Vom Verpassen der Welt – Zum Salon Sophie Charlotte 2020

Welt – Mensch – Bild

Vom Verpassen der Welt

Zum Salon Sophie Charlotte 2020 der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften mit dem Thema Weltbilder

Auf dem Gendarmenmarkt vor dem Akademiegebäude setzten Lichtinszenierungen aktuelle Weltbilder in Szene. Studierende der Beuth Hochschule für Technik Berlin beleuchteten mit Laserstrahlern das Schauspielhaus von Karl Friedrich Schinkel mit seinem antikisierenden Weltbild aus Gött*innen und Musen und verpassten den Skulpturen am heutigen Konzerthaus eine faszinierende Plastizität. Darunter quasi vor dem Schiller-Denkmal von Reinhold Begas keine Klassik, sondern Klimawandel in farbigen Lichtstreifen bzw. Neonröhren nach dem Modell des Klimaforschers Ed Hawkins von der University of Reading. Die künstlerische Intervention Warming Stripes von Julius Hübener visualisiert nach dem Konzept showyourstripes[1] von Hawkins am Institute for Environmental Analytics die Klimaerwärmung. Sie regt zum Nachsehen und Nachforschen an.  

Die Akademie der Wissenschaften ist gewissermaßen seit ihrer Gründung für ein Weltbild zuständig. Im Unterschied zum Plural Weltbilder als Thema des Salons Sophie Charlotte ging es bei der Gründung der Akademie um ein neues Weltbild, das sich nach und nach von dem der Religion in Form der Evangelischen Kirchen, nämlich der Evangelisch Reformierten und der Evangelisch Lutherischen in Berlin ablösen sollte. Markgraf Friedrich III. von Brandenburg machte die „General-Instruction der Societät“ vom 11. Juli 1700 zu einem Lehrstück darin, wie sehr er darauf Acht geben musste, die Evangelischen Kirchen in Berlin und Brandburg durch die Erlaubnis zur Arbeit am neuen Weltbild sich nicht zum Feind zu machen. Am 18. Januar ging es nun um eine Vielzahl von Weltbildern zwischen Physik und Hologrammen, Paternoster und Astronomie, Theaterwissenschaft und Kunsthistorik.

Die Welt ist nicht zuletzt deshalb schwierig zu fassen, weil auch beim Salon Sophie Charlotte an mehreren Orten zugleich Weltbilder, Kunst- und Filmwelten, Sterne, Steinzeit, Zukunftswelten, Wissen schafft Perspektiven: Blicke des Humboldt-Netzwerks auf eine Welt in Bewegung, Weltbilder – Ursprünge, Preußen und die Welt, ROTurning, Klangwelten, Literarischer Salon, Zwischenwelten etc. besprochen wurden. Entscheidet sich der Salongast für einen Vortrag der Weltbilder, verpasst er gleich ein gutes Dutzend andere. Das zerreißt ein geschlossenes Weltbild – und macht bescheiden. Es lädt anderseits zum Science Surfing ein. Trotz oder gerade wegen des umfangreichen Programms, entschließt sich die eine oder andere einmal hier hineinzuhören und dann dort statt einer Party, die Science zu crashen. Völlig uneingeladen stolpert der Berichterstatter im Einstein-Saal in den Klimawandel „Die Macht von Politik und Bildern“.

Die Weltbilder sind oft sogar unterhaltend angelegt, was am Salonformat der Veranstaltung liegt. Die Veranstaltung ist für alle offen. Während Wissenschaft meistens nicht barrierefrei ist, weil ein gewisses terminologischen Handwerkszeug erfordert wird, gilt der Salon als Ermunterung, sich fast voraussetzungslos mit den Wissenschaften zu befassen, wenn der Akademiepräsident Martin Grötschel im Programm schreibt: „Über 100 Wissenschaftlerinnen und Künstlerinnen eröffnen Ihnen neue Zugänge zur Welt. Erfahren Sie etwa vom Astronauten Thomas Reiter, wie die Sicht auf die Erde von außen sie Perspektive verändert“.[2] Im Salon darf es zwar konkurrierende Ansätze in den „Zugänge(n) zur Welt“ geben, doch hat dies nichts gemein mit der Absicherung, die Markgraf Friedrich III. bei Gründung der Akademie gegenüber den Evangelischen Kirchen vornehmen musste:
„Und weil Wir Uns der gemeinen Angelegenheiten der evangelischen Kirchen allezeit hochlöbl. angenommen, so haben Wir auch zugleich Unser Absehn dahin  gerichtet, wie mittelst der Scienzen bey Ungläubigen oder sonst in Irthum steckenden Völckern die Bahne bereitet werde, damit an deren Bekehrung zur reinen christlichen Lehre unter Gottes Segen fruchtbarlich gearbeitet und denen Evangelischen keine Nachlässigkeit darin aufgebürdet werden könne.“[3]

Das Weltbild des Christentums gilt 1700 weiterhin als verbindlich, selbst dann wenn die „Scienzen bey Ungläubigen“ bereits zur Spaltung desselben führen. Die „Bekehrung zur reinen christlichen Lehre“ muss für derartig Ungläubige noch in die Statuten geschrieben werden. Allerdings ist die Gründung der Akademie für Friedrich III. durchaus ein emanzipatorisches Projekt von den Kirchen nach dem Vorbild der Gründung der Pariser Académie des sciences, die erst am 20. Januar 1699 durch Louis XIV. ihre offiziellen Statuten erhalten hatte. Als protestantischer Fürst zog Friedrich III. in Berlin also ziemlich zügig nach, um sich nicht zuletzt am 18. Januar 1701 in Königsberg zum König Friedrich I. von Preußen selbst zu krönen. Die Gründung der Akademie unter des Schutz des Markgrafen und seiner Nachfolger wird in der Urkunde vom 11. Juli 1700 ausdrücklich formuliert:
„… Zu allmähliger Erreichung nun dieses Unsers völligen Absehens in allen Stücken haben Wir vor Uns und Unsere Successoren und Nachkommen erwehnte Societaet (sic!) durch ein besonders Diploma aufs Beständigste fundiret, dieselbe mit einem Praeside, bequehmen Gliedern, Secretario, Adjunctis oder Eleven, Laboranten und andern Bedienten, sodann Observatorio, Laboratorio, Bibliothec, Instrumenten, Musaeo und Rariteten-Kammer (sic!) oder Theatro der Natur und Kunst, auch andern ober- und unterirdischen Behaltnüßen, Plätzen und Gelegenheiten, auch dazu dienlichen (sic!) Apparaten (sic!) naturalium et artificialium und allem dem, so zu Untersuchung derer drey Reiche, der Natur- und Kunstwercke, auch sonst zu neuen und größeren Wachsthum nützlicher Studien als dem Objecto Societatis dienlich, theils schon versehen, theils noch ferner nach und nach zu versehen gnädigst entschloßen. …“

Die Blüte der Akademie der Wissenschaften setzte allerdings erst über 40 Jahre später mit der Krönung Friedrich II. zum König ein. So beruft er u.a. Julien Offray de la Mettrie aus Frankreich und auf Empfehlung von Voltaire zum Mitglied der Akademie. Sein L’homme MACHINE wird 1748 noch anonym in der niederländischen Universitätsstadt Leiden bei dem Hugenotten Elie Luzac verlegt.[4] Denn die Seele des Menschen als Maschine zu beschreiben, lässt sich selbst für Friedrich II. nicht vor den christlichen Kirchen verantworten. Das Weltbild wird radikal ein anderes, atheistisches mit de la Mettrie. Denn der menschliche Körper wie die Seele funktionieren bei ihm nach den Mechanismen einer Maschine:
„Cependant, reprit-il, l’Univers ne sera jamais Heureux, à moins qu’il ne soi Athée.“[5]
(“Das Universum/Die Welt wird jedoch niemals glücklich sein, es sei denn, sie wird atheistisch.“)    

Was heißt bei Julien Offray de la Mettrie Maschine? Wie ist sie konstruiert? Und wie gelingt es de la Mettrie, die Wirkungsweise der Maschine herauszuarbeiten? Als Mediziner und Arzt ist er dem Wissen der Medizin seiner Zeit verschrieben. Dieses Wissen der Medizin z.B. der „humeurs“, der Säfte, Temperamente oder Stimmungen wird transformiert und kombiniert. Wenn sich „le Mécanisme des Corps“[6] (der Mechanismus der Körper) beschreiben lässt, der menschliche Körper überhaupt als Maschine aus Ursachen und Wirkungen formuliert werden kann, dann lässt sich „l’Ame“[7] (die Seele) ebenfalls mit einem mechanischen Modell beschreiben. Statt der Seele wird nun der Grad und die Kombination der Stimmungen oder Säfte zum Wesen der Menschen in ihren Unterschieden.
„Il est vrai la Mélancolie, la Bile, le Phlegme, le Sang &c. suivant la nature, l’abondance & la diverse combinaison de ces humeurs, de chaque Homme sont un Homme différent.“[8]
(Es ist wahr, dass Melancholie, Galle, Schleim, Blut etc. von der Natur abhängig sind, durch die Fülle und die unterschiedliche Kombination dieser Stimmungen ist jeder Mensch ein anderer Mensch.)

Julien Offray de la Mettrie nimmt für die Konstruktion seiner Mensch-Maschine insbesondere zwei Operationen vor. Erstens werden die Stimmungen (humeurs) zwar elastisch, aber materiell mit einem Säftehaushalt aus Melancholie, Galle, Schleim, Blut und anderem mehr begründet. Zweitens ist es vor allem die Kombination der materiellen Stimmungen, die Unterschiede und Eigenheiten bewirken. Welche organischen Stimmungen es genau sind und wie sie produziert werden, bleibt ungenau bzw. elastisch. Der Mensch nach dem Maschinenmodell von de la Mettrie ist keinesfalls immer gleich, vielmehr eröffnet es Diversität durch Unterschiede. Und die Mensch-Maschine läuft aus sich selbst heraus.
„Le corps humain est une Machine qui montre elle même ses ressorts; vivante image du mouvement perpetuel. Les alimens entretiennent ce que la fièvre excite. Sans eux l’Ame languit, entre en fureur & meurt abatue.“[9]  
(Der menschliche Körper ist eine Maschine, die ihre Federn zeigt; lebendiges Bild der ewigen Bewegung. Essen erhält, was Fieber erregt. Ohne sie schwindet die Seele, gerät in Wut und stirbt ab.)

Es ist für Julien Offray de la Mettrie gar nicht so leicht, die Mensch-Maschine in Worte zu fassen. Wenn er sie genauer formulieren will, muss er literarische Techniken anwenden. Die „ressorts“/Federn werden zum lebhaften Bild für die Bewegung aus eigenem Antrieb. Einerseits benennen sie jenes mechanische Teil der Uhr, das mit einer Spiralfeder auch Unruhe genannt wird. Andererseits wird die Analogie des Körpers zum Uhrwerk sogleich metonymisch durch die Ernährung gerechtfertigt. Die Engführung des Mechanismus der Uhr mit der Ernährung rechtfertigt, dass die Seele an die Körpermaschine gebunden bleibt. Das Modell des mechanischen Uhrwerks samt einer Kombination aus „ressorts“/Federn wird auf Körper und Seele übertragen, um sie aus ihrem religiösen Zugriff zu befreien. Die mechanischen Federn sind bedenkenswert als Modell für eine perpetuelle Bewegung, die zugleich als Lebendigkeit oder gar Leben beschrieben wird. Es sind insofern nicht die ineinander greifenden Zahnräder der Uhrwerke, vielmehr werden Spiralfedern zum Lebensbild.
„Mais puis que toutes les facultés de l’Ame dépendent tellement de la propre Organisation du Cerveau & de tout le Corps, qu’elles ne sont visiblement que cette Organisation même; Voilà une Machine bien éclairée! Car enfin quand l’Homme seul auroit reçu en partage la Loi Naturelle, en seroit-il moin une Machine?“[10]
(Aber dann, dass alle Fähigkeiten der Seele so sehr von der eigenen Organisation des Gehirns und des gesamten Körpers abhängen, dass sie sichtbar nur diese Organisation selbst sind; Hier ist eine gut beleuchtete Maschine! Denn wenn schließlich der Mensch allein das Naturgesetz beim Teilen erhalten hätte, wäre es dann weniger eine Maschine?)

Die Pluralität der Menschen- und Weltbilder wird quasi mit der Gründung der Akademie der Wissenschaften angelegt. In einer späteren Ausgabe von L’Homme Machine wird bereits eine „Pluralité des Mondes“ in der Widmung erwähnt.[11] Künstlerische bzw. visuelle Interventionen gehören beim Salon Sophie Charlotte am Paternoster oder in der Rotunde zu den Befragungen der Weltbilder. Gleicht der Paternoster in seinen wiederkehrenden Bewegungen nicht einem stellaren Weltbild? Im Raum 327 unterhielt sich Jule Specht von der Humboldt Universität über „Die Welt im Kopf“ mittels einem Neurobiologen, einem Mathematiker, Philosophinnen und einer Filmemacherin. Der Braunschweiger Neurobiologe und Akademiemitglied Martin Korte stellte „Neueste Einsichten der Gehirnforschung in das Älterwerden“ vor. Der Choreograf Niels Weijer nutzte den Paternoster für die Installation eines Universums aus Spiegeln und Lampen. Eingedenk, dass die frühe, verkettete Aufzugmaschine Paternoster ihren Namen vom christlichen Gebet Pater noster bzw. Vater unser erhalten hat, könnte man scherzhaft sagen, dass sich im Akademiegebäude die Welt in Maschinen verwandelt.

Im Einstein-Saal im 5. Stock diskutierte die Medienökologin Birgit Schneider mit der Politökonomin Maja Göpel über die Macht von Politik und Bildern hinsichtlich des Klimas. Das Klima als meteorologisches Weltbild beschäftigt uns gewiss besonders stark. Wie hat der Mensch das Klima durch seinen Verbrauch von fossilen Brennstoffen verändert bzw. beeinflusst? Wie kann der Klimawandel beeinflusst oder gestoppt werden? Vor allem wurde mit dem Moderator Maximillian Probst die Frage diskutiert, welche Bilder vom Klima besonders mächtig sind. Und welche die Klimapolitik zum Beispiel der freudigen Politiker*innen, die sich beim Klimaabkommen im Dezember 2015 in Paris in Siegespose an den Händen hielten, repräsentieren oder verschleiern?[12] Hat die Abschlusserklärung der Klimakonferenz wirklich die Probleme gelöst? War der emotionale Überschwang angesichts des Abkommens berechtigt?

Das Wissen vom Klima wird heute eng mit Bildern verknüpft. Was sich errechnen lässt, kann visuell nicht zuletzt dank digitaler Bildgebungsverfahren grafisch dargestellt werden. Während sich die projizierte Grafik des IPCC (Intergovernmental Panel of Climate Change) zum Global Warming of 1,5°C[13] von 2019 erst nach genauerem Studium erfassen lässt, emotionalisiert das Pressefoto von der Pariser Klimakonferenz das Verhältnis zum Klimawandel. Das bildlich-grafische Wissen vom Global Warming wird zwar in 92 Grafiken umfangreich dargestellt, aber gerade diese grafische Überfülle stellt eher eine Barriere zum Verständnis der Anforderung für eine Minimierung der Globalen Klimaerwärmung von 1,5°C dar. Das gebündelte Expertenwissen zu Grafiken transformiert, erfordert ein zeitintensives Studium. An Wissen vom Klima und seinem folgenreichen Wandel mangelt es nicht, doch zersplittert dieses in der Vielzahl der Grafiken, während die mediale Wahrnehmung eher darauf trainiert wird, dass ein Bild die Gefahren des Klimawandels symbolisiert. Birgit Schneider hat mit Klimabilder eine „Genealogie globaler Bildpolitiken von Klima und Klimawandel“ 2018 vorgelegt.[14]        

Das Paradox der Bilder vom Klima ist keinesfalls ein neues.[15] Maja Göpel ist als Generalsekretärin des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderung sozusagen verantwortlich dafür, dass sich hinsichtlich der Klimapolitik etwas ändert.[16] An der „Schnittstelle zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft“ arbeitet sie zum „Thema Nachhaltigkeitstransformationen mit einem Schwerpunkt auf Wissenschaftskommunikation“. Denn Wissenschaftskommunikation betrifft heutzutage insbesondere die Bilder und Erzählungen, die Veränderungen in den Denk- und Handlungsweisen bewirken sollen. Greta Thunberg trat nicht zuletzt eine ganze Serie von Bildern los. Sie erklärt den Klimawandel weniger, als dass sie Bilder eines Protestes produziert. Damit wird das Bild vom Klima nicht nur mit ihrem Porträt symbolisiert, vielmehr wird die Aktivität einer durchaus generationellen Bewegung visualisiert. Sie kommuniziert durchaus Wissen aus den Wissenschaften, doch Bild wird es erst durch sie. Das Paradox der Bilder und ihr Gebrauch zwischen stereotyper Wiederholung und plötzlicher Kristallisation ließ sich auch von Birgit Schneider und Maja Göpel nicht auflösen.

Alexander von Humboldt kam als Weltreisender und berühmtes Akademiemitglied gleich in mehrfacher und unterschiedlicher, ja, durchaus kontroverser Weise beim Salon Sophie Charlotte zur Sprache. In Raum 228 fungierte Étienne François als Gastgeber für Die Humboldts und die Welt. Im Seminarraum Taubenschlag der Studienstiftung des deutschen Volkes e.V. hielt der Potsdamer Romanist, Literaturwissenschaftler und Akademiemitglied Ottmar Ette seinen Vortrag Alexander von Humboldt: Natur Kultur Leben. Vielleicht bricht an Alexander von Humboldt die Frage nach Wissenschaft und Kunst oder wie es Ette formuliert „Natur Kultur Leben“ besonders stark auf. Wusste Humboldt alles, wie es das schwierige, doch weiterhin kursierende Lable als „Universalgelehrter“ behauptet? Oder lässt sich in der, wie es Ette nennt, „Humboldtian Science“ keine Unterscheidung zwischen Naturwissenschaft, Kultur und Leben treffen?[17] Für Ottmar Ette ist bei Humboldt alles in Bewegung.

Ottmar Ette positionierte seinen frei gehaltenen Vortrag von Anfang an in einer Gegenhaltung zur immer noch vorherrschenden Rezeption Alexander von Humboldts als Naturwissenschaftler und Mathematiker. 2019 war zum Humboldt-Jahr sein Buch Alexander von Humboldt und die Globalisierung – Das Mobile des Wissens im Suhrkamp Verlag erschienen. Humboldt hat nicht alles durch Vermessung schon immer alles gewusst, so dass es heute durch Neuberechnungen bewahrheitet werden kann, vielmehr spricht und schreibt Ette vom „Mobile des Wissens“ als „Offene Wissenschaft und Forum der Kulturen“.[18] Das „Mobile des Wissens“ ist unablässig in Bewegung und verändert ständig seine „Konstellation(en)“ so wie Ette sein Buch in zwei „Achse(n)“ und acht „Figur(en)“ gliedert, das indessen auch in mehreren „Lektüreparcours“ gelesen werden kann.

„Dieses Buch
bietet seinen Leserinnen
und Lesern mehrere Lektüreparcours an.
Es kann entlang der durchnummerierten Unterkapitel
fortlaufend vom Anfang der ersten bis zum Ende der letzten
Seite gelesen werden. Des weiteren lassen sich die einzelnen
Achsen und Figuren auch separat und in der jeweils bevorzugten
Abfolge und Konstellation durchlaufen. Zudem können die Unterkapitel
des nachfolgenden Bandes auch einem Kursbuch folgend gelesen
werden, das einen dritten, transversalen Weg vorschlägt:
58 – 1 – 2 – 30 – 6 – 7 – 15 – 8 – 51 – 52 – 9 – 25
– 16 – 20 – 21 – 35 – 22 – 36 – 37 – 23 – 38 – 3 –
54 – 10 – 56 – 11 – 24 – 42 – 12 – 43 – 17
– 44 – 4 – 18 – 45 – 39 – 46 – 40 – 13 –
14 – 19 – 47 – 48 – 26 – 27 – 31
– 28 – 33 – 49 – 50 – 32 –
34 – 29 – 55 – 5
– 57 – 41 –
53 – 5“
[19]

Bei Ottmar Ette tendiert die Wissenschaft von Alexander von Humboldt zum Schriftbild. Damit verändert sich nicht nur die Funktion der Bilder, vielmehr eröffnen sich auch ganz andere Einschreibungen. Einerseits ist er als Literaturwissenschaftler ein Schüler Roland Barthes‘. Andererseits vermag er als Romanist, was vielen Verfechter*innen der Naturwissenschaften mit deutscher Provenienz zu lesen verstellt bleibt. Denn Humboldt schrieb und korrespondierte überwiegend in Französisch. Die Natur kommt bei Humboldt allererst durch die Kultur und Sprache zur Geltung. Das verändert nicht nur eine immer wieder biographische Normalisierung von Alexander von Humboldt, vielmehr liest Ette ihn als „Querdenker seiner Zeit“ und macht ihn zum „Denker der Globalität“.
„Das gesamte Schaffen Alexander von Humboldts (1769-1859) läßt sich als eine höchst komplexe und kreative wissenschaftliche Antwort auf die Herausforderungen jener Epoche begreifen, die wir mit Blick auf die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts als zweite Phase beschleunigter Globalisierung bezeichnen dürfen. Der Autor der Ansichten der Natur ist ein Denker der Globalität, der als Querdenker seiner Zeit bis heute nichts von seiner Aktualität für die Bewältigung der Herausforderungen unserer Zeit verloren hat. Sein Schaffen als Natur- und Kulturforscher, als Philosoph, Gelehrter und Schriftsteller ist für uns heute vielmehr unentbehrlich, um die gegenwärtige Phase beschleunigter Globalisierung in ihrer Geschichte, aber auch in ihren Chancen und Risiken analysieren und historisch fundiert denken zu können.“[20]  

Ottmar Ette hatte sein Buch bereits 2009 zuerst veröffentlicht. 2019 wurde die Globalisierungsthese in der landläufigen Jubiläumsliteratur und weiterhin verbreiteten  „Kehlmannisierung“[21] durchaus zurückgefahren.[22] Es gibt mehrere Wissenstraditionen zu Alexander von Humboldt, die oft nicht zuletzt eurozentrische, wenn nicht gar nationalistische Ressentiments schüren, um ihn zum Weißen Mann zu machen. Das hat vielleicht nicht zuletzt mit einem eurozentrischen Weltbild zu tun, dem Ottmar Ette entschieden gegenhält.
„Wiewohl kein anderer seiner Zeit war er sich der pluralité des mondes, der Pluralität der Welten, bewußt und bemühte sich, kommunikativ zwischen diesen Welten zu vermitteln. Sein französisch- und deutschsprachiges Œuvre siedelt sich stets zwischen verschiedenen Sprachen, zwischen verschiedenen Kulturen an und bezeugt sein Bestreben, der Herrschaft eines einzigen Denkens, einer einzigen pensée systématique, zu entgehen. Sollte sich das Mobile seines Wissens jedoch um eine Leitvorstellung drehen, so dürfte es wohl keine andere als diese sein: »Alles ist Wechselwirkung.«“[23]

Mit mehreren Karten und Skizzen als Bildmedien zeigte Ottmar Ette in seinem Vortrag, dass Alexander von Humboldt sich gerade nicht auf ein Bild von der Welt festgelegt hat. Vielmehr faszinierten Humboldt die Weltdarstellungen der Inkas und südamerikanischen Ureinwohner ebenso wie die unter seiner Mitwirkung entstandene Carte des diverses Routes par lesquelles les richesse métalliques refluent d’un Continent à l’autre (Karte der verschiedenen Routen, auf denen metallischer Reichtum von einem Kontinent zum anderen fließt), die 1811 in Paris veröffentlicht wurde. [24] Ebenso lehnte Alexander von Humboldt nach Ette eine Superiorität der Europäer ab, während 2019 vielfach die Superiorität im deutschen Feuilleton mitschwang und die AfD mit einer Re-Nationalisierung und Re-Geschlechtung Stimmen fängt.  
„Es wäre schlicht vermessen – und zeugte vom Fehlen jeglicher Textkenntnis –, ihn auf die Dimensionen eines simplen Weltvermessers zu reduzieren. Nach einer gewissen »Kehlmannisierung« der Feuilletons gilt es, zu den Schriften Alexander von Humboldts zurückzukehren. Und Humboldts Texte sprechen eine andere Sprache: Sie skizzieren die Umrisse einer künftigen Kosmopolitik, die sich nicht nur einer aktuellen, sondern auch der jeweiligen historischen Globalisierungsphasen und ihrer Chancen bewußt ist.“[25]

Alexander von Humboldts Kosmos-Vorlesungen wurden vielfach ergänzt, umgeschrieben und nie ganz fertig, weil sich das kosmographisches Weltbild immer in Bewegung fand. In seiner Vorrede zum ersten Band des Kosmos erklärt er die Mitschriften der Vorlesungen für ungültig, um damit doch den wissenschaftlichen wie literarischen Prozess seiner Kosmographie nur um so deutlicher zu markieren. Sie kündigt sich bereits mit der Carte des diverses Routes … an, insofern sie selbst eine endlose Bewegung um die Welt anzeigt, als sie sich an den Rändern über den nullten Breitengrad hinaus wiederholt. Das Weltbild bleibt in Bewegung.

Torsten Flüh


[1] Siehe: Ed Hawkins: Warming Stripes from 1881 to 2018: www.showyourstripes.info

[2] Weltbilder Salon Sophie Charlotte 2020 (Homepage)

[3] Die General-Instruction der Societät. In: Adolf Harnack: Geschichte der Königlich Preussischen Wissenschaften Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Band 2: Urkunden und Actenstücke zur Geschichte der Königlich-Preussischen Akademie der Wissenschaften. Berlin: Reichsdruckerei, 1900, S. 104. (Digitalisat)

[4] (Julien Offray de la Mettrie:) L’home machine. Leide: Luzac, 1748. Siehe Digitalisat der Akademiebibliothek.

[5] Ebenda S. 69.

[6] Ebenda S. 7.

[7] Ebenda S. 9.

[8] Ebenda.

[9] Ebenda S. 14.

[10] Ebenda S. 70.

[11] Julien Offray de la Mettrie: L’HOMME MACHINE. Avex une introduction et de notes de J. Assézay. Paris: Frédéric Henry, 1865, S. 11. (Digitalisat)  

[12] Siehe: Europäische Kommission: Klimapolitik: Internationale Maßnahmen gegen den Klimawandel: Pariser Abkommen.

[13] IPCC: Global Warming of 1,5°C. 2019 (Special Report)

[14] Birgit Schneider: Klimabilder. Eine Genealogie globaler Bildpolitiken von Klima und Klimawandel. Berlin: Matthes & Seitz, 2018.

[15] Zur Meteorologie siehe auch: Torsten Flüh: „Atlantik-Bläser“ und „Schneewirbel“. Marianne Schuller und Michael Gamper in der Ringvorlesung Source Code der Technischen Universität Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN Dezember 23, 2012 17:39.  

[16] Profil WBGU: Prof. Dr. Maja Göpel (Generalsekretärin)

[17] Zur „Humboldtian Science“ siehe: Torsten Flüh: Wasserzeichen vom Orinoco. Zum 2. Alexander von Humboldt-Symposium „Forschen & Edieren“. In: NIGHT OUT @ BERLIN Mai 30, 2015 19:05. Siehe auch Tag: Humboldtian Science.

[18] Ottmar Ette: Alexander von Humboldt und die Globalisierung – Das Mobile des Wissens. Berlin: Suhrkamp, 2019, Ohne Seitenzahl (S. 11).

[19] Ebenda S. 9.

[20] Ebenda S. 13.

[21] Ebenda S. 18.

[22] Vgl. dazu auch: Torsten Flüh: Ich als Datenwesen. Zur netzpolitischen Diskussion um Datensicherheit und Datenteilung mit einem Exkurs zu Alexander von Humboldt. In: NIGHT OUT @ BERLIN 21. Mai 2019.

[23] Ottmar Ette: Alexander … [wie Anm. 18] S. 14.

[24] Carte des diverses Routes par lesquelles les richesses metalliques refluent d’un Continent a l’autre. 19. Dessine par J.B. Poirson d’apres une exquisee de Mr. de Humboldt. Grave par L. Aubert. In: Atlas Geographique Et Physique Du Royaume De La Nouvelle-Espagne, Fonde Sur Des Observations Astronomiques, Des Mesures Trigonometriques Et Des Nivellemens Barometriques. Par Al. De Humboldt. Paris: F. Schoell, 1811. 

[25] Ottmar Ette: Alexander … [wie Anm. 18] S. 18.

Schreib einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert