Zoom – Übertragung – Vorhang
Von der Fantasie, der Hand und der Seligkeit
Zur Ausstellung Hugo van der Goes – Zwischen Schmerz und Seligkeit in der Gemäldegalerie
Im März und April 2023 erschien plötzlich der junge König Balthasar in einem prächtig ausgemalten grünen Samtmantel eine goldene Schale in der rechten Hand haltend auf vielen Plakaten überall in der Stadt. Er richtete seinen konzentrierten Blick auf etwas, was nicht zu sehen war. Seine Lippen umspielte ein leichtes Lächeln, wenn man genau hinschaute. Das kurze, lockige, schwarze Haar über der bräunlichen Haut des Kopfes war akkurat geschnitten. Vielleicht war Balthasar noch nicht einmal dreißig Jahre alt. Dass dieser junge, hübsche Mann kaum aus unserer Zeit sein konnte, wurde nicht nur durch das Gewand und die Malweise, sondern mit dem Schriftzug HUGO VAN DER GOES und kleiner ZWISCHEN SCHMERZ UND SELIGKEIT signalisiert.
Dem Gemälde, das in der Stadt per Zoom für die Werbung zur Ausstellung im Ausschnitt vergrößert worden war, sieht man an, dass die portraitierten, individuellen Züge des jungen Mannes ein reales Vorbild gehabt haben müssen. Der farbige der heiligen drei Könige auf dem weltberühmten Monforte-Altar der Gemäldegalerie zu Berlin mit dem Titel „Anbetung der Könige“ muss existiert haben. Der Zoom als Ausschnitts- und Vergrößerungsfahren lässt den jungen Mann mit den einzeln gemalten Haaren allererst als Star des Gemäldes selbst sichtbar werden. In der Komposition des Gemäldes steht er am rechten Rand fast unscheinbar, während die älteren, weißen Könige schon vor dem Neugeborenen im Schoß der Mutter knien und es anbeten. Der Detailreichtum seiner Darstellung machte für den Kunsthistoriker und späteren Direktor der Gemäldegalerie Max J. Friedländer zu einem Werk Hugo van der Goes‘.
Hugo van der Goes und sein Werk werden um 1900 zu einem Effekt der neuartigen Praxis des Vergleichs von Details in der Kunstwissenschaft. So kommt denn auch der Kurator der Berliner Ausstellung Stephan Kemperdick in seiner akademisch gehaltenen Diskussion der Chronologie des Werks zu dem Schluss, dass „(a)lle Werke Hugos (…) nicht allein mit einer in den Niederlanden zuvor unerreichten Monumentalität auf(warteten), sondern ebenso mit einer höchst prägnanten, mitunter geradezu detailbesessenen Ausarbeitung und einer einzigartigen Erfindungskraft im Ganzen wie in den Einzelheiten“.[1] Hauptargument für die Chronologie beispielsweise vom Florentiner Pontinari-Altar und dem Berliner Monforte-Altar werden die Details, die erst nach einer Restaurierung sichtbar wurden. Denn „die große Berliner Tafel (sei) dem Florentiner Triptychon in Wirklichkeit nahe verwandt (…), und zwar sowohl was Gesichtstypen und Gewandfalten als auch das farbige Helldunkel oder die malerische Durcharbeitung der Details betrifft“.[2]
Stephan Kemperdick verwendet viel Sorgfalt auf das Detail, weil sich erst dadurch das Werk Hugo van der Goes generiert. Er hat seine Werke nicht signiert. Nur wenige gelten als erhalten. Mit der Signatur als Abschluss eines selbst geschaffenen Bildes in der Malerei schreibt der Künstler dem Bild seinen Namen ein. Doch das Fehlen der Signatur auf den Bildern aus dem 15. Jahrhundert sorgt für „Verlust und Wiederentdeckung eines außergewöhnlichen Künstlers“[3], der 1482/83 im Roode Kloster bei Brüssel gestorben sein soll. Durch den Brüsseler Bibliothekar Alphonse Wauters wird 1863 die handschriftliche Klosterchronik von Caspar Ofhuys aus den Jahren 1509/13 veröffentlicht, in der er von seinem Mitbruder und dessen Wahn wie Tod berichtete. Erstmals konkretisierte sich die Existenz des Malers im 19. Jahrhunderts. Seit den 1820er Jahren war es zu zahlreichen Zu- und Abschreibungen nicht zuletzt von zwölf Gemälden durch eine Monographie Alphonse Wauters gekommen, „von denen lediglich der Portinari-Altar seinen Platz zu Recht einnahm“[4].
Die aktuelle Werbung für die Hugo van der Goes-Ausstellung in der Gemäldegalerie im Kulturforum zoomt Ausschnitte aus den Tafeln und Tüchern auf der zentralen LED-Tafel zu einer monumentalen Höhe von mehr als 2 Stockwerken. Der Ausschnitt von, nennen wir ihn noch einmal, Balthasar aus dem Monforte-Altar und dem nur 33,8 x 23 cm großen Sündenfall aus der Gemäldegalerie des Kunsthistorischen Museums Wien werden, per Kamerafahrt nach oben geschoben. Eine Art Animation im Doppelsinn. Animiert werden Details, die seit den 1870er Jahren zur „Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst“ beitragen, wie es Carlo Ginzburg formuliert hat.[5] Hugo van der Goes und die das Detail feiernde Werbung verdanken sich der nach dem Kunsthistoriker Giovanni Morelli benannten Methode, woran Ginzburg erinnert. „Man solle (…) die Details untersuchen, denen der Künstler weniger Aufmerksamkeit schenkt und die weniger von der Schule, der er angehört, beeinflusst sind: Ohrläppchen, Fingernägel, die Form von Figuren, Händen und Füßen.“[6]
Das unbeabsichtigte Detail hat sich als Paradigma in der Kunstgeschichte und für den Kunsthistoriker wie Experten für Mittelalterliche Malerei ebenso wie Kurator für deutsche, niederländische und französische Malerei vor 1600 in der Gemäldegalerie Stephan Kemperdieck gehalten und wird in mancherlei Hinsicht weiterentwickelt. „Gesichtstypen“ wie „Ährenbündel“[7] können als Details zur Argumentation für Herkunft wie Chronologie eines Werks eingesetzt werden. Wo die Grenze zwischen Künstler und seiner Werkstatt oder seinen Helfern im Roode Kloster verlaufen, lässt sich schwer verifizieren. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird der halluzinatorische Wahnsinn Hugo van der Goes zu einem so entscheidenden Künstlermythos, dass der Neffe des Bibliothekars und Chronikherausgebers, der Maler Émile Wauters, das Gemälde 1872 La folie d’Hugues van der Goes malt und eine kunsthistorische Debatte u.a. mit Erwin Panofsky[8] und Max J. Friedländer zur Chronologie[9] entfacht.
Über Hugo van der Goes weiß die Kunstgeschichte wenig. In der ersten niederländischen Kunstgeschichte von Karel van Mander, dem Schilder-Boeck von 1604, wird ein „seit langem schon verschwundenes Werk“ von ihm ausführlich beschrieben.[10] Deutlich über 100 Jahre nach seinem Tod geht er somit in das Format eines historiografischen Wissens von den Bildern ein. Bilder bekommen eine Geschichte und werden räumlich wie zeitlich verortet. Das ist im 17. gegenüber dem 15. Jahrhundert eine neuartige Betrachtungsweise. Albrecht Dürer hatte bereits 1520/21 die Niederlande bereist und Hugo van der Goes als „grosz maister“ in seinem Tagebuch erwähnt.[11] Da war Hugo ca. 40 Jahre tot. Dürers Reise diente auch seiner Generierung von durch Malerzünfte organisiertem praktischem Wissen in Malweisen wie Motiven. Denn das Zunftwesen des Spätmittelalters spielt in der Auswertung der „Schriftzeugnisse“ zu Hugo van der Goes eine wichtige Rolle. So heißt es im genalogischen wie mediävistischen Essay Hugo van der Goes in den Quellen, dass „die meisten Menschen im Spätmittelalter in einem komplexen Netz von gegenseitigen Mikrokrediten verstrickt“ gewesen wären.[12]
Hugos Eintritt ins Roode Kloster und damit in den Augustinerorden als Novize und als zuvor in der Genter Zunft organisierter Maler-Meister wird in der Kunstgeschichte als individuelle, autonome Entscheidung formuliert. Weniger Beachtung hat offenbar bislang die Frage nach dem Organisationswechsel von der Zunft zum Orden gefunden. Die ausgewerteten Quellen legen „einen erfolgreichen und bestens vernetzten Künstler“ nahe, „der die Anerkennung der gesellschaftlichen Eliten seiner Zeit genoss“.[13] Dagegen setzt die Kunstgeschichte mit der Morelli-Methode das unbeabsichtigte Detail als das das Individuum verratende Indiz voraus. Der Wechsel von der Zunft in den Orden wird allerdings zugleich zum theologisch-organisatorischen Problem und gefährdet die Ordens- wie Mönchsregeln, was sich mit der Chronik von Caspar Ofhuis entfalten lässt. Durch den fast schon identifikatorischen Streit um den Wahnsinn wurde das strukturell lebenspraktische Problem der Ordensregeln überlesen. Die Regel für das Klosterleben legte Augustinus von Hippo auf der Schwelle vom 4. zum 5. Jahrhundert schriftlich fest. Sie wird als Augustinusregel tradiert.[14]
Dankenswerterweise wird die lateinische Textpassage des Originale Cenobii Rubeevallis in Zonia prope Bruxellam in Brabancia im Katalog vermutlich erstmals als „möglichst genaue Umsetzung des lateinischen Textes ins Deutsche“ zugänglich.[15] Der lateinische Text mit seinen stilistischen Eigenheiten wird nicht geglättet.[16]
„Im Jahr des Herrn 1482 stirbt der Konverse Hugo, der hier seine Profess abgelegt hatte. Dieser war so berühmt in der Malkunst, dass diesseits der Berge keiner seinesgleichen, wie man sagte, in jener Zeit gefunden werden konnte. Wir waren zur gleichen Zeit Novizen, er und ich, der ich dies hier niederschreibe. Bei seiner Einkleidung und im Noviziat gestattete ihm Pater Prior Thomas sehr vieles, was die Unterhaltung der Weltlichen betrifft, allerdings aus guten Gründen, weil er unter den Weltlichen bedeutend gewesen war, was mehr zum Prunk dieser Welt führte als zum Pfad der Buße und Demut.“[17]
Mit den ersten Sätzen der Passage formuliert Caspar Ofhuys ein Ordens- bzw. Ordnungsproblem in theologischer Hinsicht. Das Weltliche außerhalb der Klostermauern und das Geistliche der Klosterpraktiken werden von Ofhuys argumentativ gegeneinander in Stellung gebracht. Dabei geben die schriftlichen Quellen einen Hinweis darauf, dass Caspar „aus einer begüterten Brüsseler Familie“, der des Goldschmieds Jan van Ofhuys d. Ä.[18], mithin ebenfalls zünftig organisierten Familie entstammte. Doch Hugo unterwirft sich nicht restlos den geistlichen Ordnungsregeln, sondern der Abt des Klosters „gestattet ihm … sehr vieles“. Die Tagesabläufe im Kloster sind streng geregelt, wie z.B. früh morgentliche Gebete und gemeinsame Gesänge, die nicht zuletzt Giorgio Agamben im vierten Teil seines Homo Saccer-Projekt unter dem Titel Höchste Armut – Ordnungsregel und Lebensform erforscht hat.[19] Hugo hätte kaum noch Malen können, wenn er die Mönchspraktiken des Klosters eingehalten hätte. Stattdessen wird er nach Caspar „von vielen hohen Herrschaften und sogar von seiner Durchlaucht Erzherzog Maximilian besucht“.[20]
Liest man Caspar Ofhuys Klosterchronik mit Agamben als einen Beitrag zur „Literaturform“ der „Mönchsregeln“[21], dann verschiebt sich der identifikatorische Blick auf Hugo, weil er lediglich zu einem Exemplum einer Krise der Mönchsregeln wird. Der Chronist und Verteidiger der Mönchsregeln berichtet von Hugos Wahnsinn, „weil Gott dies alles meiner Meinung nach erlaubte, …, … auch um uns zu belehren“.[22] Die Einhaltung der Mönchsregeln schützt nicht zuletzt vor Wahnsinn, lässt sich sagen. Zum Schlüsselbegriff für das Leben im Kloster wird die Demut (humilitas), welcher Hugo nicht gerecht werden konnte, weil er bereits berühmt und „erhöht“ worden war. Deshalb betont Caspar, dass „(a)ls der Bruder selbst dies begriffen (intelligens) hatte, übte er, sobald der genesen war große Demut (humiliavit), indem er freiwillig unser Refektorium verließ und demütig mit den Laien die Mahlzeiten zu sich nahm“.[23] (Unterstreichungen T.F.) Die zeitlich und hier ebenso räumlich genau eingeteilte Einnahme der Mahlzeiten von Mönchen und „Laien“ gibt einen Wink darauf, „dass das gesamte Leben des Mönchs von einer ebenso lückenlosen wie unerbittlichen Zeiteinteilung bestimmt war“[24], wie es Agamben formuliert hat.[25] „Das Zönobium ist also zunächst ein lückenloser Stundenplan des Daseins: Jedem Augenblick entspricht ein Offizium, sei es das des Gebets, der Lesung oder der Handarbeit.“[26]
Hugo van der Goes‘ Eintritt ins Kloster sorgt für nahezu chaotische Verhältnisse in der getakteten Lebenspraxis der Mönche. Sie macht die Mönche (fast) wahnsinnig, weil nun ständig Ausnahmen von der Regel geschaffen werden. Hugo kleidet sich nicht wie alle anderen Augustiner-Mönche – und noch der Augustinermönch Martin Luther –, er hält kaum den Zeitplan ein und bekommt auch noch ständig weltlichen Besuch, mit dem er zu Unzeiten spricht, isst und trinkt. Was womöglich gut für die Finanzen und die weltliche Reputation des Klosters ist, greift die Mönchsregeln zutiefst an. Dass das Malen eine Form der meditatio sein könnte wird von Caspar gar nicht erst erwähnt, stattdessen suchen Hugo nach Caspar „fantasiis et emaginationibus“ heim.[27] Dabei war es gerade Augustinus, der die meditatio als Lese- und Gedächtnispraxis nach Agamben ins Mönchsleben einführte.
„Bekanntlich verbreitet sich seit dem 4. Jahrhundert die Praxis des leisen Lesens, die Augustinus mit Erstaunen bei seinem Lehrer Ambrosius zur Kenntnis nimmt. »Wenn er las«, schreibt Augustinus (Conf., 6, 31), »glitten die Augen über die Seiten und das Herz spürte nach dem Sinn, Stimme und Zunge aber ruhten«.“[28]
Was der Kunstgeschichte und den Feuilletontiteln – Wirklich ein Genie im Wahnsinn? (Berliner Zeitung), Genie im Großformat (Süddeutsche) – heute als Anknüpfungspunkt zwischen Geniediskurs und Wahnsinnszweifel bei Hugo van der Goes zur Identifizierung eines Malerindividuums gilt, wird durch eine andere Leseweise der Klosterchronik ad absurdum geführt. Noch dem Spätmittelalter widerstrebte eine derartige Denkweise. Über den Wahnsinn Hugos wissen wir durch Caspar Ofhuys nicht mehr und nicht weniger, als dass er ihn präzise im Kontext der Mönchsregeln als Wissensfeld diskutiert wird. Obwohl Caspar eine Unterscheidung von „er“ und „ich“ einführt, richtet sich die Kritik auf eine den Mönchsregeln nicht konforme Lebensweise, die nur durch „große Demut“ geheilt werden kann. Die Kunstgeschichte als eine Disziplin des Individuums als Genie ignorierte geflissentlich die Forschung der Mediävistik. Der Katalog zur Ausstellung und die Ausstellung selbst verschieben nicht zuletzt mit der Präsentation der Handschrift die schwierige kunsthistorische Perspektive nur ein wenig. Quasi im letzten Ausstellungsraum trifft das fatale Wahnsinnsbild von Émile Wauters auf die Chronik, als hätten wir den Maler nun selbst vor Augen, von dem es weder ein Bild noch eine Signatur gibt.
Die malende Hand Hugo van der Goes‘ lässt sich als Schnittstelle von Handwerk und Kunst bedenken. Produziert die Hand den Stil? Diese Frage lässt sich nicht leicht beantworten, weil sie eine entscheidende für die Zu- und Abschreibungen der Gemälde im Werk gilt. Wir wissen wenig von der Hand im Spätmittelalter. Wie werden Malweisen mit der Hand praktisch eingeübt? Wie wird die Hand motorisch trainiert? Mittelalterliche Handschriften wie die Caspars folgen Regeln. Obwohl Hugo nach Caspar berühmt ist, signiert er seine Bilder nicht. Das Fehlen einer handschriftlichen Signatur im Zeitalter der illuminierten Handschriften gibt eher einen Wink darauf, dass Hugo van der Goes sich nicht als Individuum begreift. Wir kennen keine Signatur Hugos weder in Bildern noch in Dokumenten. Womöglich argumentiert Erik Eising in seinem Essay Hugo van der Goes und die Nachfolge Rogier van der Weydens auch deshalb mehr über „Motive“ und „Figuren“. Die Hand bleibt diskret und wird dann doch in Bezug auf einen Maler aus Hugos Umfeld explizit zum Argument der Herkunft zweier Gemälde:
„Eine Königsanbetung in New York (Kat. 23) kann derselben Hand wie die Tafel in Urbino zugeschrieben werden. Obwohl die Komposition gewisse Parallelen zu zwei von Hugo entworfenen Königanbetungen zeigt (Kat. 2, 24), reichen aber auch diese nicht, um den jungen Hugo in Joos an Wassenhoves Werkstatt zu lokalisieren.“[29]
Die Hand als Indizienparadigma in der Kunstgeschichte bleibt elastisch und wird kaum näher formuliert.[30] Sie entzieht sich in ihrer Komplexität einer Beschreibung, um genau deshalb „die auf geringfügige(n) und unwillkürliche(n) Merkmale(n) basierende Kenntnis vom Individuum“[31] zu generieren. Wir wissen heute beispielsweise durch das biometrische Passfoto, dass sich das Individuum datentechnisch erfassen lässt. Doch in der Kunstwissenschaft führt die Hand dennoch bislang zu keiner eindeutigen Zuschreibung von Gemälden oder Zeichnungen. Vielmehr bleibt die Hand immer in einem Bereich individuell-visuellen Wissens von Kunsthistoriker*innen, das sich sprachlich schwer erfassen lässt. Hinsichtlich der „einige(n) hundert niederländische(n) Zeichnungen des 15. Jahrhundert“, die bewahrt geblieben sind, bemerkt Stephanie Buck, dass keine „signiert“ sei. Genau deshalb kommt die Hand Hugos wiederum prominent zum Zuge:
„Zwei Zeichnungen haben sich in der Forschung als eigenhändige Werke von Hugo van der Goes durchgesetzt: Jacob und Rachel in Oxford (Kat. 6) und Christus am Kreuz in Windsor (Kat. 7.1).“[32]
Die Hand als heuristisches Werkzeug, um die Herkunft zu klären, gehört in der Kunstwissenschaft zum Feld des Geschlechts. Mit der Hand soll die Herkunft des Gemäldes wie der Zeichnungen geklärt werden. Für das 15. Jahrhundert als Schwellenzeit in den Niederlanden lässt sich zumindest praxeologisch sagen, dass die Hand sich möglicherweise ankündigt, gewissermaßen im Kommen ist, aber keinesfalls da ist. Die Grenzen zwischen Malerindividuum und Werkstatt bleiben unscharf. Doch gleichzeitig vermag Hugo van der Goes als Maler und Mönch, die Mönchsregeln zu sprengen. Gesprengt werden sie indessen nicht zuletzt durch Gespräche, Gerüchte, Empfehlungen, Schmeichelleien, kolportierten Geschichten, neuartigen Erzählungen. Und Caspar formuliert zugleich einen Zweifel an der Hand und ihrer Leistungsfähigkeit. Die Hand kommt ins Spiel, wenn der Glaube in Gott schwindet, wenn der Chronist schreibt:
„Was die Leiden der Seele betrifft, so weiß ich genau, dass sie dem erwähnten Konversen sehr zusetzten. Er sorgte sich nämlich sehr darum, wie er die Werke, die er malen sollte, zu Ende bringen sollte. Er hätte sie, wie es damals hieß, kaum in neun Jahren vollenden können.“[33]
Möglicherweise gehört die manus scientia oder das Wissen von der Hand deshalb auch in einen exklusiven Bereich der Übertragung, wie sie nicht zuletzt in den christlichen Gemälden von Hugo van der Goes immer wieder dargestellt wird. Die beispielsweise des sogenannten Monforte-Altars ist eine geschlossene. Herrscherfiguren wie die Könige suchen das neugeborene Jesuskind nicht nur auf, sondern erkennen es als Macht über der von ihnen verkörperten Macht an. Sie wollen an der im Neugeborenen unschuldig dargestellten Macht teilhaben. Maria trägt als Mutter keine materielle Krone, aber eine immaterielle aus Gold gemalten Lichtstrahlen. Der erste König im Vordergrund hat seine Krone aus Pelz und Goldgeschmeide bereits zur Seite gelegt, um mit barem Haupt die Strahlen des Heiligenscheins, wie man sagt, empfangen zu können. Dieser Übertragungsvorgang wird als Altarbild ein großes Geheimnis, das nur an bestimmten Tagen des christlichen Jahres zu schauen gegeben wird, denn die Scharniere für die verdeckenden Altarflügel sind noch gut erhalten.
Die Übertragung, des mit einem anderen Wort, Heiligen Geistes muss als erstrebenswerter, gleichwohl geheimnisvoller Vorgang auf einer Bühne in Szene gesetzt werden. Deshalb setzt sich mit Hugo van der Goes und seinem Umfeld eine Theatralisierung der Übertragungsszenen durch. Diese Übertragungsszene soll den Regeln entsprechend kniend in anbetender Haltung geschaut werden. Die Mönche, die Auftraggeber etc. sollen sich am besten Verhalten wie der bereits kniende König. Er ist in Haltung und Verhalten das zentrale Vorbild. Im Katalog heißt es unter anderem:
„Die Gestalten sind groß im Verhältnis zur Bildfläche, die sie in der Höhe beinahe ausfüllen. Eine bis dato unbekannte, den Eindruck von Monumentalität steigernde Perspektive wird vor allem beim König deutlich: Als stünden (besser: knieten, T. F.) wir unmittelbar vor ihm, blicken wir auf seine Füße hinab, sehen aber von seiner rechten Hand an alles in Untersicht, sodass seine Gestalt über unsere Köpfe aufzuragen scheint.“[34]
Die Geburt Christi aus der Zeit von 1480, die Hugo van der Goes zugeschrieben wird, steigert in gewisser Weise die Theatralisierung im Modus einer Erfüllung der Heiligen Schrift bzw. des Alten Testaments. Zwei Propheten ziehen nunmehr allegorisch einen halbtransparenten Vorhang auf einer Stange zur Seite. Denn das Neue Testament, das mit der Geburt Christi in den Evangelien beginnt, generiert sich als Realisierung der Ankündigung des Messias. Die Vorhänge werden im 14. Jahrhundert zu einem verbreiteten Motiv der Gemälde, die das Schauen und Wissen einüben sollen.
„Erwin Panofsky deutet (die Propheten mit Vorhang) als Umsetzung einer im Mittelalter geläufigen Vorstellung, die Aurelius Augustinus so formulierte: „Das Alte Testament wird im Neuen enthüllt, im Alten siehst du das Neue [Testament] verhüllt“ (Enarrationes in Psalmos 105, 369). Hier enthüllen die Propheten selbst, was sie vorausgesagt haben, …“[35]
Theatralisierung erzeugt Emotionen, die im Verhaltensrepertoire der Menschen im Mittelalter eher neu waren. Ob sie sich Zwischen Schmerz und Seligkeit abspielten, wie die Ausstellung vorschlägt, wissen wir nicht. Wann, wo und durch welchen Maler sie zum Motiv werden, lässt sich schwer verifizieren. Der medial stark vernetzte Mensch des 21. Jahrhunderts hat andere Praktiken entwickelt, Emotionen hör- und sichtbar zu machen. Seligkeit gehört in vielen Gesellschaften nicht mehr zu einem der bevorzugten Gefühle. Zumindest hat der Gebrauch des Begriffs Seligkeit seit dem 17. Jahrhundert und dann noch einmal seit den 1950er Jahren rapide abgenommen.[36] Seligkeit als Versprechen und Empfinden ist selten geworden. Sie hatte womöglich auch weniger mit einem Gefühlsmoment als vielmehr mit der streng geregelten Lebensführung im Weltlichen wie im Kloster zu tun. Insofern wird der Ausstellungsbesuch in der Gemäldegalerie zu einer Entdeckungsreise in eine fremdgewordene Welt des niederländischen Spätmittelalters, in dem Künstlernamen selbst als Promis, Signaturen wie Autogramme und die Hand eine geringe Rolle spielten.
Torsten Flüh
Gemäldegalerie
Hugo van der Goes
Zwischen Schmerz und Seligkeit
bis 16. Juli 2023
Katalog zur Ausstellung:
Hugo van der Goes
Zwischen Schmerz und Seligkeit
Hg. Erik Eising, Stephan KemperdickBeiträge von M. W. Ainsworth, T.-H. Borchert, S. Buck, L. Campbell, E. Capron, K. Dyballa, E. Eising, S. Kemperdick, B. Ridderbos, G. Wedekind u.a.
304 Seiten, 250 Abbildungen in Farbe
24 x 28 cm, gebunden
ISBN: 978-3-7774-3847-4
55,00 EUR0 (D)
[1] Stephan Kemperdick: Hugo van der Goes. Verlust und Wiederentdeckung eines außergewöhnlichen Künstlers. In: Stephan Kemperdick und Erik Eisinger (Hrsg.): Hugo van der Goes – Zwischen Schmerz und Seligkeit. München: Hirmer, 2023, S. 17.
[2] Ebenda S. 15.
[3] Ebenda. S. 11.
[4] Ebenda S. 12.
[5] Carlo Ginzburg: Spurensicherung. D/er Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst. In: ders.: Spurensicherungen. Über verborgene Geschichte, Kund und soziales Gedächtnis. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1988, S. 78.
[6] Ebenda S. 79-80. 276
[7] Stephan Kemperdick: Hugo … [wie Anm. 1] S. 17.
[8] Siehe: Gregor Wedekind: Hugos Wahn. In: Stephan Kemperdick und Erik Eisinger (Hrsg.): Hugo … [wie Anm. 1] S. 81.
[9] Stephan Kemperdick: Hugo … [wie Anm. 1] S. 12.
[10] Ebenda S. 11.
[11] Ebenda.
[12] Jan Dumolyn, Erik Verroken, Till-Holger Borchert: Hugo van der Goes in den Quellen. In: Stephan Kemperdick: Hugo … [wie Anm. 1] S. 22.
[13] Ebenda S. 23.
[14] Wikipedia: Augustinusregel.
[15] Katalog: Caspar Ofhuys: Originale Cenobii Rubeevallis in Zonia prope Bruxellam in Brabancia. In: Stephan Kemperdick: Hugo … [wie Anm. 1] S. 276-279.
[16] Ebenda Anm. 3 S. 279.
[17] Ebenda S. 276.
[18] Jan Dumolyn, Erik Verroken, Till-Holger Borchert: Hugo … [wie Anm. 12] S. 22.
[19] Giorgio Agamben: Höchste Armut. Ordensregeln und Lebensform. Homo Saccer IV,1. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2012.
[20] Katalog: Caspar … [wie Anm. 15] S. 276.
[21] Giorgio Agamben: Höchste … [wie Anm. 19] S. 15.
[22] Katalog: Caspar … [wie Anm. 15] S. 278.
[23] Ebenda.
[24] Giorgio Agamben: Höchste … [wie Anm. 19] S. 39.
[25] Zu Giorgio Agambens homo sacer-Projekt siehe auch: Torsten Flüh: Leben auf der Schwelle. Zu Giorgio Agambens homo sacer-Projekt und der Pfingstserenade in Kloster Chorin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 28.05.2012. Jetzt als PDF unter Publikationen.
[26] Giorgio Agamben: Höchste … [wie Anm. 19] S. 39.
[27] Katalog: Caspar … [wie Anm. 15] S. 279.
[28] Giorgio Agamben: Höchste … [wie Anm. 19] S. 43.
[29] Erik Eising: Hugo van der Goes und die Nachfolge Rogier van der Weysens. In: Stephan Kemperdick und Erik Eisinger (Hrsg.): Hugo … [wie Anm. 1] S. 35.
[30] Zum Indizienparadigma siehe: Carlo Ginzburg: Spurensicherung … [wie Anm. 5] S. 108-109.
[31] Ebenda S. 109.
[32] Stephanie Buck: Hugo van der Goes als Zeichner. In: Stephan Kemperdick und Erik Eisinger (Hrsg.): Hugo … [wie Anm. 1] S. 63.
[33] Katalog: Caspar … [wie Anm. 15] S. 278.
[34] S. K.: Anbetung der Könige (Monforte-Altar). In: In: Stephan Kemperdick und Erik Eisinger (Hrsg.): Hugo … [wie Anm. 1] S. 114/118.
[35] S. K.: Geburt Christi. Ebenda S. 220.
[36] Siehe die Wortverlaufskurven ab 1600 und ab 1946 im DWDS für Seligkeit.
Ein Kommentar