Berlinale – Publikum – Vorhang
Der Vorhang des Kinos
Zur Berlinale 2022 und Forum Expanded im Kulturquartier Silent Green
Was ist Kino? In der Fernsehnachrichten wurde bereits am Mittwochabend die Preisverleihung der Berlinale Bären gezeigt, als habe ein fast normales Internationales Filmfestival stattgefunden. Iris Berben hatte zuvor auf dem Roten Teppich vor dem Berlinale Palast zur Eröffnung von einem gespaltenen Gefühl gesprochen. Die Berlinale wollte und sollte das Kino retten. Doch längst wird fast alles auf die 55- bis 75-Zoll-Bildschirme im Kleinkinoformat zuhause gestreamt. Die Berlinale war bis zum Februar 2020 vor allem eine Feier des Kinos ohne Werbevorspann, mit Kartenkauffieber, Schlangestehen, überraschenden Treffen von Freund*innen, Gedrängel, Sitzplatzsuche, Vorhang. Bei der zweiten Vorführung nach der Weltpremiere von Burhan Qurbanis Berlin Alexanderplatz am 26. Februar 2020 am nächsten Morgen um 9:15 Uhr im fast ausverkauften Friedrichstadt-Palast saß neben mir ein Paar aus Italien.[1]
Kino ist Publikum. Nirgendwo sonst wurde das Kino als Publikumsfestival im doppelten Sinne so sehr gefeiert wie bei der Berlinale. Publikum ist mehr als eine Person vor einem Flachbildschirm. Publikum ist auch mehr als ein halb von Menschen, die sich ohne Wahl ein Ticket online gekauft haben, gefüllter Kinosaal. Es ist nicht die Einzelperson vor dem Bildschirm bei einem gestreamten Festival. Nicht nur ich habe eine unbändige Sehnsucht nach Publikum, obwohl ich weiß, dass die Omikron-Welle der Covid-19-Pandemie den Organisator*innen gar keine andere Wahl ließ. Die Berlinale 2022 ist wieder ein Gespenst geworden. Sie wurde der Versuch, der Festivalmacher*innen wie der neuen Kulturstaatsministerin Claudia Roth wenigstens Bilder, „Boulevard 2022“, „Starportraits 2022“, Videos, „Best of Berlinale 2022“ und Texte für die Online-Präsenz und das Fernsehen zu produzieren, die an ein Festival für das Kino erinnerten. Ein Zipfel Berlinale und Kino ließ sich dann doch noch beim von Ulrich Ziemans und Ala Younis geleiteten Forum Expanded in der Betonhalle des Silent Green erhaschen. Überraschend intensive Filme z.B. aus Indien ließen sich dort entdecken. Die Ausstellung ist noch bis 13. März 2022 zu sehen.
Mit Neonlichtschrift in z.B. Arabisch eröffnet Das Kino Projekt des Künstlers Siska den Zugang zur Betonhalle. Derartige Neonschriftzüge mit Kinonamen gibt es noch vereinzelt in Berlin und anderen Städten. Viel öfter aber sind sie verschwunden, nach Schließung eines Kinos abmontiert, bevor ein Ramschladen im ausgefrästen Kinoraum eröffnete. Siska zeigt während der Berlinale jene Kinonamenszüge, die für Das Kino Projekt in den letzten 10 Jahren entworfen wurden. Denn Siska recherchiert wie in Köln verschwundene Kinos z.B. das Lux Kino, wo heute Media Markt Flachbildschirme in Full High Definition verkauft. In Tripoli fand er das Cinema الكواكب (El Kawakeb – Planeten). Doch Das Kino Projekt reist auch um die Welt, um lokale Amateurfilm-Archive als eine Frage des kulturellen Gedächtnisses aufzuspüren und zu zeigen. Der Amateurfilm auf Normal- oder Super-8 und 16mm ist unterdessen heute dem Tsunami der TicToc-Filmchen gewichen. Eine Art Kurzzeitgedächtnis, das sich selbst löscht.[2]
Ulrich Ziemons und Ala Younis haben sich in der Realität der Pandemie und der Maßnahmen zu ihrer Eindämmung intensiv mit dem Film als kulturelle Be- und Verarbeitung ebenso wie mit dem Kino befassen müssen. – „Denn es bedeutet einen Unterschied, etwas gemeinsam in einem Kino auf einer angemessen großen Leinwand zu erleben oder allein zuhause zu sitzen und es sich auf einem kleineren Bildschirm anzusehen.“ (Ulrich Ziemons)[3] – Die Pandemie hat mit der umgangssprachlichen Verkürzung Corona nicht nur die Perzeption von Filmen verändert, die zu Beginn von Covid-19 bereits fertig oder fast fertig waren. – „Wir sehen sehr deutlich, wie Corona und die Situation, in der wir uns befinden, die Themen und Bilder überschatten.“ (Ala Younis)[4] – Sie wirkt auch stark auf neue Filme ein. Die Wahrnehmung des Publikums trifft beispielsweise bei der 1-Kanal-Videoinstallation Jole Dobe Na (Those who do not drown/Diejenigen, die nicht ertrinken) von Naeem Mohaimen von 2020 nicht nur auf eine Trauererzählung, sondern auf die Imagination einer Atemmaske unter rotem Alarmlicht.
Als der Berichterstatter den Raum mit der Videoinstallation betritt, blickt er auf eine junge Frau unter einer Atemmaske auf der Leinwand. Das schockiert und fasziniert ihn, ohne dass er weiß, wann die Aufnahmen wo gemacht wurden. Die Videoinstallation wiederholt sich alle 64 Minuten. Sie ist so eingerichtet, dass das Publikum einzeln an jeder Stelle des Films eintreten kann. Das unterscheidet die Videoinstallation von einem Film im Kino, wo der meist rote Samtvorhang zu einer bestimmten Zeit vor dem versammelten Publikum auf- oder hochgezogen wird. Während der Berlinale wird der Vorhang in den Kinos besonders stark inszeniert. Auf ihn folgt der Berlinale Trailer mit einer eigenen Soundmarke. Der Vorhang ist für das Kino wesentlich. Er wird an einer anderen Stelle in der Ausstellung zitiert. Jole Dobe Na erweist sich nach und nach als eine vielschichtige Arbeit der Trauer. Die Räume eines verlassenen, kolonialen Krankenhauses in Kalkutta werden zum Schauplatz einer Trauerarbeit am Kolonialismus wie an der Transkription indischer Namen und einer (westlichen) Medizin. Denn die Frau, die eine Diagnose über eine Blutkrankheit gestellt bekommt, verweigert sich der Medikation und stirbt.
Jole Dobe Na verhandelt mit der Trauer Jyotis (Sagnik Mukherjee) um seine Frau Sufiya (Kheya Chattopadhyay) und dem verlassenen, gleichwohl pittoresken Krankenhaus einen Kolonialismus, der tief in die Körper eingedrungen ist. Visuell werden Blutbilder ebenso aufgerufen und montiert wie Beschriftungen – „No gift or tips to employees“ –, verlassene Krankensäle und ein alter elektrischer Aufzug, der durch Schnitte ständig zwischen abwärts und aufwärts wechselt. Zugleich befinden sich Sufiya und Jyotis sprichwörtlich hinter Gittern im Aufzug. In einer Einstellung kämmt Jyotis das lange Haar von Sufiya, die auf einem alten Röntgentisch wie auf einer Totenbahre liegt. Die Bildmontagen kippen ins Surreale und werden ambig. Es geht um Formen medizinischen Wissens und eine Liebesgeschichte. Der Film ist keinesfalls nur dramatisch oder nur dokumentarisch. Vielmehr wird das Dokument des verlassenen Hospitals zum Schauplatz des Wartens auf den Tod oder auch des Dramas vom Vereinigten Königreich und Indien.
Die Erfahrung der Covid-19-Pandemie wirkt auf die Wahrnehmung von Jole Dobe Na ein. Sie verändert, was wir sehen oder übersehen. Sie hat wohl zumindest den Schnitt in der Produktion noch beeinflusst, wenn Ala Younis sagt, dass Jole dobe na „kurz vor der Pandemie gedreht“ wurde. „Als Naeem Mohaiemen mit dem Schnitt begann, schlug das Virus zu. Plötzlich lebten viele Menschen allein, weil sie ihre Liebsten verloren hatten oder von ihnen getrennt wurden. Damit nahm der Film eine ganz neue Bedeutung an, obwohl diese weder Teil der anfänglichen Konzeption des Projekts noch das vom Filmemacher intendierte Ziel war.“[5] Wie hätte Mohaiemen den Film, ohne den Einbruch der Pandemie geschnitten? Obwohl der Schnitt fast noch wichtiger ist als das Bildmaterial, weil er allererst die Bilder sequenziert und eine visuelle Rhetorik erstellt, lässt sich schwer sagen, wie der Einbruch der Pandemie den Schnitt verändert hat. Wir wissen es nicht. Und vermutlich könnte es der 1969 in London geborene Fotograf, Filmemacher und Cutter Naeem Mohaiemen selbst kaum sagen.
Naeem Mohaiemen geht es um Sichtbarkeiten und Strukturen der „globalen Geschichte“ nach dem Historiker und Juristen Samuel Moyn. Er nahm 2017 an der documenta 14 mit seinem Digitalvideo Tripoli Cancelled teil.[6] Das gibt einen Wink auf Jole Dobe Na und die Sichtbarkeit eines Blutbildes bzw. dem schemenhaften Foto von Blutkörperchen unter dem Mikroskop. Was lässt sich dort sehen? Mit dem Ausbruch von Sars-Cov-2 und seiner Visualisierung als Kugel mit Widerhaken durch ein digitales, bildgebendes Verfahren bzw. Grafikprogramm, hat das visuelle Gedächtnis der Welt schlagartig und nachhaltig verändert. Das Bild vom Virus entfaltete eine nie gekannte Wissensmacht. Im Frühjahr und Sommer 2020 herrschte in Deutschland eine Grafik vor, die zwischenzeitlich modifiziert und diversifiziert worden ist. Es ist dadurch zugleich weniger mächtig geworden. Bereits mit dem Werbevideo für den russischen Impfstoff Sputnik V, von dem kaum noch etwas zu hören ist, weil er sich offenbar in den Wellen der Mutationen nicht anpassen ließ, kippte die Visualisierung in eine Art kosmologischen Comic.[7]
Die Frage nach der Sichtbarkeit von Kolonialismus und Rassismus, von Wissen und Körper spielen in Naeem Mohaiemens Jole Dobe Na eine entscheidende Rolle, die ebenso in der Covid-19-Pandemie geradezu brennend wurden. Wichtiger als die Geschichte einer Verweigerung, ein Medikament zu nehmen, sind die Bildkompositionen, wenn beispielsweise Sufiya von zwei Scheinwerfern links und rechts angestrahlt wird. Welche Funktion haben die Scheinwerfer, die wechselweise an und ausgeschaltet werden? Was machen diese Scheinwerfer am Gesicht sichtbar oder nicht? Die Schauspielerin blickt regungslos in die Kamera. Die Scheinwerfer, die wie medizinische Leuchten das Gesicht von der Seite erhellen, machen offenbar nichts weiter sichtbar. Das verlassene Krankenhaus funktioniert zugleich als eine Erinnerung an die klinischen Operationen und heute befremdlichen Maschinen, die das Wissen vom Körper generierten. Der Ort der Klinik in Kalkutta erinnert in Naeem Mohaiemens Film nicht zuletzt an das Gespenstische ihrer Konstruktion im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Sie ist auch ein Gebilde der Macht. Vorhänge, das nur nebenbei, spielen übrigens in der Klinik des 19. Jahrhunderts eine wichtige Rolle.
Die 3-Kanal-Videoinstallation The Wake von The Living and the Dead Ensemble kreist um die Frage des Unsichtbaren oder der Unsichtbaren. In der Betonhalle verbirgt sich die Installation hinter einem roten, kinoartigen Vorhang. Mit den Lebenden und den Toten wird aktuell ein Bereich angesprochen, der bei immer noch an einem Tag von 210 gemeldeten Toten mit Sars-Cov-2 ein Verhältnis von An- und Abwesenheit anspricht, das geflissentlich verdrängt wird. Die Lebenden wollen das „normale“ Leben zurück und „Freiheit“. Die Toten werden verdrängt. Doch The Living and the Dead Ensemble geht noch weiter: Sind die Toten wirklich abwesend? Oder sind sie nicht allgegenwärtig? Der rote abschirmende Vorhang gibt hier einen Wink: War Kino nicht immer eine Form der Totenpraxis? Wir sehen etwas, was definitiv abwesend ist. Im Kino erscheinen immer Tote auf der Leinwand, selbst dann, wenn die Darsteller*innen noch leben. Das Kino war immer eine Geisterkunst. Auch das verschiebt sich mit dem Heimkino in HD.
Der rote Kinovorhang um die Videoinstallation weckt den Wunsch, hinter ihn zu blicken. Hinter dem Vorhang muss sich etwas verbergen. Auf die Funktion des Vorhangs hat Jacques Lacan einmal, am 4. März 1964, mit der Erzählung vom Vorhang des Parrhasios hingewiesen.[8] Dabei geht es nicht nur um die Malerei. Parrhasios gewann den antiken Malwettbewerb mit Zeuxis, indem er einen Vorhang auf eine Wand malte, den Zeuxis zur Seite schieben wollte. – „er möge ihm doch zeigen, was dahinter gemalt sei“(!) – Der gemalte Vorhang täuschte (selbst) den Malerkonkurrenten. Die Wand wie der Vorhang oder auch die Wand als Vorhang lassen den menschlichen Wunsch nach dem Wissen, was dahintersteckt, an eine Grenze stoßen. Was sich hinter dem Vorhang abspielt – nichts –, ist vollkommen unerheblich dafür, was der Blick produziert. In der Pandemie hat sich der Zwang zum Sehenwollen nicht zuletzt in sogenannten Verschwörungstheorien[9] bis hin zum Versuch, den kanadischen Staat durch Trucker-Barrikaden in Ottawa nicht nur zu behindern, sondern zu zerstören, verstärkt. Jene Trucker können es vor allem nicht aushalten, nicht hinter den Vorhang sehen zu können. Deshalb inszenieren sie ein kinoreifes Spektakel, ein Schauspiel vor dem Vorhang, das behauptet, die Wahrheit hinter dem Vorhang zu sein.
Das The Living and the Dead Ensemble zeigt mit The Wake nach 2020 seine zweite Produktion zum Sichtbarwerden der Unsichtbaren.[10] In Anknüpfung an kreolische Totenkulte lassen die Künstler aus Haiti, Frankreich und England jene sichtbar werden, die an die städtischen wie weltweiten Randgebiete „im Moment unserer globalen Krise“ gedrängt worden sind.[11] Die jungen Männer im Film rufen die Toten an, weil sie sich selbst als Zombies oder Untote, als Chancenlose und Nicht-gesehene empfinden. Die Marginalisierung nicht zuletzt Jugendlicher an der Peripherie von Großstädten in Frankreich wie in Haiti oder im Vereinigten Königreich macht sie im Stadtbild, in den Zentren und High Streets unsichtbar. Sie bilden Ghettos als vermeintliche Schutzräume und tragen durch Immobilität innerhalb der Städte zur eigenen Unsichtbarkeit bei. Das Ghetto bildet einen Schutzraum, in dem eine eigene Sprache Wissen und Regeln generiert. Das Ensemble aus Schauspieler*innen und Dichter*innen macht im Schutz der Nacht die nicht zuletzt durch Rassismus Unsichtbaren sichtbar.
Ulrich Ziemons und Ala Younis wollen mit dem Titel Closer to the Ground darauf aufmerksam machen, dass ein Ort, an dem wir durch die weltweiten Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie wie Kontakt-Beschränkungen, Travel bans, Reisebeschränkungen oder Quarantäne gebunden werden, als Grund und Halt wichtiger geworden ist. „Es geht tatsächlich um das Nachdenken darüber, wo man sich befindet, wo man verortet ist. Viele der Filme im Programm erzählen von einem konkreten Ort und versuchen, ihn zu ergründen. Sie sind in einer bestimmten Situation verankert und vermessen diese Situation und diese Örtlichkeit sehr detailliert, lassen uns näher hinschauen um andere Dinge zu entdecken als die, welche man sehen könnte, wenn man geradeaus oder in die Ferne schaut.“[12] Die Reaktion insbesondere jüngerer Menschen auf die globale Krise der Pandemie und ihrer Folgen, aber auch der zugleich verstärkten Klimakrise wäre demnach eine neuartige Geologik der Verortung, die eine Art Grund und Boden unter den Füßen und für die Psyche verspricht.
Torsten Flüh
Fortsetzung folgt.
Forum Expanded
CLOSER TO THE GROUND
bis 13.3. Di–So 14–19 Uhr
Tickets: € 8,00 / € 6,00
Zeitfensterbuchung erforderlich
silent green Kulturquartier
Gerichtstraße 35
13347 Berlin
[1] Siehe Torsten Flüh: Berlin Alexanderplatz auf der Hasenheide. Zu Burhan Qurbanis Berlin Alexanderplatz im Wettbewerb der Berlinale 2020. In: NIGHT OUT @ BERLIN 3. März 2020.
[2] Siehe auch: Siska: Kino Projekt Berlinale 2022 und ausführlicher Kino Projekt Blog.
[3] Zitiert nach: Berlinale: Forum Expanded 2022: Closer to the Ground. Interview mit Ulrich Ziemans und Ala Younis.
[4] Ebenda.
[5] Ebenda.
[6] Vgl. documenta 14: Artists: Naeem Mohaiemen.
[7] Siehe: Torsten Flüh: Sputnik 5 und Hegels Weltgeist. Georg Wilhelm Friedrich Hegel zum 250. Geburtstag und die Wiederkehr des Sputniks. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. August 2020.
[8] Jacques Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar Buch XI. S. 109.
[9] Siehe die Besprechungen auf NIGHT OUT @ BERLIN zum Suchbegriff Verschwörung.
[10] Siehe: The Living und the Dead Ensemble: The Ensemble.
[11] Übersetzt und zitiert nach: Ebenda: The Wake.
[12] Berlinale: Forum Expanded … [wie Anm. 3].
Ein Kommentar