Die Leere, der Begriff und sein Gebrauch oder Antisemitismus als Wissenskonstrukt

Juden – Antisemitismus – Reich

Die Leere, der Begriff und sein Gebrauch oder Antisemitismus als Wissenskonstrukt

Zur Neuauflage des Berliner Antisemitismusstreits durch Nicolas Berg im Jüdischen Verlag

Der Ort der Vorstellung der neuen, überarbeiteten und erweiterten Auflage des Berliner Antisemitismusstreits hatte es in sich: der Berliner Dom. Kaiser-Nostalgie und internationales Tourismus-Highlight. Im Berliner Dom predigte 1879/80 der evangelische Hofprediger Adolf Stoecker. Nur wenige hundert Meter den Boulevard Unter den Linden hinauf geschlendert in der Berliner Universität hielt der Historiker Heinrich von Treitschke seine Vorlesungen über die Geschichte der Deutschen. Die räumliche Nähe in der noch jungen Hauptstadt des Kaiserreichs wurde zum Schnittpunkt eines qualitativ neuen Redens und Wissens über die jüdischen Bürger im Reich. Wilhelm von Treitschke dockte an den Begriff der „Antisemiten“ des Journalisten, Publizisten und Vereinsgründers Wilhelm Marr an, um ihn als einen akademisch-wissenschaftlichen Diskurs des „Antisemitismus“ auszuformulieren.

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Der Berliner Dom in seiner prunkvollen Architektur, wie sie durch die DDR in den 1980er Jahren restauriert worden ist, wurde 1905 geweiht. Stoecker predigte in seinem weniger ausladenden klassizistischen Vorgängerbau von Friedrich Schinkel. Nach der Reichsgründung 1871 war dieser Raum nicht mehr repräsentativ. Das Unbehagen des deutschen Kaisers aus dem Haus der Hohenzollern mit dem Dom korrelierte mit der Suche des dynastisch und nicht – wie 1848 versucht – demokratisch gebildeten deutschen Reiches nach sich selbst. Hof ebenso wie Kirche und Universität als Institutionen der Macht mussten, wie man heute sagen würde, ihre Meinungsführerschaft darüber, was das Deutsche am Reich sein sollte, beweisen. In dieses diskursive Vakuum hinein, begleitet vom sogenannten Gründerkrach 1873 in New York, Österreich-Ungarn, Deutschland, bricht der Berliner Antisemitismusstreit als ein neuartiges Wissen über die jüdischen Mitbürger.

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Der Altarraum des Berliner Doms war mit 4 Clubsesseln und einem Rednerpult zu einem Debattenraum für die Buchvorstellung umgewandelt worden. Thomas Sparr vom Suhrkamp Verlag, dem der Jüdische Verlag angehört, moderierte den Abend mit Nicolas Berg, Superintendentin Silke Radosh-Hinder und dem Schauspieler Garry Fischmann. Zuvor hatte Jonathan Landgrebe als Vorstandsvorsitzender der Suhrkamp AG einen historischen Überblick zur Situation um 1879/80 gegeben. Er verwies auf unterschiedliche Krisen in jener Zeit. Gerade gegen Ende des 19. Jahrhunderts kommt der Begriff der Krise in entstehenden Zeitungen und Zeitschriften steil ansteigend in Gebrauch.[1] Die Wortverlaufskurve für Antisemitismus[2] zeigt deutlich eine Korrelation zwischen einem Beginn der Rede von Krisen noch im 18. Jahrhundert und dem Aufkommen wie Gebrauch des Antisemitismus‘ als Reaktion auf Krisendebatten.

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Welche Rolle spielte Adolf Stoecker als evangelischer Prediger der Hof- und Oberpfarrkirche, genannt Berliner Dom, für die Ausformulierung des Antisemitismus? Stoecker wollte sich ab dem 19. September 1879 vor allem parteipolitisch in der Debatte um Bismarcks Sozialistengesetz vom 19. Oktober 1878 positionieren. Mit dem Sozialistengesetz sollten im jungen 2. Reich vor allem die sozialen Konflikte der Industrialisierung neutralisiert werden, die Friedrich Wilhelm IV. schon 1848 durch Schüsse vor dem Berliner Schloss hatte bekämpfen lassen. Der Hofprediger Stoecker suchte sozusagen ein Ventil, um Dampf aus dem Kessel der Industrialisierung abzulassen. Bereits 1965 und 1988 hatte Walter Boehlich in seinem Nachwort zur Herausgabe der wichtigsten Dokumente wie Zeitschriftenartikel, Reden und Briefe zum Berliner Antisemitismusstreit die initiale Funktion des „Hofprediger(s) Adolf Stoecker“ für Heinrich von Treitschke – mit einem heute ganz anders klingenden Begriff – beschrieben: „Stoeckers öffentliches Auftreten zeigt einen Klimawandel an.“[3]  

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Die Verschiebung des Begriffes Klimawandel nach Walter Boehlich gibt einen Wink auf die sprachlich-rhetorischen Prozesse, mit denen Adolf Stoecker und Heinrich von Treitschke ein neuartiges Wissen von Nation und Reich, Juden und Deutschen sowie Parteipolitik und Antisemitismus erzeugten, in die Welt setzten und es bis auf den heutigen Tag beispielsweise durch den AfD-Politiker Alexander Gauland wiederholbar machten.[4] Sie schafften eine Redeweise für den Antisemitismus, die sich in ihrer elastischen, keinesfalls theologisch begründenden Art als hoch anschlussfähig für die unterschiedlichen Disziplinen wie Geschichtswissenschaft, Soziologie, Ökonomie, Psychologie, Biologie etc. erwies. Boehlichs „Klimawandel“ benennt einen Diskurswechsel, den Adolf Stoecker und Heinrich von Treitschke erzähl- und sagbar machten. Heute kursiert ein generationelles Wissen über den Klimawandel, der politische Debatten zutiefst strukturiert und mit der Generation Z bzw. Letzten Generation vermeintlich grenzenlos legitimiert.[5]

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Der Hofprediger und damit per Amt zugleich Seelsorger des Kaisers und seiner Familie Adolf Stoecker wird über die „Judenfrage“, wie er es nennt, zum theologischen Politiker. Den Begriff Antisemitismus verwendet er in seiner 1880 veröffentlichten Rede Das moderne Judenthum in Deutschland und besonders in Berlin nicht.[6] Gleichwohl führt Adolf Stoecker den Titel „Hof- und Domprediger zu Berlin“ auf der Titelseite. Im Untertitel wird sie als eine von „Zwei Reden in der christlich-sozialen Arbeiterpartei“ angekündigt. Die Grauzone von Prediger und Politiker bespielt Adolf Stoecker bewusst als theologisch legitimierender Parteipolitiker. Sie verschafft ihm allererst den Raum für seine Rede im Umfeld der kaiserlichen Macht in der Reichshauptstadt. Walter Boehlich hat das Zusammenspiel von Stoecker und Treitschke deutlich formuliert.
„Stoecker … schaffte (dem Antisemitismus) Einlaß in die Wahlversammlungen, er deckte ihn mit der Achtung, die einem Hofprediger durchaus entgegengebracht wurde, er machte ihn hoffähig. Aber hoffähig, das war nicht auch 1879 nicht genug. Sollte das Bildungsbürgertum für ihn gewonnen werden, dann konnte das nicht im Namen der Religion oder eines auch noch so verwaschenen Pseudo-Sozialismus geschehen; dann mußte der Antisemitismus nicht nur von der Kanzel, sondern vom Katheder verkündet werden. Diesen historischen Part hat Heinrich von Treitschke übernommen.“[7]

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Die „Judenfrage“ wird von Stoecker in der „christlich-sozialen Arbeiterpartei“ nicht zuletzt in einem marxistischen Diskurs von Kapital und Arbeit verhandelt[8], um den Sozialismus in einem anachronistischen, hierarchisch-monarchistischen Ständestaat zu neutralisieren. Insofern füllt die Beantwortung der „Judenfrage“ unter dem Namen „Antisemitismus“ eine Leerstelle in der Debatte um die sich mit der Industrialisierung zuspitzenden kapitalistischen Produktionsweisen, die sich im „Börsenkrach“ als reine Spekulation erwiesen hatten.[9] Die evangelische Kirche am Berliner Hof hatte mit Adolf Stoecker die Verpflichtung im mit den Hohenzollern evangelisch dominierten Deutschen Reich die Leerstelle der sozialen Frage im industriellen Kapitalismus zu besetzen. Nochmals mit einer Formulierung Walter Boehlichs:
„»Die Judenfrage, sagte Stoecker, ist schon lange eine brennende Frage; seit einigen Monaten steht sie bei uns in hellen Flammen.« »Unterdessen, schrieb wenig später Treitschke, arbeitet in den Tiefen unseres Volkslebens eine wunderbare, mächtige Erregung. Es ist, als ob die Nation sich auf sich selbst besänne …«“[10]    

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Die Evangelische Kirche in Deutschland formulierte am 19. Oktober 1945 das „Stuttgarter Schuldbekenntnis“, das hoch umstritten war. Damit bekannte sich die EKD halbherzig zur Mitschuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus. Erst „mit dem „Wort zur Schuld an Israel“, das im April 1950 auf der Synode in Berlin-Weißensee(!) beschlossen wurde, bekannte sich die EKD erstmals zur Mitschuld an den nationalsozialistischen Verbrechen gegenüber Jüdinnen und Juden.“[11] Die initiale Rolle für den modernen Antisemitismus durch Adolf Stöcker hatte sie gar nicht im Blick, weil er durch den Diskurs nachgerade naturalisiert worden war. Nicht zuletzt deshalb kam der Buchvorstellung im Berliner Dom mit Superintendentin Silke Radosh-Hinder eine besondere Aufgabe zu. Am Schnitt- wie Brennpunkt des modernen Antisemitismus erklärte sie, dass Stoeckers Reden aus der Perspektive der EKBO und des Kirchenkreises Berlin-Stadtmitte eine „Sünde“ seien. Das Eingeständnis der Schuld als Sünde an diesem Ort hat für die Jüd*innen in Deutschland keine geringe Bedeutung. Sie ist allein dem persönlichen Engagement von Thomas Sparr und dem scheidenden Superintendenten Dr. Bertold Höcker zu verdanken.[12]

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Das Auf-sich-selbst-besinnen der Nation durch den Antisemitismus benennt zugleich dessen Leerstelle, die durch Treitschke formuliert und machtvoll benannt wird. Die Ursprungsfrage der deutschen Nation wird von Treitschke durch das Als-ob „sich auf sich selbst besänne“ mit dem Antisemitismus beantwortet. Boehlich trieb bei der Erstveröffentlichung 1965, wie Nicolas Berg schreibt, „die Sprachkritik“ an. Nach 1945 war die Sprache des Antisemitismus, die Treitschke entworfen hatte, nicht aus den Köpfen der Deutschen verschwunden. Vielmehr stieg der Gebrauch des Begriffs nach 1953 in den Zeitungen wieder an, um 1962 einen erneuten Höhepunkt zu erreichen. Ab 1963 bis 1974 fiel die Rede vom Antisemitismus wieder ab.[13] Nicolas Berg verweist darauf, wie sich nicht nur Worte und Formulierungen festsetzten:
„Viele der antisemitisch geprägten Formulierungen und Codewörter des 20. Jahrhunderts waren von Treitschke geprägt worden und hatten »im Kanon der Antisemiten geradezu sprichwörtliche Berühmtheit« erhalten, und Boehlich wollte mit diesen Denkfiguren brechen; zudem litt er auch an der fehlenden klaren Sprache über ihre Wirkung, die nach 1945 aber nötig geworden war, um die antisemitischen Formeln und Phrasen wieder aus der Sprache herauszubekommen.“[14]

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Die Sprachkritik Boehlichs betraf nicht zuletzt die Universitäten in der Bundesrepublik Deutschland und damit die akademische Rede. Gleich einer pathologischen Amnesie war die Verschränkung von Ursprungsfrage der Deutschen mit dem Antisemitismus durch den Historiker Treitschke vergessen. Auf der Suche der Bundesrepublik nach sich selbst wurde der Antisemitismus entweder beschwiegen oder gar geleugnet wie bei dem befürchteten Büchner-Preis-Laudator Fritz Martini, der als ein „gerichtsnotorischer Nazi“ galt. Martini war seit 1954 Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Als Beirat der Jury wirkte er 1957 an der Verleihung des Büchner-Preises an Erich Kästner mit.[15] Doch Boehlichs Befürchtung einer Laudatio von Fritz Martini wurde erst 1979 für den Friedrich-Gundolf-Preis an Zdenko Škreb wahr.[16] Zu einer Laudatio auf Wolfgang Hildesheimer kam es 1966 nicht, doch Fritz Martini war zum vollwertigen Jurymitglied aufgestiegen.[17]
„Bei Boehlich gehörte beides zusammen, und so schärfte er den Blick beim einen für das andere: Seine Kritik an Treitschke machte ihn hellsichtig und auch hellhörig für den Unwillen der bundesrepublikanischen Universitäten und des ganzen Politik- und Kulturbetriebs, eine angemessene Sprache für die eigenen Verfehlungen zu finden; der Ärger über die Martinis lenkte seinen historisch-editorischen Blick wieder zurück auf die Sprache der Quellen, sozusagen auf die sprachliche Verfasstheit des modernen Antisemitismus selbst, den er in der Nachfolge von Karl Kraus als Korrumpierung von Sprache und Denken, also als ein politisches Sprachereignis betrachtete.“[18]

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Die Veröffentlichung der Quellen des Berliner Antisemitismusstreits umfasste für Boehlich nicht nur Treitschkes folgenreichen Antisemitismus-Aufsatz, vielmehr ebenso „die Verteidigung der je eigenen Sprachidentität“ durch Joël, Bresslau, Lazarus, Cohen, Bamberger und Auerbach.[19] Nicolas Berg bringt Boehlichs Sprachkritik an Treitschke nun auf den Punkt:
„Generell gehörte das sprachlich-ideologische Hantieren mit absoluten Gegensätzen, Boehlich zufolge, zu Treitschkes Weltanschauungsstil; der hohe Aufwand Treitschkes, einander völlig ausschließende Wertewelten sprachlich zu konstruieren, die in religiösen oder nationalen Kollektiven verkörpert seien und sich unvereinbar gegenüber stünden – das eben war der Antisemitismus, darin bestand er, das war seine Intention, sein Ziel, seine Methode und seine sprachliche Form: Er produziert, verbreitet, legitimiert und politisiert Antinomien, Gegensätze und Ausschließlichkeit, Antisemitismus – das ist die Grenzziehung in und durch Sprache mit der Absicht, sie möge eine zweigeteilte Wirklichkeit in Wahrnehmung und Wissen, in Recht und Politik herstellen.“[20]

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Berg beschreibt Treitschkes Rhetorik des Antisemitismus nicht zuletzt deshalb genau, weil sie weiterhin kopiert wird und lebhaft kursiert. Treitschkes Sprache des Antisemitismus war in der Lesung durch Garry Fischmann kaum auszuhalten. Die Elastizität des „Sprachantisemitismus“ führt zur Sagbarkeit und zwingt „faschistisch“ zum Sagen und Aussagen, wie es Roland Barthes einmal in seiner Antrittsvorlesung am College de France formuliert hat. Mit der Geste des Wissens werden unablässig neue Antisemitismen formuliert, die nach Bejahung und Gebrauch lungern. Einmal gesagt, gehört oder gelesen zwingen sie zu Anschluss oder Widerspruch, der dem Wissen dennoch nicht entkommen kann.    
„Und es gehörten, drittens, auch schlicht rhetorische Tricks zu diesem Sprachantisemitismus, die Treitschke auch dort verrieten, wo er in »Unsere Aussichten« Beschwichtigungen vortrug, Distanzierungen vom Radauantisemitismus der Straße zum Beispiel. Antisemitismus, das machte bereits Boehlich deutlich, konnte somit zum bösen Sprachspiel werden, mit der »Behauptungen« aufstellen konnte, »für die er keinen einzigen Beweis« erbringen musste.“[21]

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Besonders eindrücklich war die Lesung der Briefe von Berthold Auerbach durch Garry Fischmann, in denen von „Judenhass“ und „Judenhetze“ nicht aber von „Antisemitismus“ geschrieben wird. Diese Briefe sind von Nicolas Berg in die Quellensammlung neu aufgenommen worden, weil durch das „Briefwerk … seit den 1870er Jahren mit der Aufmerksamkeit der Bruch in der öffentlichen Kommunikation und der Sprache aus der präzisen Sicht eines deutsch-jüdischen Schriftsteller dokumentiert“ werde.[22] Die andere Lexik der Briefe gibt einen Wink auf den Begriff und seine Konstruktion selbst. Dennoch wird der Begriff Antisemitismus heute ebenso für die antijüdischen Schriften Martin Luthers wie für einen ganzen Wissenschaftsbereich als Antisemitismus-Forschung gebraucht. Er hat sich zur Benennung von Schreibweisen und Verhalten festgesetzt, weil er paradoxerweise wissenschaftlich „klingt“. „Judenhass“ und „Judenhetze“ erheben gerade keinen Anspruch einer wissenschaftlichen Begründung.

Die Sprachforschung oder Linguistik gibt einen Wink auf die Wortteile, die ein Wissen ankündigen. Durch das Präfix anti- wird nicht nur eine gegnerische Haltung mit einem polarisierenden Element verkoppelt, vielmehr wird mit dem Suffix -ismus ein abwertendes Ideologem zusätzlich hinterhergeschickt, das den verfehlenden Mittelteil semit einschließt. Als semitische Sprachen wird seit dem 18. Jahrhundert eine Sprachfamilie benannt, die biblischen Ursprungs ist und die eine Genealogie erzeugen. Treitschke dockt allerdings an ein Wissen von den Sem an, das er zu einer rassischen Unterscheidung verwendet. Eingedenk der sprachlichen Fehlkonstruktion insbesondere bezüglich aller deutschsprechenden Jüd*innen, mag es verwundern, dass der Begriff weiterhin politisch als Wissen funktioniert. Umso mehr tritt Treitschkes diskursive Leistung als Verbrechen hervor.

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Das Imaginäre des Antisemitismus wird von dem Geschichtsprofessor Heinrich von Treitschke an der Berliner Universität im Dienste einer Nationenbildung als Reich formuliert. John Conolly hatte er vor kurzem das Imaginäre des Reichs in der American Accademy untersucht.[23] Das Feld des imaginären Reichs überschneidet sich mit dem Antisemitismus, der nicht etwa ein nebensächlicher Aspekt, sondern durch Treitschke ein konstitutiver wird. Durch seine Sprachoperationen gelingt es Treitschke mit dem Antisemitismus, eine Reinheit des Reiches unter rassistischen Vorzeichen zu konstruieren. Die vermeintlich christliche Reinheit „wurzelt“ paradoxerweise in einem heidnischen Germanentum, das an körperlichen Merkmalen sichtbar gemacht wird. Für das Reich spielt im 19. Jahrhundert Martin Luther als Autor, Übersetzer und Sprachentwickler eine entscheidende Rolle. Ab 1821 werden mit der historisierenden Luther-Statue von Schadow nach und nach Lutherdenkmäler im protestantischen Deutschland errichtet.

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Eine judenfeindliche Sprache im Deutschen hatte sich seit Martin Luther im 16. Jahrhundert tief in die deutschen Literaturen eingeschrieben. Luther und seine Sprache werden für das Reich eine einende Funktion einnehmen. Ob 1543 in seiner Schrift Von den Jueden und iren Luegen oder in der Vermahnung wider die Juden 1546, sie erfahren eine besondere Wahrnehmung.[24] Luthers Sprache, sein Deutsch pendelt zwischen Narrativen des Judenhasses und Sprachpoesie[25], wenn sich beispielsweise „Jueden“ und „Luegen“ reimen. Die Narrative bekommen Züge des Aberglaubens, wie Matthias Morgenstern 2017 ausgeführt hat:
„Wie Luther am 1. Februar 1546 seiner Frau Katharina schrieb, verdächtigte er die Juden, für seine gesundheitlichen Probleme, sein „Schwäche“, verantwortlich zu sein. Jedenfalls hatten sie ihn unterwegs „hart angeblasen“:
So sind hier in der Stadt Eisleben jetzt diese Stunde über fünfzig Juden wohnhaft. Und wahr ist’s, als ich bei dem Dorf fuhr, ging mir ein solcher kalter Wind hinten zum Wagen ein auf meinen Kopf, durchs Barett, als wollte er mir das Hirn zu Eis machen. Solcher mag mir zum Schwindel etwas geholfen haben.“[26]

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Luthers Ängste – im Berliner Dom steht er als Autorität hoch über dem Altar mit einer Art Genie-Frisur und der Bibel in der Rechten furchtlos wirkend – kurz vor seinem Tod am 18. Februar 1546 werden in den Juden narrativ verkörpert. Sie vermögen ihm das Denken einzufrieren – „mir das Hirn zu Eis machen“. Das alleinige An-ihnen-vorbeifahren wird als gesundheitliche/intellektuelle Gefahr bzw. als Machtverlust in Form der „Impotenz“, wie Morgenstern schreibt, imaginiert. Juden imaginiert Luther als feindliche Macht, die seiner Kraft zu schaden vermögen. Doch entspricht dieser Aberglaube und wirklich volkstümlicher Gegenglaube zum Christentum bei Luther dem modernen Antisemitismus Treitschkes? Die Redeweisen sind sehr unterschiedlich. Für das Deutsche Kaiserreich des 19. Jahrhunderts übernimmt die Figur Luther eine einigende Funktion, für die Redeweisen transformiert werden, um sie in den Diskurs des Antisemitismus einzuspeisen. Die Wissensformen Luthers wie sein Aberglaube unterscheiden sich signifikant vom elastischen Antisemitismus. – In der Architektur des Berliner Doms wird zumindest mit LUTHER die Lösung der Widersprüche der Industrialisierung behauptet. Finanziert von Industrie und Kirchenbauverein ist er mit dem elektrischen Fahrstuhl für die Mutter des Kaisers eine machtvolle Demonstration des Kapitals.  

Torsten Flüh

Hg.: Walter Boehlich, Nicolas Berg
Der Berliner Antisemitismusstreit
Klappenbroschur, 544 Seiten
978-3-633-54311-3
Jüdischer Verlag, 1. Auflage
28,00 € (D), 28,80 € (A), 38,50 Fr. (CH)
ca. 13,0 × 21,0 × 3,6 cm, 610 g


[1] Siehe Wortverlaufskurve „ab 1600“. In: Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache: Krise.

[2] Ebenda Antisemitismus.

[3] Walter Boehlich: Der Berliner Antisemitismusstreit. In: Nicolas Berg (Hg.): Der Berliner Antisemitismusstreit. Berlin: Suhrkamp Verlag/Jüdischer Verlag, 2023, S. 457.

[4] Zur Verkoppelung von Nation als Reich in Alexander Gaulands „Fliegenschiss-Rede“ siehe: Torsten Flüh: Über die Imagination von Macht und Einheit durch das Reich. Zu John Connellys Vortrag über den Begriff „Reich“ als Imaginäres der Deutschen in der American Academy. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. April 2023.

[5] Zu generationellen Klimaprotesten siehe: Torsten Flüh: Generationenwechsel per Gong im LCB. Zu XYZ-Casino: Drei Generationen Erbe im Literarischen Colloquium Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. April 2023.

[6] Adolf Stöcker: Das moderne Judenthum in Deutschland und besonders in Berlin. O.O.: Wiegandt und Grieben, 1880. (Wikisource).

[7] Walter Boehlich: Der … [wie Anm. 3] S. 457-458.

[8] Vgl. zum Kapitalismus und den Ökonomischen Schriften Karl Marx‘: Torsten Flüh: Der MEGA-Coup. Zum Abschluss der „Kapital-Abteilung“ der Marx-Engels-Gesamtausgabe. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. Februar 2013. (PDF unter Publikationen)

[9] Siehe zur Geschichte des Börsenkrachs und des Spekulierens: Torsten Flüh: Das Börsengesumse und das Rauschen des Eichwaldes. Ulrike Vedders Vortrag „Spekulieren und ruinieren.“ In: NIGHT OUT @ BERLIN 7. Januar 2010. (PDF unter Publikationen)

[10] Walter Boehlich: Der … [wie Anm. 3] S. 458.

[11] Siehe: bpb: Kurz und knapp: Vor 75 Jahren: „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ der Evangelischen Kirche. 16.10.2020.

[12] Zur Funktion der Schuldbekenntnisse in der EKBO siehe: Torsten Flüh: Redet freundlich miteinander. Zur Predigt von Bischof Dr. Christian Stäblein und der „Erklärung der EKBO zur Schuld an queeren Menschen“. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. Juli 2021.

[13] Siehe Wortverlaufskurve „ab 1946“. In: Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache: Antisemitismus.

[14] Nicolas Berg: Einführung. In: ders. (Hg.): Der … [wie Anm. 3] S. 46.

[15] Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung: Erich Kästner.

[16] Ebenda Fritz Martini: Laudatio. Zdenko Škreb.

[17] Ebenda Walter Jens: Laudatio. Wolfgang Hildesheimer.

[18] Nicolas Berg: Einführung … [wie Anm. 14] S. 46-47.

[19] Ebenda S. 47.

[20] Ebenda S. 48.

[21] Ebenda S. 49.

[22] Ebenda S. 53.

[23] Torsten Flüh: Über die Imagination von Macht und Einheit durch das Reich. Zu John Connellys Vortrag über den Begriff „Reich“ als Imaginäres der Deutschen in der American Academy. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. April 2023.

[24] Der Judenhass Martin Luthers wurde in der Ausstellung des DHM Der Luthereffekt marginalisiert. Siehe: Torsten Flüh: Schluss mit dem Heiligen Stuhl, aber wie? Deutsches Historisches Museum zeigt den Luthereffekt im Martin-Gropius-Bau. In: NIGHT OUT @ BERLIN 15. April 2017. (PDF siehe Publikationen.)

[25] Siehe Torsten Flüh: Performative Sprachpoesie mit Luther. Zu Robert Wilsons faszinierender Luther-Collage mit dem Rundfunkchor Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. Oktober 2017. (PDF siehe Publikationen.)

[26] Matthias Morgenstern: Luther letzte Tage in Eisleben und seine „Vermahnung wider die Juden“ – Judenhass, Teufelsfurcht, Impotenz und Angst vor dem Jüngsten Gericht. In: Judaica : Beiträge zum Judentum. Band 73 (2017), S. 448. (Digital)

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