsfigurenkabinett oder Panoptikum? Das Wachsfigurenkabinett trägt im Film das Schild „Panopticum“. Die Begriffe werden alternativ gebraucht. In Hamburg wurde am Spielbudenplatz 1879 das noch heute existierende Panoptikum gegründet. In einem Panoptikum mit seiner Nähe zum Jahrmarkt oder Vergnügungsviertel wie der Reeperbahn vor dem Stadttor, Millerntor, wird weitgehend triviales Wissen in Wachsfiguren verkörpert. Das reicht von landläufig bekannten Berühmtheiten, denen sich das Publikum lebend kaum nähern kann, bis zu plastischen Darstellungen von sexuell übertragbaren Krankheiten, den Geschlechtskrankheiten, wie sie im Panoptikum am Spielbudenplatz gezeigt wurden. Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett soll seinen Ursprung in dem während der französischen Revolution durch eine Guillotine am 16. Oktober 1793 auf dem Place de la Concorde abgetrennten Kopf der französischen Königin, Marie Antoinette, haben. Anders gesagt: Im Panoptikum geht das Versprechen alles in einer „Gesamtschau“ zu sehen zu bekommen, auf erstens eine eigenartige Kombination von Tod und Leben und zweitens ein vages Wissen, das von den Besucher*innen affiziert wird.

Henrik Galeen als Drehbuchautor führt insofern mit dem Dichter als Erzähler und Wissensvermittler eine Verdopplung der Wissensfunktion des Panoptikums vor. Gleichzeitig wird mit dem Dichter für die Kritiker um 1924 erkennbar das Verhältnis von Literatur und Film angesprochen. Das nicht mehr ganz so junge Genre Film bzw. Bioscope oder Kinematographie wird noch im Feld zwischen Literatur und Bild diskutiert, was besonders deutlich an Das Wachsfigurenkabinett zum Beispiel von Dr. Mendel in der Lichtbild-Bühne am 15.11.1924 kritisiert wird. Die Frage nach dem literarischen Anspruch des Films wird von ihm entschieden verworfen.
„Ach nein! Mit „Literatur“ hat dieser Film gar nichts zu tun. Im Gegenteil. Literarisch schwächeres als das Manuskript Henrik Galeens gibt es kaum noch: Sprunghaft, ohne innere Zusammenhänge, ohne dramatische Steigerung. Also literarisch und dramaturgisch fast wertlos (hier wohl auch einer der Hauptgründe für den lauen Erfolg!).“[1]

Die Sprunghaftigkeit des Manuskripts ließe sich ebenso gut als Innovation der Filmerzählung formulieren. Sie folgt keiner Logik der linearen Dramaturgie. Vielmehr wird wie mit dem Arm der Wachsfigur Harun al-Raschid motivisch oder traumlogisch erzählt. Der Schausteller repariert gerade den Arm der Wachsfigur, als seine Tochter den Dichter hereinführt. Dieser sozusagen lose Arm wird vom Dichter fast surrealistisch zum Anlass genommen, um die Geschichte zu erzählen, wie der Kalif seinen Arm verlor. Die Sprunghaftigkeit der Erzählung zeigt sich nun darin, dass zunächst gar nicht von dem Arm erzählt wird. Stattdessen wird die durchaus komische Geschichte vom Bäcker und seiner bezaubernd schönen Frau vorgeführt. Sie überschneidet sich mit der märchenhaften Erzählung vom Kalifen, der jede Nacht eine andere Frau begehrte, um sich nicht zu langweilen. Insofern montiert Galeen zwei Erzählungen, indem die Frau eine Mutprobe von ihrem Mann verlangt. Er entscheidet sich den sagenhaften Wunschring des Kalifen zu stehlen.

Ein weiterer Aspekt der Sprunghaftigkeit besteht darin, dass eben die drei sehr unterschiedlichen Geschichten in einer Montage kaum auf einander Bezug nehmen. Verknüpft werden sie allein durch den Umstand, dass der Dichter sie schreibt und sich sowie die Tochter des Schaustellers als Paar imaginiert bzw. erträumt. Doch genau darin bezieht sich Henrik Galeen sehr genau auf das Wissenskonzept des Panoptikums. Denn dort haben die ausgestellten Wachsfiguren nichts miteinander zu tun, außer dass sie ein leichter oder stärkerer Grusel der Betrachter*innen miteinander verbindet. Das Wissen von der Wachsfigur wird nicht kontextualisiert. Oft werden sie von den Besucher*innen gar nicht erkannt und erhalten erst mit dem Namen und einer kurzen Geschichte ihren Reiz. Genau dafür wird eben kein Wissenschaftler, Historiker oder Forscher angestellt, sondern der Dichter als Literatur- und Wissensproduzent.

Das Wachsfigurenkabinett oder Panoptikum als Raum des Wissens, Raum einer Begegnung mit dem Wissen tendiert zum Museum, beansprucht dessen Sichtbarkeitsversprechen und erweckt die imaginäre Affizierung mit diesem Wissen. Man könnte sagen, dass Henrik Galeen (Drehbuch) und Paul Leni (Regisseur) sehr gut verstanden haben, wie ein Panoptikum funktioniert. Genau diese Funktionsweise generiert sozusagen den Plot oder auch Literatur. Der visuelle Expressionismus des Films mit seinen Überzeichnungen, Vervielfältigungen, Vertauschungen, Verzerrungen, Kolorierungen speist sich bereits aus der Funktionsweise des Panoptikums. Die orientalische Stadt des Kalifen wird als außerordentlich labyrinthisch inszeniert. Damit wird zugleich eine durchaus panische Orientierungslosigkeit im Raum des Wissens für die Besucher*innen gespiegelt.

Screenshot Trailer „Das Wachsfigurenkabinett“ (Torsten Flüh)

Das visuelle Wissen des Panoptikums/Wachsfigurenkabinetts wird in seiner Aneinanderreihung zur Herausforderung für die Besucher*innen, worauf der Kritiker in Lichtbild-Bühne einen Wink gibt. Insofern scheitert der Dichterautor an der Erwartung, „innere Zusammenhänge“ herzustellen. Das Wachsfigurenkabinett als Medium sträubt sich geradezu gegen „innere Zusammenhänge“. Sie können einzig und allein in der Übertragung des Wissens auf die Wahrnehmung bzw. als Imagination hergestellt werden. Genau davon erzählt der Film. Auch im Film-Kurier wird Das Wachsfigurenkabinett genau mit dieser Problematik von Eduard Jawitz diskutiert. Denn was die (vermeintliche) Literatur nicht lösen kann, erscheint nun als „Bild“:
„Eins ist der Film zunächst: Bild! Ohne den Maler, den Architekten, ist er auch nicht Bild, sondern etwas anderes. (Man ahnt: was!!) Ausgenommen zweieinhalb Filmdichter gibt es die guten Literaten, die schuld sein sollen, daß man den Film in weiteren Kreisen nicht Kunst nennt: woraus manche schließen, daß die schlechten Literaten die guten Filme machen, was falsch ist.“[2]

Screenshot Trailer „Das Wachsfigurenkabinett“ (Torsten Flüh)

Insbesondere in den 1920er bildet sich in den Wissenschaften wie z.B. mit Magnus Hirschfelds Sexualwissenschaftlichen Bilderatlas ein neuartiges Bildwissen heraus.[3] Dieses Bildwissen wird nicht zuletzt von Paul Leni mit seinem Stummfilm verknüpft. Es ist als biete nicht zuletzt Das Wachsfigurenkabinett jene flüchtigen Traumbilder, die mit Jack The Ripper zu einer beängstigenden Größe und Macht heranwachsen können, die in der Psychopathologie mit Psychosen benannt werden. Die Vielzahl der Bilder und ihre Überlagerungen durch filmtechnische Doppelbelichtungen, vereiteln ein Bild, in das sich Wissen deponieren ließe. Oder mit Paul Lenis Worten:
„Statt eines einzigen Bildes fünfzig, sechzig machen, Leben zerlegen, bis noch das Wegwerfen eines Streichholzes seelisch-malerische Symbolhandlung wird, das ist Filmkunst! Wie der Dichter im Film malerisch sehen muß, so muß der Maler dichterisch empfinden. Es gibt nicht Rücksichten auf ein Milieu, jedes Milieu ist nichts anderes als Ausdruck von Menschen, die sich in ihm bewegen.
Das Theater kann vor einfachem, schwarzen Vorhang spielen, hier tönt alles das Wort. Der Film braucht Hintergründe; Aspekte, die Schauplätze werden, Seelenschauplätze!“[4]

Screenshot Trailer „Das Wachsfigurenkabinett“ (Torsten Flüh)

Wenn man den Film Das Wachsfigurenkabinett beschreiben, besprechen möchte, dann wird die Vielzahl und Diversität der Bilder durchaus zum Problem. Jede Einstellung als „Seelenschauplatz“ ist mit ihren Kulissen und vor allem der „Beleuchtung“ genau ausgeleuchtet. Die orientalische Stadt mit ihren Zwiebeltürmen und der Dachterrasse des Palastes spiegelt ein helles, herrschaftliches Leben des Kalifen. Die enge Behausung des Bäckers erhält kaum „Sonnenlicht“, alles wird zu Schatten verzerrt. Das Schlafgemach des Kalifen wird zum Schauplatz für die Verwandtschaft von Wachsfigurenkabinett und Film. Was auf dem Schauplatz stattfindet, unterliegt selbst schon immer dem Imaginären. Denn Harun al-Raschid liegt in einem Schlafgemach. In seinem Ring spiegelt sich der Bäcker als sein Begehren kaleidoskopartig. Voller Schauder schlägt er den Arm des Kalifen mit einem Säbel ab, während die Zuschauer*innen wissen könnten, dass er Harun al-Raschid gar nicht den Arm abschlagen kann, weil dieser bei seiner Frau ist.

Screenshot Trailer „Das Wachsfigurenkabinett“ (Torsten Flüh)

Die Verwechslung der Körper und der toten Bilder mit dem Leben, mit dem lebendigen Körper, die im Medium Kinematographie visuell immer angelegt ist, wird insofern selbst vorgeführt. Die Dramatik verfängt sich in den Betrachter*innen, wenn der Arm abgeschlagen wird. Deshalb auch ist es in der Auflösung so wichtig, dass der Kalif selbst die Verwechslung als Täuschung aufklärt. Immer wenn er sich in der Stadt zu schönen Frauen begebe, lege er eine Wachsfigur in sein Bett. Die Pointe liegt nun gerade darin, dass der überaus dicke Kalif von Emil Jannings derart komisch überzeichnet wird, dass ihm ein sexueller Übergriff kaum noch zuzutrauen ist. Es ist alles eine Frage der „Beleuchtung“. So heißt es über Ernst Stern bei Eduard Jawitz:   
„Weil es nicht filmwirksame oder unwirksame Farben gibt, hingegen viele Vorurteile von Operateuren und Regisseuren, hat Stern im WACHSFIGURENKABINETT (das er gemeinsam mit Leni machte) die Kostüme gelb oder blau getönt und es überstrahlt nicht, sofern nur der Operateur richtig beleuchtet. … Das Objektiv muß durch Malerei getäuscht werden! Noch ist ja alles viel zu literarisch und bühnenmäßig. Eins aber dankt man dem Film: die Sicherheit in bezug auf das Formale der Architektur, die ganz präzise Sicherheit, den Kern des Architektonischen auszudrücken. Soll der Bau eine Idee interpretieren, so sind die Baustile mit unsäglicher Sorgfalt durchzuführen. Es wird jedes Bild einprägsam sein, sofern der Filmbau seinen Kern adäquat wiedergibt.“[5]

Screenshot Trailer „Das Wachsfigurenkabinett“ (Torsten Flüh)

Am stärksten wird die Beleuchtung in der Iwan-Sequenz. Das Halbdunkel und die labyrinthischen Treppen und Gänge der Kerker werden Angst-Räumen, in denen sich auf auch komische Weise – deutliches Lachen im Publikum bei der Weltpremiere – Iwan selbst verfängt. Denn das überdimensionale Stundenglas, das seinen Gifttod anzeigen soll, dreht er, in der Angst zu sterben, bis an das Ende seiner Tage. Wodurch wurde Iwan vergiftet? Das Stundenglas funktioniert nicht zuletzt als Prognose, dass derjenige dessen Namen auf das Glas geschrieben ist, sterben wird. Iwan kann sich an diesem machtvollen Wissen delektieren. Doch genau das wird ihm zum Verhängnis. Er wird in einem Zustand zwischen Leben und Tod sein Stundenglas drehen, bis er stirbt. Die Angst vor dem Tod verhindert sozusagen sein Leben.

Screenshot Trailer „Das Wachsfigurenkabinett“ (Torsten Flüh)

Die Komponisten Bernd Schultheis, Olav Lervik, Jan Kohl haben mit dem Ensemble Musikfabrik eine Stummfilmmusik ausgearbeitet, die den Film bisweilen sprechen, gar schimpfen lässt. Violine und Posaune werden für eine Musiksprache eingesetzt, die das Komische, Komödiantische hervorheben. Aber auch Spannung wird akustisch aufgebaut. Dann wieder kommentiert die Musik die Filmsequenz. Insofern spricht die Musik nicht nur das Imaginäre an, es wird auch auf vielfache Weise gewendet. Bei konventionellerer Stummfilmmusik könnte der nicht zuletzt literarische Reichtum von Das Wachsfigurenkabinett abgeflacht werden. Vielleicht auch war das dem Film bei seiner Uraufführung 1924 passiert. Doch davon berichtete niemand, obwohl es doch so viel zum Bild beiträgt.

Torsten Flüh  

ARTE
Das Wachsfigurenkabinett
Paul Leni 1924
24. Februar 2020 23:25 Uhr
danach bis 24.03.2020 in der Mediathek


[1] Dr. M–l. (= Dr. Mendel), Lichtbild-Bühne, Nr. 134, 15.11.1924.

[2] Eduard Jawitz: Malerei, Architektur, Plastik und Kunstgewerbe im Film. Eine Rundfrage über dekorative Probleme. In: Film-Kurier, Nr. 33, 7.2.1924.

[3] Vgl. zu Magnus Hirschfelds „Bilderatlas“ bzw. „Sexualwissenschaftlicher Bilderatlas zur Geschlechtskunde“ (1930): Torsten Flüh:  Gefeierte Enden der Sexualwissenschaft. Zum Festakt für Magnus Hirschfelds 150. Geburtstag im Haus der Kulturen der Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN Mai 18, 2018 16:46.

[4] Paul Leni nach Eduard Jawitz: Malerei … [wie Anm. 2].

[5] Ebenda.

Richard Wagners Späße mit dem Bürgertum – Die Meistersinger von Nürnberg an der Semperoper

Uhr – Ehe – Maschine

Richard Wagners Späße mit dem Bürgertum

Zur Neuinszenierung Die Meistersinger von Nürnberg an der Semperoper unter der Leitung von Christian Thielemann

Ende Januar hatte die Inszenierung Die Meistersinger von Nürnberg an der Semperoper in Dresden Premiere. Die Sächsische Staatskapelle Dresden, die auf eine 472jährige Geschichte zurückblicken darf, während die Staatskapelle Berlin in diesem Jahr erst das Jubiläum seiner 450jährigen Geschichte feiert, spielte unter ihrem Chefdirigenten Christian Thielemann als „fließ(e) (alles) scheinbar natürlich ineinander“, wie es der Dirigent selbst formuliert.[1] Ein Ohrgenuss aus 45 einzelnen Leitmotiven. Gleich einem allerfeinsten, hochausdifferenzierten, exquisiten Uhrwerk schnurrt die Musik aus dem Orchestergraben in den dritten Rang erste Reihe Mitte. Das Orchester ist etwas präsenter als die Stimmen der Weltklassesänger*innen. Sixtus Beckmessers verstimmte Laute aus der Harfe im Orchestergraben setzt sich hart durch. Am Schluss dann Lindenbaum, Meisterehr‘ und Meisterverwerfung – Riesenapplaus!

.

Klaus Florian Vogt als Walther von Stolzing, „ein junger Ritter aus Franken“ ist nicht mehr ganz so jung. Aber das zählt gerade auf der Opernbühne als Raum des Imaginären wenig. Dafür singt Vogt den Stolzing in den lyrischen Höhen berückend schön. Sein Preislied kann er auf der Festwiese kaum beenden, sogleich müssen alle Anwesenden in den Sound einstimmen. Bei Wagner geht es nicht mehr um Klang und Töne, sondern Sound auf der Opernbühne, wo das Publikum als „Volk“ gespiegelt teilhaben soll. Nach den alten Regeln der Opernkultur müsste ein Beifallssturm nach Stolzings Preislied, fast einer Arie gleich, losbrechen. Nicht so nach des Meisters Richard Wagner kompositorischen Regeln. Stolzings Preislied unter dem Lindenbaum um des Goldschmiedemeisters Tochter Eva (Sara Jakubiak) ehelichen zu dürfen, löst sich auf in einer fast infektiologischen Polyphonie im „Volk“. Scheinbar „natürlich“ als wären ’s die Leut‘ selbst, zieht Wagner insbesondere durch das Dirigat von Christian Thielemann das Publikum in seinen pulsierenden, letztlich erotischen Bann.

.

Die Opernbühne ist eine verkehrte Welt, wo genau das aufgeführt wird, was das Publikum zu hören und zu sehen wünscht. Richard Wagners „Oper“ Die Meistersinger von Nürnberg mit dem „Libretto vom Komponisten“ von 1868 wird landläufig als romantische, gar sprichwörtliche „Butzenscheiben“-Romantik rezipiert und gepflegt, so wie es der Regisseur des Abends Jens-Daniel Herzog schon am Nationaltheater Mannheim erfahren hat.[2] Doch wie funktioniert das in Libretto- und Partiturtext? Auch die Partitur ist zunächst einmal Text aus einem Schriftsystem, man könnte sagen, dass sie eine Notenliteratur ist. Libretto und Partitur, zumindest wenn Christian Thielemann sie liest und vorführt, klaffen auf merkwürdige Weise auseinander. Das fällt insbesondere dann auf, wenn eine hohe Textverständlichkeit durch Sänger wie Georg Zeppenfeld als Schuster Hans Sachs gewährleistet wird. Die differenzierten Auseinandersetzungen des 1. Aktes, die schnell ermüden können, werden auf einmal wichtig und spannend.  

.

Der grobe, aber auch subtile Witz des Librettos führt bis auf Beckmessers Gesänge kaum zu Folgen in der Musik. Bei Beckmesser wird die Dissonanz indessen auch gebrochen. Gerade die Harfe als harmonisches Instrument steuert Störgeräusche bei. Doch es sind nicht nur falsche Harfentöne, vielmehr erinnert Beckmessers Dichten an vormoderne Klangkonzepte der Renaissancemusik. Wovon erzählen also die Meistersinger von Nürnberg? Jenseits der Butzenscheiben eröffnet sich die Welt des 19. Jahrhunderts, ihre Transformationen und Verwerfungen. Und es könnte sein, dass Richard Wagner dieser Weltsicht sein Misstrauen eingeschrieben hat. Denn die Meister wollen keinesfalls Demokratie wagen. Sie sehen sich als Hüter der Wahrheit und Vernunft. Doch Wagner lässt genau diese Meisterschaft medial auf der Festwiese enden:
SACHS erhebt sich.
Verzeiht,
vielleicht schon ginget ihr zu weit.
Ein Mädchenherz und Meisterkunst
erglühn nicht stets von gleicher Brunst:
der Frauen Sinn, gar unbelehrt;
dünkt mich dem Sinn des Volks gleich wert.
Wollt ihr nun vor dem Volke zeigen,
wie hoch die Kunst ihr ehrt,
und laßt ihr dem Kind die Wahl zu eigen,
wollt nicht, daß dem Spruch es wehrt –,
so laßt das Volk auch Richter sein:
mit dem Kinde sicher stimmt’s überein.
DIE MEISTER.
Oho! Das Volk? Ja, das wäre schön!
Ade dann Kunst und Meister-Tön‘! (1. Akt, 3. Szene)

.

Als der Berichterstatter zum ersten Mal in der Semperoper im dritten Rang erste Reihe Mitte Platz nimmt, fällt ihm eine merkwürdige Zahlenkombination mittig über dem Bühnenportal unter zwei mit einer Taube spielenden Engelein auf: „II 55“. Über dem Wappen des Königreichs Sachsen im 19. Jahrhundert springt, nachdem sich der Bühnenprospekt mit den Musen gehoben hat, die Zahlenkombination plötzlich auf „III 00“. Zeitgleich betritt Christian Thielmann den Orchestergraben und geht ans Dirigentenpult. Die Zahlenkombination, denkt der Berichterstatter, muss eine Uhr sein. Denn die Vorstellung sollte um 15:00 Uhr beginnen. Aus dem Parkett kann man die Uhr nur unter Gefahr einer Nackenwirbelverrenkung sehen. Auch aus der Königsloge im ersten Rang Mitte, wird die Uhr nicht direkt ins Auge fallen. Wie sich heute unschwer recherchieren lässt, ist die Digitalanzeigende Fünf-Minuten-Uhr der Semperoper berühmt. Ein Novum. Meiner Erfahrung nach sogar ziemlich einzigartig. Die Digitaluhr(!) gehört seit dem Bau der ersten Oper von 1838-1841 durch Gottfried Semper zu ihrer genuinen Ausstattung. Richard Wagner muss die Uhr von Friedrich Gutkaes gekannt haben, als er von April 1842 bis 1849 an der Dresdner Hofoper von Semper als Komponist und Königlich-Sächsischer Kapellmeister verkehrte.

.

„IIII 55“, 5 Minuten vor 5, kehrt der Berichterstatter nach dem 1. Akt und Pause auf seinen Platz zurück. Die Digitaluhr ist schon außergewöhnlich in ihrer Anzeige. Denn eigentlich müsste die 4 als IV angezeigt werden. Sie gehört immerhin sosehr zur Semperoper, dass sie nach Wiederauf- und Um- und Wiederaufbau in ihrer Mechanik zwar nicht, aber in ihrer Anzeige unverändert geblieben ist. Während das Publikum nicht zuletzt in der Oper Die Meistersinger von Nürnberg den Zeitunterschied zwischen 1868 und der imaginären Zeit des Nürnberger Mittelalters vergessen soll, läuft über dem Portal die Zeit sichtbar genau ab. Wofür braucht das Publikum die Uhrzeit? Oder brauchte der Uhrmacher das Publikum gewissermaßen zur Werbung? Die Uhr und ihre Mechanik waren jeweils auf dem neuesten technischen Stand, eine Materialisierung von Fortschritt im Wissen gewissermaßen. Trotzdem lässt sich die Funktionsweise selbst im Fachblatt Allgemeiner Anzeiger für Uhrmacher schwer ohne „Abbildung“ beschreiben.  
„Wie aus der Abbildung ersichtlich, befindet sich inmitten derselben, auf einem Sockel befestigt, das Gehwerk, von welchem aus die beiden seitlich angebrachten Metalltrommeln, auf deren Umfang Zahlen befestigt sind, in Bewegung resp. Umdrehung versetzt werden. Die Trommel rechts ist mit Minutenzahlen 5, 10, 15 u. s. f. bis 60 versehen und rückt dementsprechend in Zwischenpausen von je fünf Minuten um eine solche Zahl vor, die dann in dem auf einem Fusse stehenden verzierten Rahmen zum Vorschein kommt.“[3]

.

Wenn der Vorhang nach dem Vorspiel aufgeht, wird in der Inszenierung von Jens-Daniel Herzog der Zuschauerraum auf die Bühne mit Kulissen verlängert. Auf der Bühne sehen sich in einer Stuhlreihe Menschen die chorische Gemeindeszene in der Katharinenkirche zu Nürnberg an. Doch anders als in Wagners rahmenden Regieanweisungen sehen wir keine Gemeinde beim Gottesdienst, vielmehr wird diese bereits in der Kunst des Tableau vivant vorgeführt. Die Tableaux vivants oder Lebenden Bilder waren selbst schon eine bürgerliche Darstellungskunst der „Gebärde“ um 1800. Einerseits kleiden und verwandeln sich Bürger in historische Szenen, ohne dazu einen Text sprechen zu müssen. Es werden verschiedene Posen, wie sie aus Gemälden oder Plastik bekannt sind, zu „Gebärden“. Andererseits soll das Bildwissen der Kunstgeschichte so für die Zuschauer*innen erlebbar gemacht werden. Sie sollen sich im wahrsten Sinne des Wortes im Bilde finden. Durch diese dramaturgische Operation schlägt Herzog eine imaginäre Brücke für das Publikum. Wir sehen auf der Bühne das Bürgertum des 19. Jahrhunderts, das sich durch „Gebärden“ als Gemeinde in Nürnberg imaginiert. In Wagners minutiöser Regieanweisung steht:
Walther drückt durch Gebärde eine schmachtende Frage an Eva aus. (…) Evas Blick und Gebärde sucht zu antworten; doch beschämt schlägt Sie das Auge wieder nieder. (…) Walther nimmt die dringende Gebärde wieder auf, mildert sie aber sogleich wieder, um dadurch sanft um eine Unterredung zu bitten.“ (1. Akt, 1. Szene)

©Ludwig Olah

Wortreich und witzig wird im 1. Akt der Meistersinger das diskursive Wissen des 19. Jahrhunderts über Handwerkskunst, Gesellschaftsstrukturen, Geschlechterpolitik und Ehe verhandelt. Die Verehelichungen z.B. des Uhrmachers Friedrich Gutkaes und seines Sohnes wie seiner Gesellen finden im Kreis der Uhrmacher statt. Am 21. September 1815 heiratete Gutkaes Friederica Charlotte Schuhmann, Tochter des Königl.-sächsischen Hofuhrmachers Schuhmann.[4] Gleichzeitig finden u.a. von der Königlich Technischen Deputation Berlin seit 1821 wichtige industrielle Umwälzungen statt, die das Handwerk in seinen traditionellen Strukturen entschieden verändern. Zwischen 1821 und 1837 erscheinen in Berlin durch Christian Peter Wilhelm Beuth und mit genauen Kupferstichen nach Zeichnungen von Karl Friedrich Schinkel die Vorbilder für Fabrikanten und Handwerker als Musterbücher. Sie verbreiten das Wissen über historische „Vorbilder“ für die Anfertigung industrieller Produkte durch Eisenguss oder andere Gießverfahren. Überall in Europa entstehen Eisengießereien, die zugleich Vervielfältigungen und Normierungen hervorbringen.[5] Im Vorwort der Gesamtausgabe schreibt Beuth:
„Es liegt außer den Grenzen dieser, zunächst für die kurze Erläuterung der Kupfer bestimmten Blätter, den Gewerbetreibenden ausführlich auseinander zu setzen, wie nöthig und nützlich es ist, ihren Arbeiten, neben der technischen Vollendung, die höchste Vollkommenheit der Form zu geben. Nur eine Ausführung, die beides vereinigt, nähert die Arbeit des Handwerkers dem Kunstwerke, drückt ihr den Stempel der Bildung auf, und giebt ihr einen bleibenden Werth, als die Kostbarkeit des Materials, woraus sie gefertigt wurde.“[6]   

©Ludwig Olah

In Wagners Meistersingern kommen die Eisengießer nicht vor, weil es sie im Mittelalter so noch nicht gibt. Trotzdem dreht sich alles um die Eisengießer und Maschinenbauer, die nicht nur in Berlin wie August Borsig in den 1840er Jahren so reich werden, wie es zuvor nur die Könige waren. Borsig war als Zimmermann(!) nach Berlin gekommen und wurde auf der Chausseestraße vor dem Oranienburger Tor erst zum Eisengießer und Lokomotivkönig. In seiner Maschinenbauanstalt führte er feste Regeln für die Arbeiter ein. 1848 wurde u.a. das Arbeiten nach bestimmten Uhrzeiten festgeschrieben. Musterbücher wie die Vorbilder verbreiten das Wissen, das dem Produkt „den Stempel der Bildung“ als „bleibenden Werth“ aufdrücken soll. Das ist ein neuartiges Handwerkerwissen, von dem das Mittelalter noch nichts weiß. Lehr- und Gesellenjahre müssen zur Übertragung des Wissens nicht mehr durch Verheiratung in der Familie „fortgepflanzt“ werden. Mit den Vorbilder(n) wird das handwerkliche Wissen nun ganz anderen Menschen außerhalb der traditionellen Zünfte zugänglich. Dieser epochale Umbruch verursacht eine Krise des Handwerks.[7] Richard Wagner führt insofern mit den Meistersingern nicht nur eine Klasse vor, die durch die Industrialisierung wie z.B. die Weber unter extremen Innovationsdruck leiden, er ermöglicht es zugleich den bürgerlichen Gewinnern der Industrialisierung, sich als rechtschaffene Handwerker zu imaginieren. Das aufsteigende Bürgertum darf deshalb nicht durch Heirat in das Handwerkertum einbrechen, vielmehr braucht es einen Dritten als Medium und Projektionsfläche.

©Ludwig Olah

Dieser Dritte ist Walther von Stolzing. Der Adlige Stolzing ist bei Richard Wagner (k)ein romantischer Held. Der soziale Konflikt findet zwischen dem aufsteigenden Bürgertum, den Fabrikanten, und den Handwerkern statt. Da knirscht und reibt es sich. Stolzing ist kein Möchtegernhandwerker in Zimmermannskluft (Kostüme: Sibylle Gädeke), vielmehr erlaubt er es sich als wirtschaftlich Unabhängiger, eine Handwerkertochter zu begehren. Diese Art des adligen, grenzenlosen Begehrens gehört noch zur Hofkultur des 18. Jahrhunderts. Dass Stolzing adeliger Ritter ist, zählt zu den Paradoxien mit einem Hauch von Märchen in Wagners Konzept und Handlung. Der Adlige, der Handwerker werden will aus Liebe zu einem Mädchen, das er in der Kirche getroffen hat, wird zwar als „normal“ vorgeführt. Doch dürfte eine derartige Geschlechterpolitik schon aus dynastischen Gründen im Mittelalter völlig unmöglich gewesen sein. Die unmögliche Verbindung wird erst unter den Mustern des Bürgertums zur Normalität. Wie kann das möglich werden?  

©Ludwig Olah

Das Begehren Stolzings gibt sehr deutlich einen Wink auf den Klassenkonflikt zwischen Adel und Bürgertum an der Schwelle zum 19. Jahrhundert. Denn das Bürgertum will das Begehren vor allem der Frau, insbesondere der Tochter zügeln. Der Goldschmied Veit Pogner (Vitalij Kowaljow) als imaginärer Stellvertreter der Bürger setzt seine Tochter als Preis für den Meistersinger-Wettbewerb. Lehnt sie den Gewinner ab, darf sie keinen anderen heiraten und begehren. Sie muss lebenslang auf Begehren und Lust verzichten. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts schwelt das Problem des Begehrens und seiner Ausübung in der Wollust, die Friedrich II. an Voltaire anknüpfend unmittelbar nach seiner Thronbesteigung zur „Herrscherin der Welt“ erklärt hatte.[8] Derartige Freiheiten kann sich das Bürgertum schon finanziell nicht leisten. Das Begehren muss reguliert werden. Dieser Wunsch nach Regulierung wird von Johann Gottlieb Fichte mit dem Ehe- und Familienrecht als Anhang der Grundlage des Naturrechts in Preußen 1797 formuliert. Dabei geht im ausführlichen Titel nicht zuletzt um ein Wissenschaftskonzept, wenn es heißt: „nach Principien der Wissenschaftslehre“. Fichte schafft damit nicht nur die juristischen, vielmehr noch die wissenschaftlichen Grundlagen für das Verhältnis zwischen Mann und Frau im Bürgertum. Fichte formuliert in dreißig Paragraphen die neue Ordnung der Geschlechter.

„§. 2.
Die besondere Bestimmung dieser Natureinrichtung ist die, daß bei der Befriedigung des Triebes, oder Beförderung des Naturzwecks, was den eigentlichen Akt der Zeugung anbelangt, das eine Geschlecht sich nur thätig, das andere sich nur leidend verhalte.“[9]

©Ludwig Olah

Die Meistersinger von Nürnberg sind nicht zuletzt ein Ehe-, Familien- und Generationendrama unter den Bedingungen des Familienrechts und der „Deduktion der Ehe“ von Johann Gottlieb Fichte. Aus dem Naturrecht wird die Ehe abgeleitet, womit durch eine letztlich mathematische Operation die Ehe als natürliche Lebenspraxis festgelegt wird. Richard Wagners Begehrens-, Wollust- und Ehepraktiken waren bekanntlich mit Cosima Bülow, geborene Liszt, andere. Was bei Fichte und nicht etwa nur beim „natürlichen“ Spießbürger als Familien-, „Trieb()“- und Ehepraxis ordentlich in Paragraphen ausformuliert wird, findet sich teilweise wörtlich in den Reden der Meistersinger wieder. Der Mann als das „thätig(e)“ und die Frau als das „leidend(e)“ Geschlecht werden nahezu prototypisch in Stolzing und Eva vorgeführt. Eva wird zum Preis für eine Arbeitsleistung zwischen Handwerk und Kunst ausgesetzt, um die Regeln der Meister zu bestätigen. Von Sachs und den Meistern wird ihr von Anfang an, die Entscheidungsfähigkeit zur Ehe abgesprochen, wie bereits zitiert wurde. Gleich wie in Fichtes § 4 der „Deduktion der Ehe“ wird ihr abgesprochen, über ihre Lust entscheiden zu können. Sie muss den Mann „befriedigen“.
„Das Weib kann sich nicht gestehen, daß sie sich hingebe – und da in dem vernünftigen Wesen etwas nur insofern ist, inwiefern es sich desselben bewußt wird – das Weib kann überhaupt sich nicht hingeben der Geschlechtslust, um ihren eigenen Trieb zu befriedigen; und das sie sich denn doch zufolge eines Triebes hingeben muß, kann dieser Trieb kein anderer seyn, als der, den Mann zu befriedigen.“[10]   

©Ludwig Olah

Die Konstruktion des Ehe- als ersten Teil des Familienrechts von Johann Gottlieb Wilhelm Fichte ließe sich sicher noch genauer diskutieren. Auffällig ist beispielsweise, wie Fichte in § 1 die „Natur“ als Argument einführt – „Die Natur hat ihren Zweck Fortpflanzung des Menschengeschlechts auf einen Naturtrieb in zwei besondern Geschlechtern gegründet“ –, um in Klammern zu § 1 anzumerken, dass „diese Untersuchung nicht eigentlich hieher gehört“.[11] Die Biologie gehört „eigentlich“ nicht in den juridischen Diskurs, aber Fichte kann nicht den „Naturtrieb“ einführen, ohne eine Hetero-, Verschieden- oder Zweigeschlechtlichkeit zu formulieren. Auf diese Weise wird der Rechtsphilosoph Fichte zum Autor der Normierung der Geschlechter und der Heteronormativität.[12] Die Regulierung des „Naturtrieb(s)“ durch die „Vernunft“ wird zum moralischen Auftrag für die (bürgerliche) Frau.  
„Es ist daher nothwendig, daß dieser Trieb beim Weibe unter einer andern Gestalt, und, um neben der Vernünftigkeit bestehen zu können, selbst als Trieb zur Thätigkeit erscheine; und zwar, als charakteristischer Naturtrieb zu einer nur diesem Geschlechte zukommenden Thätigkeit.“[13] 

©Ludwig Olah

Unter welcher „Gestalt“ könnte der „Naturtrieb“ der Frau erscheinen? Fichte wie Wagner haben dafür eine klare Antwort: „Liebe also ist die Gestalt, unter welcher der Geschlechtstrieb im Weibe sich zeigt.“[14] Bei Wagner wird die Frau und adamitische Modellfrau „Eva“ zur „Freundin“. Fichtes „Geschlechtstrieb“ wird nicht nur zur „Liebe“ nach den Modi der Meistersinger zu einer gegenseitig versicherten Freundschaft. Wenn Fichte in § 15 formuliert, die Ehe sei „eine Verbindung der Herzen und der Willen“[15], dann ist darin bereits die Freundschaft des Ehepaars angelegt, wie sie von Eva und Walther vorgeführt wird: „EVA außer sich./Ja. Ihr seid es;/nein, du bist es!/Alles sag ich,/denn Ihr wißt es;/alles klag‘ ich,/denn ich weiß es:/Ihr seid Beides,/Held des Preises/und mein einz’ger Freund!“ Während Eva als Weib „außer sich“ geraten muss, um in Walther von Stolzing emphatisch und durchaus den „Geschlechtstrieb“ transformierend zu erkennen, ist Walther „leidenschaftlich“ ganz bei sich selbst:
„WALTHER leidenschaftlich.
Ach, du irrst:
bin nur dein Freund,
doch des Preises
noch nicht würdig,
nicht den Meistern
ebenbürtig:
mein Begeistern
fand Verachten,
und ich weiß es,
darf nicht trachten
nach der Freundin Hand.“ (1. Akt, 5. Szene)

©Ludwig Olah

Die „Würde“ des Mannes hängt auch bei Fichte anders als bei der Frau, nicht von der Regulierung des Geschlechtstriebes, sondern von der gesellschaftlichen Arbeitsleistung ab. Genau diese heteronormative Logik wird im Text von Wagner ausgestaltet, während die Musik sich in einen hastigen „Geschlechtstrieb“ steigert. Die Freundschaftslogik in Richard Wagners Meistersingern unterscheidet sich beispielsweise deutlich von der, welche Johann Wolfgang Goethe noch im Vorwort zu Winckelmann und sein Jahrhundert (1805) formuliert. Während bei Wagner der „Freund“ nicht mit dem Geliebten im Verhältnis von Eva zu Hans Sachs gleichgesetzt wird, formuliert Goethe den „Freund“ als psychisch wie physisch Geliebten.[16] Ganz wie es Eva und Walther formulieren, schließt die Freundschaft einerseits den sexuellen Genuss aus, andererseits wird dieser in der Musik angespielt. Was im ersten Aufzug als dramaturgisches Problem angelegt ist, wird im 2. und 3. Aufzug durchgespielt und endet nach einigen schwankhaften Umwegen und Einfügungen mit Walthers erfolgreichem Preislied auf der Festwiese. Doch der Erfolg führt zu einer Verwerfung der Meisterehre durch Stolzing – „Will ohne Meister selig sein!“.

©Ludwig Olah

Die skandalöse Verwerfung zieht des Schusters und Freundes Hans Sachs‘ Protest nach sich: „Verachtet mir die Meister nicht,/und ehrt mir ihre Kunst!“ Der Protest ist nicht als Frage oder Bitte formuliert, sondern mit dem Ausrufezeichen als Befehl. Dieser Befehlsförmigkeit ist auch die Tragik der Reform und Hans Sachs‘ als Reformator eingeschrieben. Denn Hans Sachs hatte quasi auf Eva verzichtet, um zum Lehrer und Reformator für Walthers Preislied zu werden. Er beansprucht insofern die symbolische Funktion des Vaters als Gesetzgeber. Doch diesem Anspruch müssen sich Walther und Eva keinesfalls mehr beugen bzw. unterwerfen. Walther von Stolzing hat das Meistersingerspiel bis zu seinem Sieg mitgespielt und gewonnen. In der Inszenierung von Jens-Daniel Herzog wird Sachs‘ Protest zum persönlichen Drama eines Machtverlustes. Der Vorhang zur Festwiese geht zu, Sachs will an Walther die Unterwerfung unter die Meisterehre durchsetzen: „Drum sag ich Euch:/ehrt Eure deutschen Meister!/Dann bannt Ihr gute Geister;/und gebt Ihr ihrem Wirken Gunst,/zerging in Dunst/das heil’ge röm’sche Reich,/uns bliebe gleich/die heil’ge deutsche Kunst!“

.

In der Musik wird Hans Sachs‘ verzweifelter Protest zum Triumph. Nicht genau entscheiden lässt sich, ob Wagner sich der schwierigen Forderung ernsthaft anschließen wollte. Für Thielemann sucht man vergebens in einem „360-Grad-Tableau in gleißendem C-Dur, an dessen Kulminationspunkten … nach Brüchen oder Zweifeln“. Dafür hätte es Anlass für mehr als genug Zweifel gegeben. Das Heilige Römische Reich war bereits 1806 zerfallen und aufgelöst. Das Deutsche Reich existiert noch nicht. Erst 1871 wird das Kaiserreich unter der Führung des Hauses Hohenzollern in Preußen ausgerufen. Und eine „heil’ge deutsche Kunst“ ist noch nicht einmal museumsreif. Das Alte Museum in Berlin zeigt seit 1830 antike Kunst. Die Nationalgalerie wird erst 1876 in einem neo-klassizistischen Tempelbau also alles anderem als einem „deutschen“ Meisterstil eröffnen. Statt Nürnberger Butzenscheiben gilt ein an der Front fensterloser Tempelbau mit Renaissanceelementen wie einem Reiterstandbild „Der Deutschen Kunst“, so die Inschrift, als Ausstellungsraum. Volker Hagedorn hat in seinem kenntnisreichen Roman Der Klang von Paris (2019) darauf hingewiesen, dass Richard Wagner an die neuartigen Kompositionsweisen von Hector Berlioz anknüpft, die er in Paris gehört hatte. Dessen Oper Benvenuto Cellini (1838) erzählt vor dem Hintergrund der Pariser Industrialisierung die Geschichte eines Meistergusses mit den Goldschmieden als Handwerksgilde – „Honneur aux maître ciseleurs!“. Berlioz nennt das Genre seiner Oper „Opéra semi-sérieux“. Sie enthält komische wie tragische Elemente.[17]

.

Insofern als Hans Sachs das „Welsche“ im Bedeutungsspektrum von romanisch, keltisch, italienisch, vor allem französisch verwirft, um dagegen das Deutsche und die deutsche Kunst zu bejahen, formuliert er Richard Wagners eigene künstlerische Verwerfung. Ohne Berlioz‘ Benvenuto Cellini hätte es die Oper Meistersinger nie gegeben. Sie sind quasi französischer Herkunft. Die „heil’ge deutsche Kunst“ des Hans Sachs ist paradoxerweise aus dem Geiste Hector Berlioz‘ geboren, um einmal Nietzsche zu paraphrasieren. Der weitgehende Autodidakt Hector Berlioz als Erneuerer der französischen Sinfonik und Oper kehrt selbst in der Künstlerfigur des Walther von Stolzing wieder. Wagner nennt seine Meistersinger von Nürnberg eine „Oper“, was als Genre mehr versteckt, als dass es offenlegt. Sonst kommt es Wagner doch so sehr darauf an, neue Genre wie „Bühnenfestspiel“ oder „Musikdrama“ oder „Bühnenweihfestspiel“ zu komponieren. Denn diese Oper ist wenigstens halbernst angelegt. Die „Spießbürger“ (Wagner) werden auf äußerst komische Weise bis zur nächtlichen Rauferei in der libidonös besetzten Johannisnacht vorgeführt. Raufen als Triebabfuhr. Wenn die Musik nicht ständig ein schallendes Lachen vereiteln würde, müsste das Publikum sich vor den Witzen biegen. Das kann man wohl zurecht halbernst oder eben „semi-sérieux“ nennen.

.

Auf diese Weise treibt Wagner allerdings mit dem Publikum seinen Scherz, vor lauter Ernsthaftigkeit in der Musik bekommt es vielleicht bis auf bei Beckmessers Gesängen die Witze gar nicht mit. Hört es die Harfe oder lässt es sich die Harfe für eine „Laute“ vormachen? Leider wird in den Aufführungen der Oper Die Meistersinger von Nürnberg selten, so gut wie nie gelacht. Mit Benvenuto Cellini geht es Berlioz um die Ausgestaltung einer Handwerker- und Künstlerpersönlichkeit in der Moderne. Diese Thematik nimmt Richard Wagner mit Walther von Stolzing auf. Verhandelt werden von Hans Sachs mit Stolzing die Regeln, die in der Dichtung eine Rolle spielen sollen. Oder wie er im zweiten Akt sagt und singt: „Ich fühl’s – und kann’s nicht verstehn; – /kann’s nicht behalten, – doch auch nicht vergessen;/ und fass ich es ganz, – kann ich’s nicht messen.“ Der künstlerische Prozesse lässt sich „nicht messen“. Doch Regeln ermöglichen eine vermeintliche Messbarkeit, wie sie nicht zuletzt mit der neuartigen Dresdner „Normaluhr“ im Bericht über die Ausstellung sächsischer Gewerbe-Erzeugnisse in Dresden im Jahre 1845 angezeigt wird.[18] Alles wird normiert, vermessen und normalisiert:
„Die verschiedenen Richtungen, nach welchen hin sich außerdem die Thätigkeit der Uhrmacher erstreckt, wurden dargestellt durch die Oelgemälde mit 3 Uhrwerken, Laufwerken und Musik, und die Wächtercontrole mit Schlagwerk von dem Hofuhrmacher F. Gutkaes in Dresden (…) – durch die Normaluhr und Carcel’sche Lampe des Uhrmachers Carl August Weise in Dresden …“[19]

.

Seit Descartes sind Uhren, die sich immer weiter ausdifferenzieren, das Modell für die berechenbare Maschine, die um 1800 zur Dampfmaschine und schließlich zur Lokomotive transformiert wird. Nun müssen die Uhrzeiten mit der „Normaluhr“ abgestimmt werden. In der Musik wird das mechanische Metronom seit Ludwig van Beethoven immer wichtiger. Nun lassen sich die Tempi genauer bestimmen. Überhaupt setzt sich ein neuartiges Wissen von der Zeit in der Überschneidung mit Gefühlen durch, wenn es bei Wagner für das „Vorspiel“ der Meistersinger heißt „Sehr mässig bewegt“.[20] Einerseits „bewegt“ sich das Pendel des Metronoms „sehr mässig“, andererseits werden erst die bewegenden Gefühle eingeführt. Für das Vorspiel des Dritten Aufzugs heißt es dann „Etwas gedehnt“ bei Wagner. Christian Thielemann fragt sich angesichts der Partitur „Was ist das für eine Musik?“[21] Vielleicht liegt gerade darin das Geheimnis der Musik der Meistersinger von Nürnberg, dass „scheinbar natürlich“, aber maschinenartig wie in einer Uhr ineinandergreift und möglichst genau bemessen wird, was im Librettotext montiert wurde und auseinander zu fliegen droht. In der Semperoper in Dresden kann man nun jedenfalls eine Inszenierung sehen und hören, in der Eva und nicht Stolzing am Schluss das Meisterbildnis mit der Faust durchschlägt. Anders lässt es sich heute auch kaum noch aufführen, da sie doch zum Objekt einer Männergesellschaft gemacht worden war. – Der Magdalene der Inszenierung, Christa Mayer, wird am 26. Februar der Ehrentitel „Kammersängerin des Freistaates Sachsen“ verliehen.

Torsten Flüh

Richard Wagner
Die Meistersinger von Nürnberg
Semperoper Dresden
Weitere Aufführungen in der Spielzeit 2020/2021.


[1] Christian Thielemann: Ein Plädoyer für Toleranz. In: Richard Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg. Dresden: Semperoper, 2020, S. 22.

[2] Jens-Daniel Herzog: Von der Utopie, dass die Kunst einen unersetzlichen Beitrag zu einem friedlichen und respektvollen Umgang der Menschen miteinander leistet … In: Ebenda S. 11.

[3] Allgemeiner Anzeiger für Uhrmacher, Ausgabe Nr: 15 vom 1. August 1897.

[4] Siehe: Gutkaes, Johann Christian Friedrich Uhrenlexikon.

[5] Vgl. dazu Hector Berlioz‘ „Opéra semi-sérieux“ Benvenuto Cellini von 1838, in der es um einen Metallguss geht. Torsten Flüh: Pariser Industrialisierung glüht durch Hector Berlioz‘ Benvenuto Cellini. Sir John Eliot Gardiner beschenkt das Musikfest Berlin mit einer Ophicleide, Saxhörnern und einem Streikchor. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. September 2019.

[6] Christian Peter Wilhelm Beuth: Vorwort. In: Königl. Technische Deputation für Gewerbe (Hg.): Vorbilder für Fabrikanten und Handwerker. 1821 bis 1830. Berlin: August Petsch, 1830, S. 3.

[7] Gutkaes … [wie Anm. 4].

[8] Siehe dazu: Torsten Flüh: Für eine Kulturforschung der Sexualitäten. Zu Tim Blannings neuer „Biographie“ FRIEDRICH DER GROSSE. König von Preußen. In: NIGHT OUT @ BERLIN Februar 25, 2019 18:52.

[9] Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre. Band II. Jena und Leipzig: Christian Ernst Gabler, 1797, S. 161. (Digitalisat)

[10] Ebenda S. 166.

[11] Ebenda S. 159-160.

[12] Vgl. zu Fichte auch Katrin Pahl: Sex Changes with Kleist. Evanston: Northwestern University Press, 2019, S. 54.

[13] Johann Gottlieb Fichte: Grundlage … [wie Anm. 8] S. 162.

[14] Ebenda S. 166.

[15] Ebenda S. 187.

[16] Siehe dazu: Torsten Flüh: Zur Verfertigung der Wissenschaft mit Briefen. Die Weimarer Ausstellung und der Katalog Winckelmann. Moderne Antike und die aktuelle Winckelmann-Forschung. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juli 31, 2017 19:29

[17] Vgl. Torsten Flüh: Pariser … [wie Anm. 5]

[18] Die Dresdner „Normaluhr“ ist unmittelbar durch den Uhrmacher Wilhelm Gotthelf Lohrmann mit dem Ausbau der ersten „Eisenbahnlinien in Sachsen“ verknüpft. Sie diente der Vereinheitlichung der „Uhrzeitverhältnisse“ als Grundlage und wurde 1842 in das Mittelfenster des Mathematisch-physikalischen Salons eingebaut. Vgl. dazu: Helmut Grötzsch, Jürgen Karpinski: Dresden – Mathematisch-physikalischer Salon. Leipzig: VEB E. A. Seemann, 1978, S. 13.

[19] Bericht über die Ausstellung sächsischer Gewerbe-Erzeugnisse in Dresden im Jahre 1845. Leipzig: Teuber, 1846, S. 229.

[20] Siehe Autograph: Richard Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg. Genf Triebschen 1866/67. (Germanisches Nationalmuseum)

[21] Christian Thielemann: Ein … [wie Anm. 1] S. 22.