Encore – ein Zauber

Wiederholung – Distanz – Mythos

Encore – ein Zauber

Zum Eröffnungskonzert des Festivals Ultraschall Berlin 2025 mit dem DSO unter Leitung von Anna Skryleva

Das Festival für neue Musik, Ultraschall Berlin 2025, setzt in seinem Programm auf die Uraufführung jüngst entstandener Kompositionen und Wiederaufführungen. Für die Dirigentin des Abends, Anna Skryleva, liegt der besondere Reiz an neuen Werken darin, mit den lebenden Komponist*innen zu sprechen, sie um Rat zu bitten oder gar mit ihnen über das Stück zu debattieren. Denn Anna Skryleva begann bereits mit 10 Jahren selbst zu komponieren. 2024 gewann sie den Opus Klassik Award mit der Wiederentdeckung, Uraufführung wie Einspielung der Oper Grete Minde von Eugen Engel aus dem Jahr 1933. 2022 hatte sie die Uraufführung an der Oper Magdeburg, wo sie seit 2019 Generalmusikdirektorin ist, uraufgeführt. Sie erhielt internationale Aufmerksamkeit und debütierte nun brillant beim Deutschen Symphonie-Orchester Berlin mit Kompositionen von Younghi Pagh-Paan, Olga Neuwirth, Robert HP Platz und Konstantia Gourzi.

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distancing… von Robert HP Platz stand als Uraufführung auf dem Programm, wobei durch gegenseitiges Applaudieren und Händeschütteln keine Distanz, vielmehr die Aufführung als Teamarbeit des Komponisten, der Solistin Carolin Widmann, der Dirigentin und dem Orchester mit der Konzertmeisterin Carolin Grauman herausgestellt wurde. Viel Nähe auf dem Konzertpodium, wie sie während der Pandemie nicht möglich gewesen wäre. Händeschütteln war bekanntlich plötzlich im März 2020 wegen der Covid-19-Pandemie nicht mehr gebräuchlich. Es wurde stattdessen unter Masken mit der Ghetto-Faust geboxt. Der Komponist Robert HP Platz wanderte durch das menschenleere Köln und begann Klänge im Raum für den „Abstand“ der Menschen zueinander während der Pandemie zu entwickelt. Daraus ist distancing… für Violine und Orchester entstanden, das zugleich ein Encore als Geschenk des Komponisten für die Solistin und das Publikum enthält.

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Die Wiederholung – encore – in Form der Zugabe reflektiert bei Platz sowohl das Konzert als Format[1] wie den Modus des Komponierens. Mit distancing… ist der Komponist, Dirigent und Hochschullehrer Robert HP Platz seit längerer Zeit mit dem Konzert im Großen Sendesaal des Hauses des Rundfunks und Livesendung auf rbb3 fulminant wieder mit einer Komposition an die Öffentlichkeit getreten. Doch die Wiederholung stand zugleich mit Younghi Pagh-Paans Frau warum weinst du? Wen suchst du? (2021) ebenso wie in Olga Neuwirths Dreydl (2021) und Konstantia Gourzis Mykene (2002) strukturell verschieden im Programm. Mehr noch: Das Dirigat von Anna Skryleva beim DSO lässt auf eine Wiederholung hoffen. Mit großem Einfühlungsvermögen in die zeitgenössischen Kompositionen bringt sie die ganz unterschiedlichen Klangwelten der vier Komponist*innen zum Klingen.

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Während die Anmoderation des Festivals von Rainer Pöllmann und Andreas Göbel im schmalen Programmheft mit „(d)ie Welt ist aus den Fugen“ angesichts von Kriegen, „Katastrophen und neue(n) Herausforderungen“ vage pessimistisch einsetzt, klangen die Gespräche auf dem Konzertpodium mit Anna Skryleva, Robert HP Platz und Konstantia Gourzi während der Umbaupausen eher optimistisch. Denn Platz hat beispielsweise mit seinem distancing… die durchaus traumatischen Kontakt-Beschränkungen[2] während der Pandemie in produktive Klänge verwandelt. Doch schon das erste Stück des Abends von Younghi Pagh-Paan setzte sehr leise ein und entwickelte sich klanglich eher zu einer Musik des Trostes, denn der Trauer.

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Frau warum weinest du? Wen suchst du? wurde 2023 bei den Donaueschinger Musiktagen uraufgeführt und erfuhr nun mit dem DSO seine Wiederaufführung. Das Zitat bezieht sich auf die Ostergeschichte im Neuen Testament bei Johannes. Insofern der von den Toten auferstandene Jesus mit den beiden Fragen die trauernde Maria von Magdala anspricht, wird die Trauer durchbrochen und in Trost verwandelt. Der Trost steht für die Komponistin im Vordergrund. Für sie ist es weniger ein religiöser Trost des Glaubens als vielmehr ein energetischer, der die Lebenskräfte wieder wecken soll. Obwohl das Stück nur ca. 7 Minuten dauert, komponiert Younghi Pagh-Paan einen Klang des Trostes, den sie insbesondere an Frauen adressiert.
„Ich denke an die aus Not weinenden Menschen jetzt, besonders an Frauen. Und ich denke an sie aus meiner eigenen Schwäche heraus. Es ist ein Trost, der die eigenen Lebens- und Existenzwünsche wieder stark werden lässt.“[3]   

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Das An- und Abschwellen der Streicher bis zum Atmen der Blasinstrumente und rhythmischen, fast tänzerischen Ansätzen arbeitet den Trost als einen Prozess aus, bevor das Stück plötzlich abbricht. Die Komponistin zitiert die Ostergeschichte mit dem Angesprochenwerden für die Reflektion über den Trost, während Johann Sebastian Bach ihn mit der Kantate Süßer Trost, mein Jesus kömmt, BWV 151, für den 27. Dezember als dritten Weihnachtstag komponierte. Der Trost wird insofern deutlich mit dem wiederholenden Zitat verschoben. Mehr noch als die beiden Fragen lässt sich die Ansprache eines „aus Not weinenden Menschen“ als tröstende Geste bedenken. Die Geburt Jesus‘ wird von Bach als Trost in einer seiner schönsten Arien komponiert. Jesus selbst kommt als Trost in die Welt. Pagh-Paan nimmt als Komponistin wohl Bezug auf den Text des Evangeliums, aber sie vertont ihn nicht. Sie nimmt ihn als Anstoß für eine lebhafte, nuancenreiche Klangskulptur des Trostes.  

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Dreydl von Olga Neuwirth wurde im Mai 2022 in Lyon vom Orchestre National de Lyon uraufgeführt, wobei sich die Komponistin mit dem Schicksalhaften wie Platz ebenfalls auf die Pandemie bezogen hat. Sie habe die „kontinuierlichen rhythmischen Muster in Dreydl … genutzt, um die fatale Zirkularität des Schicksals zu unterstreichen, wie wir sie in den zwei Jahren der Pandemie erlebt“ hätten, als „die Zeit stehen geblieben“ sei und niemand gewusst habe, „was die Zukunft bringen“ werde.[4] Die Pandemie hat in den Partituren ihre Spuren hinterlassen. Zugleich knüpft die Komponistin aus Graz mit dem Titel Dreydl nach ihrer Filmmusik für den ebenso satirischen wie hellsichtigen Stummfilm Die Stadt ohne Juden von 1924[5], der 2019 im Rahmen von MaerzMusik in Anwesenheit von Olga Neuwirth aufgeführt wurde, an jüdische Traditionen und das jiddische Kinderlied Ikh bin a kleyner dreydl an.
„Ein Dreydl ist ein Kreisel, mit dem Kinder auch heute noch während des Lichterfestes Chanukka spielen. Wie das Würfeln, ist der Dreydl ein Spiel mit dem Zufall. Unaufhörlich dreht und dreht er sich und ist deshalb für mich ein Symbol des Lebens: „Die Räder drehen sich, die Jahre vergehen / Ach, ohne Ende und ohne Ziel / Des Glücks beraubt, so bin ich geblieben …“ heißt es an einer Stelle im Lied Dem Milners Trem („Die Tränen des Müllers“) von Mark Markowytsch Warschawskyj.“[6]  

Claudius Pflug

Dreydl erinnert trotz seiner hohen kulturpraktischen Aufladung mit seinem Ostinato-Rhythmus musikalisch an den Boléro von Maurice Ravel. Das unaufhörliche Drehen des Kreisels als eine sich wiederholende Bewegung des Lebens setzt mehrfach erneut ein, um sich zu steigern und abzubrechen. Das Drehen lässt sich zugleich als eine Tanzbewegung denken und als ein einziges, progressives Crescendo wie bei Ravel wahrnehmen. Obwohl die Komponistin sich nicht ausdrücklich auf Ravel bezieht, wird ihr selbst nicht verborgen geblieben sein, dass sie mit ihrer Komposition das Crescendo zu einer Art Lebensmusik verdichtet. Es lässt sich gar der Bogen zur Filmmusik von Die Stadt ohne Juden schlagen, für die Neuwirth in der Szene der Parlamentsabstimmung ebenfalls ein Crescendo einsetzte.[7] In Dreydl überlagern sich für die Komponistin mehrere Assoziationen zu Modi der Zeit als Lebenszeit. Nicht zuletzt hat sie die Komposition „In Memoriam Joséphine Markovits“ gewidmet, die am 18. April 2024 verstarb und das Festival d’Automne in Paris mehr als 50 Jahre kuratiert hatte.

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Carolin Widmann, die die Solovioline in der Uraufführung von distancing… spielt, wurde im Großen Sendesaal regelrecht gefeiert. Das Gebot der Distanzierung wird in der räumlichen Anordnung des Komponisten zu einem Gemeinsamen. Konkret spielten zwei Violininst*innen rechts und links auf dem Balkon im Rang mit der Solistin. Die gebotene Distanz führt auf diese Weise nicht nur zur Vereinzelung und Einsamkeit, vielmehr eröffnet sie in der Praxis ein gemeinsames Musizieren. „Der Klang der Solo-Violine selbst spaltet sich dabei auf, verteilt sich im Raum, ganz so, als wolle er über die erzwungene Distanz hinauswachsen und in einem größeren Gemeinsamen aufgehen“, schreibt Robert HP Platz zu seiner Komposition. Wahrscheinlich hängt es von den Hörer*innen ab, ob sie ein Aufgehen „in einem größeren Gemeinsamen“ oder ein räumlich Gemeinsames hören. Allein das gemeinsame Hören und Musizieren unter den Bedingungen des Abstandwahrens konnte noch im September 2020 zu Tränen rühren, während zugleich sogenannte „Querdenker“ ein Gemeinsames bestritten.[8]   

Claudius Pflug

Robert HP Platz lässt die Solovioline in ihrer Einzelheit kaum hörbar das Stück eröffnen, die sich zu einer Art Monolog steigert, um ein Gemeinsames in den Tuttiviolinen entstehen zu lassen. Insofern geht es um eine Verräumlichung des Klangs im Einzelnen, die mit der Zugabe wiederum auf die Solovioline vereinzelt wird. Mit der von Platz komponierten Zugabe als Encore und Einzelleistung wird das Gemeinsame quasi auf die Einzelne zurückgeworfen. Wie lässt sich distancing… über die Praktiken während der Pandemie hinaus denken? Das Distanz-Halten wird bei Robert HP Platz zu einem künstlerischen Gebot. Es wohnt ihm eine hohe Sensibilität inne, die sich selbst im Orchester fortsetzt. Insofern Violinkonzerte oder andere Soloinstrumentenkonzerte aus einem Wechsel von Solist*in und Orchester gebaut sind, erfüllt distancing… dieses Kompositionsschema gerade nicht. Vielmehr steht die Praxis des Gemeinsamen im Vordergrund, während sie gerade historisch durch die Pandemie unmöglich geworden war.

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Konstantia Gourzi gehört zu den Komponistinnen, mit denen Anna Skryleva in engem Austausch steht. Gourzi ist ebenfalls als Dirigentin international tätig. Insofern war die Wiederaufführung von Mykene. 7 Miniaturen von 2002 eine wohldurchdachte. Der griechische Mythos von Mykene als Schauplatz der Tragödie um Elektra überschneidet sich in der Komposition mit der Ausgrabungsstätte und dem Tourismusziel. Zugleich gehört Mykene zu den Reise- und Forschungszielen Heinrich Schliemanns, die unter heutigen wissenschaftlichen Standards als zweifelhaft gelten dürfen.[9] Konstantia Gourzi eröffnet ihre Miniaturen mit Elektras Ängste und dadurch mit dem Mythos. Doch in der Aufführungspraxis geht Gourzi über den Mythos und den antiken Ort Mykene hinaus, wenn sie der Dirigentin an bestimmten Stellen überlässt, wann bestimmte Instrumentengruppen für rhythmische Elemente einsetzen sollen.[10] Auf diese Weise komponiert die Dirigentin quasi am Orchesterstück mit, zumindest wird ihr ein Entscheidungsspielraum eingeräumt.

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Die 7 Miniaturen lassen sich nicht nur als mythologische Geschichte Klytämnestras hören und „dem historischen Geschehen in Mykene“ verstehen, vielmehr geht es der Komponistin zugleich um die antiken Anfänge des Musikmachens. Zu bedenken ist bei den antiken Ausgrabungsstätten wie Mykene oder Troja insbesondere durch Heinrich Schliemann, dass es sich um lokale Konstruktionen nach einem literarischen Mythos handelt, die einem Geschichtsverständnis des 19. Jahrhunderts entsprachen. Die Ursprünge des Mythos sind keinesfalls durch die historischen Stätten belegt. Heinrich Schliemann selbst hat die Anverwandlung des Mythos mit den Funden der antiken Siedlungen wie ihrer Schätze in höchst fragwürdiger Weise als Selbstinszenierung betrieben, wie mit der leider wenig kritischen Ausstellung Schliemanns Welten in der James-Simon-Galerie und dem Neuen Museum 2022 zumindest erahnbar wurde.[11]  

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Die Dirigentin und Komponistin bringt nicht zuletzt für die Musik von Mykene ihre Herkunft als gebürtige Athenerin in Anschlag. Doch die Komposition ist nicht einfach aus dem Bauch komponiert, vielmehr sehr genau durchdacht und konstruiert. „Alle sieben Miniaturen zusammen erzeugen eine dramaturgische Einheit und sollen als solche interpretiert werden. Zwischen den Miniaturen ist öfter attacca geschrieben: Der Nachklang jeder Miniatur soll als Spannung vom Dirigenten zwischen den jeweiligen Stücken nach Belieben gehalten werden. Sobald diese Spannung endet, setzt das nächste Stück ein; wie eine Geschichte, die in einem bestimmten Energiefluss weitererzählt werden soll“[12], schreibt Konstantia Gourzi. Durch das „Belieben“ der Dirigent*in wird indessen jede Aufführung des Stückes einzigartig und entzieht sich einer Wiederholung und einem Vergleich, wie er in der Musikkritik oft mit Referenzaufnahmen geübt wird. Der Interpretation von Anna Skryleva mit dem Deutschen Sinfonie-Orchester Berlin lässt sich auf ultraschall berlin nachhören.

Torsten Flüh    


[1] Zum Format des Konzerts siehe: Torsten Flüh: Le bonheur du concert. Zur Uraufführung von Heiner Goebbels‘ A House of Call. My Imaginary Notebook mit dem Ensemble Modern Orchestra beim Musikfest Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 2. September 2021.

[2] Zur Debatte über die Kontakt-Beschränkungen während der Pandemie siehe: Torsten Flüh: Fledermäuse, Pangoline, Labore und die Gattung Homo sapiens sapiens. Wie Verschwörungstheorien Sinn stiften und Narrative vom Patient Zero bis zur Artengrenze übertragen werden. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. April 2020.
Und zur Kontaktperson siehe: Torsten Flüh: Die Kontaktperson als Schnittstelle der Pandemie. Zu Thomas Oberenders Text Die Liste eines Jahres im Lichte einer kurzen Begriffsgeschichte. In: NIGHT OUT @ BERLIN 20. Februar 2021.

[3] Younghi Pagh-Paan: Programmnotiz zu «Frau, warum weinst Du? Wen suchst Du? » für Orchester. Pagh-Pan.com.

[4] Übersetzung nach: Olga Neuwith: Dreidl (2021) Boosey & Hawkes.

[5] Siehe: Torsten Flüh: Schrecken der Nachträglichkeit und Zeitgespür. Zur Berliner Aufführung von Die Stadt ohne Juden (1924) mit Musik von Olga Neuwirth bei MaerzMusik. In: NIGHT OUT @ BERLIN 8. April 2019.

[6] Zitiert nach Olga Neuwirth: Dreydl (2021) ultraschall.

[7] Torsten Flüh: Schrecken … [wie Anm. 5].

[8] Siehe: Torsten Flüh: Heitere Harmonie und Zersplitterung. Zum Eröffnungskonzert des Musikfestes Berlin mit der Staatskapelle Berlin unter Daniel Barenboim. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. September 2020.

[9] Zu Heinrich Schliemann und Mykene siehe: Torsten Flüh: Heinrich Schliemanns merkwürdige Methoden. Zur Ausstellung Schliemanns Welten in der James-Simon-Galerie und dem Neuen Museum. In: NIGHT OUT @ BERLIN 18. Juli 2022.

[10] Siehe Konstantia Gourzi: Mykene. 7 Miniaturen. (2002) ultraschall.

[11] Torsten Flüh: Heinrich … [wie Anm. 9].

[12] wie Anm. 10.

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