Geist – Archäologie – Geschichte
Sputnik 5 und Hegels Weltgeist
Georg Wilhelm Friedrich Hegel zum 250. Geburtstag und die Wiederkehr des Sputniks
Die Antikensammlung der Kunsthalle Kiel ist als Lehrsammlung der Christian-Albrechts-Universität durch Peter Wilhelm Forchhammer diskret mit Hegels Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie verknüpft. Er beförderte eine Materialisierung der philosophischen Literatur, indem er als Altphilologe die griechische Literatur las und an den archäologischen Fundstücken das Wissen von der Antike materialisiert fand. Nachdem 1833 Hegels Vorlesungen postum herausgegeben worden waren, bahnte sich ein neuartiges Wissen von der Geschichtlichkeit überhaupt und der der Philosophie seinen Weg in der Lehre. Forchhammer gehört zu den Ersten, die nach Athen reisten und 1837 in Hellenika – Griechenland – Im Neuen das Alte geo-graphisch wie geo-logisch erforschten: „Der Charakter der gesammten Formation Griechenlands, die größte Mannigfaltigkeit auf dem kleinsten Raum, schließt, wie einen Nachhall des Entstehens der festgewordenen Massen, den Charakter ursprünglicher Bewegung in sich.“[1]
Das Geschichtswissen kehrt als ein ebenso kausales wie komisches visuell und geschichtlich mit dem Namen Sputnik 5 in der aktuellen Covid-19-Pandemie wieder. Die fatale Geschichtslosigkeit von Sars-Cov-2, das plötzliche Auftauchen eines neuartigen, sich rasend schnell in der Welt verbreitenden, teilweise tödlichen Virus wird in eine post-sowjetische Erfolgsgeschichte verwandelt. Im Wettlauf um den ersten wirksamen Impfstoff beruft sich ein russisches Investment-Unternehmen auf das Narrativ der sowjetischen Raumfahrt von 1957. Die Heilsgeschichte greift weit zurück, liefert eine animierte Aktualisierung und verspricht als Nachhall einstiger, imperialer Größe die Lösung eines globalen Problems. Ob die Testreihen bereits erfolgreich waren, mag dahin gestellt bleiben. Der Glaube an die vielversprechende Wirkung eines Geschichtswissens wird medial mit allen Möglichkeiten gefördert. Sputnik 5 könnte sich als ebenso machtvoll wie ohnmächtig erweisen.
In meiner Besprechung kombiniere ich zwei aktuelle Ereignisse, die ein geschichtliches Wissen auf besondere Weise entwickeln, verarbeiten und zur Darstellung bringen. Einerseits geht es um den 250. Geburtstag von Georg Wilhelm Friedrich Hegel, auf den das Genre der Autobiographie und das des Feuilletons mehr oder weniger glücklich reagieren. Dafür wird ein geschichtliches Wissen in Anschlag gebracht. Andererseits geht es um eine gespenstische Wiederkehr eines Geschichtswissens, das in seiner Verkopplung mit einem Vorwissen in Deutschland schnell als lächerlich wahrgenommen worden ist. Am 11. August 2020 wurde in den Hauptnachrichtensendungen von ARD und ZDF über die Zulassung des ersten Impfstoffes gegen Sars-Cov-2 weltweit durch die Russische Föderation mit Unterstützung Vladimir Putins höchst persönlich berichtet.[2] An der Grenze zur Verschwörungstheorie wurde die russische Erfolgsmeldung sofort mit dem allgemein verbreiteten „Corona-Wissen“ überprüft und verworfen.
Thomas Assheuer hat sich im Feuilleton der ZEIT mit dem Hegelschen Weltgeist beschäftigt: „Was macht der Weltgeist?“ Er erklärt den Weltgeist, als verstehe er sich fast von selbst: „Denken verändert das Handeln, und irgendwann, nach Jahrtausenden seiner Wanderschaft, erreicht der Geist als »Weltgeist« sein Ziel: die Verwirklichung von Vernunft und Freiheit.“[3] Der Philosoph Lutz von Werder hielt im Februar 2020 ein Philosophisches Café im Literaturhaus Berlin ab und sprach ebenfalls über Geist und Weltgeist. Er meinte gar, dass der Weltgeist sich heute im Internet befände. Doch ist der Geist, wenn Hegel davon schreibt, mit einem positiven Wissen gleichzusetzen? Wirkt der Weltgeist in seiner ganzen Widersprüchlichkeit im World Wide Web als schwankendes Wissen, das eben keinesfalls von „Vernunft und Freiheit“ bestimmt wird? Wissen und Geist dienen Hegel nicht zuletzt in seiner Einführung zur Geschichte der Philosophie als Abgrenzung gegen andere Geschichten:
„Denn bei Gedanken, besonders bei spekulativen, heißt Verstehen ganz etwas Anderes als nur den grammatischen Sinn der Worte fassen und sie in sich zwar hinein, aber nur bis in die Region des Vorstellens aufnehmen. Man kann daher eine Kenntnis von den Behauptungen, Sätzen oder, wenn man will, von den Meinungen der Philosophen besitzen, sich mit den Gründen und Ausführungen solcher Meinungen viel zu thun gemacht haben, — nämlich das Verstehen der Sätze. Es fehlt daher darum nicht an bändereichen, wenn man will, gelehrten, Geschichten der Philosophie, welchen die Erkenntnis des Stoffes selbst, mit welchem sie sich so viel zu thun gemacht haben, abgeht. Die Verfasser solcher Geschichten lassen sich mit Thieren vergleichen, welche alle Töne einer Musik mit durchgehört haben, an deren Sinn aber das Eine, die Harmonie dieser Töne, nicht gekommen ist.“[4]
Hegel polemisiert entschieden gegen „Verfasser solcher Geschichten“, die „nur den grammatischen Sinn der Worte fassen“, während Grammatik im Form der Semantik im zum Semantic Web erweiterten World Wide Web für die Lesbarkeit von Suchmaschinen heute alles ist. Die Künstliche Intelligenz besteht sozusagen aus Semantik und nicht aus „Gedanken“. Doch bei Hegel sind die Gedanken das, was den Menschen vom Tier unterscheidet. Hegel will mehr Geschichte oder verspricht zumindest mehr davon, wenn wir einmal die postume Herausgabe der zum Großteil mündlichen Vorlesungen durch Karl Ludwig Michelet als „Geschichte der Philosophie“ gelten lassen wollen. Die Mündlichkeit der Vorlesungen und die „Zusätze“[5] am Rand, die Michelet bei der Herausgabe normalisiert, geben einen Wink auf die flüchtige Prozessualität der Vorlesungen, wenn Hegel „eine reiche Sammlung von Kollektaneen, Exzerpten aus englischen und französischen Werken über den Orient überhaupt, von der die betreffenden, mit kurzen Randnotizen versehen, auf das Katheder genommen, um frei aus ihnen vorzutragen, Theils unmittelbar mündlich sie übersetzend, Theils einstreuend seine Bemerkungen und Urtheile“.[6] Eine gewisse Flüchtigkeit wird bei allen individuellen Kollektaneen, Manuskripten, Heften und Sammlungen für Hegels Vorlesungen konstitutiv gewesen sein.
Die Flüchtigkeit verläuft gerade nicht nach dem „grammatischen Sinn“. Denn dieser stellt sich nicht nur nach den Regeln der Grammatik her, er lässt sich auch lesen und verstehen. Doch genau dadurch hat das grammatische Verstehen bei Hegel eine entwertende Funktion, insbesondere für das Wissensformat der Geschichte. Ob der Geist als „Weltgeist“ überhaupt jemals an ein Ende kommen wird, sich eben nicht durch Suchanfragen auf Suchmaschinen enthüllen lässt, kann als eher unwahrscheinlich gedacht werden. Denn Stillstand und Festlegung werden in der Geschichte der Philosophie einleitend eher ausgeschlossen oder als negatives Beispiel formuliert. Als Negativbeispiel führt Hegel ausgerechnet China als „Nation“ an, das noch im 17. und 18. Jahrhundert für die europäische Philosophie z.B. bei Leibniz als anregend gegolten hatte.
„Bei einer einzelnen Nation mag es wohl der Fall seyn, daß ihre Bildung, Kunst, Wissenschaft, – ihr geistiges Vermögen überhaupt statarisch wird; wie dieß etwa bei den Chinesen z. B. der Fall zu seyn scheint, die vor zweitausend Jahren in allem so weit mögen gewesen seyn, als jetzt. Der Geist der Welt aber versinkt nicht in diese gleichgültige Ruhe. Es beruht dieß auf seinem einfachen Begriff. Sein Leben ist That. Die That hat einen vorhandenen Stoff zu ihrer Voraussetzung, auf welchen sie gerichtet ist, und den sie nicht etwa bloß vermehrt, durch hinzugefügtes Material verbreitert, sondern wesentlich bearbeitet und umbildet.“[7]
„Der Geist der Welt“ ruht nicht, vielmehr lebt er als „That“ und Tun, womit die Aufmerksamkeit auf ihn als permanente Aktivität gelenkt wird. Diese Aktivität des Geistes beschreibt Hegel als ein Vermehren, Verbreitern, Bearbeiten und Umbilden. Hinsichtlich der Frage nach der Geschichte, der Hegel in seiner Einleitung außerordentlich viel Beachtung schenkt, zieht der Weltgeist selbst seine Bahn. Doch Peter Wilhelm Forchhammer in Kiel will die Flüchtigkeit des Weltgeistes durch seine Aktivität nicht gelten lassen. Deshalb knüpft er an ein anderes als das philosophische und geschichtliche Wissen an, das um 1800 für den Menschen wichtig wird. Es sind dies die Geowissenschaften als Geografie und mehr noch die Geo-logie, an der sich Zeitalter des Lebens auf der Erde ablesen lassen, wie es Alexander von Humboldt und Christian Gottfried Ehrenberg an der Geologie der Platovskischen Steppe während ihrer Russland Reise 1829 erforscht haben.[8] Forchhammers älterer Bruder Johann Georg machte sich in den 1830er Jahren einen Namen als Geologe an der Seeakademie in Kopenhagen. Peter Wilhelm Forchhammer befindet sich 1837 an einer Schnittstelle des Wissenstransfers, an der sich Altphilologie und Geologie auf neuartige Weise überschneiden, um die moderne Archäologie zu begründen. Dieser Überschneidung verdankt die Antikensammlung der Christian-Albrechts-Universität, die später in eine Kunsthalle transformiert worden ist, ihren Aufbau. In Apollons Ankunft in Delphi: Eine archäolog. Abhandlung formuliert Forchhammer 1840 sein neuartiges Verständnis der Archäologie von einer „Erklärung der Mythologie“ her.
„Ich werde das vorliegende Bildwerk benutzen, um von solcher Lösung ein Beispiel zu geben, indem ich den bisher unerklärten Mythos v o n d e r B e s i t z n a h m e d e s D e l p h i s c h e n O r a k e l s durch Apollon erkläre. Und sofern der Theil zugleich das Ganze ist, soll diese Erklärung des Delphischen Mythos zugleich eine Erklärung der Mythologie, sofern sie ein Ganzes ist, enthalten.“[9]
Forchhammer formuliert seine neuartige Archäologie mit einem Nachhall der Hegelschen Rede vom Geist und Geist der nunmehr griechischen Welt, ohne Hegel namentlich zu zitieren. Stattdessen ist das schmale Heft die Niederschrift eines Vortrages an Winckelmanns Geburtstag, dem 9. Dezember 1840, in der „Akademischen Aula zu Kiel“. „Schriftwerke“, „Bildwerke“ und der „Mythos“ als „Vorstellung“ wirken aufeinander ein, um den „unerklärten Mythos“ zu verstehen.
„Ich habe in … (Hellenika, T. F.) durch eine Menge Mythen und durch eine ins Einzelnste gehende Erklärung derselben nachgewiesen: dass die Götter der Griechischen Religion geistige Wesen sind, welche sich in der körperlichen Natur offenbaren, und namentlich in den Theilen der Natur, welche sich b e w e g e n und sich verändern, dass j e d e H a n d l u n g d i e s e r G e i s t e r e i n e r B e w e g u n g d e r m a t e r i e l l e n N a t u r e n t s p r e c h e, d a s s w i e d i e B e w e g u n g i n d e r N a t u r j e d e s J a h r ( u n d z u m T h e i l j e d e n T a g) erneuert, so die ganze Göttergeschichte sich in demselben Zeitraum wiederholt; dass daher bald der eine Gott, bald der andere an einem Ort gegenwärtig ist, bald der Gott des Regens, bald die Göttin der heiteren Luft, bald die Göttin der Wolken, bald der Gott der Sonne, bald der Gott der Erdbewässerung, bald der Gott der Entwässerung; dass jedem Gott im Jahrescyclus sein Fest, sein c y c l i s c h e s Fest zu der Zeit gefeiert wurde, wann er durch sein Erscheinen in der materiellen Natur sich gegenwärtig zeigte, …“[10]
Der Zug der Materialisierung des Geistigen und der Geister in der Natur sticht in Forchhammers Archäologie ausgerechnet mit dem Bild auf der Rückseite eines etruskischen Spiegels hervor. Man könnte sagen, dass er der Archäologie und Phänomenologie den Spiegel vorhält. In das Jahr der Rede fallen seine ersten Bemühungen, in der ausgebrannten Kapelle des Kieler Schlosses eine Antikensammlung einzurichten. Was gleichsam als praktische Lösung in der Nähe der (alten) Kieler Universität erscheint und so weiterhin kolportiert wird, ist zugleich eine, sagen wir, geistige Umwidmung. Wo der christliche Gott gefeiert wurde, wird ab 1841 die Altphilologie als Wissenschaft materiell mit der Antikensammlung gefeiert. Forchhammer ist nicht einfach Materialist, vielmehr geht es ihm um die Materialisierung des Geistigen als Wissensoperation. Der „Geist belebt“ alles und macht sich alles „unterthan“.
„Die Religion der Griechen ist weder Naturlehre noch Moralphilosophie noch Psychologie, aber sie ist alles dies zugleich und ausserdem ist sie hauptsächlich R e l i g i o n. Sie ist die Religion des Weltalls, der Natur als Offenbarung des Geistes. Ihr ist nirgends ein kleinstes Bruchstück von Natur, kein Tropfen und kein Sandkorn, der nicht von Geist belebt, und ihm unterthan ist.“[11]
Für die Geschichte der Philosophie von Hegel war Perikles eine entscheidende Figur geworden. Da es Forchhammer weniger um eine Philosophie der Individualität im Staat geht, nimmt Perikles in seinen Schriften keine vergleichbare Funktion ein. Doch Hegel diskutiert und konstruiert um Perikles eine Geschichte des Staates und der Individualität. Perikles findet sich nicht zuletzt deshalb mehrfach in der Kieler Antikensammlung. Obwohl Perikles kein Philosoph war, wird ihm in Athen als idealen Staat eine herausragende Funktion für die Geschichte der Philosophie zuteil. Perikles geht nach Hegel in der Funktion des Staates auf, indem er „nie gelacht“ habe.
„In diesem edlen, freien, gebildeten Volke der Erste des Staats zu sein, – dies Glück wurde Perikles, und dieser Umstand erhebt ihn in der Schätzung der Individualität so hoch, wie wenige Menschen gesetzt werden können. Von allem, was groß unter den Menschen ist, ist die Herrschaft über den Willen der Menschen, die einen Willen haben, das Größte, denn diese herrschende Individualität muß wie die allgemeinste, so die lebendigste sein, – ein Los für Sterbliche, wie es wenige oder keins mehr gibt. Die Größe seiner Individualität war ebenso tief als durchgebildet, ebenso ernst (er hat nie gelacht) als energisch und ruhig; Athen hatte ihn den ganzen Tag.“[12]
Perikles wird bei Hegel zu einer Chiffre für das Problem der Individualität. Denn einerseits wird Perikles durch seine Individualität zum „Erste(n) des Staates“, andererseits zeichnet ihn die Position als „Erste(r) des Staates“ in seiner Individualität allererst aus. Die Individualität des Perikles erzählt Hegel als eine Ungeteiltheit, lat. individuum als Verneinung mit dem Präfix in zum lateinischen Verb dividere, ein Ganzes in Teile zerlegen, vom Staat. Perikles geht insofern ganz im Staat auf. Oder: „Athen hatte ihn den ganzen Tag“. Doch dann gibt es für Perikles in seiner Individualität nichts anderes mehr als Athen. Hegel zitiert keine Reden des Perikles, vielmehr wird er für ihn zu einem „Schwebepunkt“ nicht zuletzt in der Ununterscheidbarkeit von „herrschender Individualität“ und Gemeinwesen.
„Von Perikles sind uns bei Thukydides einige Reden an das Volk erhalten, denen es wohl wenige Werke an die Seite zu setzen gibt. Unter Perikles findet sich die höchste Ausbildung des sittlichen Gemeinwesens, der Schwebepunkt, wo die Individualität noch unter und im Allgemeinen gehalten ist. Gleich darauf wird die Individualität übermächtig, indem ihre Lebendigkeit in die Extreme gefallen, da der Staat noch nicht als Staat selbständig in sich organisiert ist. Indem das Wesen des athenischen Staats der allgemeine Geist, der Religionsglaube an dies ihr Wesen war, so verschwindet mit dem Verschwinden dieses Glaubens das innere Wesen des Volks, da der Geist nicht als Begriff wie in unseren Staaten ist. Der rasche Übergang hierzu ist der νοῦς, die Subjektivität, als Wesen, Reflexion in sich, – nicht Abstraktion.“[13]
Obschon in vielen Bildwerken verkörpert, insistiert Hegel mit Perikles auf eine Undarstellbarkeit der Individualität. Denn diese gibt es nur in dem Maße, wie die Herrschaft des Perikles „höchste Ausbildung des sittlichen Gemeinwesens, …, wo die Individualität noch unter und im Allgemeinen gehalten“, ermöglicht und in einer, sagen wir ruhig, geistigen Schwebe gehalten wird. Einerseits ist der „Schwebepunkt“ als Hegelscher Neologismus, als freie Kombination aus Schwebe und Punkt, genau jener temporale Punkt in der Geschichte, bevor die Individualität „übermächtig“ wird. Andererseits wird dieser „Schwebepunkt“ damit beschrieben, dass „der allgemeine Geist“, der nicht einfach ein Konsens, sondern ein „Wesen des athenischen Staates“ ist, herrsche. Wir wissen nicht, ob und wo Hegel jemals eine Büste des Perikles gesehen hat. Zwar erlebte Hegel 1830 die Eröffnung der Antikensammlung im Alten Museum unweit seiner Berliner Wohnung und der Berliner Universität[14], aber der „Einsatzkopf“ des Perikles gelangte erst 1901 in die Sammlung.
Hegels Konstruktion des Perikles an einem „Schwebepunkt“ gibt einen Wink auf literarische Wissenskonstruktionen der Moderne, die nachleben. Die erstaunliche und gewissermaßen plötzliche Wiederkehr des Sputnik-Narrativ als Name für den ersten Impfstoff der Welt gegen Sars-Cov-2 inklusive Animation und piependem Sonden-Sound war zutiefst „ernst“ gemeint. Technisch aufwendig und unter dezidiert geschichtlicher Bezugnahme formulieren Vladimir Putin, die Russische Föderation, das nationale Zentrum für Epidemiologie und der Russian Direct Investment Fund auf https://sputnikvaccine.com/ den Durchbruch in der Impfstoffforschung. In einer freien Kombination der Wissensgeschichte wird ausdrücklich Bezug genommen auf den sogenannten Sputnik-Schock bzw. „Sputnik-Moment“ vom 4. Oktober 1957, als die Sowjetunion den ersten Satelliten in den Orbit schoss. Die Titelseiten von Los Angeles Times und New York Times illustrieren den „Sputnik-Moment“ ebenso wie eine „Sputnik-Burger“-Werbung. Sputnik beschwört im Russischen nicht nur als Спутник für Weggefährte, Begleiter eine Gemeinschaft, vielmehr noch den ersten Schritt der Befreiung des Menschen von seiner Erdgebundenheit durch Vernunft und Wissenschaft. Der spezifisch Russische Kosmismus erhielt seine erste Materialisierung.
Sputnik 5 befreit nun den Erdball aus dem Griff des Corona-Virus. Die Kombination von animierter Virus-Darstellung, historischer Raumsonde und Impfstoff könnte man durchaus abenteuerlich nennen, wenn das Animations-Video nicht exakt jene Narrative transformiert und kombiniert, die zu den Grundfragen der Moderne gehörten und die im Russischen Kosmismus verhandelt werden.[15] Wo beginnt das Leben? Welches Verhältnis von terrestrischen und extraterrestrischen Leben bestimmt unsere Wahrnehmung? Woher kommt überhaupt das menschliche Leben? Wie lässt sich das Leben des Menschen unendlich verlängern? Wie lässt sich der Tod besiegen? Während einerseits im Zuge der Covid-19-Pandemie evangelikale Christen in den USA, Brasilien und sicher auch anderswo die Gefährlichkeit des Virus‘ ebenso wie die Evolution leugnen, setzt Moskau auf einen positiven Wissenschaftsglauben nach der Logik des Wettbewerbs, nicht ohne mit dem Investment an kapitalistische Wertschöpfungsketten anzudocken. In Sputnik 5 wird eine Wissensmontage gefeiert, die für sich den Weltgeist als Farce in Anspruch nicht.
Es sind Geister oder Wiedergänger, Gespenster, die medial weniger das Wissen von der Covid-19-Pandemie und dem Virus strukturieren, als in unzählige Meinungscluster aufspalten. Vor allem gegen die Meinungen argumentierte und polemisierte Hegel. Im Unterschied dazu positionierte er das Wirken des Geistes. Doch mit dem bekommt man nun gerade keine klaren Antworten oder Meinungen. Vielmehr führt er an entscheidender Stelle den „Schwebepunkt“ ein. Den muss die Menschheit als Wissen von sich selbst auch aushalten können. Denn während die post-sowjetische Kapsel Sputnik 5 zum Impfstoff transformiert wird und vice versa, müssen gerade gewissenhafte Epidemiologen und Virologen es aushalten, dass sie noch keinen Impfstoff haben. In dem meinungsbildenden, russischen Nachrichtenstudio wird die Impfgeste kombiniert mit einer ausgeklügelten Darstellung des Corona-Virus, als könne man ihn so unter einem Mikroskop sehen.
Nachrichtenstudios sind immer auch visuelle Inszenierungen der Nachrichten und Meinungen. Das russische Nachrichtenstudio zeichnet sich im Unterschied zu denen von heute journal und tagesthemen dadurch aus, dass eine Art Schaltzentrale mit mehreren Monitoren im Hintergrund, an denen Journalistinnen und Journalisten sitzen, inszeniert wird. Der Nachrichtensprecher bzw. Moderator oder anchorman wird scheinbar von einer ganzen Reihe ihm zuarbeitender Personen unterstützt, während doch gerade die russischen Staatsmedien als hierarchisch organisiert gelten dürfen. Berichtet wird, wovon berichtet werden soll. Insofern ist Sputnik 5 keine privatwirtschaftliche oder künstlerische Konstruktion. Vielmehr treffen in ihm ideologische Narrative zusammen. Mit dem Anspruch der Erste sein zu wollen, wird ein hegemonialer Machtanspruch formuliert und dargestellt, so komisch dessen Darstellung ausfallen mag.
Torsten Flüh
[1] Peter Wilhelm Forchhammer: Hellenika – Griechenland – Im Neuen das Alte. Berlin: Nikolaische Buchhandlung, 1837, S. 1.
[2] Siehe Tagesthemen Mediathek vom 11.08.2020.
[3] Thomas Assheuer: Was macht der Weltgeist? In: Die Zeit vom 6. August 2020, S. 41, Hamburg 2020.
[4] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Geschichte der Philosophie. Erster Band. Herausgegeben von Karl Ludwig Michelet. Berlin: Duncker und Humblot, 1833, S. 9.
[5] Ebenda S. VI.
[6] Ebenda S. IX.
[7] Ebenda S. 13.
[8] Siehe Torsten Flüh: Leben und Tod in der Platovskischen Steppe. Zu Alexander von Humboldt und Russland in der Botschaft der Russischen Föderation. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juni 25, 2015 21:04.
[9] Peter Wilhelm Forchhammer: Apollons Ankunft in Delphi: Eine archäolog. Abhandlung. Kiel: Schwers, 1840, S. 4. (Digitalisat).
[10] Ebenda S. 9.
[11] Ebenda S. 29-30.
[12] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Geschichte … [wie Anm. 4] S. 387.
[13] Ebenda S. 387.
[14] Siehe auch: Torsten Flüh: Der Geist der Maschine. Zu Georg Wilhelm Friedrich Hegels Kunstphilosophie und der Granitschale vor dem Alten Museum. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. Mai 2020.
[15] Zum Russischen Kosmismus siehe: Torsten Flüh: Über die literarische Vollendung des Materialismus im Russischen Kosmismus. Zur Ausstellung Art Without Death: Russischer Kosmismus im HKW. In: NIGHT OUT @ BERLIN October 6, 2017 14:37.
5 Kommentare