„Im Moment höre ich Hörfunk…“

Hören – Worte – Pflege

„Im Moment höre ich Hörfunk…“

Zu Anna Peins Hörspiel Liebesbriefe ans Personal (2013) bei der Hans Flesch Gesellschaft im La bohème

Die Hans Flesch Gesellschaft, Forum für akustische Kunst, trifft sich turnusmäßig 4 bis 5 Mal im Jahr in der „Hörgalerie“ La bohème, Winsstraße 12, Prenzlauer Berg. Das Treffen am 25. Juni 2024 war Anna Pein und ihrem Hörspiel Liebesbriefe ans Personal gewidmet, das Oliver Sturm als Regisseur mit O-Ton der Hauptfigur Jutta Kiezmann sowie Margit Bendokat als alte Jutta und Kathrin Angerer als die junge Jutta inszeniert hat. Die Figur Jutta kommt somit gleich dreifach zu Gehör. Mitglieder und Freund*innen der Hans Flesch Gesellschaft waren als Hörexpert*innen versammelt. Denn Hans Flesch gehörte 1923 zu den Pionieren des Hör- bzw. Rundfunks in Berlin und dem „Unterhaltungsrundfunkdienst“, aus dem das Rundfunk Sinfonieorchester Berlin hervorgegangen ist.[1]

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Die Hörfunkschaffenden der Gesellschaft verstehen sich nicht nur als ästhetische Interessenvertretung, vielmehr wollen sie auch politisch bei der Verbreitung vom Hörspiel bis zum Podcast Gehör finden. Anna Pein wurde, woran Oliver Sturm erinnerte, nahezu gegen ihren Willen zur Vorstandsvorsitzenden des Vereins. Um 2010 begann sie die Briefe mit Zeichnungen, die Jutta Kiezmann an sie und andere Pflegekräfte adressiert hatte, zu sammeln, transkribieren und montieren. Die Arbeit am Hörspiel faszinierten die Autorin und ihren Regisseur so sehr, dass Sturm die bewilligte Produktionszeit verdoppelnd überschritt, was im berühmt berüchtigten Apparat der Öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten gerügt wurde. Frei nach den jüngsten Anhörungen im RBB-Untersuchungsausschuss: alle sind hochengagiert und verantwortlich, aber niemand will Verantwortung tragen – und vielleicht ist ein grandioses Hörspiel auch viel wichtiger als der Kostenplan.

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Der Hörfunk und die Öffis stehen unter Druck. Die große Zeit der Hörspiele ist zu Ende gegangen. Podcasts als neues Hörformat stehen hoch im Kurs. Als Radiohörer gestehe ich: Hörspiel ja, Podcast, nein. Im März 2022 wurde Anna Peins Hörspiel Mädchenzimmer mit Soldaten in der Akademie der Künste am Hanseatenweg mit bedrückender Aktualität eingespielt.[2] Die Hans Flesch Gesellschaft kümmert sich u.a. darum, dass Hörspiele verfügbar bleiben und werden. Anna Pein und Oliver Sturm haben sich für eine bessere Vergütung der Hörspielautor*innen beim Deutschlandfunk stark gemacht, weil zuvor die regionalen Sender wie WDR oder NDR mehrfach vergüteten. Mit dem Hören und was wir hören, ist es überhaupt eine vertrackte Angelegenheit. Ein Hörspiel erfordert ein konzentriertes Hören. Es ist nicht dazu gemacht, es einfach beim Autofahren vorbeirauschen zu lassen. Zum Hörspielhören im Hörfunk muss man sich vor einen Apparat mit zwei Lautsprechern setzen. Die Audiodatei Liebesbriefe ans Personal wurde im La bohème in Stereo eingespielt.

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In Anna Peins Hörspiel funktioniert das Hören bei Jutta anders. Wenn Stefan sie bittet zuzuhören, löst das bei ihr andere Assoziationsketten aus. Zwischen Poesie und Psychose, zwischen Dichtung und Demenz wollen die Worte nicht passen und passen zugleich viel zu sehr:
„STEFAN
Jutta, hör doch mal. Ich – muß Dir was sagen…
JUTTA älter
Lieber Stefan! Eigentlich gab es heute keine Zwischenfälle, ich gehe erleichtert zu Bett, wenn die Zeit ruft. Im Moment höre ich Hörfunk. Sie bringen ihn bis in den späten Abend hinein. Es ist einfach schön. So manches Mal möchte man in den Rund – Funk – Sender hineinkriechen. Aber ihn nur zu hören ist auch schön…“[3]

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Wie funktioniert Kommunikation? Die Liebesbriefe ans Personal gibt es wirklich. Sie sind ebenso berückend wie verstörendund suchen Kommunikation. Der Produktion der Texte gingen i.d.R. Zeichnungen voraus. Oft nahm Jutta K. in ihren Texten Bezug auf die Zeichnungen, um sie zu beschreiben oder einzuordnen. Ein Teil der Briefe wurde am 8. August 2010 um 02:25 a.m. auf die interplanetarische Ausstellungsplattform von mars-patent.org übertragen. Der zertifizierte, gleichwohl virtuelle Ausstellungsraum der Studien- und Künstler-Freundin Claudia Reiche auf dem Mars wurde vor allem für Originaltexte auf unterschiedlichen Papieren wie Bögen zur „Pflegeplanung“ zum Thema Mars genutzt. Auf einem Querformat verfolgt eine, sagen wir, Figur aus zwei Kreisen bzw. Kugeln eine andere Figur mit einer Art dreizackigen Krone. In die Leer- und Zwischenräume schrieb Jutta Kiezmann:
„Der Mars steht über der Erde und macht den Frauen ein schönes Gedicht. Sie arten nicht aus, guten Glaubens. Unbesehn. Man kann schon sagen, das Leben ist schön. Da stillt kein Trugschluß in seinem Innern, sondern nur Glück. Der größte Planet ist die Sonne: Mit einer Krone bestückt. Die Erde ist klein wie ein Pünktlein, auch in der Ferne, zum Sonnenschein.“ (https://mars-patent.org/projects/letters_by_jutta_k/letters_by_jutta_k.htm )

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Auf Mars-Patent sind 43 Liebesbriefe von berückender Poesie veröffentlicht worden. Sie stehen auch für eine Vorarbeit zum Hörspiel. Anna Pein hatte nach Auskunft von Oliver Sturm zu jener Zeit die Liebesbriefe an allen Wänden ihrer Moabiter Wohnung geheftet. Aus der Überfülle der Briefe und ihrer Vieldeutigkeit destillierte und montierte Pein den Hörspieltext. Sie lebte zu jener Zeit in den Briefen von Jutta Kiezmann, die ihr diese übergeben hatte. Aus so viel Poesie musste sich doch etwas machen lassen?! Zugleich rückte die verfehlende Kommunikation von Stefans „hör doch mal“ und Juttas Antwort „Im Moment höre ich Hörfunk.“ ins Interesse. „So manches Mal möchte man in den Rund – Funk – Sender hineinkriechen. Aber ihn nur zu hören ist auch schön.“ Die Antwort rückt (gefährlich) nah. Jutta hört anders und antwortet mit Formulierungen, die alles und nichts bedeuten könnten. Will sie in Stefan oder den Hörfunk „hineinkriechen“?

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Beim Hören wird die Verfehlung in der Kommunikation meistens erst im Nachhinein auffällig. Hört Jutta nun Stefan zu? Oder hört sie gerade nicht auf ihn, wenn sie „Hörfunk“ hört. Neben anderen Pflegekräften wurde vor allem Stefan Adressat der Briefe, die sich bei den Leser*innen gerade wegen der Verfehlung verfangen konnten. Oft werden die Syntax und die Worte nur leicht verdreht, um die Leser*innen zu irritieren.
„Im Mond des Auges der Schein der Sonne ist schön. Schön wie der Flieder, er blüht. Auf Erden. Die Erde ist fest und dreht sich zugleich. Die Kinder spielen im Sand und schauen zum Mond, Gottes gesand. Das Gesicht in ihm sind Gase, zu ewiger Zeit. Dies ist berechenbar mit einem Teleskop – der Sonne zu. Diese schießt dann ihre Strahlen der Erde hin. Die Erde nimmt sie auf im Erden – Sein. Und hat die Größe wie der Sonnenschein.
Viele Grüße, Deine Jutta“ (Brief 16)

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Bisweilen taucht in den Liebesbrief der Reim eher unvermittelt ohne Zeilenbrüche auf: „Erden – Sein“ und „Sonnenschein“ zum Beispiel. Der Reim vermittelt fast Sinn und Sicherheit. „(S)pielen im Sand“ und „Gottes gesand“. Zugleich produziert er Kollisionen von Sinn und freiem Reimwunsch. Oder auch: „Pünktlein“ und „Sonnenschein“. Planetarische Wissensformationen („Mond“, „Sonne“, „Erde“) und Wissensdisziplinen („Gase“) werden erinnert und verschoben. Eine Anrede fehlt, aber die Grußformel fällt mit „Viele Grüße, Deine Jutta“ vertraulich aus. Wer darf sich gemeint fühlen? Ist überhaupt jemand gemeint? Schon beginnen Subjekt und Objekt zu schwanken. Wer ist das Du für „Deine Jutta“? Und schnell folgt die Frage: Meint sie mich? – Das ist aber nett, liebe Jutta! – Es ist selbst mit der Transkription auf Mars-Patent.org nicht leicht, die Liebesbriefe zu lesen, weil sie zwischen Emphase und wortloser Verschwisterung schweben.
„Lieber Mein!
Ich möchte Dir etwas Konkretes schreiben. Dies ist normal. Es zieht kein Gewitter vorüber, das ich nicht mag. Die Gewitter, sie rollen bis zum nächsten Tag. Man kann sie dennoch nicht greifen, sie lodern in Elektrizität vom Himmel herab. Es kann dabei auch zum Einschlag kommen. Das sind die höheren Bauten der Natur: Es geht schon seinen opolebtischen Gang. Und die Sphäre da oben hat dazu beigetragen.
Man kann die Paare nicht kitten, die an einem vorüberziehen. Und wenn es ginge, zerspringt die Vase neu. So war es auch mit dem zerbrochenen Krug von Wilhelm Tell. Er ist einfach von den Händen der Menschen zu Boden gefallen und zerbrach. Heute steht er noch im Museum. Die Leute beachten die Daten der Zeit. Sie bricht an.“ (Brief 6)

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Jutta Kiezmanns Liebesbriefe sind Briefliteratur, bei der die Leser*innen darüber erstaunen können, wie schnell die zerbrochenen Paarbeziehungen zu „Wilhelm Tell“ und „dem zerbrochenen Krug“ überspringen. Und das Zerbrechen mündet schließlich in der Zeit, die anbricht. Das Zerbrechen wird quasi durchdekliniert, während die Leser*innen und Hörer*innen rufen mögen: Moment! Doch der Brief ist nicht zuletzt mit Ausrufezeichen an „Lieber Mein!“ adressiert. Anna Pein und Oliver Sturm haben die Briefe für das Hörspiel einerseits stärker biographisch gerahmt, als es bislang in diesem Text geschehen ist, weil die Rahmung das Potential der adressierenden Verstrickungen einhegt. Die Briefe sind nicht zuletzt der aktuellen Demenzliteratur in der Literaturforschung zuzuschlagen, wie sie von Monika Leipelt-Tsai mit Poetik der Demenz – Gedächtnis, Gender und Genre in Demenz-Erzählungen der Gegenwart [4] bedacht worden ist. Als ebenso sprachliches wie gesellschaftliches Problem der Bestimmung von Demenz hat Leipelt-Tsai auf die hohe gesellschaftliche Relevanz der Demenz-Erzählungen nicht zuletzt als „Sorge um sich“ besonders im Alter hingewiesen.[5]

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Die Sorge um sich in der unauflösbaren Verschränkung von Selbst-Erzählungen und Körper bzw. einer Angst vor dem Verfall des Körpers, insbesondere dem Gehirn, der das Wahrnehmen und Artikulieren verändert, durchzieht die Gesellschaften hoch entwickelter Industrienationen. Das Ich in den Liebesbriefen Jutta Ks umgeht die gesellschaftlich tief verbreitete Sorge. Indem sie Liebesbriefe ans Personal schreibt, wird die Sorge quasi auf dieses übertragen, die jede/n Einzelne/n heimsuchen kann. Oliver Sturm hat in seiner akustischen Inszenierung das Problem des Hörens nicht geglättet, sondern durch die polyphone Überlagerung und Aufspaltung der Stimmen verstärkt. Die Hörer*innen werden trotz der starken Rahmung mit einem vielstimmigen Raum konfrontiert, dem sie sich nur aussetzen, aber kaum beherrschen können.

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Obwohl die Rahmung der in einer psychiatrischen Wohngemeinschaft lebenden Jutta K. deutlich ist und die Autorin sich leicht als Altenpflegerin Annegret entschlüsseln lässt, bestätigen Sturm und Pein die Demenzdiagnose im weiteren Sinne nicht, vielmehr wird das medizinische Wissen von Psychose und Alkoholkrankheit als Symptome der Demenz mit der Produktivität und Wortgewandtheit der Bewohnerin konterkariert. Die Altenpflegerinnen Lilly und Dagmar füllen die Erhebungsunterlagen für die Bewohnerin aus, in dem sie „optische() und akustische() Halluzinationen sowie Wortfindungsstörungen“ diagnostizieren.
„LILLY
Als nächstes muß beschrieben werden, was sie nicht kann, zum Beispiel: Konzentrationsstörung, verlangsamtes Denken, in einer psychischen Krise kommt es zu optischen und akustischen Halluzinationen sowie Wortfindungsstörungen.
DAGMAR
TÜ: teilweise Übernahme. VÜ: Vollständige Übernahme. – Hilfebedarf bitte in der Spalte H wie Hilfe ankreuzen.“[6]

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Die Praxis der Altenpflege wird zum Kontrast der durchaus beunruhigenden Liebesbriefe ans Personal. Die hochformalisierte Praxis in der Altenpflege übernimmt in mehrfacher Hinsicht eine gesellschaftliche Schutz- und Sorgefunktion. Indem Anna Pein mit dem Sammeln, Transkribieren, Ausstellen und Montieren der Liebesbriefe die Schutzfunktion überschritten hat, gibt sie mit ihrem Hörspiel die Frage nach der Demenz an die Gesellschaft zurück. Zugleich ist es ihre Praxis, die hohe Belastung der Arbeitssituation mit Bewohner*innen in einer gerontopsychiatrischen Einrichtung zu bearbeiten. Das Offenhalten der Frage von Dichtung und Demenz, was sie auch immer sein mag, wird mit dem Hörspiel Liebesbriefe ans Personal auf hohem Niveau durchgehalten. Dafür braucht es Mut. Während derartige Einrichtungen und Wohngemeinschaften i.d.R. hinter verschlossenen Türen für die Gesellschaft unsichtbar und unhörbar existieren, kehrt das Verdrängte im Hörspiel zurück.

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Jutta Kiezmanns Briefe wie Anna Peins Liebesbriefe ans Personal stellen mit ihrer dem Genre der Briefliteratur eigenen Geste der Adressierung auf höchst beunruhigende Weise die Frage nach der Kunst und Literatur. Denn eine Bejahung der Briefe als belletristische Literatur überdeckt nur die Beunruhigung, die von ihnen selbst in dem geschützten wie schützenden Raum einer geschlossenen Alterseinrichtung ausgeht. Um Bilder und Worte ringend will Jutta mit den sie umgebenden Menschen kommunizieren. Das gelingt und gelingt auch nicht. Jutta Kiezmann verstarb am 18. Februar 2011 in ihrer Wohngemeinschaft. Sie schreibt nicht mehr. Annegret Anna Pein verstarb am 13. Juni 2024 und hinterlässt eine Vielzahl von unabgeschlossenen Film- und Hörspielprojekten. Liebesbriefe ans Personal ist Juttas und Annas Vermächtnis. Claudia Reiche wird die Briefe von Jutta K. demnächst als Buch herausgeben.

Torsten Flüh

Annegret Pein-Völker
*21.11.1957  †13. Juni 2024
Trauerfeier mit anschließender Urnenbeisetzung
29. Juni 2024, 12:00 Uhr
Kapelle Stadtfriedhof Pinneberg


[1] Siehe zum 100jährigen Jubiläum des Rundfunk Sinfonieorchesters: Torsten Flüh: Vom Politischen in der Musik. Zu den Donnerstagkonzerten von ultraschall berlin festival für neue musik im Haus des Rundfunks. In: NIGHT OUT @ BERLIN 24. Januar 2024.

[2] Siehe: Torsten Flüh: Komische Verspätung à point. Zum Hörspiel Mädchenzimmer mit Soldaten von Anna Pein in der Akademie der Künste. In: NIGHT OUT @ BERLIN 2. April 2022.

[3] Anna Pein: Liebesbriefe ans Personal. Köln: WDR/Henschel Verlag, 2013, S. 54.

[4] Monika Leipelt-Tsai: Poetik der Demenz – Gedächtnis, Gender und Genre in Demenz-Erzählungen der Gegenwart. Lusanne: Peter Lang, 2021.

[5] Ebenda S, 13.

[6] Anna Pein: Liebesbriefe … [wie Anm. 3] S. 20.

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