Genealogie – Gedicht – Maschine
Genealogische Operationen mit Witz
Nathan In The Box von und mit Bridge Markland wird bei der Premiere gefeiert
In der Brotfabrik am Caligariplatz hatte am 25. November Nathan In The Box unter 2G-Regeln+ mit FFP2-Maske sozusagen im Dachstübchen Premiere. Aufgeführt wurde also eines der Hauptwerke der deutschen Aufklärung von Gotthold Ephraim Lessing, nämlich Nathan der Weise von 1773 als Puppen- in gewisser Weise gar Marionettentheater. Bridge Markland erweckt zum wiederholten Mal in wechselnden männlichen und weiblichen Rollen von Eva Garland entworfene und angefertigte Handpuppen zum Leben und sendet insbesondere mit dieser Inszenierung „Message!“. Nämlich die der Freiheit des Menschen von den Religionen und ganz besonders vom Christentum wie der Katholischen Kirche. Mit der Konstellation von Religionen, Menschen und Handpuppen geht es in diesen Zeiten einer insbesondere in deutschsprachigen Ländern – Österreich, Deutschland, Schweiz – mutwilligen, todbringenden Vierten Welle der Covid-19-Pandemie um die Fragen der Aufklärung von Abstammung und Familie, Vernunft, Wissen und Freiheit.
Bridge Markland – Idee / Soundcollage / Co-Regie / Performance – erhält nach dem stürmischen Schlussapplaus das fachmännische Lob eines 10jährigen Jungen, dass Nathan nun sein „Lieblingsstück“ sei. Obwohl sich die Performerin und Produzentin lange Zeit nicht an den deutschen Theater-Klassiker Nathan der Weise herantrauen wollte, weil es noch nicht einmal eine Komödie, ein Lustspiel, Schwank oder Drama, sondern ein „Dramatisches Gedicht“ als Genrebezeichnung ist, kommt Nathan In The Box nun besonders gut an. Die Sperrigkeit des Dramatischen Gedichts als Text korrespondiert wunderbar mit dem Medium Puppenspiel. Bridge Markland hat mit Nils Foerster den Originaltext so transformiert, dass die Syntax und Lexik dem heutigen Sprachgebrauch angeglichen und die Lessingsche Message klar wird. Das überrascht selbst Deutschlehrer*innen am Premierenabend.
Nathan der Weise steht – noch immer – im Lehrplan des Deutschunterrichts in den deutschen Ländern wie z.B. und natürlich in Hamburg[1], denn schließlich hatte Lessing 1767 und 1769 hier seine tagebuchartige Hamburgische Dramaturgie veröffentlicht, worauf das gebildete Hamburg immer noch stolz ist. Doch Nathan der Weise wurde nicht in Hamburg und in keinem Staatstheater uraufgeführt, sondern am 14. April 1783 im Döbblinschen Theater in der Behrenstraße in Berlin. Wo heute Karl Friedrich Schinkels Schauspielhaus als Konzerthaus nach historisierendem Wiederaufbau[2] auf dem Gendarmenmarkt zwischen Französischem und Deutschem Dom steht, stand das Französische Komödienhaus, das Döbblin zuvor als Spielstätte gedient hatte. Und die Theatertruppe Karl Theophil Döbbelins wurde erst 1786 von König Friedrich Wilhelm II. zu Nationalschauspielern erhoben. Insofern lässt sich sagen, dass der Klassiker am Rande des zeitgenössischen Theaters wie der Politik zum ersten Mal aufgeführt wird.
Die dramatische Figur „Nathan, ein reicher Jude aus Jerusalem“ wird in der Forschung mit dem Berliner Aufklärungsphilosophen Moses Mendelssohn 1729-1786 in Verbindung gebracht. Anders gesagt: Moses Mendelssohn lebt in Berlin, als das Stück im zeitlichen Umfeld seines Engagements in der Gesellschaft der Freunde der Aufklärung oder Berliner Mittwochsgesellschaft aufgeführt wird. Moses Mendelssohn war als Talmudschüler, Bettelstudent und Hauslehrer des Seidenhändlers und -fabrikanten Bernhard Isaak 1754 in Berlin zu dessen Buchhalter geworden. Seidenproduktion und -verarbeitung sollte zu einem wirtschaftlichen Standbein im sprichwörtlichen Streusand um Berlin werden. Denn Friedrich II. hatte nicht nur vor dem Oranienburger Tore, sondern für ganz Preußen verfügt, dass Maulbeerbaumplantagen zur Züchtung von Seidenraupen angebaut werden sollten.[3] In diesen Kontext fällt die Gründung der Seidenfabrik durch Bernhard Isaak, deren Geschäftsführer und schließlich Teilhaber Moses Mendelssohn wird. Friedrich II. spricht sich jedoch 1771 gegen seine Aufnahme in die Akademie der Wissenschaften aus.
Lessing setzt in seinem Gedicht nicht nur die Ideen der Aufklärung dramatisch in Szene und legt eine Identifikation von Moses Mendelssohn, mit dem er vertraut war, mit seiner Hauptfigur nahe, vielmehr verschlüsselt er die Forderungen der Aufklärung durch eine historische Erzählung von den Tempelrittern im frühen Mittelalter zu Zeiten des jüdischen Philosophen Moses Maimonides, der in al-Andalus, heute Andalusien, Marokko und Ägypten wirkte.[4] Er und seine Familie wurden 1150 und 1160 in Fez gezwungen, zum Islam zu konvertieren. Doch Jerusalem als Schauplatz und die Zeit „um 1192“ ließen sich für Zeitgenossen beispielsweise als Berlin in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lesen. Der Berliner Adel und die Hohenzollern als herrschendes Adelshaus werden vom Berliner Bürgertum langsam in Frage gestellt. In Nathan der Weise steckt mehr Hamburg und Berlin als Jerusalem drin, um es einmal so zu formulieren.
Im Druck erscheint Nathan der Weise 1779 bei Christian Friedrich Voß und Sohn in Berlin.[5] Der Titelzusatz, dass das Buch „Mit Churfürstl. Sächsischem Privilegio.“ und nicht etwa mit königlich preußischem gedruckt werde, gibt einen Wink auf die politisch brisante Veröffentlichung. Auch kann man schon hier darauf hinweisen, dass die Figurenkonzeption als „reicher Jude in Jerusalem“ ein wenig unbestimmt und unrichtig ist. Denn Nathan ist im Gedicht vor allem ein international agierender Kaufmann mit eigenen Handelsschiffen. „Seine Tragetiere treiben auf allen Straßen, ziehen / Durch alle Wüsten; seine Schiffe liegen / In allen Häfen“, heißt es bei Markland, weil „Sein Saumthier treibt“[6] wie im Original heute kaum noch gebräuchlich ist. Irritierend ist auch das poetische Singular. Wenn Saladin sagt, „Denn er handelt; wie ich höre.“[7], betrifft dies nicht nur den Kaufmann und Händler, vielmehr „handelt“ Nathan ebenso aufgeklärt wie weise.
Welche Funktion רבי משה בן מימון, arabisch أبو عمران موسى بن عبيد الله ميمون القرطبي, Moses Maimonides und David Hirschel Fränkels Herausgabe des מורה נבוכים – More Newuchim – Führer der Unschlüssigen 1739 für Moses Mendelssohn und Gotthold Ephraim Lessing einnahm, ist bislang kaum erforscht worden.[8] Der Dessauer Oberrabiner Fränkel war indessen Mendelssohns Lehrer. In der dramatischen Figur Nathan und der Ringparabel überschneiden sich Maimonides‘ und Mendelssohns Schriften. Denn es ist insbesondere das einunddreißigste Kapitel vom Führer der Unschlüssigen, das nach einer übersetzenden Zusammenfassung von Adolf Weiss Vernunft und Wissenschaft in einer Weise verhandelt, an die sich mit dem Denken der Aufklärung anknüpfen ließ.
„In diesem Kapitel bespricht der Verfasser zum Teil die menschliche Vernunft. Er sagt, daß sie eine Grenze hat, die sie nicht überschreiten kann, und daß es Dinge gibt, die die Vernunft nicht erkennen kann und daß es Menschen gibt, die manche Wissenschaften verstehen, andere hingegen, die sie ungeachtet aller Mühe und allen Studiums nicht verstehen, daß aber das Wissen im allgemeinen mangelhaft ist. Er sagt, daß es vier Dinge gibt, welche den Menschen hindern, die Wissenschaft zu erlangen, die Herrschsucht, die Tiefe der Geheimnisse der Wissenschaft die Unzulänglichkeit der Geisteskraft des Lernenden und seine Nachlässigkeit, sowie das Festhalten an üblen Gewohnheiten.“[9]
Am Schluss von Lessings dramatischem Gedicht erweisen sich Recha und der junge Tempelherr als Nichte und Neffe des Sultans Saladin und seiner Schwester Sittah. Die genealogische Konstruktion des Muslims „Assad“, der sich als deutscher Adliger und Christ ausgibt, möglicherweise konvertiert war, und „Wolf von Filnek“ nennt, während er mit einer „Stauffin“ verheiratet ist und „am liebsten Persisch“ spricht, darf selbst für das frühe Mittelalter der Mauren als so abenteuerlich gelten, dass Herkunft und Namen immer auch verfehlt werden. Mit dem dramatischen Spiel der Namen und der Herkunft, an die eine Religionszugehörigkeit geknüpft wird, werden diese zugleich in Frage gestellt. Das dramatische Gedicht als Gedankenspiel, dem Schachspiel gleich, endet mit der unwahrscheinlichen familialen Vereinigung von Recha, Tempelherr, Sultan Saladin und Sittah. Welch eine Überraschung! Das ist nicht nur ein Happy End, sondern durchaus witzig. – Wobei der Witz im Schluss selbst in der durchaus witzigen Inszenierung von Bridge Markland mit den Puppen etwas stärker ausgespielt werden könnte.
Nach Lessings Hamburgischer Dramaturgie bleibt mit dem Format Gedicht offen, ob es sich um eine Tragödie oder Komödie handelt. Denn dort heißt es: „Zwar können sich in der Tragödie auch zur Reinigung der andern Leidenschaften, nützliche Lehren und Beispiele finden; doch sind diese nicht ihre Absicht; diese hat sie mit der Epopee und Komödie gemein, in so fern sie ein Gedicht, die Nachahmung einer Handlung überhaupt ist, nicht aber in so fern sie Tragödie, die Nachahmung einer mitleidswürdigen Handlung insbesondere ist.“[10] In der Frage der „Gattungen“ kommt es Lessing im „Sieben und siebzigste(n) Stücke“ vom „26sten Janauar, 1768“ darauf an, dass „uns alle Gattungen der Poesie (bessern sollen)“. Tragödie, Epopee und Komödie sind nach seiner Konzeption vom 13. Oktober 1767 Gedichte als „ein Zusammenhang von kleinen Kunstgriffen (…), durch die man weiter nichts als eine kurze Ueberraschung hervorzubringen vermag“.[11] Dementsprechend entbehrt das „dramatische Gedicht“ des Witzes als Überraschung nicht.
Die Genealogie als Wissens- und Herrschaftsmodell wird von dem bürgerlichen Gelehrten und Dichter Lessing mit den beinahe satirischen Familienkonstruktionen angegriffen. Die Familie Nathans wird ausgelöscht bzw. muss ausgelöscht werden, damit er eine Art aufgeklärter, moderner Modellfamilie aus dem Juden, einer christlichen Pflegemutter Daja und letztlich muslimisch-christlichen Tochter Recha schaffen kann. Nathan nimmt die Position des Vaters aus „Vernunft“ ein, wenn er erzählt: „Doch nun kam die Vernunft allmählich wieder.“ Er nimmt das Kleinkind, das er Recha nennen wird, aus „Vernunft“ an. Doch wie funktioniert diese „Vernunft“? – Sie lässt sich als Kalkül formulieren, denn der Verlust der Söhne, die Leerstelle, die die ermordeten Söhne hinterlassen, wird mit einer Tochter besetzt. Das ist eine erstaunliche Arithmetik des Verlustes und der Ersetzung – „Ich nahm/Das Kind, küßt‘ es, warf/Mich auf die Knie und schluchzte: Gott! auf Sieben/Doch nun schon Eines wieder!“ Es bleibt offen, ob in diesem Wechsel der Familienstruktur das Schluchzen aus Trauer, Freude oder Witz über die fatale Wendung geschieht. Bridge Markland kommentiert Nathans Handlung als Heilung mit “Heal the world, make it a better place,/for you and for me and the entire human race” von Maati Baani als Tribute an Michael Jackson.
Der Witz als dramatisches Verfahren des Lehrgedichtes Nathan der Weise wird immer noch unterschätzt. In der verlinkten „Interpretation“ des Hamburger Bildungsservers kommt der Witz nicht vor.[12] Dass das Spiel der Namen, Genealogien und vor allem der Schluss witzig sein könnten und gerade damit eine aufklärerische Freiheit in Szene gesetzt wird, hat anscheinend wenig Beachtung in der Lessing-Forschung gefunden. Frank Schlossbauer hat 1989 auf „Nathans Witz“ als „Formprinzip“ hingewiesen.[13] Der Witz sei „die hauptsächliche Waffe im intellektuellen Streitgespräch, das die meisten Szenen des Stückes“ präge, schreibt Schlossbauer. Er sei „das sprachliche Äquivalent den von Lessing verfochtenen geistigen und affektiven Freiheitsprinzips“.[14] Doch bereits die Suche nach der Herkunft und die familialen Konstruktionen sind witzig angelegt. Denn das familiale Verhältnisse wird für Nathan und Recha mit Vater und Tochter früh als ebenso zufällig wie vernünftig entschlüsselt, um am Schluss als berechtigt von Saladin mit einer witzigen Formulierungen sanktioniert zu werden.
„Das Blut allein
Macht noch lange nicht den Vater!
Und weißt du was? Sobald der Väter zwei
Sich um dich streiten: nimm
Den dritten! Nimm mich zu deinem Vater!
Ich will ein guter Vater sein! Doch halt!
Was brauchst du denn
Der Väter überhaupt? Wenn sie nun sterben?“[15]
Die Position des Vaters, des Patriarchen, nicht nur des leiblichen oder familialen wird von Lessing in Nathan der Weise permanent verhandelt und in Frage gezogen. Marklands „Patriarch“ setzt mit der linken Hand insbesondere den gebietenden Zeigefinge in Szene. Es ist denn auch der „Patriarch“, den der Tempelherr um Rat bittet, um sogleich in seinem patriarchalen Urteil als „Blutgier des Patriarchen“ verworfen zu werden. Der „ehrwürdige Vater“, der das christliche Gesetz und die Katholische Kirche verkörpert, wird in Nathan In The Box ganz zu Recht zur lächerlichsten Figur. Bei Lessing steht wirklich: „Was brauchst du denn/Der Väter überhaupt? Wenn sie nun sterben?“[16] Die Freiheit, die Lessing in seinem dramatischen Gedicht vorführt, wird vor allem als eine ohne gebieterischen Vater formuliert. Dass Saladin am Schluss dann trotzdem über die Kinder seines Bruders zum Vater wird, lässt sich als Herzensangelegenheit und Witz, aber nicht mehr als hierarchische Position beschreiben. Für die muslimische Familienkonstruktionen ist die scheinbare Blutsverwandtschaft am Schluss denn auch eher eine utopische. Der popmusikalische Kommentar bekommt eine ironische Note mit „Es sieht gut aus: Gut aus, es sieht gut aus, es geht gut aus“, von der Frank Spilker Gruppe.
Die Suche nach dem Vater und sein überraschendes Auffinden als Bruder des Saladin berührt zugleich die Ursprungsfrage in der Moderne. Indem der Übervater Gott wie in Nathans Trauer- und Annahmeszene als eine Art Zufallsgenerator funktioniert, wird die Autorität des monotheistischen Gottes nachhaltig angegriffen. Die Schöpfer- und Richterfunktion Gottes steht im dramatischen Gedicht Nathan der Weise grundsätzlich in Frage. Die „Stimme der Natur“, die vom jungen Tempelherrn im Kontext der Familie und Abstammung gegen Nathan herbei zitiert wird, wird zwar am Schluss gewissermaßen erhört, aber auf eine Weise, die zugleich als witziges Namenspiel eingelöst wird. Indem in der Lessing-Forschung weiterhin an der Genealogie festgehalten, sie als Problem ausgeblendet wird, erweist sich selbst im 21. Jahrhundert und legaler Regenbogenfamilien die Erzählung von Ursprung und Herkunft weiterhin als ausgesprochen mächtig. Die Gewalt der Genealogie artikuliert sich im Verstehenwollen der wahren oder eigentlichen Familiengeschichte und dem nachhaltigen Wunsch nach dem Vater, die nicht umsonst der deutsche Rapper mit tunesischem Vater und japanischen Künstlernamen Bushido für Nathan In The Box rappt:
„Wo bist du? Ohne dich kann ich nicht schlafen, … Er ist doch nur mein Papa, nur nur meiner …“
Auf der anderen Seite der Genealogie, der Familie und des Vaters steht der Freund. Mit dem Freund geht Lessing weitaus sparsamer um als mit dem lexikalisch dominanten Vater. Der Freund wird frei und gegen alle konfessionellen Grenzen gewählt. „Tempelherr. Das habt Ihr! –Ich schäme mich,/Euch einen Augenblick verkannt zu haben./Wir müssen Freunde werden./Nathan. Sind/Es schon.“ Freunde zu werden, könnte ein Akt der Vernunft sein. Doch so deutlich komponiert es Lessing nicht. Vielmehr wird mit der Scham des Tempelherrn und Nathans Annahme der Freundschaft eine plötzliche, nicht ganz beherrschbare Gefühlsebene angesprochen. Der Freund wird immer dann, als Argument herbeizitiert, wenn es mit der Logik der Erzählung und den Vorurteilen hapert. Bridge Markland unterstreicht den Wunsch nach Freundschaft popmusikalisch sogleich mit „Ein Freund ein guter Freund: Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Schönste was es gibt auf der Welt“ aus dem Film Die drei von der Tankstelle (1930).
Das Schachspiel nimmt in Nathan der Weise eine wichtige Funktion ein. Ins Fenster der Box hängt Bridge Markland das genähte Bild von einem Schachbrett mit Figuren. Zunächst spielen Saladin und Sittah Schach. Sie sprechen dabei über eine Heirat von Sittah über die Religionsgrenzen hinweg. Bezeichnenderweise erwähnt Lessing die Figur der Konversion nicht, obwohl beispielsweise die Konversion von Juden zum Christentum in Berlin eine zunehmende Glaubens- bzw. Religionspraxis wurde. Der Tausch bzw. der Austausch der Religionen durch Konversion bleibt im dramatischen Gedicht ausgeblendet. Stattdessen wird beim Schach von Heirat bzw. Heiratspolitik gesprochen, als ließen sich die Menschen wie Figuren über ein gerastertes Terrain verschieben. Im geschwisterlichen Schachspiel zwischen Saladin und Sittah gewinnt die Schwester und Frau. Roland Kaiser singt dazu den Text von Bernd Dietrich, Gerd Grabowski und Heino Petrik:
„Schach Matt – denn sie spielte sehr klug
Schach Matt – packte mich Zug um Zug
Die Frau – bringt mich um den Verstand.“
Das Schachspiel übt in der Frage von Vernunft, später auch Intelligenz, eine besondere Faszination aus. Nach wie vor werden nervenzerreißende Schachweltmeisterschaften abgehalten, obwohl der noch recht große Schachcomputer Deep Blue bereits 1996 gegen den Schachweltmeister Garri Kasparow gewann. Im Roland Kaiser-Schlager wird eine Art emotionaler Beziehungsschach von einer Frau gespielt, um den Mann „um den Verstand“ zu bringen. Bei Lessing siegt Sittah gegen Saladin auf dem Schachbrett. Mit anderen Worten: Frauen sind vernunftbegabt und können rechnen. Das gerasterte Schlachtfeld des Schachbrettes wird zwischenzeitlich von Computern bzw. Prozessoren beherrscht. Es gibt indessen viele Menschen, die sich trotzdem dem Vergnügen eines Schachspiels hingeben. Doch genau an diesem Punkt kommen die Puppen, Automaten und Marionetten ins Spiel, die in der Literatur um 1800 den Leser*innen etwa von E.T.A. Hoffmanns Erzählungen einen gehörigen Schrecken einjagen.[17] Schon 1769, zehn Jahre vor Veröffentlichung von Nathan der Weise, hatte der österreich-ungarische Hofbeamte und Mechaniker Wolfgang von Kempelen den sogenannten Schachtürken konstruiert und damit europaweit für Aufsehen gesorgt. An der Diskussion, ob in dem Schrank unter dem Schachbrett ein Mensch versteckt sei oder eine Art Uhrwerk die Züge der als Türke gekleideten Puppe vornehme, schieden sich Europas Geister.[18] Im Zuge der Befreiungsgeste, wie sie im Schach durchgespielt und zugleich mit der Maschine bedrohlich wird, steht recht früh mit L’Homme machine (1747) von Julien Offray de la Mettrie der Mensch als Maschine im Raum.[19]
Lessings Auflösung oder Zerstreuung – „Tempelherr. (aus seiner wilden, stummen Zerstreuung auffahrend.)“ – eines vererbten Wissens von den Religionen wird Zug um Zug dramaturgisch am Schachbrett vorgenommen. Denn es ist nicht zuletzt das neuartige Wissensmodell des Binarismus, das seit der Aufklärung schon bei Gotthold Wilhelm Leibniz ins digitale Zeitalter hineinwirkt. Für das Klassenzimmer könnte im Zusammenschnitt der Stimmen und der Popmusik mit den Puppen fast noch mehr Tablet oder Smartphone – iPhone – eingesetzt werden, um Lessings Logik der Aufklärung mit Nathan der Weise in die Gegenwart zu holen. Heute heißen die Schachspiele anders. Vielleicht Candy Crush oder so, aber die Verhaltensformatierung findet offensichtlich nach ähnlichen Prinzipien längst woanders als in der Hamburgischen Dramaturgie statt. Es sind die Game Boxes und Konsolen, die heute Jugendliche zu richtigen Menschen als Gamer machen, wo es wenigstens noch die Fiktion einer Beherrschung der Maschine gibt. Mit etwas Glück könnte ihnen allerdings auch mit Bridge Marklands und Nils Foersters Nathan In The Box auffallen, dass ein höchst maschinelles Format wie Classic In The Box Freude und Nachdenken bereiten kann.
Torsten Flüh
Bridge Markland
Nathan In The Box
2.12.-4.12.2021 20:00 Uhr
13.01.-15.01.2022 20:00 Uhr
Brotfabrik
Caligariplatz 1
13089 Berlin
[1] Siehe Hamburger Bildungsserver – Unterrichtsmaterialien, Linklisten, Prüfungsvorbereitungsmaterial: Sprachen: Deutsch: Deutschsprachige Autorinnen und Autoren: Aufklärung: Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise.
[2] Zur vor allem im Zuschauerraum historisierenden Gestaltung vergleiche: Torsten Flüh: Aus Beethovens Geisterreich. Zur Uraufführung von Hoffmanns Erzählungen als Stummfilm mit der Musik von Johannes Kalitzke im Konzerthaus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 2. Oktober 2021.
[3] Auf dem ehemaligen Gelände des Französischen Krankenhauses an der Friedrichstraße auf der Claire-Waldoff-Straße lässt sich noch heute ein uralter Maulbeerbaum aus jener Zeit sehen.
[4] Zu Maimonidies vgl. die Mosse-Lecture von Sarah Stroumsa: Torsten Flüh: Vom Umkehren, Bekennen und Schmuggeln. Zur aktuellen Reihe Konversionen der Mosse-Lectures. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juni 21, 2015 22:12.
[5] Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise. Berlin, 1779, S. (ohne Seitenzahl, Titel, 5). In: Deutsches Textarchiv.
[6] Ebenda S. 72. (Deutsches Textarchiv)
[7] Ebenda.
[8] Ein Digitalisat von Friedrich Niewöhners Veritas sive varietas : Lessings Toleranzparabel u.d. Buch Von den drei Betrügern (1983) ließ sich nicht auffinden. Doch die Deutsche Digitale Bibliothek führt wenigstens eine Inhaltsangabe, die annehmen lässt, dass sich Niewöhner in seiner Habilitationsschrift mit der Konstellation Lessing, Mendelssohn, Maimonides näher befasst hat. (Deutsche Digitale Bibliothek)
[9] Adolf Weiss: More Newuchim – Führer der Unschlüssigen. In: Digitales Judentum: Talmud.de.
[10] Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 4, München 1970 ff., S. 591.
[11] Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie. Erster Teil. Hamburg 1767. S. 380.
[12] Xlibris: Interpretation „Nathan der Weise“ von Gotthold Ephraim Lessing. (xlibris)
[13] Frank Schlossbauer: Nathans Witz: Zur Neubestimmung des witzigen Formprinzips bei Lessing. In: The German Quarterly. Vol. 62, No. 1, Focus: 18th/19th Centuries. Gellert, Lessing, Goethe, Fr. Schlegel, Novalis, Kleist, Buchner (Winter, 1989), pp. 15-26, Published By: Wiley.
[14] Ebenda S. 15.
[15] Textbuch Bridge Markland.
[16] Gotthold Ephraim Lessing: Nathan … [wie Anm. 5] S. 116.
[17] Zu E.T.A. Hoffmann und dem Schrecken der Automaten siehe: Torsten Flüh: Aus Beethovens … [wie Anm. 2].
[18] Es gibt eine umfangreiche und kontroverse Diskussion um den „Schachtürken“. Der Einfachheit halber sei auf den Wikipedia-Artikel verwiesen: Schachtürke.
[19] Vgl. unter anderem: Torsten Flüh: Körperschlachten. Zu Sebastian Hartmanns Der Zauberberg beim digitalen Theatertreffen 2021. In: NIGHT OUT @ BERLIN 28. Mai 2021.
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