Unfassbar traumhaft – Zu Yoko Tawadas grandiosem Celan-Roman

Lyrik – Paul Celan – Corona

Unfassbar traumhaft

Zu Yoko Tawadas grandiosem Celan-Roman Paul Celan und der chinesische Engel

Am 23. November 2020 wäre der Lyriker Paul Celan einhundert Jahre alt geworden. Ein Jahrestag. Yoko Tawada hat ihm ihren brandneuen Roman per Titel zum Geschenk gemacht. Das ist mehr als eine Widmung, wie sie literarisch häufig geübt wird. Der Roman Paul Celan und der chinesische Engel lässt sich nicht anders als ein fulminantes Literaturereignis beschreiben. Er wird als Geschichte eines Patrik in Berlin im Frühjahr 2020 erzählt und endet berührend schön auf dem Rücken eines Vogelkörpers. Patrik verehrt eine Sängerin und trifft Leo-Eric Fu im umgangssprachlich Corona-Lockdown genannten Ausnahmefrühling und will, dass, O-Ton Tawada, „die gerade angezündete Freundschaft nicht verlöscht“.[1] Anders gesagt: Yoko Tawada hat den Corona-Roman ganz aus Celans Lyrik geschrieben. Das wird ein Leseabenteuer und ein Liebesroman.

Es gibt keine Epidemie-Romane. Seit beginn der Covid-19-Pandemie in Europa und Deutschland treibt Literaturforscher die Frage um, warum es keine Romane z.B. von der Cholera-Epidemie um 1830 gibt.[2] Warum haben wir nie oder sehr verspätet einen Roman von der Spanischen Grippe gelesen? Albert Camus‘ La Peste verarbeitet ein Epidemie-Szenario, um es mit der Resistance erzählerisch zu verknüpfen.[3] Selbst ein anspruchsvollerer AIDS-Roman blieb in den 90er Jahren aus. Angels in America von Tony Kushner kam Anfang der 90er als Theaterstück im Off-OFF-Broadway raus und wurde 1993 von Werner Schroeter am Schauspielhaus Hamburg mit Aplomb inszeniert als „Schwule Variationen über gesellschaftliche Themen. Teil Eins: Die Jahrtausendwendenacht“.[4] Nun liegt eine Liebeserklärung vor der Dichterin an den Lyriker auf „dis-Tanz“ von hoher „Bei-Nähe“, wie es einmal Ginka Steinwachs formuliert hat.

Thomas Manns Zauberberg könnte eine Art Epidemie-Roman sein, insofern es sich bei der Tuberkulose um eine allerdings bakterielle Infektionskrankheit mit epidemischer Ausbreitung handelte. Sie hat in gewisser Weise sogar Ähnlichkeiten mit dem Krankheitsbild von Sars-Cov-2, weil es sich ebenfalls um eine Erkrankung der Lunge handelt, die über die Luft, also die Atemwege übertragen wird. „Eine Ansteckung erfolgt allerdings grundsätzlich nicht so leicht wie bei anderen über die Luft übertragbaren Krankheiten“, schreibt der RKI-Ratgeber.[5] Die relativ langsame Ausbreitung der Tuberkulose und ihr langfristiger Krankheitsverlauf (2-3 Jahre) generierten im 19. Jahrhundert eine regelrechte Straf- und Sanatoriumskultur, die zum wahrscheinlich ersten Mal 1848 von Alexandre Dumas dem Jüngeren in dem Paris-Roman La dame aux carmélias, Die Kameliendame, ausgebildet wurde. Alexandre Dumas schrieb den Roman 1852 um in ein Theaterstück, das in Paris als skandalös galt und außerordentlich erfolgreich wurde.

Giuseppe Verdi und Francesco Maria Piave transformierten den Drama gewordenen Roman 1853 in die Oper La Traviata. Die Vom-Wege-abgekommene, wie sich La Traviata aus dem Italienischen übersetzen lässt, also die Pariser Salonprostituierte Violetta Valéry stirbt inmitten der Gesellschaft, öffentlich an einem Hustenanfall, der ihre Tuberkulose-Erkrankung verrät. Die Oper führt so gesehen die Tuberkulose, die damit verbundene Atemnot und den Erstickungstod als ein Gesellschaftsereignis auf, das in ihrem Schlafzimmer auf der Bühne stattfindet. Hans Castorp richtet sich dagegen im Sanatorium in Thomas Manns Roman von 1924 behaglich mit einem „zweiten Frühstück“ ein, um ein europäisches Sitten- und Kulturgemälde des Niedergangs inklusive politischer Agitatoren zu entwerfen.
„»Ich bin ganz Ihrer Meinung«, sagte Peter. »Aber ich muss zugeben, was mich am meisten fasziniert hat – obwohl ich weiß, dass ich an all diese wichtigen Dinge denken sollte –, was mich am meisten fasziniert hat, war …«
»Das zweite Frühstück«, unterbrach ihn Holly.
»Genau!«, sagte Peter. »Ganz genau! Woher wussten Sie das?«
»Ach, kommen Sie«, sagte Holly. »Wer kann schon lesen, dass es in einem Sanatorium eine Mahlzeit gibt, die ›zweites Frühstück‹ heißt, und nicht denken, Tuberkulose hin oder her: Das klingt nach Paradies? Bei einem leichten Fall wie Hans? Das wäre es unbedingt wert.«
Zwei Köpfe, ein Gedanke! Peter wurde ein wenig schwindelig, aber er fuhr fort.“

Erst 1839 hatte Johann Lukas Schönlein das Krankheitsbild unter der Benennung von „Lungentuberkel“ beschrieben. Unter dem 5. Januar 1844 beschreibt Schönlein den Fall des Raschmachergesellen, Carl Wagner, der unterentwickelt und krank ist. Bei ihm findet er u.a., „dass (sich) in den obern Lappen beider Lungen (…) Tuberkeln gebildet haben, die aber noch im Zustande der Crudität“ sind.[6] Schönlein diagnostiziert „eine Correlation zwischen Diabetes und Tuberculose“. Für ihn wird die Tuberkulose noch nicht durch die Luft in die Atemwege übertragen, vielmehr geht er von einer „Nierentuberculose“, die über eine Diabetes, „sich später Tuberculose in den Lungen ausbilde“ aus.[7] Wagner wurde immerhin am 1. März aus der Charité-Klinik als geheilt entlassen.[8] Da weder der Tuberkulose-Erreger 1853 bekannt, noch eine erfolgreiche Therapie im Sanatorium in den Alpen wie im Zauberberg entwickelt worden war, sich Robert Kochs Impfstoff Tuberkulin später als wirkungslos erwiesen hatte, wurde die Krankheit moral-mythologisch hoch aufgeladen.

Woher kommt der Engel im Titel des Romans? Yoko Tawada gibt mit Paul Celan und der chinesische Engel einen Wink auf Engel in Amerika von Tony Kushner – und macht literarisch doch alles anders. Schließlich lebte Yoko Tawada 1993 in Hamburg und ging sicher auch ins Deutsche Schauspielhaus. Aber der Engel könnte ebenso woanders herkommen, weil es ein chinesischer ist. Das heißt aber nicht gleich, dass der Engel aus China kommt. Weil Parteichinesisch im Deutschen unter anderem eine Sprache oder Sprechweise benennt, die sich nicht gleich erschließt. 1967 schreibt Celan allerdings auch das erotische Gedicht Aus Engelsmaterie, das im Gedichtband Fadensonnen 1968 erschien.[9] Paul Celan ist im Roman die Hauptperson. Aber Paul Celan denkt, schreibt oder erzählt den Roman nicht.
„Aus Engelsmaterie, am Tag
der Beseelung, phallisch
vereint im Einen …“

Der Roman beginnt mit Patrik und handelt, wie man sagt, von ihm. Er durchlebt eine Krise. Zumindest schlägt es der Klappentext so vor: „Patrik soll einen Vortrag auf einer Celantagung in Paris halten, doch er hat Angst, möchte absagen, befindet sich in einer Krise.“[10] Allerdings erhält Patrik im Roman seinen Namen erst später. – „Der Patient heißt Patrik.“[11] – Auf 13 Seiten bleibt auf verstörende Weise offen, wie der Patient heißt. Es ist immer nur von dem Patienten die Rede, was mehr als eine stilistische Geste andeutet. Der Patient ist nichts weiter als „der Patient“. Im ersten Satz heißt, der, von dem erzählt wird, „Patient“:
„An jeder Kreuzung bereut der Patient, keinen Würfel dabei zu haben, der ihm die Entscheidung abnehmen könnte. Geradeaus gehen oder abbiegen?“[12]

Das ist ein bedenkenswerter Romanauftakt. Denn erstens wird mit dem Begriff „Patient“ als Name sofort auf eine Erkrankung angespielt, die nie benannt wird. Wir werden nicht zu wissen bekommen, ob überhaupt und woran „der Patient“ erkrankt ist. Patient wird man, wenn man zu einem Arzt geht und behandelt wird. Die Benennung als „der Patient“ macht Patrik – oder Paul – zu einem Leidenden oder Betroffenen nach dem Lateinischen Nomen Patiens. Zugleich wird Patiens in der Linguistik zu einem Satzglied, das die semantische Rolle desjenigen bezeichnet, der/die von einem Verb betroffen ist. Als Leser*innen wissen wir nicht, ob eingangs eine linguistische Figur beschrieben wird oder der Protagonist als Patient an einer Entscheidungsschwäche leidet. Ein „Würfel“ sollte helfen können, um nicht nur eine Wegrichtung zu finden, sondern überhaupt die Erzählung in Gang zu setzen. Weiterhin kann man von der Autorin Yoko Tawada wissen, dass sie selbst das Würfelspiel für das Dichten einsetzt. Für sie ist der „Würfel ein Zufallsplaner“ beim Dichten.[13]

Die Covid-19-Pandemie hat binnen weniger Wochen alle Menschen zu Patienten gemacht, womit eine weitere Leseebene des ersten Romansatzes vorgeschlagen wird. Plötzlich wurde in der zweiten März-Hälfte von „Risikogruppen“ gesprochen. Menschen über 50 Jahre und solche mit „Vorerkrankungen“ wurden den „Risikogruppen“ zugerechnet, um sie einerseits besonders zu schützen, andererseits allerdings zu „Patienten“ zu machen. Insofern ist der Begriff „Patient“ als Benennung des Hauptakteurs nicht zufällig, obschon ein Zufallsszenario mit dem ersten Satz aufgerufen wird. Nicht zuletzt Paul Celan als „Patient“, eines am Überleben der שׁוֹאָה/Shoa leidenden, klingt in dem ersten Satz an. Doch Celan wurde auch durch wiederholte Aufenthalte in der Psychiatrie der Pariser Universitätsklinik, der Salpêtière, zum Patienten gemacht. Auf diese Weise verdichtet sich „der Patient“ zu einem vieldeutigen Akteur im Roman, bevor er sich in der Erzählung des Celan-Experten Patrick, sagen wir ruhig, konkretisiert. Unterdessen hat Yoko Tawada bei ihrer Celan-Lektüre das vieldeutige Wort Corona gefunden.
„Corona

Aus der Hand frißt der Herbst mir sein Blatt: wir sind Freunde.
Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehn:
die Zeit kehrt zurück in die Schale.
Im Spiegel ist Sonntag,
im Traum wird geschlafen,
der Mund redet wahr.

Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten:
wir sehen uns an,
wir sagen uns Dunkles,
wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis,
wir schlafen wie Wein in den Muscheln,
wie das Meer im Blutstrahl des Mondes.

Wir stehen umschlungen im Fenster, sie sehen uns zu von der Straße:
es ist Zeit, daß man weiß!
Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt,
daß der Unrast ein Herz schlägt.
Es ist Zeit, daß es Zeit wird.

Es ist Zeit.“[16]

Man kann, ein zwar heute übliches, doch gespenstisches Internetphänomen, Paul Celan jederzeit Corona lesen hören. Auf Lyrikline.org wird eine Lesung von 1963 im Hessischen Rundfunk hörbar gemacht. Paul Celan liest mit jenem eigenen Rhythmus, der mehrere Zeiten überschneiden lässt. So gehört Alles hat seine Zeit des Predigers Salomo im Tanach[17] ebenso zum Geflecht des Gedichtes wie eine Affäre mit Ingeborg Bachmann und das Gedenken an die Shoa. Es ist denn auch שְׁלֹמֹה/Salomo, der mit dem erotischen Hohenlied als Autor in Verbindung gebracht wird. Anders gesagt: Paul Celan praktiziert in seinem Gedicht und in der Weise wie er es liest, indem er in der dritten Strophe sein Lesetempo ekstatisch beschleunigt, eine Überschneidung mehrerer Bedeutungsebenen. Gleichzeit markiert das Gedicht mit Veröffentlichung, 1952, und Lesung, 1963, eine historische Zeit, in der die deutschen Leser wie besessen gegen das „Gedächtnis“ arbeiteten. Sie wollten alles, nur nicht sich an den Holocaust erinnern müssen.

Corona bezeichnet nicht zuletzt einen Kranz oder eine Krone um die Sonne herum. – Eine Straßenlaterne in der Dunkelheit zeigt auf einem Foto auch eine Corona. – Neigt der aktuelle Leser aus seinem übermächtigen Corona-Wissen heraus, diese nur als Virus-Art und Epidemie zu verstehen, so muss doch allein bei Paul Celans Gedicht Corona, darauf hingewiesen werden, dass dem Begriff eine besonders große Bedeutungsvielfalt eigen ist. Es könnte nicht nur eine Bekrönung der Geliebten oder ein Kranz um „das Geschlecht der Geliebten“ betreffen, sondern ebenso eine Corona um die verdunkelte Sonne. Zwischen Naturereignis, Erotikbeschreibung und Zeitpunkt in einer Mehrzeitigkeit lässt das Gedicht viele Bedeutungen offen. Paul Celan und der chinesische Engel verdankt sich vor allem der intensiven Werk-Lektüre durch Yoko Tawada. Gegen Schluss bringt Leo-Eric Fu Celans Kompositum Fadensonnen mit „Korona“ in Verbindung.[18] Wir wissen nicht, was Fadensonnen sind, weil es ein Wort der Lyrik Celans ist. Doch um das Kompositum hat sich eine strahlende Corona gebildet.

Die Wahrnehmung kann ebenso durch eine Corona beeinflusst werden. In der medizinischen Diagnostik wird der Begriff Corona indessen aktuell vollständig von Sars-Cov-2 abgedeckt. Für eine Seh- und Wahrnehmungsstörung bei einer starken Migräne wurden zeitweilig Aura und Corona synonym benutzt. Denn im Lateinischen heißt corona vor allem Krümmung. So sollen sich einige Darstellungen in der Bildenden Kunst nach einigen Wissenschaftlern und Kognitionsforschern wie bei Van Goghs Sternennacht durch eine migränebedingte Aura oder Corona bedingt sein. Patricks Wahrnehmung wird von Yoko Tawada allerdings allein poetologisch verschoben. „Hinter den Schulterblättern“ der Kellnerin tut sich im Roman vieldeutig eine ganze Tuberkulose-Erzählung, La Traviata auf:
„Genervt von dieser Antwort, kehrt die Kellnerin ihm den Rücken zu. Hinter den Schulterblättern der Kellnerin ist eine Flügeltür zu sehen. Hinter der Tür findet eine prächtige Feier statt. (…) Es ist Paris. (…) Violetta will ihnen folgen. Plötzlich ergreift ein teuflischer Hustenanfall ihre Brust. Sie kauert sich zusammen und rutscht in eine dunkle Sphäre, wo kein Scheinwerfer sie mehr erreicht.“[19]   

Der Roman beginnt im Lockdown. Doch Tawada beschreibt ihn nicht, vielmehr triggert sie in der Eröffnungssequenz nicht nur mit der geschlossenen Staatsbibliothek die Erinnerung an den Bewegungsrahmen während dieser Zeit. Das ist höchst kunstvoll formuliert, so dass man leicht überlesen kann, in welcher Situation „der Patient“ auf die Straße geht. Er hat keine große Auswahl zwischen rechts und links. Zwar gibt es im Café „Kaffeetrinkende() und erntet ihre Gesichter wie goldene Ähren“, aber damit werden die Gesichter als „goldene Ähren“ derart aufge- und überbewertet, dass sie vielmehr den Wunsch nach eben diesen gerade nicht vorhandenen Gesichtern unterstreicht. Und der Besuch im Supermarkt galt im März April auch ohne einer „Kassiererin mit bösem Blick“ als lebensgefährlich:
„Wenn er nach rechts gehen würde, würde bald ein kleiner Supermarkt erscheinen, in dem eine Kassiererin mit bösem Blick und eine zweite mit barmherzigen Augen arbeiten. Wer von den beiden wird ihm das Geld nehmen? Betreten eines Supermarktes ist russisches Roulette.“[20]

Indem Yoko Tawada Patrik als Nachwuchswissenschaftler für Paul Celans Fadensonnen konzipiert hat, wird es ihr möglich, den Roman als Celan-Poetologie zu schreiben. Wie hat Paul Celan seine Gedichte geschrieben? Wie hat er mit Worten und Zahlen gearbeitet? Woher kommen Celans Anatomiekenntnisse mit so merkwürdigen Begriffen wie Lippen, Schwellgewebe oder „Kleinhirnwurm“? Für diese wissenschaftlichen Fragen taucht der „transtibetanische“ Leo-Eric Fu, der vorgibt, im chinesischen Kulturinstitut zu arbeiten, plötzlich auf. Doch dieser „chinesische Engel“ oder „Vogel“ wird nicht durch seine Funktion im Chinesischen Kulturinstitut, das natürlich auch geschlossen ist – und war –, zum Motor der Geschichte, vielmehr kannte sein Großvater in Paris Paul Celan persönlich und so gut, dass er sich in einem Schlüsselbuch für Fadensonnen die Worte angestrichen hat, die Celan in seinem Exemplar „markiert“ hatte.
„Leo-Eric schließt das Buch und überreicht es dem Freund. Der Körper des Menschen. Einführung in den Bau und Funktion. Das Buch ist beim angesehenen Wissenschaftsverlag Georg Thieme erschienen. Patrik wirft einen flüchtigen Blick auf das Impressum und das Vorwort. (…)
»Das ist nicht das Original. Mein Großvater hat sich dasselbe Buch gekauft und die Stellen markiert, die Celan in seinem Buch markiert hat. Zum Beispiel hier. Celan hat das Wort Aortabogen unterstrichen. Deshalb hat mein Großvater das Wort genauso unterstrichen.«
»Hat er Celans Lesespuren übertragen?«“[21]

Ich denke mir die Dichterin bei einer sehr ähnlichen Lese-Schreib-Arbeit. Viele Wörter wie „Hirnstamm und Hirnmantel[22] oder eben Fadensonnen sind im Roman kursiv gesetzt. Yoko Tawda wird sich die Wörter in den Gedichten „markiert“ haben, um sie dann nicht nur in ihrem Roman zu verwenden, vielmehr daraus recht eigentlich den Roman zu generieren. Für Celan-Entdecker*innen als Leser*innen ist das ein ebenso spannendes wie amüsantes Erzählverfahren. Für Celan-Expert*innen wird der Roman zu einem geistreichen Spiel mit Celans Textmaterial. So geht das „Wort köpfeln (…) dem Patienten nicht mehr aus dem Kopf, ertönt alle drei Sekunden in voller Lautstärke und lässt ihn nicht in Ruhe“. „Der Patient“ denkt zunächst, dass das Wort „besser in Celans Umwegkarten bleiben“ sollte, weil „außerhalb des Gedichts (…) kaum jemand das Wort köpfeln“ brauche.[23] Doch schon wenig später hat sich „der Patient“ in ein „Ich“ transformiert, das das Wort gebraucht.
„Bevor ich damit (einem OP-Messer, T.F.) jemanden verletze, muss ich ins kalte Wasser springen, das mich zur Vernunft bringt. Ich verwandle mich in einen Wal und köpfle.“[24]

Der Roman lässt sich schließlich als eine Kritik der Celan-Forschung lesen. Zu den Forschungsfragen gehört die nach der Lyrik. Und dafür lässt Yoko Tawada ihren Patrik „weder Esoterik noch Verschwörungstheorien“ verwenden wollen, „er wollte etwas, was er als Mystik bezeichnete. So kam er zur Lyrik.“[25] Die Lyrik kommt im Roman nicht zuletzt als Liebe zur Musik, zum Gesang vor. Daraus wird ein ganzes, wiederkehrendes Motiv im Roman. Doch was heißt dann Lyrik, wenn Patrik „(i)rgendwann (…) aufhören (wollte) zu zählen, sich vom Gitter der zählbaren Buchstaben befreien und abends tanzen gehen“ will.[26] Lyrik, wie von ihr in Paul Celan und der chinesische Engel erzählt wird, wäre dann eine Verdichtung der Sprache, damit die Wörter leicht werden und zu tanzen beginnen.

Torsten Flüh

PS: Die Fotos wurden am 11. November 2020 nach 21:15 Uhr aufgenommen. Seit dem 2. November hat der zweite Lockdown die Schließung von Kultureinrichtungen wie dem Literaturforum im Brecht-Haus, der Ausstellung „Stageless“ im Friedrichstadt Palast, der Staatsoper Unter den Linden, der Komischen Oper, der Humboldt-Universität zu Berlin, der Akademie der Künste etc. und der Gastronomie wie den Restaurants am Schiffbauerdamm und der Hotelerie wie dem Hotel de Rome am Bebelplatz oder selbst dem Adlon erfordert. Insofern zeigen die Fotos ein Trauma in einer inadäquaten Form. Was schön aussieht, zeigt eine Tragödie. Gleichzeitig wird auf Werbeflächen an Bus- und Tram-Haltestellen vom Bundesministerium für Gesundheit für die AHA Formel – Abstand, Hygiene, Alltagsmaske – und Zusammen gegen Corona geworben.

Yoko Tawada
Paul Celan und der chinesische Engel
144 Seiten, einige farbige Bilder,
Fadenheftung, Klappenbroschur
ISBN 978-3-88769-278-0
12,90 €


[1] Yoko Tawada: Paul Celan und der chinesische Engel. Tübingen: Konkursbuch, 2020, S. 129.

[2] Siehe: Torsten Flüh: Verpassen des Traumas. Zum Verhältnis von Literaturen und Epidemien in Geschichte, Roman und Drama. In: NIGHT OUT @ BERLIN 20. Juni 2020.

[3] Siehe: Torsten Flüh: Der Geist der Zahl. Über Zahlen in Zeiten der Pandemie und im Roman Die Pest von Albert Camus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. April 2020.

[4] Siehe: Helmut Karasek: Erfolgreiche Lust am Untergang. In: Der Spiegel 22.11.1993.

[5] Robert-Koch-Institut: RKI-Ratgeber: Tuberkulose vom 21.02.2013.

[6] Ludwig Güterbock (Hg.): Schoenlein’s klinische Vorträge in dem Charité-Krankenhause in Berlin. Berlin: Veit, 1843, S. 395.

[7] Ebenda S. 396.

[8] Ebenda S. 406.

[9] Paul Celan: Fadensonnen. Vorstufen – Textgenese – Endfassung. In: Paul Celan: Werke. (Herausgegeben von Jürgen Wertheimer.) Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000, S. 161.

[10] Yoko Tawada: Paul … [wie Anm. 1] Rückseite.

[11] Ebenda S. 20.

[12] Ebenda S. 7.

[13] Torsten Flüh: „Ich lasse mich gerne atmen durch eine andere Sprache“. Yoko Tawada liest neue „Überseezungen“ mit Naomi Sato an der 笙 (shō) im Haus für Poesie. In: NIGHT OUT @ Berlin Februar 18, 2018 23:05.

[14] Yoko Tawada: Paul … [wie Anm. 1] S. 103.

[15] Ebenda S. 48.

[16] Lyrikline listen to the poet: Paul Celan: Corona Hessischer Rundfunk 1963.

[17] Prediger 3, 14: 31 Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: 2 Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; 3 töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit; 4 weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit; 5 Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit; herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit; 6 suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit; 7 zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit; 8 lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit. In: Lutherbibel 2017.

[18] Yoko Tawada: Paul … [wie Anm. 1] S. 139.

[19] Ebenda S. 30-31.

[20] Ebenda S. 8.

[21] Ebenda S. 99.

[22] Ebenda S. 98.

[23] Ebenda S. 117.

[24] Ebenda S. 118-119.

[25] Ebenda S. 121.

[26] Ebenda S. 122.

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