Von Bären und Schlangen

Festival – Kinokultur – Digitalität

Von Bären und Schlangen

Zu Limbo im Wettbewerb und An Atypical Orbit im Forum Extended der 73. Berlinale

Werden die ausschließlich online zu buchenden Tickets für die Berlinale die unabänderliche Zukunft des Festivals sein? – 9:55 Uhr drei Tage vor der Aufführung. Der gebannte Blick auf den Bildschirm. Welche Tickets werden freigegeben werden? Im Wettbewerb geht es heute um Limbo. Die Kreditkarte liegt bereit. Die Zeitanzeige springt auf 10:00 Uhr. Taste. Klick. Und – Für die Vorstellung nicht verfügbar. Änderung. Neuer Versuch. Und – Ticket. Immerhin Zoo Palast 1. Wenn es gar keine Schlangen am Ticketschalter gibt, wie sie natürlich noch am 27. Februar 2020 existierten, als der Berichterstatter im Friedrichstadtpalast an der Tageskasse eine Karte für die 2. Vorstellung von Burhan Qurbanis Berlin Alexanderplatz fast mühelos bekam,[1] oder mit Akkreditierung 2012 das Schlangestehen[2] morgens vor dem Aufstehen um 8:55 Uhr in der Eichhornstraße, dann fehlt mir ein Berlinale-Gefühl.

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Noch bis zum 5. März zeigt das 18. Forum Extended der Berlinale täglich die Ausstellung An Atypical Orbit in der Betonhalle des Kulturquartiers silent green. In der Betonhalle gibt es Schlangen. In ihrer Medieninstallation On this shore, here. setzt sich Jasmina Metwaly ein Schlangenhaupt auf den Kopf. Eine Pillenkamera schlängelt sich in Eduardo Williams‘ Speiseröhre in seiner Installation Un gif larguísimo. Internationale Premieren und eine Weltpremiere mit Tamer El Saids Borrowing a Family Album erwarten die Besucher*innen, ohne länger in der Schlange stehen zu müssen. Denn das Verschwinden der Schlangen hat nicht nur mit der radikalen Digitalisierung des Kartenverkaufs zu tun. Es ist ebenso der Schließung der Kinos im Sony Center und der Dezentralisierung des Festivals bis in die Berliner Kieze hinein geschuldet.

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Die Berlinale hatte sich bis zur Covid-19-Pandemie zum weltweit größten, internationalen Publikumsfestival des Kinos entwickelt. Dann kamen Netflix und Amazon als Frontalangriff auf die Kinokultur. Sie war eine breite, tendenziell schichtenübergreifende Publikumskultur. Die Kinokultur verkörperte sich in der Schlange. In den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts kündigte sich mit breiten, teilweise verstellbaren Kinosesseln eine Loungeification des Kinosaals an. Es wurde, mit einem dänischen Wort, alles so hyggelig. Riesenleinwand mit dem Kinosessel als my home is my castle. Das Kino mit einem großen Publikum und Dolby Atoms wurde zugleich zum spießigen Rückzugsort im Sessel mit Softdrink oder Bierflasche. Jetzt wird entweder alles auf das Smartphone-Format geschrumpft und gestreamt oder der Bildschirm wird mit 65“ (165,1 cm) als AV Monitoring für fast Fünfzehneinhalbtausend Euro im Wohnzimmer bestreamt. Das Publikum wird zum gestreamten Ich. The Streaming is my orbit except news!

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Im Zoo Palast 1 bieten am 24. Februar 2023 um kurz vor 12:30 Uhr die gerafften Wellen des Kinovorhangs einen Augenfang. Wettbewerb: „Limbo. Ivan Sen – Simon Baker, Rob Collins, Natasha Wanganeen – Australien – 95‘ – Englisch.“ Der Kinosaal mit dem schon aufgesesselten Ambiente der 50er Jahre ist ausverkauft. Einige junge Leute. Rechts ein junger Mann mit Notebook und Apps. Links eine rothaarige, dünne Frau mit ihren Freundinnen so Ü70. Ach, doch noch ein Hauch Berlinale und Publikum. Der Berichterstatter atmet es ein. Das digital Ticketing hatte die Wahl bestimmt. Und sonst nichts. Limbo assoziierte der Berichterstatter irgendwie mit Tanz, was ganz falsch war. Danach noch einmal nachgelesen wurde aus einem Tanzfilm: „Travis Hurley nimmt den Fall einer vor 20 Jahren ermordeten Aboriginal-Frau wieder auf. Die Outback-Kleinstadt schweigt, auch die Familie des Opfers, denn der Cop ist weiß und die Wahrheit komplex. Ein First-Nation-Film als nostalgisch-depressiver Wüsten-Noir.“[3] Filmbeschreibungen sind eine eigene Kunst, ein eigenes Literaturgenre des Kinos.  

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Die Publikumskultur der Berlinale wird leicht übersehen und selten besprochen. Also: Aus dem Graupelgestöber in das Kinofoyer gestürmt, QR-Code auf dem Smartphone scannen gelassen, hinein, gleich rechts die Treppe hoch und links in den großen Kinosaal. Freien Sitzplatz mittig anvisiert, per Handzeichen und Mimik nachgefragt, ob noch frei, möglichst freundlich durch die Reihe gedrängelt. Publikum teilweise stehend in Gesprächen verwickelt. Punkt Zwölfuhrdreißig: Gong! Stille. Licht dimmt herunter. Rüschenvorhang hebt sich. Trailer. Dann: Die australische Wüste in Schwarzweiß. Eine Straße schlängelt(!) sich durch die Wüste mit vielen Erdhügeln. Ein PKW wirbelt auf der Straße Staub auf und fährt auf die Kamera zu. Kino. Große Exposition. Kameraeinstellung: Panorama. Großes Erzählkino. – Niemand verlässt den Kinosaal. Applaus am Schluss. – Geht alles auf Smartphone und selbst auf AV Monitoring im Wohnzimmer nicht.

Im Wettbewerb um den Goldenen Bären wird Limbo untergehen. Australien war, soweit mir bekannt, nie besonders erfolgreich im Wettbewerb. Dabei macht Ivan Sen als Regisseur, Drehbuchautor und Kameramann fast alles richtig. Limbo ist nicht zuletzt ein Ritt durch die Film- bzw. Kinogeschichte und Erzählformate. Limbo kommt von einem ganz anderen Ende der Welt, das sonst in farbig funkelnden Opalen wahrgenommen wird. Queensland in Australien hat den Film mitproduziert. Auch ist die bildende Kunst der Aborigines meist bunt. Doch Ivan Sen verbannt die Farbe aus seinem Film. 2002 hatte Sen mit Beneath Clouds den Premiere First Movie Award auf der Berlinale gewonnen.[4] Die labyrinthischen Erdhöhlen der weißen Opalsucher und die Opalsuche der Aborigines werden von dem indigenen Autor, Regisseur und Kameramann Ivan Sen zu einer Meditation über die First Nation im Bundesstaat Südaustralien. Der ermittelnde Cop Travis Hurley (Simon Baker) spritzt sich in seinem Motelzimmer in einem ehemaligen Opal-Stollen Heroin. Der Trip in die Opal-Hauptstadt Coober Pedy wird zu einem vielschichtigen. Ein Kammerspiel der Extreme, das nahegeht.

Über den First Nation-Spielfilm Limbo ließe sich noch viel schreiben. Er erinnert an die Western der 50er aus den USA. Aber da war eher alles clean. Alkohol und Drogen, Sex und Rassismus spielen in Limbo eine strukturierende Rolle. Weiße Männer und braune Mädchen. Im Hintergrund die Opale, die nicht sichtbar werden, weil es ein Film in Schwarzweiß ist. Die Hitze in Coober Pedy kann im Sommer über 40° C betragen. In der Sprache der Pitjandjari-Aborigine heißt der Ort kupa piti, was so viel heißt wie „Loch des weißen Mannes“. In dem ziemlich heißen Ort gibt es mehrere Höhlenmotels. Doch das Filmmotel Limbo verweist ebenso auf das lateinische limbus als Ort des Vergessens und der Vorhölle. Dazu passt dann auch der Herointrip. Ivan Sem hat diese literarischen Verweise im Blick. Europäische und Pitiandjari-Mythen werden miteinander verwoben. Überhaupt spielen dann nicht zuletzt Mythen und Migration während der Berlinale für An Atypical Orbit in der Betonhalle eine wichtige Rolle.

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Das Kulturquartier Silent Green hat sich mit der Betonhalle in den letzten Jahren als ein Spielort der Berlinale etabliert. Das hat viel mit der unterirdischen Betonarchitektur und der Film Feld Forschung von Jörg Heitmann und Bettina Ellerkamp zu tun. Die gemeinnützige Gesellschaft macht ein anderes Kino. Keine Versesselung. Eher Bänke und Liegekissen. Für 2025 ist der Umzug des Arsenal – Institut für Film und Videokunst e.V. in Silent Green geplant. Am Rande des Festivals gelegen, lockt das Forum Extended ein besonderes Filmpublikum an. Ala Younis und Ulrich Ziemons (Co-Leitung) sowie Karina Griffith und Shai Heredia haben An Atypical Orbit kuratiert. Bereits 2022 hatten Ziemons und Younis eine faszinierende Ausstellung mit Closer To The Ground im Untergrund gestaltet. Während sich die Ausstellung 2022 auch als eine Intervention zur Covid-19-Pandemie sehen ließ, geht es in diesem Jahr stärker um Mythen und visuelle Vernetzungen. Die Kurator*innen formulieren ein Programm, bei dem es „in wechselnden Distanzen – um politische und persönliche Vermächtnisse, die oftmals in Scherben liegen“, geht.[5] In den Scherben lassen sich auch die des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine mitlesen.

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Der tibetisch-amerikanische Filmemacher und bildende Künstler Tenzin Phutsong thematisiert in seinen vier Videoinstallationen das Exil seiner tibetischen Eltern. Dreams (2022) wird als Internationale Premiere gleich auf der Betonfläche zum Eingang in die unterirdische Halle projiziert. Eine ältere Frau liegt träumend auf einer Mattratze unter einer Decke in einem grenzenlosen Raum. Ein gleichaltriger Mann legt sich zu der Frau seinen Arm um sie legend. Es sind die Eltern des Künstlers, die sich auf die Schlafmatte legen. Sie ähnelt jener, „auf der sie zu Beginn ihrer Immigration in den Westen schliefen“.[6] Die sich nach 2 Minuten wiederholende, intime Szene des Sich-zu-einander-legens und des Träumens findet an der Schnittstelle von Immigration und Zukunft des Exils statt. Träume von der vergangenen Zukunft im Exil in den USA und der Zeit in Tibet vermischen sich. In der Installation wird ebenso eine Decke aus Indien gezeigt, die in vielen tibetischen Haushalten der Diaspora zu finden ist.

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Die Decke aus Indien visualisiert einen Teil der persönlichen Erinnerungskultur an den Beginn der Immigration des Filmemachers, wenn Tenzin Phutsong dazu sagt: „Diese Decke war einer der Gegenstände, die meine Mutter mitnahm, als wir aus Tibet in die USA immigrierten. In dieser Arbeit wollte ich zu meinen frühsten und schönsten Erinnerungen zurückkehren. Ich wollte mich an diese Zeit der Unschuld erinnern.“[7] Und möglicherweise sind derartige Decken für Kinder während der Immigration weiterhin ein Gegenstand des Schutzes. Die billigen Synthetik-Decken sind weich und erlauben, darunter zu träumen. Vielleicht muss man sich ähnliches für Kinder in den Kellern und Bunkern der Ukraine vorstellen.

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Doch die Exilerfahrung ist dank der audio-visuellen Apps auf dem Smartphone heute vielschichtiger geworden. Mit den drei kleinformatigen Videoinstallationen Achala, Dancing Boy und Summer Grass in mit Jade und Kupfer besetzten Kästchen feiert Tenzin Phutsong die Möglichkeiten der Apps wie WhatsApp und WeChat. Die kleinen Kästchen mit den Bildschirmen sind Schatztruhen des Alltags für die seit 40 Jahren getrennte Familie des Künstlers. In Echtzeit kommunizierte und kommuniziert die Familie in den USA wieder über die chinesische Social-Media-App WeChat mit den Verwandten im tibetischen Hochland. „Die in Tibet gedrehten Szenen wurden auf der Social-Media-App WeChat zwischen Verwandten des Künstlers in Tibet und den USA geteilt und ermöglichen so medialen Zugang zu der autonomen Region.“[8] Doch was sind audio-visuelle Apps, die keine Kosten verursachen?

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Die audio-visuelle Smartphonekultur der Apps schrumpft nicht nur das Kino, sie ist zugleich hoch politisch, worauf Tenzin Phutsong aufmerksam macht: „Anlass für die Serie war das Verbot von WeChat, das 2020 in den USA in Kraft trat und die Kommunikation des Künstlers und seiner Familie mit ihren Verwandten praktisch unterband; ein Zustand, der bis zur Wiederfreigabe der App im August 2021 andauerte.“[9] Millionen, wenn nicht schon Milliarden Menschen nutzen derartige Apps nicht nur zur nationalen, so doch zur internationalen Vernetzung aus dem Exil in abgelegenste Winkel der Welt wie dem tibetischen Hochland. Der staatspolitische Versuch, derartige Apps wie durch die USA zu regulieren und zu verbieten, wird zum Politikum. Summer Grass aus dem Alltag eines Yakhirten in Tibet dokumentiert nicht nur den bäuerlichen Alltag. Vielmehr ermöglicht die App trotz der Gefahr, dass der chinesische Geheimdienst, umgangssprachlich KeGeBo, mithört und sieht, eine durchaus kulturbeeinflussende Kommunikation.

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In Dancing Boy von Tenzin Phutsong tanzt ein vielleicht sechsjähriger Junge in einem traditionell eingerichteten Raum mit Herd wild vor der Kamera nach einem zeitgenössischen, tibetischen Lied. Es könnte gut eine Smartphone-Kamera sein. Tanzt der Junge in seiner traditionell tibetischen Kleidung für die Kamera? Die Kamera ist mehr auf eine Totale als auf eine Naheinstellung ausgerichtet. Tanzt er für die Verwandten in den USA, mit denen er kurz zuvor tibetisch gesprochen hat? – Wir wissen es nicht. Doch fast überall auf der Welt wachsen heute Kinder mit einem Smartphone auf. Dort am Display lernen sie schon im frühesten Kindesalter Verwandte z.B. in den USA kennen. Oder sie sehen ihren Onkel aus Babylon, bevor sie sprechen können. Durch die Apps sind die Smartphone-Displays und -Kameras erst wirklich mächtig geworden.

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In Achala spricht die Mutter von Tenzin mit ihrer Schwester in Tibet, die traditionell gekleidet ist. Aktuell sind Tibet und die Diskussion um Chinas Einfluss im Hochland aus den aktuellen Medien gerutscht. Doch Tibet und chinesische Smartphones ebenso wie WeChat bleiben ein Politikum. Insbesondere dann, wenn die Regierungen in Peking oder/und Washington Kommunikation und Informationsströme kontrollieren wollen. Achala und Tenzins Mutter wollen vor allem ihre familiäre Kommunikation aufrecht erhalten. „Sie diskutieren darüber, wie man mithilfe von Bildern in Kontakt bleibt – die sicherste Art des Austauschs, wenn die Kommunikation staatlich überwacht wird.“[10] Sie wollen sich weiterhin Bilder und Videos schicken.

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Die Gefahren der Digitalität wie staatliche Überwachung generieren zugleich neuartige kulturelle Praktiken. Ob sie sicherer sind, bleibt offen. Das Verschicken von Bildern funktioniert anders als die Sprache, die nach kriminalisierten Worten und Begriffen von Überwachungssoftware gefiltert wird. Tenzin Phutsongs Videoinstallationen erinnern zumindest daran, dass staatliche Willkür und autokratische Regulierungen durch die Digitalität umgangen werden können. Es können immer wieder neue Praktiken entstehen, die Freiräume schaffen und Austausch ermöglichen. Und dann flimmern Animationen von Buddha mit einem Lotusblütenregen über den Bildschirm. Auf einmal wird der durchaus düstere tibetische Buddhismus bunt und fröhlich.

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Die monumentalen Wasserfälle von Walid Raad in Schwarz-Weiß sind digital und Geschichte. Sie füllen die ganze Höhe der Betonhalle aus und donnern zu Boden. Doch die Videoinstallation ist „stumm“. Wenn man vor diesen brausenden hohen Wasserfällen steht, übt das visuelle Erlebnis eine derart suggestive Kraft aus, dass sich ein Brausen und Donnern einstellt. Es lässt sich selbst auf den Fotos hören und es wird auf dem spiegelnden Boden der Halle fortgesetzt. Geradezu winzig lassen sich dann auf den zweiten, dritten oder erst vierten Blick prominente Staatspersonen bzw. Fotopuppen am Fuße der Wasserfälle erkennen: Breschnew, Gorbatschow, Reagan, Thatcher, Mitterand.

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Im Hintergrund der Wasserfälle unter dem Titel Comerade leader, comerade leader, how nice to see you (2022) des New Yorker Künstlers und Kunstprofessors Walid Raad liegt das Rauschen der Sprache, der Namen und Geschichte des Libanons. Raad erklärt zu seiner Videoinstallation: „In den libanesischen Kriegen formierten sich viele Milizen – fast wie aus dem Nichts. Sie wurden von unterschiedlichen Gönner*innen unterstützt, sei es finanziell oder mit Waffen. Um ihre Förderer*innen zu ehren, entschlossen sich viele Milizen, die wunderschönen Wasserfälle des Libanons nach den Regierungsoberhäuptern der Länder zu benennen, die sie unterstützten. Und wenn sich diese Allianzen änderten, wurden die Wasserfälle ganz einfach umbenannt, wieder und wieder und wieder.“[11] Damit erinnert Walid Raad im Kriegsjahr 2022 nicht zuletzt an wechselnde Mythen oder Narrative, wie sie nicht nur in „den libanesischen Kriegen“ eingesetzt wurden.

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Das Visuelle ist politisch, wird machtpolitisch genutzt und wird durch Benennung territorial in Kriegen eingesetzt. Mao, Neru, Marcos etc. waren auch dabei. An dem lokalen, libanesischen Beispiel der mehrdeutig sogenannten „Flatterhaften Fälle“ wird eine territoriale Strategie sichtbar. Die Wasserfälle und ihre Benennung ist nicht flatterhafter als die Namens- und Sprachpolitik im russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Paradoxerweise wird in der Verteidigungs- ebenso wie einer vermeintlichen Friedenspolitik leidenschaftlich mit historischen und emotionalen Argumenten darüber gestritten, welche Gebiete und welche Orte einen russischen oder einen ukrainischen Namen haben sollen. Es geht immer um die Benennung als eine territoriale Besetzung. Was als eine marginale Installation zu den libanesischen Kriegen eingeführt wird, trifft eine entscheidende Praxis im Krieg. – Über An Atypical Orbit und die darin versammelten Installationen wäre nicht zuletzt mit schönen Fotos noch viel zu schreiben. Doch letztlich soll die Besprechung vor allem zum Besuch anregen.

Torsten Flüh

Berlinale
Forum Extended
An Atypical Orbit
Silent Green – Betonhalle
27.2.–3.3.: 14–19 Uhr
4.+5.3.: 11–21 Uhr
Tickets an der Tageskasse(!) oder über den Arsenal-Webshop    


[1] Siehe Torsten Flüh: Berlin Alexanderplatz auf der Hasenheide. Zu Burhan Qurbanis Berlin Alexanderplatz im Wettbewerb der Berlinale 2020. In: NIGHT OUT @ BERLIN 3. März 2020.

[2] Siehe Torsten Flüh: Ankreuzen, anstellen und dann beten. Berlinale 2012 und Directors Lounge. In: NIGHT OUT @ BERLIN Februar 11, 2012 00:01.

[3] LIMBO. In: 73. Berlinale Internationale Filmfestspiele Berlin (Hg.): Berlinale Programm. Berlin 2023, S 20. (Redaktionsschluss 01.02.2023)

[4] Siehe: Berlinale: Programm: Limbo.

[5] Silent Green: Programm: An Atypical Orbit – 18. Forum Expanded.

[6] Berlinale: Tenzin Phutsong: Dreams.

[7] Ebenda.

[8] Berlinale: Tenzin Phutsong: Summer Grass.

[9] Ebenda.

[10] Berlinale: Tenzin Phutsong: Achala.

[11] Berlinale: Walid Raad: Comerade leader, comerade leader, how nice to see you.

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