Information – Wissen – Wikipedia
Vom Kampf gegen die Desinformation
Zur Diskussionsveranstaltung Für freies Wissen – gegen Desinformation im Rahmen der 27. Mitgliederversammlung des Wikimedia Deutschland – Gesellschaft zur Förderung freien Wissens e.V.
Der Veranstaltungsort Amplifier im Amperium am Humboldthain war beziehungsreich für die Mitgliederversammlung des Trägervereins der digitalen Lexikon-Bewegung Wikipedia gewählt. Die Transformation des denkmalgeschützten ehemaligen AEG-Geländes mit Turbinenhalle, Hochspannungswerk und weiteren Gebäuden nach den Plänen von Peter Behrens hat als Amperium eine weitere Stufe erreicht. Die internationale Einheitsbezeichnung für die elektrische Stromstärke Ampere gibt einen Hinweis auf den Stromverbrauch beispielsweise eines Computers und des Internets in Kilowattstunden. Ein Amplifier ist schlechthin ein Verstärker des elektrischen Stroms. Wikipedia verstärkt gewissenmaßen Wissensprozesse weltweit. Im Hochspannungswerk grüßt Peter Behrens (German Architect, Painter, Designer and Typographer) als Graffiti:
WELCOME HOME – ALL YOU BLOGGERS, COWORKERS, CAPITALISTS & CREATIVES, TECHIES, DIGITAL NATIVES & IMMIGRANTS, DREAMERS & DOERS!
Am Vorabend der Mitgliederversammlung ging es in kleinerem Rahmen hybrid, wie es heißt, vor Ort und per Chat im Internet um Wikipedia als Informationsbasis und die Desinformation. Selten zuvor war das von den aktiven Mitgliedern des Vereins kompilierte Wissen politischer und begehrter als seit dem 24. Februar 2022. In Russland werden ganze Wikipedia-Seiten heruntergeladen, bevor der Zugang durch das Putin-Regime blockiert wird, wie der scheidende ehrenamtliche Vorsitzende des Präsidiums von Wikimedia Deutschland, Lukas Mezger, in der Gesprächsrunde mit Pia Lamberty und Irene Plank, moderiert durch Vera Linß, recht früh verriet. Gleichzeitig verbreiten Plattformen wie RT DE, also der deutschsprachige Sender Russia Today aus Moskau und Berlin, Desinformation über den Krieg Russlands in der Ukraine. Zugleich führt die Desinformation zur Diskreditierung der Information westlicher Medien. Laut einer Umfrage des von Pia Lamberty gegründeten gemeinnützigen Centers für Monitoring, Analyse und Strategie (Cemas) glaubt ein Drittel der Befragten, dass „die Berichte westlicher Medien nicht vertrauenswürdig“ sind.
Plötzlich rückt die gezielte Desinformation im Unterschied zur Information in den gesellschaftlichen und informationspolitischen Fokus. Das ist eine semantische Verschiebung gegenüber den Verschwörungstheorien, die ab März 2020 den Diskurs zum Virus Sars-Cov-2 und der Pandemie angriffen und Sinn stifteten.[1] Denkwürdig bleiben die Einlassungen des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, Donald Trump, vom 17. April 2020 zum Ursprung des Virus gegen alle verfügbaren wissenschaftlichen Standards.[2] Informationen stiften keinen Sinn. Erst die Kontextualisierung und die Bestimmung eines oder mehrerer Urheber machen Sinn. In Verschwörungstheorien wird „ein Bedürfnis wirksam, komplexe Zusammenhänge auf einfache Sinngebungen zu reduzieren, wodurch eine psychotische und kollektive Dynamik in Gang gesetzt wird, die eigenen Ängste und Versagungen auf unbekannte Kräfte und geheime Mächte zu projizieren“.[3] Desinformationen sollen dagegen die Verarbeitung von Informationen von vornherein beeinflussen, unterwandern, verfälschen, entwerten.
Im Oktober 2020 machte die Strategische Kommunikation des Auswärtigen Amtes von Irene Plank darauf aufmerksam, dass „Soziale Medien … reichweitenstarke Kraftzentren der digitalen Kommunikation“ seien, „die autoritäre Staaten wie China und Russland intensiv für ihre Propaganda und Desinformation“ nutzten. Die Strategische Kommunikation des Auswärtigen Amts trete „ihnen mit faktenbasierter Information entgegen“.[4] Denn die EU erlebte 2020 „rund um die Corona-Pandemie“ durch eine „Flut an Desinformationen“ den „ersten großen Belastungstest“ für das im März 2019 „zur Überwachung von Falschmeldungen auf der EU-Ebene“ Rapid Alert System (RAS).[5] Am 11. Oktober 2021 erklärte die Bundesregierung unter Angela Merkel auf „eine Kleine Anfrage der FDP“, dass RAS gegen Desinformation „dem gemeinsamen Austausch der EU-Institutionen und der EU-Mitgliedstaaten über eine verschlüsselte digitale Plattform“ diene.[6] Allerdings blieb dabei die Frage offen, ob Donald Trump in seinen psychotischen Reden selbst Desinformation produzierte und verbreitete oder er „nur“ russische Desinformation reproduzierte.
Das Auswärtige Amt musste im Zuge der Informationen um die Europäische Flüchtlingskrise 2015 feststellen, dass durch Desinformationen auf Sozialen Medien wie Facebook, Twitter und dem russischen Telegram die Grenzen zwischen Innen- und Außenpolitik durchlässig werden. Das hatte einen Paradigmenwechsel im Auswärtigen Amt zur Folge. Im Gespräch des Rahmenprogramms der Mitgliederversammlung von Wikimedia sagte Irene Plank, dass sie zum ersten Mal anlässlich der Flüchtlingsbewegungen mit dem Problem massiver ausländischer Desinformation konfrontiert worden sei. Eine „Neubestimmung als Bereich der Strategischen Kommunikation innerhalb der Abteilung für Kultur und Kommunikation war die Erkenntnis des sogenannten Review-Prozesses 2015“. Denn dieser hatte deutlich gemacht, „dass in der Außenpolitik die Grenzen zwischen Innen und Außen verschwimmen“ und die Bundesregierung deshalb ihre „Politik besser kommunizieren“ müsse.[7] Die Digitalisierung von Wissen durch Algorithmen hat zu einer größeren, schnelleren und grenzenlosen Verbreitung von Information wie auch von Desinformation geführt. Anders gesagt: die Ambiguität des Wissens ist gesteigert worden. Das muss eine Informationsgesellschaft entweder aushalten oder aktiv regulieren.
Desinformationen bedrohen und gefährden natürlich „das freie Wissen“ von Wikipedia – „Wir befreien Wissen“. Nichts muss Verschwörungstheoretikern und Desinformanten verlockender erscheinen, als ihre Narrative in den Lexikon-Artikeln von „Wikipedia – Die freie Enzyklopädie“ einzuspeisen.[8] Auf der Hauptseite steht unter „Themenportale“ und „Zufälliger Artikel“ gleich „Mitmachen“ in der Navigation. Wikipedia existiert durch das Mitmachen ehrenamtlicher Lexikon-Autor*innen – weltweit. Die Online-Enzyklopädie – „Wissen. Von Vielen. Für Alle.“ (Slogan auf dem Podium der Mitgliederversammlung) – generiert auf auch unsichere Weise das Wissen über die Welt von heute. Hochaktuell. Wissenschaftlich. Transparent. Wikipedia wird geglaubt. Mit dem Budget aus Beiträgen von mehr als 500.000 Mitgliedern und Spendern von Wikimedia Deutschland stärkt und ermöglicht der Verein weniger finanzstarke Wikipedia-Plattformen. Wikimedia funktioniert als ein Global Player im zirkulierenden Wissen der Welt. Die Suchmaschinen wie Google listen Wikimedia meistens an erster Stelle der Ergebnisse, wenn keine WERBUNG oder Eigenseite davor kommt. Der Google-Algorithmus weiß alles, kann es aber nicht immer einordnen.
Wikipedia ist eine durch und durch erstaunliche Wissensbewegung von ehrenamtlichen Autor*innen. Doch von den mehr als eine halbe Million Mitglieder in Deutschland ist nur ein Bruchteil als Autor*innen aktiv. Zugleich versteht sich die „Wikimedia-Bewegung“ als Sammlung von Werten, Projekten, Aktivitäten und Organisationen. Mit der Formulierung von Begriffen – wie Wikimedia-Bewegung – wird Wissen kompiliert, generiert und publiziert. Als umso erstaunlicher muss der Umstand bedacht werden, dass Wikipedia als Wissensinstanz durch die zunehmend verbreiteten Verschwörungstheorien und Desinformationen während der abflachenden Covid-19-Pandemie unbeschädigt blieb. Der Rahmen aus Werten wie Redefreiheit, Wissen für jeden, gemeinschaftliche Teilung und Equity als Steigerung von Equality, indem nämlich Menschen mit Einschränkungen bei der Überwindung von Barrieren geholfen wird, etc. und einem hohen Grad professioneller Institutionalisierung durch die Wikimedia Foundation und ihre „chapters“ schützt sich die Bewegung und ihr Wissen vor einsickernde Desinformation.
Im ABC des Freien Wissens, das am 19. März 2021 mitten im Lockdown mit dem Buchstaben Z „Zwanzig Jahre Wikipedia – Wohin steuert das 8. Weltwunder?“ unter Beteiligung des prominenten Bloggers Sascha Lobo und mit Grußwort des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier feierte, stand am 2. Oktober 2014 mit dem D nicht etwa die Desinformation zur Debatte im Salon, sondern der „Datenberg. Big Data – Datenschutz oder Datenschatz?“.[9] Der „Datenberg“ ist heute weitaus besser zu bewältigen als die Desinformation. Denn die Desinformation geht schneller Verbindungen mit dem Wissen des Subjekts ein, wozu Pia Lamberty als Sozialpsychologin am Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS) forscht. Sie gilt als Expertin für Verschwörungstheorien in einer empirisch ausgerichteten Sozialpsychologie und promoviert als externe Doktorandin an der Johannes Gutenberg Universität Mainz. Bereits in seiner Begrüßung verwies der Geschäftsführende Vorstand von Wikimedia Deutschland e.V., Christian Humborg, auf die Emotionalität als Faktor der Digitalität. Die Rationalität und Berechenbarkeit der Digitalität schließt Gefühle nicht aus, vielmehr werden sie hervorgerufen und verstärkt.
Die Emotionalität spielt nach Pia Lamberty eine wichtige, wenn nicht entscheidende Rolle bei der Akzeptanz von Verschwörungstheorien und Desinformationen, indem „der Verschwörungsglaube ein Bedürfnis nach Einzigartigkeit“ befriedige. „Das heißt, man kann sich darüber überhöhen und das Gefühl vermitteln, besonders zu sein, weil man über Geheimwissen verfügt, von dem der „naive“ Rest der Menschheit nichts weiß. Dieses Phänomen ist gut in den Sozialen Medien zu beobachten, wenn Verschwörungsideologen dort sehr lautstark und selbstbewusst ihre Thesen präsentieren.“[10] Die digitalen Sozialen Medien generierten insofern über die Sprache der Verschwörungstheorien ein emotionalisiertes Wissen, das sich als ein besseres aus der Passivität des allgemeinen Wissens heraus- und darüber emporhebt. Es ginge deshalb um eine Form von Wissensdruck, der sich einer digitalen Informationsflut entgegen zu stellen beansprucht, um eine „eigene“ Deutungsmacht zu gewinnen.
In welchem Verhältnis steht ein emotionaler Glaube an Verschwörungsnarrative zur Wahrnehmung des Angriffskriegs auf die Ukraine? Am 6. April 2022 verwies Pia Lamberty auf eine Studie von Cosmo, in der gefragt wurde, „inwiefern Menschen denn zum Beispiel glauben würden, dass der Krieg in der Ukraine nur der Ablenkung der Corona-Pandemie dienen würde.“[11] In dieser Studie wurde eine Korrelation zwischen Impfverweigerung und dem Krieg in der Ukraine aufgedeckt. „Bei Menschen, die mindestens einmal geimpft sind, waren das elf Prozent. Bei Menschen, die noch nicht geimpft sind, waren es 43 Prozent. Das ist schon ja fast die Hälfte eben derer, die nicht geimpft sind und damit auch eine größere Gruppe der Mobilisierung.“[12] Der eigene Körper als „Feld des Imaginären“, wie es Jacques Lacan einmal formuliert hat[13], spielte insofern für die Leugnung des Krieges eine prominente Rolle. Die Akzeptanz von Desinformation und ihre (digitale) Verkörperung in Sozialen Medien, die zugleich als Selbstperformanz gepostet wird, macht insofern kaum einen Unterschied beim Inhalt der Desinformation.
Lukas Mezger betonte im Gespräch mehrfach die Wissenschaftlichkeit als Standard von Wikipedia und den regulierenden Schwarm. Wie wird die Wissenschaftlichkeit als Form in den lexikographischen Artikeln von Wikipedia angewendet? Wie wird der Faktencheck praktiziert? Die Verfahren der Lexikographie haben eine gewisse Bandbreite und Elastizität, die sich insbesondere für das Wissen von Wikipedia in der Covid-19-Pandemie bewährt hat. Schnell wurde die Wissenserschütterung der Pandemie durch das Zitieren wissenschaftlicher Quellen und insbesondere durch die Statistiken und Erfahrungswissen stabilisiert. Die Generierung von Zahlen durch z.B. Umfragen lässt wie bei der Frage nach der Wirksamkeit von Desinformation in der Bevölkerung schnell Verhältnisse entstehen – ein Drittel der Befragten -, die strategisch bewertet werden können. Zahlenwerte generieren Fakten. Wenn sie dann von einer seriösen Quelle mit Orts- und Zeitangabe zitiert werden können, werden sie als wissenschaftlich akzeptiert. Die Wissenschaftlichkeit funktioniert wie es Friedrich Nietzsche einmal formuliert „sammelnd, ökonomisch, machinal“.[14]
Was macht der Schwarm mit der Lexikographie? Lukas Mezger als Vorsitzender des Präsidiums von Wikimedia Deutschland gebrauchte mehrfach den Begriff Schwarm als regulierende Kraft des Wissens auf Wikipedia. Damit knüpft er an die Rede und das Wissen von der Schwarmintelligenz an.[15] „Je größer der Schwarm, desto schneller wird Desinformation auf Wikipedia identifiziert und korrigiert“, sagte Mezger in etwa. Die Lexikographie von Wikimedia generiert sich insofern aus einem permanenten Schreib-Lese-Prozess vieler ehrenamtlicher Autor*innen, die vielleicht nicht immer mehr wissen, aber zusammen genauer und schneller, sagen wir, Wissenssprünge aufspüren und stufenweise korrigieren. Laut Wikimedia Deutschland „editieren (weltweit) mehr als 125.000 Freiwillige regelmäßig Wikipedia und ihre Schwesterprojekte“. Das unterscheidet Wikimedia dann doch vom RAS des Auswärtigen Amtes auf Europa-Ebene als Strategie gegen Desinformation. Während RAS Informationen der Bundesregierung strategisch verbreitet und verstärkt, generiert Wikimedia das Wissen auf Wikipedia durch einen permanenten Schreib-Lese-Prozess vieler Freiwilliger, der Schwarmintelligenz genannt wird.
Torsten Flüh
[1] Torsten Flüh: Fledermäuse, Pangoline, Labore und die Gattung Homo sapiens sapiens. Wie Verschwörungstheorien Sinn stiften und Narrative vom Patient Zero bis zur Artengrenze übertragen werden. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. April 2020.
[2] Ebenda.
[3] Ebenda.
[4] Auswärtiges Amt: Feature Strategische Kommunikation. Berlin: Auswärtiges Amt 10.2020. (PDF ohne Seitenzahl).
[5] Ebenda (S. 4).
[6] Rapid Alert System (RAS) gegen Desinformation. Auswärtiges/Antwort – 11.10.2021 (hib 1056/2021). In: Deutscher Bundestag (Hg.): Parlamentsnachrichten.
[7] Auswärtiges Amt: Feature … [wie Anm. 1].
[8] Wikipedia: Hauptseite.
[9] Wikimedia: Das ABC des freien Wissens.
[10] Zitiert nach: Hertie Stiftung: „Vorsicht, Verschwörungsglaube. Sozialpsychologin Pia Lamberty über Verschwörungstheorien und ihren Einfluss auf unsere Gesellschaft. Ohne Datum. (vermutlich vor dem 24. Februar 2022)
[11] Lea Utz: Warum Deutschlands Verschwörungsideologen Putin supporten – und wieso wir das nicht hinnehmen dürfen. In: BR Bayern 2 vom 06.04.2022.
[12] Ebenda.
[13] Jacques Lacan: Die Psychosen. In: ders.: Das Seminar von Jacques Lacan Buch III (1955-1956). Weinheim: Quadriga, 1997, S. 18. Siehe auch: Torsten Flüh: Das Phallus-Paradox der Homophobie. Zur Premiere von P for Pischevsky des HUNCHtheatre Belarus im HAU2. In: NIGHT OUT @ BERLIN 24. April 2022.
[14] Siehe zur Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit: Torsten Flüh: Nietzsches „intelligente Maschinen“. Zur Intelligenz und Maschine bei Nietzsche, dem Technikmuseum Berlin und dem Riesen-Dampfhammer. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. Juli 2019.
[15] Zur Schwarmintelligenz siehe: Torsten Flüh: BärCODE für die Berliner Luft. Zum Saisonabschlusskonzert der Berliner Philharmoniker in der Waldbühne. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. Juli 2021. Und: Schwärme und das Waldbühnen-Konzert, das nicht stattfand. Berliner Philharmoniker sagen ihr Waldbühnen-Konzert 2011 in letzter Minute ab. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juli 4, 2011 20:54.