Schneiden – Kleben – Kombinieren
Des Schinkens Augen
Zur Sonderausstellung George Grosz: A Piece of My World in a World Without Peace – Die Collagen im Das kleine Grosz Museum.
Sieht der Schinken mich an? Wie blickt der Schinken auf die Welt? Führen die Einzelaugen und Augenpaare in den Zeitungen, Illustrierten, Magazinen, Bildbänden, Reklamen etc. in den Papiermedien seit den 1920er Jahren gar einen Krieg gegen die Betrachter*innen? George Grosz hat sehr viele Augen ausgeschnitten und immer wieder in andere Bildumgebungen wie die Innenfläche einer Hand geklebt. Mit der Fotografie und der Verbreitung von massenhaften Printmedien konfrontierten sie Leser*innen und Betrachter*innen mit dem visuellen Erkenntnisorgan Auge. Am Kiosk, auf Bussen und von Häuserwänden blickten Reklameaugen. Die Kuratorin der Ausstellung und Leiterin des Archivs Bildende Künste an der Akademie der Künste, Rosa von der Schulenburg, weist in Das kleine Grosz Museum wiederholt auf die unheimliche Gegenwart der Augen in den Collagen hin.
Die Akademie der Künste verfügt über einen Großteil der Collagen von George Grosz im Original. Das kleine Grosz Museum gehört zu Berlins originellsten Museen. Denn das Museum bzw. dessen Eingangsbereich und Café ist architektonisch eine Tankstelle. Die Phantasie der autogerechten Stadt bescherte dem noch weit in Trümmern liegenden Berlin an der Ecke Bülowstraße 18 eine Tankstelle des „Standardtyps Shell AG von 1956“ mit freischwebendem Schutzdach über den Zapfsäulen. Wo früher Benzin getankt und Schmierstoffe auf Getriebe aufgetragen wurden, bietet der Trägerverein George Grosz in Berlin e.V. mit dem Estate of George Grosz, Princeton, und der Sammlung Juerg Judin heute einen Schub aus erneuerten Energien. Der durch politische und kunstpraktische Zeitläufe seit den 30er Jahren in den USA eher glücklose Maler und Collagenkünstler George Grosz erstrahlt zu einem facettenreichen Stern der visuellen Moderne.
Die Schöneberger Umnutzung und Erweiterung des „Standardtyps Shell AG von 1956“ mit dem Anbau eines Atelier- und Wohnhauses lässt sich in dieser Weise nur in Berlin denken. Städtebaulich wird der Standort durch die Hochbahn der Linie U2 über der Bülowstraße dominiert. 1896-1902 baute die Firma Siemens & Halske mit ihrem Hauptsitz in der Schöneberger Straße am Lehrter Bahnhof die Hochbahn zwischen Nollendorfplatz und Oberbaumbrücke bzw. Warschauer Straße. 1905 bis 1906 wurde am Nollendorfplatz das Neue Schauspielhaus erbaut, das in den 20er Jahren zum Wirkungsort Erwin Piscators mit George Grosz als Bühnenbildner werden sollte. Der Standort befindet sich somit an einer Schnittstelle aus Verkehrstechnik, Städtebau, Unterhaltung und politischer Debatten. Die ironische Musealisierung des „Standardtyps Shell AG von 1956“, die in der Kombination mit japanischer Gartenarchitektur – Kies, Bambus und Wasserflächen – in ihrer Formgebung aufgewertet wird, erhielt 2009 einen Architekturpreis und wird seit 2021 für Das kleine Grosz Museum genutzt.
Der standardisierte Alltagsbau einer Tankstelle von 1956, der vielerorts bereits verschwunden ist, weil er zum Ge- und Verbrauch konzipiert wurde, wird in Kombination mit der strengen Form von Garten, Atelier- und Wohnhaus sowie einer nach chinesischer Praxis den Garten umschließenden Mauer für einen kulturellen Nutzen aufgewertet und aller erst zu einem öffentlichen, urbanen Debattenraum. Es ist nicht nur die visuelle Erscheinung, die plötzlich andere Möglichkeiten des Gebrauchs erlaubt, vielmehr haben Torte und Tanken nun durch neue Kombinationen eine ganz andere Geschichte hergestellt, die sogar anders auf den verkehrstechnischen Hochbahnbau blicken lässt. Die lärmintensive Nutzung durch die U-Bahn zeitweilig im 5-Minuten-Takt aus beiden Fahrtrichtungen gibt auch einen Wink auf das Paradox der Moderne von Geschwindigkeit und Taktung, Fortschritt, Verbrauch und Verschmutzung.
Das kleine Grosz Museum aus der Tankstelle tut nicht zuletzt der Grosz-Rezeption gut. George Grosz erfand mit John Heartfield die Fotomontage, wie Rosa von der Schulenburg mit einem Künstlerzitat herausstellt. Die Wirklichkeitsschnipsel der fotografischen Printmedien, Andy Warhol sollte entschieden später einmal von „Time Capsules“ sprechen, müssen nicht allein als Faktum geglaubt werden, vielmehr können sie immer schon manipuliert sein und lassen sich auch ganz anders kombinieren. Erst mit 12jährigen Verspätung formuliert George Grosz mit einem ironischen Unterton 1928:
„Als John Heartfield und ich 1916 in meinem Südender-Atelier an einem Maientage frühmorgens um 5 Uhr die Photomontage erfanden, ahnten wir beide weder die großen Möglichkeiten, noch den dornenvollen, aber erfolgreichen Weg, den diese Entdeckung nehmen sollte. Wie das eben manchmal im Leben ist, wir waren auf eine Goldader gestoßen, ohne es zu wissen“.[1]
Die „Entdeckung“ der Praxis der „Photomontage“ an einem Maienmorgen um 5 Uhr spricht bei den Malerkünstlern Heartfield und Grosz weniger für Frühaufsteher als vielmehr für eine, sagen wir, durcharbeitete Nacht aus der plötzlich ein visuelles Verfahren beim Machen aufbricht. Wie genau sie die Montage von Fotos oder Elementen aus Fotos entdeckten, erzählt Grosz 1928 in dem Text Randzeichnung zum Thema für die Blätter der Piscatorbühne (am Nollendorfplatz) nicht. Vielmehr wird der neuartige Umgang mit den Fotos als „Entdeckung“ formuliert und damit als einem Auffinden von etwas Neuem in Wissenschaft und Forschung beschrieben. In gewisser Weise spricht Grosz hier in anachronistischer Weise von „Entdeckung“. Denn das Zeitalter der Entdeckung spielte sich auch mit dem Gebrauch des Begriffs um 1800 ab. Um 1900 wurde der Begriff schon weit weniger verwendet.[2] Indessen schiebt er noch nach, dass sie nicht wussten, wie wertvoll – „Goldader“ – die ebenso plötzliche wie folgenreiche „Entdeckung“ werden sollte.[3]
2020 war in der Akademie der Künste am Pariser Platz eine der ersten Fotomontagen von John Heartfield aus dem Weltkriegsjahr 1917/1918 mit dem handschriftlichen, deiktischen Motto „So sieht der Heldentod aus“ zwischen zwei Fotos von Hermann Vieth zu sehen.[4] Die handschriftlichen Worte und Titel werden zum Bestandteil der neuen Praxis, insofern sie die Praxis der benennenden und deiktischen Bildunterschrift für Fotos in Printmedien wiederholt und der politische Euphemismus „Heldentod“ für das massenweise, unschöne Sterben auf den Weltkriegsschlachtfeldern mit dem Bild entzaubert wird. Zwischen den beiden untereinander montierten Fotos vom Weltkriegsschlachtfeld hält die Inschrift von Hand eine Wunde offen, um aller erst auf sie hinzuweisen und sie zu verstärken. Die Kombination aus Sprache und Bild(ern) spielt insofern früh eine Rolle für die Fotomontage und lässt sich mit von der Schulenburg als visuelle Rhetorik beschreiben. George Grosz wird nicht zuletzt für seine frühen Dada-Collagen wie nach 1919 für Leben und Treiben in Universal City um 12 Uhr 5 mittags (Dada Fox) eine Kombination aus Bild- und Text-Elementen wie einem Negativfilm, Zeitungstitel und kryptische Einzelworten wie „PHOTOPLAYS.“ verwenden.[5]
Die Fotomontage wird von Heartfield und Grosz fast zeitgleich mit dem Dadaismus entwickelt, obwohl Heartfield sich im Unterschied zu Grosz nicht ausdrücklich zu Dada bekannte. Richard Huelsenbeck gründete 1917 mit Grosz, Raoul Hausmann und Else Hadwiger eine Dada-Gruppe in Berlin. 1920 entwarf Grosz den Umschlag für Huelsenbecks DADA SIEGT! EINE BILANZ DES DADAISMUS im Malik-Verlag für die „Abteilung Dada“. Als in Rot hervorstechendes Bildelement auf der Titelseite aus dem Archiv der Akademie der Künste erscheint eine Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger. Die Zeigegeste aus der Reklame, die als Piktogramm bei Grosz häufig wiederkehren wird, zeigt auf dem Umschlag eher ironisch auf die Verlagsnennung am unteren Rand der Seite. Bild- und Textelemente werden von Grosz für den Druck u.a. in unterschiedlich starker Schrägstellung angeordnet. Das Verfahren der Collage für den Druck des Broschüre-Umschlags dürfte 1920 die gängigen, linearen Einbandformate durchbrochen haben. Die Ent- oder Verstellung von Texten und Bildern sollte für die Fotomontage richtungsweisend werden.
Bereits aus den in der Sonderausstellung gezeigten frühen Collagen für Dada lässt sich die Regelverletzung als ein Element von Grosz‘ Arbeiten herausarbeiten. Die Kenntnis der Regeln für ein Titelbild, auf dem alles linear geordnet zu erkennen, lesen ist, ermöglicht es, Text und Bild in eine Anti-Linearität zu versetzen. Zugleich mag die zunehmende Reklame und Beschriftung im öffentlichen Raum der Stadt Berlin für Grosz Bild und Schrift in einen Wirbel versetzt haben. Litfaßsäulen gab es seit 1854 in Berlin bald fast an jeder Straßenecke. Lichtreklamen machten Berlin bis 1928 zu Berlin im Licht, was Bertolt Brecht und Kurt Weill zu einem Song inspirierte.
„Und zum Spazierengehn
genügt das Sonnenlicht.
Doch um die Stadt Berlin zu sehn,
genügt die Sonne nicht,
das ist kein lauschiges Plätzchen,
das ist ’ne ziemliche Stadt.
Damit man da alles gut sehen kann,
da braucht man schon einige Watt.
Na wat denn? Na wat denn?
Was ist das für ’ne Stadt denn?“
Das Prinzip der Montage in der Collage wird in 2 frühen Ölgemälden von George Grosz als Verfahren der Bildkomposition eingesetzt. In seinen Ölgemälden wie Deutschland, ein Wintermärchen (1918) werden einige welthaltige Bildelemente ausgeschnitten und andere mit der Akribie der Schere aus Medien ausgeschnitten, um mit großer, fast fotorealistischer Genauigkeit gemalt zu werden. Die Montage gilt einer Wissensvermittlung durch Bild und Text, wenn Grosz gegen Abschluss des großformatigen Gemäldes von 215 x 132 cm im Gespräch mit Harry Graf Kessler im Atelier in Südende am 5. Februar 1919 vermerkt, dass jener ihm gesagt habe, „dieses Bild“ sei „so gedacht, dass es in den Schulen aufzuhängen“ wäre.[6] Deutschland, ein Wintermärchen wird nicht nur aus Zeitschnipseln in Öl sukzessive montiert, es soll das installierte Literatur- und Geschichtswissen auch an Schüler*innen vermitteln. Die Montage erhält aus einem spielerischen Verfahren die Funktion der Wissensvermittlung.
Das Gemälde Deutschland, ein Wintermärchen gilt als verschollen nach Ralph Jentsch.[7] In der Ausstellung wird eine kleinere Autotypie aus der Sammlung der Akademie der Künste neben einem Bildschirm in halber Originalgröße gezeigt, auf dem die einzelnen Bildelemente wie der zentrale Bürger in ans Militär oder die Polizei erinnerndem grünen Jackett mit Messer und Gabel am Tisch und Zeitung auf demselben eingeblendet werden. So wird das Verfahren der Montage im Ölgemälde visuell nachvollziehbar. Die gemalten Bild- und Fotoschnipsel, ausgeschnittene Zeitungsseiten und Lebensmittelmarken z.B. werden in ihrer Wissensfunktion ausgeschnitten, geklebt und anders, entgegen Diskurs- und anderer Regeln zusammengefügt.
Gleich einer Art Schnappschuss, den es wegen längerer Belichtungszeiten in der Fotografie um 1919 nur ansatzweise gibt, liegt auf dem Tisch neben Bierglas, Bierflasche und Lebensmittelmarken eine Ausgabe des Berliner Lokal-Anzeigers vom 21. Dezember 1918 mit der Schlagzeile Eine Republik Oberschlesien?[8] Der geklebte Zeitungsausschnitt, der schräg eher für die Betrachter*innen ins Bild gedreht wird, um den epochalen Wechsel vom Kaiserreich in eine Republik zu versprechen, als dass der wohlgenährte Bürger darin lesen könnte, macht das Gemälde zu einem genau datierbaren Zeitbild. Malen und Kleben existieren als Praktiken simultan im Öl. Bedrängt wird der Bürger von einem von rechts bzw. für ihn von links heranstürmenden Matrosen, als sei er ein Geist und Abgesandter des Kieler Matrosenaufstands vom 3. November 1918. Für ihn von Rechts naht sich eine barbusige Frau mit Kurzhaarschnitt, auch bekannt als monarchistische Geschlechterrollen durchbrechender Bubikopf, die ihm in verführerischer, vielleicht befreiender Absicht eine winzige Hand auf die Schulter zu legen scheint. Schrift- und Bildelemente generieren ein splitterartiges Zeitwissen vom Ende des Kaiserreichs.
Die Staatsvertreter am unteren Bildrand – Pfarrer mit Bibel, General mit Eiserenem Kreuz und Deutschlehrer mit einem Band „Göthe“ unter dem rechten Arm und Rohrstock in der linken Hand – werden von dem Schriftzug „Papestr“ ergänzt. Das Schriftfragment „Papestr“ am oberen Ende des Rohrstocks und mit ihm ließe sich zwischen Bild und Schrift in Papestrafe vervollständigen oder in Papestraße. Denn an der General-Pape-Straße in Tempelhof-Schöneberg lag zunächst mit dem Tempelhofer Feld ein Exerzierfeld, das bald von Kasernen des Eisenbahnregiments Nummer 2 neben den Eisenbahnlinien in den Süden ergänzt wurde. Damit ließe sich „Papestr“ umgangssprachlich in Papestraße als Hinweis auf das Militär als im 1. Weltkrieg vorherrschende Macht lesen. Grosz dürfte auf dem Weg zu seinem Atelier in Südende vom Anhalter Bahnhof kommend die Kasernen an der General-Pape-Straße häufig passiert und wiederholt aus der Bahn gesehen haben. Die Montage aus Text- und Bildelementen im Ölgemälde lässt sich insofern als eine Komposition vielschichtigen politischen, persönlichen und sozialen Wissens bedenken.
Die Ausstellung wartet mit einem umfangreichen Collagenwerk auf, das ebenso die Wiederverwendung von Bildelementen in anderen Kontexten nachvollziehbar macht. Für seine Schaffenszeit zwischen 1917 und 1946 wählte Grosz den im Englischen die Homophonie von „Piece“ und „Peace“ ironisch nutzenden Titel A Piece of My World in a World Without Peace. So werden nicht zuletzt für die Ausgabe 6 der Satirezeitung Die Pleite 1920 Pfarrer, Militär und Lehrer aus dem Ölgemälde Deutschland, ein Wintermärchen für die Rückseite im Druck prominent wiederverwendet.[9] Die zeitgenössischen Drucktechniken des Malik-Verlages erlauben Modi der Wiederholung und Variation. Aus dem Ölgemälde als Zeitbild ist ein Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit und Verwertung geworden, was Walter Benjamin erst 1935 formulieren sollte. Die, sagen wir einmal, gemalten Stützen der monarchistischen Gesellschaft sind bei George Grosz und John Heartfield von Anfang an in Prozesse der Wiederholung und Verwertung eingebunden. An den Collagen und Montagen in Öl wird nicht nur der Verlust der „Aura“ exemplarisch vorgeführt, er wird zugleich für andere Praktiken genutzt.
„Auf die merkantile Verwertbarkeit ihrer Kunstwerke legten die Dadaisten viel weniger Gewicht als auf ihre Unverwertbarkeit als Gegenstände kontemplativer Versenkung. […] Diese Unverwertbarkeit suchten sie nicht zum wenigsten durch eine grundsätzliche Entwürdigung ihres Materials zu erreichen. Ihre Gedichte sind »Wortsalat«, sie enthalten obszöne Wendungen und allen nur vorstellbaren Abfall der Sprache. Nicht anders ihre Gemälde, denen sie Knöpfe oder Fahrscheine aufmontierten. Was sie mit solchen Mitteln erreichen, ist eine rücksichtslose Vernichtung der Aura ihrer Hervorbringung, denen sie mit den Mitteln der Produktion das Brandmal einer Reproduktion aufdrücken.“[10]
Walter Benjamin formuliert mit der „rücksichtslose(n) Vernichtung der Aura“ mit Hans Arp als Vertreter des Dadaismus eine Kritik der Reproduktion, die sich bei George Grosz bereits im Ölgemälde mit Prostituierter, Zeitung, Lebensmittelmarken, „Papestr“, „Göthe“, „KAISER“, „OSRAM“ etc. ins Auratische gebahnt hatte. Das macht die bahnbrechende Funktion von Deutschland, ein Wintermärchen aus. Das postrevolutionäre Zitat des Gedichtes von Heinrich Heine als Titel des Ölgemäldes verpasst in paradoxer Hinsicht einerseits das historische Ereignis. Der Titel verfehlt und benennt das revolutionäre Ereignis. Andererseits ist es nicht nur „»Wortsalat«“, vielmehr verdichtete Zeitgeschichte, wenn „KAISER“ und „OSRAM“ nah beieinander, oben rechts wie Warenzeichen oder Markennamen in Majuskeln ins Bild gesetzt werden. Das Kofferwort OSRAM aus den Namen der chemischen Elemente Osmium (Os) und Wolfram (W) für das zeitgenössische, damals hochmoderne Lichterzeugungsmittel Glühbirne wird zum noch heute verbreiteten Markennamen, obwohl Glühfäden per Gesetz als umweltschädlich eingestuft wurden. Wie Peter Schamoni mit seinem Dokumentarfilm Majestät brauchen Sonne – Wilhelm II. (1999) gezeigt hat, verstand es der Kaiser sehr gut, seine Person als Marke für Fotografie und Film ins rechte Licht zu setzen.[11]
Das Politische und das Private durchdringen einander bei Grosz gerade mit und in der Collage. Das wird besonders an TEXTURES deutlich, welche in das George-Grosz-Archiv der Akademie der Künste gelangt sind. Rosa von der Schulenburg widmet dem gebundenen Unikat erstmals eine intensive Lektüre. TEXTURES ist mit Wasserfarbe in einer Art weißblauen Wolke in Majuskeln in Dunkelblau über den Leineneinband eines Bildbandes von Hand geschrieben. Es empfiehlt sich, den Einband auf eine derart mikrologische Weise zu beschreiben. Denn der ursprüngliche Titel „Renoir“ von Hand in Gold ist nicht einfach bis zur Unlesbarkeit übermalt, sondern in Gold nachgezogen. Unter der Übermalung und Überschreibung sollte so rein praktisch die Herkunft lesbar bleiben. Als Titelbild fungiert eine Collage aus einem Modemagazin für Haarschnitte und dem Teil einer Hand, die durch das Haar fährt, als öffne sie Haar und Schädel einer eleganten Frau mit Perlohrring und zweireihiger Perlenkette. Über der rechten Schulter ist eine kleine „67“ gedruckt, die einen Wink auf die Katalogfunktion des Bildes mit Legende gibt. Das quadratische Bild ist derart eingerissen, dass der blaugraue Einband so sichtbar wird, als entsteige dem Frauenkopf, dem Denkorgan Gehirn wie in einem Comic TEXTURES.[12]
Erst auf Seite 2 mit dem sogenannten Schmutztitel lautet dieser nun „THE Musterbook Tex (Bildobjekt) es“. Titel und Schmutztitel lassen ein höchst ausgeklügeltes Verfahren von Texturen entstehen. Denn im Schmutztitel wird der Titel teilweise überklebt, als solle der Titel auf dem Einband erinnernd gelesen werden. Unter der Collage des Schmutztitels schimmert noch teilweise die Struktur des Titelblatts „The Four Seasons“ der Zeitschrift The New Yorker vom 4. Januar 1941 durch.[13] In der Abfolge von Titel und Schmutztitel im Buch wird der mit einer Bildrolle teilweise überklebte Titel erst erinnernd lesbar. Verschiedene Texturen werden übereinandergelegt. Das Verfahren aus Zeigen und Verstecken gibt einen Wink auf Sigmund Freuds Notiz über den „Wunderblock“ von 1925. In dem Text geht es bekanntermaßen über ein Verfahren des Gedächtnisses und dem „Wunderblock“ als Modell des „Erinnerungsapparates“. „Wenn ich mir nur den Ort merke, an dem die so fixierte „Erinnerung“ untergebracht ist, so kann ich sie jederzeit nach Belieben „reproduzieren“ und bin sicher, daß sie unverändert geblieben, also den Entstellungen entgangen ist, die sie vielleicht in meinem Gedächtnis erfahren hätte“, schreibt Freud einleitend für die Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse.[14]
Die von Freud eingehend formulierte Hoffnung auf eine gleichsam wie mit einer Fotografie „fixierte „Erinnerung““ sollte sich im Fortlauf des Textes nicht bestätigen, vielmehr wurde er für Jacques Derrida mit seinem Text Freud und der Schauplatz der Schrift zu einer Rechtfertigung seiner Grammatologie. Die Vielgestaltigkeit der Texturen und die Prozessualität der Schrift wird von Derrida für Freud besonders herausgearbeitet, so dass sie einen Wink für TEXTURES geben kann. Privat, intim, geradezu und hochpolitisch zugleich formuliert Derrida eine „Eigentümlichkeit der logisch-zeitlichen Beziehungen“ nicht nur für den Traum.
„Wir sollten deshalb nicht überrascht sein, wenn Freud, um die Vorstellung für die Eigentümlichkeit der logisch-zeitlichen Beziehungen im Traum zu erwecken, ständig die Schrift, die räumliche Synopsis des Piktogramms, den Rebus, die Hieroglyphe und die nicht-phonetische Schrift ganz allgemein zu Hilfe nimmt: Synopsis, nicht aber Stasis: Szene nicht Gemälde.“[15]
TEXTURES war, wie Rosa von der Schulenburg vorausschickt, für eine „öffentliche Präsentation oder einen Verkauf“[16] von Grosz kaum vorgesehen und ist seiner Intimität und politischen Brisanz eng mit dem Traum verknüpft. Die Veröffentlichung in digitalisierter Form auf einem Bildschirm neben dem Original in der Ausstellung und die umfangreiche Dokumentation im Katalog durchbricht hinsichtlich des „Musterbook(s)“ als Traumbuch gewisse Grenzen des guten Geschmacks, zumal es Grosz offenbar mit seinen vielfältigen Collagen von Speisen und Getränken, Körpern und Körperteilen unbedingt um die Überschneidung des Visuellen mit dem Geschmack und der Erinnerung geht. Aus Illustrierten etc. ausgeschnittene und oft überarbeitete Augenpaare werden zu einem entscheidenden Muster der Texturen:
„Auf einer der collagierten Auftaktseiten hat Grosz einem großen, gebratenen Schinken sowie einem Rinder- und einem Kalbsbraten jeweils ein Auge implantiert, und ein weiterer Braten schaut mit Brille in die Ferne (…). In diesem üppigen fleischlichen Angebot unter anderem mit „Swift’s Premium Ham“ (…), Bacon und einer doppelstöckig mit Würsten belegten Platte mit Reisrand, steht von des Künstlers Hand der Kommentar „The ham has eyes“, versehen mit einem Pfeil, der auf das interessiert blickende männliche Augenpaar hinter den Brillengläsern deutet, als würde dieses stellvertretend für Grosz das Wort an uns richten.“[17]
Die Collagen von George Grosz, nicht zuletzt in TEXTURES, schwanken zwischen Lust und Schrecken. Damit kommen sie den Modi des Traums im Schlaf nahe. Bilder werden ins Monströse verkehrt. Größenverhältnisse verdreht. Die Anwesenheit von Einzelaugen und Augenpaaren teilt die Lust mit dem Träumenden und wird für den Traumbetrachter zugleich bedrohlich. Im Traum werden die Schlafenden ständig von entstellten und verstellten, eigensinnigen Wissensformationen heimgesucht. Denn der Traum ist immer so tief, wie der Verstand reicht. Erinnerungswissen verfolgt den Träumenden ständig in seiner Ambiguität. Rosa von der Schulenburg analysiert das teilweise bis zum Kollaps angespannte Verhältnis von Begehren, Lust und Ekel in TEXTURES. Damit kommt sie den Collagen George Grosz intensiv auf die Spur. Dada, Ereignis, Revolution, Lust und Schrecken haben vermutlich mehr miteinander zu tun, als es sich die Akteure des Dadaismus anfangs eingestehen wollten.
Torsten Flüh
Das kleine Grosz Museum
George Grosz
A Piece of My World in a World Without Peace
Die Collagen
bis 3. Juni 2024
Bülowstraße 18
10783 Berlin
Katalog:
Birgit Möckel, Rosa von der Schulenburg (Hrsg.):
George Grosz
A Piece of My World in a World Without Peace
Die Collagen.
Köln: Walter König, 2024
35,- EURO
[1] Zitiert nach Ausstellungstext. Ganzer Text: George Grosz: Randzeichnung zum Thema. Blätter der Piscatorbühne 3, Berlin 1928. In: Birgit Möckel, Rosa von der Schulenburg (Hrsg.): George Grosz – A Piece of My World in a World Without Peace – Die Collagen. Köln: Walter König, 2024, Vorsatzblatt.
[2] Siehe Wortverlaufskurve 1600 bis 2000 für Entdeckung (DWDS)
[3] Statt einer konkreten Beschreibung entwickelt sich Grosz‘ Text zu einer humoresken Eloge auf Erwin Piscator als Theatermacher. Birgit Möckel, Rosa von der Schulenburg (Hrsg.): George … [wie Anm. 1]
[4] Siehe Torsten Flüh: „Wer Leidet der Schneidet/Wer Schneidet der Leidet“ oder John Heartfields visuelle Kombinatorik. Zur bahnbrechenden Ausstellung John Heartfield – Fotografie plus Dynamit in der Akademie der Künste. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. Juni 2020.
[5] Siehe: Birgit Möckel, Rosa von der Schulenburg (Hrsg.): George … [wie Anm. 1] S. 94
[6] Zitiert nach: Ralph Jentsch: Deutschland, ein Wintermärchen von George Grosz. Wo ist das Bild? In: Ebenda S. 84.
[7] Das Centre Pompidou führt George Grosz als Bestand in seiner Internetpräsenz auf. Ressources.
[8] Siehe auch: Ralph Jentsch: Deutschland … [wie Anm. 6] S. 86.
[9] Siehe Birgit Möckel, Rosa von der Schulenburg (Hrsg.): George … [wie Anm. 1] S. 101.
[10] Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Walter Benjamin – Gesammelte Schriften Band I, Teil 2, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1980, S. 501-502.
[11] Zur Frage von Revolution und Kaiser Wilhelm II. siehe auch: Torsten Flüh: Schlaf und Verstand als politisches Problem. Zu Hartmut Böhmes Mosse-Lecture zum Semesterthema Sleep Modes – Über Wachen und Schlafen. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. Januar 2024.
[12] Rosa von der Schulenburg: „The ham has eyes“ Textures. The Musterbook von George Grosz. In: Birgit Möckel, Rosa von der Schulenburg (Hrsg.): George … [wie Anm. 1] S. 13 und S.15.
[13] Ebenda S. 14.
[14] Sigmund Freud: Notiz über den „Wunderblock“. Erstveröffentlichung: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, Bd. 10 (1), 1924, S. 1-5. — Gesammelte Werke, Bd. 13, S. 387-91. (Online Textlog)
[15] Jacques Derrida: Freud und der Schauplatz der Schrift. In: ders.: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1989, S. 331.
[16] Rosa von der Schulenburg: „The … [wie Anm. 12] S. 14.
[17] Ebenda S. 15 – S. 16.