Club – Kammerorchester – Leere
Ekstasen zwischen Beethoven und Dubtechno
Zum Orbiting – Enter the Void-Konzert von VKKO im Prince Charles Club beim Impuls Festival 2020
Auf der Schwelle schon zum Shutdown fand am 24. Oktober im Prince Charles Club in der Prinzenstraße am Moritzplatz ein außergewöhnliches Konzert im Rahmen des Impuls-Musikfestivals statt. Das zwanzigköpfige Verworner Krause Kammerorchester hatte schon nach und nach eine Art Bühne wie am Rande eine Schwimmbeckens betreten, eine Stimmkünstlerin hatte sich bereits vor einem Mikrophon eingefunden, als die Komponisten und Dirigenten Christopher Verworner und Claas Krause energiegeladen an das Pult mit der Partitur springen. Verworner greift zur E-Gitarre, Krause gibt den Einsatz und das Kammerorchester legt los mit einem Soundorkan, der durch fette Club-Boxen verstärkt wird. Das Konzert des VKKO – Verworner Krause Kammerorchester – donnert als eine Art Naturereignis aus Kammerorchester und Elektronik durch den Club.
Verworner und Krause haben mit ihrem Kammerorchester ein neuartiges Konzertformat mit dem Titel Orbiting designed. Wegen der Pandemie hat eigentlich der Prince Charles Club seit dem 1. Juni nicht nur geschlossen, sondern „nach 8 großartigen Jahren“ dicht gemacht. Die trendigen Räume zwischen Tiefgarage, Schwimmbad und Chillout Lounge hinter einer schweren Betonwand sind erhalten geblieben. Zum Sound des VKKOs aus München könnte ich auch tanzen. Stattdessen stehen ein paar Klappbänke zum Sitzen, wo bis März getanzt wurde. Orbiting im Club wird auch zu einer Art Requiem auf die Club-Kultur nicht nur in Berlin, sondern weltweit. Sozusagen postum wird mit 3 Uraufführungen im Rahmen des Impuls Musikfestivals noch einmal der Club gefeiert. Impuls, das festival für neue musik sachsen-anhalt, hätte noch bis 20. November unter dem Festivalmotto Enter The Void an verschiedenen Orten wie Kalbe, Halberstadt, Quedlinburg und Magdeburg stattfinden sollen.
Der Titel Orbiting klingt geheimnisvoll und bedenkenswert. Einlass nach strikten „hygiene measures“ ist ab 19:00 Uhr. Das Personal begleitet die Gäste einzeln oder in kleinsten Gruppen bis zu 3 Personen auf ihre Plätze. Ich behalte meine LIEBE-TUT-DER-SEELE-GUT.-Maske auf. „No dancing event“ wird auf einem DIN a5-Zettel mit drei Ausrufezeichen – „!!!“ – Nachdruck verliehen. Es gibt Barbetrieb, aber „consumption only while seating“. Auf meiner Bank angekommen nehme ich die minimalistische, immersive Installation „Orbit“ von Clemens K. Thomas (Komponist) und Cornelius Reitmayr (visual artist) wahr. Es piept, rauscht und blinkt ein wenig aus seltsam antiquierten Geräten wie im SciFi-Film, aber wie es Juri Gagarin während seiner ersten Umrundung der Erde nicht gehört und nicht gesehen hat. Christopher Riley hat in seinem Film The first Orbit 2011 vor allem die Stille und Leere inszeniert. Das menschliche Wesen im Orbit einsam in einer Kapsel in den berechenbaren, aber kaum begreifbaren Weiten. Gagarin ließ sich dafür feiern, dass er den Mut besessen hatte, sich allein in die Umlaufbahn um die Erde schießen zu lassen.[1]
Doch der Begriff Orbiting hat im Kontext digitaler Realitäten, Club und Social Media schon vor der Coivid-19-Pandemie eine weitere Bedeutungsmöglichkeit erhalten. Er benennt ein Verhalten auf Dating-Apps, bei dem eine Person ständig eine andere virtuell umkreist oder verfolgt, aber keinen direkten Kontakt zulässt und mehrdeutige Antworten sendet.[2] Orbiting wird als ein psychologisches Problem im Bereich der Beziehungsratgeber behandelt. Der oder die Orbiter ist durch Signale immer ganz nah, um auf unendlicher Distanz zu bleiben. Das lässt sich schwer aushalten. Anders gesagt: Ein semiotisches Problem der Mehrdeutigkeit von Zeichen, Bildern und Worten, das in der romantischen Literatur zu Beginn des 19. Jahrhunderts ausführlich thematisiert wird, kehrt in den digitalen Medien als ein paarpsychologisches wieder. Doch in einer Zeit der epidemiologischen Kontaktbeschränkungen wird Orbiting möglicherweise zu einer anhaltenden Praxis von Paarbeziehungen. Die Kontaktbeschränkungen fordern gar neuartige Praktiken der Nähe ein, um zugleich den Kontakt zu verhindern. Das findet gerade im Kulturleben statt. Die Nähe im Theater etc. wird in digitale Programme wie Zoom verlagert.
In der „Konzertarchitektur“ von Orbiting wechseln zwei Stimmkünstlerinnen – Mia Knop Jakobsen und Salome Kummer – am Mikrophon. Da sich das Konzert mehr an Popkonzerten als an klassischen orientiert, gehen die Stücke fast ineinander über. Das VKKO, also Verworner und Krause haben Bloodthirsty Tribes für die Stimmkünstlerin Salome Kammer komponiert. Es gibt Text, der sich allerdings in „massiven Akkordwelten mit technoidem Imperativ und resoluten Grooves als Betonung einer dennoch subversiven Fragilität“[3] nicht ganz so leicht verstehen lässt. Verworner und Krause wechseln einander am Pult ab. Das Orchester wird zu einem „offene(n) Organismus im Raum verteilt und teilweise „begehbar““. Auf einer Leinwand vor dem Schwimmbad-Mosaik erscheinen digitale Welten, die genau mit der Musik synchronisiert werden. Philip Seybold, visual artist, am Laptop gibt Einsätze mit einem Taktstock für seine visuellen Kompositionen. Dazu viel Trockeneisnebel und Laserscheinwerfer. Während Kammermusik die hohe Kunst des subtilen Spiels miteinander genannt werden könnte, wird sie beim VKKO zur konzertierten medialen Flutung, die zur Ekstase führen könnte, wenn sie den unter den „hygiene measures“ erlaubt wäre. Doch wir befinden uns gerade in einer ekstasefeindlichen Zeit.
Orbiting und Ekstase begünstigen einander. Wenigstens dirigieren Verworner und Krause ekstatisch. Das ist auch eine grandiose Show. Die Hornistin tanzt und bleibt doch auf Distanz eingestellt. Auf der Screen erscheint ein Film mit einer Taucherin und Riesenhaien. Nervenkitzel und Harmoniefantasie. Es sind Bildfetzen, die überblendet werden. Dann ein Palmenwedel im Gegenlicht. Unterwasser-Filme gelten im Lounge-Bereich als entspannend. Ein Joint wäre förderlich. Unterwasser-Bilder dieser Art versprechen Ekstase und Mamafikation, wie es sich aus dem Englischen transferieren ließe: ein Außer-sich-sein, indem die Rückkehr in den Mutterleib imaginiert wird. In der Musikliteratur lässt sich Parsifals Begegnung mit Kundry zum Beginn der 2. Aufzugs bei Richard Wagner als eine ekstatische Mamafikation bedenken, die Erkenntnis verspricht. Kundry macht sich zu Parsifals Mutter Herzeleide, um ihn zu verführen. Kundrys Verführungsversprechen wird nicht zuletzt als ein inzestuöses formuliert.
„Bekenntnis
wird Schuld in Reue enden,
Erkenntnis
in Sinn die Torheit wenden:
die Liebe lerne kennen,
die Gamuret umschloß,
als Herzeleids Entbrennen
ihn sengend überfloß!
Die Leib und Leben
einst dir gegeben,
der Tod und Torheit weichen muß,
sie beut‘
dir heut‘ –
als Muttersegens letzten Gruß
der Liebe – ersten Kuß.“ (Richard Wagner: Parsifal, 2. Aufzug)
Außer sich ganz bei sich selbst sein wird auch mit Orbiting vom VKKO vom getunten Kammerorchesterklang versprochen. Der narrative Gesang wird zur Stimmkunst von Salome Kammer. Beethoven und Wagner stehen nicht nur Pate beim ausgesteuerten Klang des VKKO. Er geht bis an die Schmerzgrenze, ist aber grandios. Widerstand wird zwecklos, erfordert das Verlassen des Konzerts. Mit Ohrstöpseln wird der massive Kammerorchesterklang nur vermeintlich gedämpft. Die Kompositionen von Verworner und Krause, Vasiliki Krimitza und Gene Pritsker setzen entschieden auf Überwältigung durch Klang. Die Teilnehmerin der IMPULS-Meisterklasse Vasiliki Krimitza knüpft mit ihrer Komposition Άυλη. (griech. immateriell) entfernt an Wangers Tristan an, wenn ihr Stück als „mit der Idee der körperlich ‑metaphorischen- Paralyse verbunden und auf psychische oder geistige Prozesse gegründet“ beschrieben wird. Bei Wagners „Liebestod“ wird es jene rauschhaft immaterielle Vereinigung, die sich sprachlich, stimmlich und musikalisch vollzieht. Anders und doch sehr ähnlich heißt es bei Krimitza, dass ihre Komposition Ansätzen enthalte, „sich vom Irdischen zu distanzieren und zurückzutreten und in der Seele zu vertiefen. Das eigene Übersteigen wird thematisiert, offen bleibt jedoch, ob das eine positive Erfahrung ist oder nicht. Denn das Ganze ist mit der Wirkung des Todes auf die Psyche und dem Wissen um die Vergänglichkeit des Menschen eng verbunden.“[4]
Gene Pritsker verarbeitet in Beethoven’s Erotic Eulogy für das VKKO die Eroica bzw. die 3. Sinfonie. Es ist sozusagen eine Auskopplung aus der sechsteiligen Eroicanization für Kammerorchester und DJ-Set, einem Auftragswerk des Ensemble KONTRASTE Nürnberg. Das VKKO spielte zwei Stücke, Erotic Eroica und Eulogy Eroica aus der Eroicanization. Der Berichterstatter war sich während des Konzerts nicht ganz sicher, ob er Anspielungen auf die Eroica hörte. Verworener setzt in Erotic Eroica mit seiner E-Gitarre und Wha-Wha-Effekt ein. Bei Takt 288 wird die Wha-Wha-Gitarre heruntergefahren, bis sie verschwindet und der DJ lässt die „sex samples“ los.[5] Für Eulogy Eroica setzen die beiden Streicher*innen im Flautando (flötenartig) ein und es gibt eine Stimme, die an der Schwelle zur Verständlichkeit artikuliert:
“This is a eulogy
for my fear-less-ness
used to be so brave
now I fear love
that I can – not save
can – not save
but I sol – dier
on and try to be the best
that I can so
that life can spare
Our Love our love
This is a eulogy
that I prepared in case we fall
Love it is so much gamble
never know if we survive
the dices final role.”[6]
Vor allem Gene Pritskers Eulogy Eroica fällt hoch poetisch und narrativ auf das Heroische aus. Damit knüpft Pritsker an eine populäre Interpretation der 3. Sinfonie von Ludwig van Beethoven an. Während sie Daniel Barenboim mit der Staatskapelle Berlin am 27. Januar 2020 sehr viel individueller interpretiert hatte.[7] Allerdings thematisiert Pritsker nicht den Napoleon-Mythos zur 3. Sinfonie, sondern macht sie zu einer Selbstreflektion und Lobrede auf die Angstlosigkeit, die sich in eine Angst vor der Liebe verkehrt. Schließlich wird das Überleben vom zufälligen Fall der Würfel abhängen. Als äußerste produktiver Crossover-Komponist bringt Pritsker mit Eulogy Eroica einen eher ruhigen, nachdenklichen Aspekt in die Club-Kultur.
Das IMPULS Festival für Neue Musik hatte das zeitlose Motto Enter the Void, was soviel heißen könnte wie, nehmt die Leere in Besitz, aber auch trete in die Leere ein oder halte die Leere aus. Seit dem Beginn der Pandemie in Europa und Deutschland im Frühjahr hat das Festivalmotto einen neuen Zeitbezug, „Aktualität und Brisanz“ erhalten. „Neben der landespolitischen Dimension wird das Thema nun zu einem existentiellen Aufruf. Wir wollen nicht durch Funkstille den Mangel unterstreichen, vielmehr soll das künstlerische Kreieren von Neuem unsere Systemrelevanz immer wieder neu reflektieren.“[8] Nun ist gerade das IMPULS Festival durch den neuerlichen Shutdown ausgebremst worden. Doch vieles ist anders als im Frühjahr. Die Leere ist nicht gleich der Mangel. Für den Mangel muss ontologisch eine Fülle vor der Leere dagewesen sein. Doch wir werden durch Kontakt-Beschränkungen in der dunklen Phase des Jahres stärker mit der Leere konfrontiert als im Frühjahr. Im November wird in der deutschen Kultur zudem mit den Gedenktagen, an die Toten und den Tod als Endlichkeit des Lebens erinnert. Das macht es für viele Menschen schwieriger, die Leere auszuhalten. Sie fordert allerdings dazu auf, dass wir uns unser ganz privates Leben schön und mit Liebe einrichten.
Torsten Flüh
VKKO
Verworner Krause Kammerorchester
LIEBE TUT DER SEELE GUT.
Kampagne und Masken
[1] Siehe: Torsten Flüh: Sehen, was Juri Gagarin sah. Christopher Rileys Film The first Orbit auf YouTube. In: NIGHT OUT @ BERLIN Mai 5, 2011 22:56.
[2] Focus: Warmhalte-Strategie In der Umlaufbahn, ohne Kontakt: Wie Sie auf die Dating-Masche Orbiting reagieren sollten. 02.12.2018, 10:45.
[3] Impuls: orbiting – Konzert & Lounge 24. Okt. 2020.
[4] Ebenda.
[5] Gene Pritzker: Eroinanization. Score (PDF).
[6] Ebenda S. 64-78.
[7] Vgl. auch: Torsten Flüh: Gedenken als fortschreitender Prozess. Über das Benefizkonzert Zum Gedenken an den 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz in der Staatsoper Unter den Linden. In: NIGHT OUT @ BERLIN 28. Januar 2020.
[8] Impuls: Über Impuls.
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