Nation – China – Demokratie
Der schwankende Turm der Demokratie
Zur World Premiere von Dies ist keine Botschaft (Made in Taiwan) von Stefan Kaegi (Rimini Protokoll) bei der Performing Arts Season
Zwischenzeitlich war der im erdbebenreichen Ostchinesischen Meer auf der Insel Taiwan westlich hinter einer Bergkette im Tal gelegene Taipei 101-Turm das höchste Gebäude der Welt. In den vergangenen 365 Tagen gab es 96 kleinere Erdbeben bis zu einer Stärke von 6,3 auf der Richterskala in der Nähe. Taipei 101 wurde so konstruiert, dass er mit den Eruptionen schwingen kann. 2008 war ich einmal ganz oben auf der rundum verglasten Aussichtsplattform. In Taipei 101 verschmelzen der Name der chinesischen Hauptstadt Taipei und die Anzahl der Etagen im Turm mit einer Höhe von 508 m, der sich als Shopping & Financial Center annonciert. 2013 zählte der Aufzug in die Turmspitze mit einer Geschwindigkeit von 16,8 m/s (60 km/h) zu den schnellsten der Welt. Elastizität, Rekorde und Bedrohungen lassen sich auf symbolträchtige Weise am Turm ablesen. Am Ende der Performance schwankt Chiayo Kuo wie der Turm auf der Bühne des Hauses der Berliner Festspiele – und stürzt nicht.
Die World premiere der Produktion Dies ist keine Botschaft (Made in Taiwan) des Théâtre Vidy-Lausanne und National Theater & Concert Hall Taipei als Koproduktion von Rimini Apparat, Berliner Festspiele, Volkstheater Wien, Centro Dramático Nacional Madrid, Zürcher Theater Spektakel, Festival d’Automne à Paris, National Theatre Drama/Prague Crossroads Festival steht für einen breiten, europäischen Konsens, die Vielleicht-Nation Taiwan auf Drängen Xi Jinpings nicht aufzugeben. Die Existenz des Insel-Staates schwankt. Die Nomenklatura in Peking propagiert insbesondere gegen Taiwan ein Ein-Staatensystem, womit die Autonomie seit geraumer Zeit durch widerrechtliche Überflüge von Militärflugzeugen in niedriger Höhe, insbesondere vor und nach dem Wahlsieg der regierenden Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) bedroht wird. Chiayo Kuo, Debby Szu-Ya Wang und David Chienkou Wu eröffneten nun trotzdem für die Dauer der Performance im Haus der Berliner Festspiele (k)eine Botschaft Taiwans.
Dies ist keine Botschaft kann in seiner chinesischen Ambiguität gelesen werden. Chinesische Schriftzeichen laden zu vieldeutigen Sprachspielen ein. Nach der deutschen Sprache lässt sich – und das hatte Stefan Kaegi ganz bestimmt im Sinn – Botschaft als Vertretung einer Nation in einem anderen Staat wie auch als eine Mitteilung lesen. Und die Form der deiktischen Verneinung – dies ist keine – in der darstellenden Kunst ist seit René Margrittes Formulierung Ceci n’est pas une pipe. ein geflügeltes Wort. Aus dem Chinesischen Zeichen für Nation/Land 國, erklärt die Diplomatin Chiayo Kuo, guó, deren Familienname 國 ist, lasse sich ganz schnell 或, huò, wie vielleicht machen. Die Schriftzeichen überschneiden sich, um Bedeutung zufällig zu generieren. Die generationell verschiedenen Botschafter-Darsteller erzählen nicht eine Geschichte Taiwans, sondern die höchst unterschiedlichen Geschichten, die sich vom Inselland vor dem chinesischen Festland erzählen lassen. Das heißt vor allem, dass Stefan Kaegi mit seinem Team Diversität herstellt.
Die Einheit Chinas als multiethnische Nation bzw. Kaiserreich und in seiner über tausendjährigen Geschichte höchst unterschiedlicher Kaiserreiche und Kaiser*innen ist erst mit der Moderne, mit der Gründung der Republik China (1912-1949) als Nation und der Herrschaft der Kommunistischen Partei Chinas seit 1949 zu einem existentiellen Problem geworden. Nichts ist der chinesischen Kultur fremder, als die Vereinheitlichung unter dem Diktat eines einzelnen Machthabers. Der Kaiserpalast in Peking oder früher in Hangzhou etc. war immer ein straff organisierter Hofbeamtenapparat der Macht, dessen höchster Funktionsträger selbst äußerst machtlos war. Statt persönlichem Entscheidungsspielraum wurde die Macht von einem Regelwerk der Astrologie, Mythologien, des Yi Ging und ähnlich elastischer Entscheidungshilfen der Beamten ausgeübt. Das Marmorboot im Sommerpalast nahe Peking der Kaiserin Cixi, mit dem sich eine ganze Flotte hätte finanzieren lassen, entspringt nicht zuletzt diesen Entscheidungshilfen. Es neutralisiert geradewegs auf vielleicht buddhistische Weise die Macht der Staatsfinanzen. Andererseits wurde fast zeitgleich das äußere Stadttor am Platz des Himmlischen Friedens, das Zhengyangmen von deutschen Ingenieuren als Bunker für die Kaiserfamilie und Hofbeamten umgebaut.
中國: Zhōngguó: Mitte Land: Land der Mitte: China war immer ein Land, durch das visuell ein Strich getrieben worden war. Das Schriftsystem aus Strichen und Punkten funktionierte vor allem innerhalb eines Machtapparates durch Beamte.[1] Noch Mao Zedong als großer Erneuerer, Vereinfacher und Vereinheitlicher ging so weit, dass es den Analphabetismus, der eigentlich ein Anskriptismus war, durch Alphabetisierung mit dem Hànyǔ Pīnyīn Fāng’àn – „Programm zur Fixierung der Laute im Chinesischen“ bekämpfen wollte, bis er erkennen musste, dass es im Chinesischen zu viele Homonyme bzw. Homophone gibt, als dass sich eindeutige Parteibotschaften darin verfassen ließen. Anders gesagt: Die Ambiguität der Existenz Taiwans entspricht zutiefst der chinesischen Literatur. Die Kommunistische Partei Chinas hat immer den Spagat zwischen Einheitlichkeit, Eindeutigkeit und Diversität hinbekommen müssen. Vor fast genau einem Jahr hatte Ming Wong seine Lecture Perfomance Rhapsody in Yellow über das Problem der chinesischen Identität im Haus der Berliner Festspiele aufgeführt.[2]
Pekinger Taiwan-Politik ist immer Politik nach Innen, um den vielen nach größerer Unabhängigkeit strebenden Provinzregierungen den Alleinvertretungsanspruch zu signalisieren. Xi Jinping ist einer Kind der Pekinger Nomenklatura, nicht zuletzt weil er in Peking 1953 geboren wurde. Von der deutschen Öffentlichkeit fast unbemerkt wurden im November die Visabestimmungen zum 1. Dezember 2023 so plötzlich und radikal geändert, dass sie nur Indiz für einen Machtkampf in und um Peking sein können. Die schärfsten Visabestimmungen der Welt wurden zum 1. Dezember 2023 bis voraussichtlich 30. November 2024 bei Aufenthalten bis 15 Tage „abgeschafft“, um Wirtschaft, Tourismus und Austausch nach der harten Covid-19-Pandemie-Politik anzukurbeln. Am 29. Januar 2024 ordnete die Hongkonger Richterin Linda Chan die Auflösung des größten chinesischen Immobilienentwicklers Evergrande an.[3] Der Aktienhandel wurde ausgesetzt. Der Immobilienmarkt in der Volksrepublik China dürfte damit einen schweren Schlag erleiden. Mit der Evergrande Group, Sitz im hongkongnahen Shenzhen, gerät das taumelnde Immobiliengeschäft in der Volksrepublik weiter unter Druck, obwohl sich Immobilien nur für eine Dauer auf 99 Jahre erwerben lassen. Noch 2021 machte der Immobiliensektor 23% des Bruttoinlandsprodukts aus. Die Einheits- und Alleinherrscher-Politik Xi Xinpings dürfte durch die Krise am Immobilienmarkt zusätzlich in Legitimationsschwierigkeiten geraten.
Durch die wirtschaftliche, mediale, technologische und militärische Macht der Volksrepublik China ist der Inselstaat Taiwan isoliert worden, während er sich zugleich zum Global Player der Schlüssel-Chip-Industrie entwickelte, so zumindest ein verbreitetes, wirksames Narrativ in Taiwan. Stefan Kaegi bietet mit seinen drei Diplomat*innen eine zersplitterte Geschichte von Taiwan, in dessen Parteienlandschaft alle Facetten von Einheitswunsch und Autonomie vertreten sind. Das aus Pekinger Sicht nicht existierende Parlament in Taipei gilt als ein außerordentlich debattierfreudiges, in dem es schon mal zu Handgreiflichkeiten kommen kann. Letztlich setzen sich zivilgesellschaftliche Aktionsgruppen durch, die z.B. im Bereich der LGBTI*-Bewegung individuelle Recht garantieren. Gegen Ende der Performance gehen die Darsteller*innen mit ihren Smartphones ins Publikum, um u.a. den Biontech-Chef Uğur Şahin zu fragen, warum er 2021 keinen Impfstoff nach Taiwan liefern wollte und dies erst getan habe, nachdem Taiwans Regierung damit gedroht habe, keine Halbleiter für Smartphones mehr nach Deutschland zu liefern.[4] Baerbock und Şahin sitzen zwar nicht im Publikum, aber die Macht des Smartphones wird hinsichtlich der Halbleiter deutlich. Die Halbleiter-Impfstoff-Krise hat zwischenzeitlich immerhin zu Ansiedlungsplänen einer Chipfabrik in Sachsen-Anhalt geführt. Von Taiwanischer Seite lässt sich allerdings hören, dass nahe Magdeburg zwar Chips produziert werden sollen, was ja ganz erfreulich für die Region und Deutschland ist, aber Taiwan niemals seine Schlüsseltechnologie in streng geheimen Produktionsanlagen außerhalb des Landes bringen wird, was allerdings bei Kaegi keine Erwähnung findet.
Die Entwicklung der Demokratie in Taiwan, das offiziell noch Republik China heißt, durch eine diverse Zivilgesellschaft ist bemerkens- und bedenkenswert. Rassistische Narrative, dass Menschen aus Südostasien weniger demokratieinteressiert seien, werden durch Taiwans Demokratie lügengestraft. Demokratie herrscht, wenn alle anderer Meinung sind, aber trotzdem zusammenhalten. Dass die DPP zum wiederholten Male seit 2016 mit Lai Ching-Te den Präsidenten, wie zuvor 8 Jahre lang mit Tsai Ying-wen als Präsidentin, der, sagen wir pro forma, Republik China stellen wird, gibt einen Wink, dass eine Sowohl-als-auch- wie Vielleicht-Politik über die Autonomie von der Volksrepublik eine Mehrheit in der Bevölkerung findet. In deutschen Diskursen ist dagegen nicht zuletzt seit Martin Luther ein strenges Ja-oder-Nein-Regime verbreitet. Wie Tsai Ying-wen wird auch der neue Präsident kaum als Staatsoberhaupt in Berlin empfangen werden. Die Demokratie in Taiwan hat seit Ende der 90er Jahre, als noch die Kuomintang unangefochten durch ihren Parteiapparat in der Zentrale oberhalb von Taipei in den Bergen herrschte, für Asien erstaunliche, individuelle Freiheiten durchgesetzt. Die Demokratie wird auch in Zukunft von Konsens leben. Die Botschafter-Darsteller*innen halten während der Reden und Gesänge des anderen wiederholt ein Schild mit der Aufschrift „I do not agree!“ hoch. Man muss nicht allem in einer Demokratie zustimmen, aber die andere Meinung respektieren. Taiwan erlebt nicht zuletzt einen demografischen Wandel.
Der demografische Wandel findet überall statt. An Hochschulen wie in der Politik drängen jüngere Menschen nach, die nicht mehr von der Fluchterfahrung aus Festland-China geprägt sind. Sie kennen keine andere Tradition als die der dynamischen Inselkultur. Das heißt zweierlei zur „nationalen“ Bevölkerung gehören seit geraumer Zeit indigene Einwohner, die erstmals in der Geschichte der Moderne zunehmend mehr und eigene kulturelle Rechte praktizieren und sie im Staat genießen. Allenthalben eröffnen traditionell indigene Restaurants in den Städten. Es heißt allerdings auch, dass ein gewisser kultureller Verlust gerade zum Chinesischen Neujahr am 10. Februar 2024 spürbar und sichtbar wird. Denn zum Jahr des Drachen gibt es kaum noch chinesische Drachen, die nicht in irgendeiner Weise durch das japanische 可愛い, kawaii, verniedlicht werden.[5] Obwohl die chinesischen wie die indigenen Bewohner der Insel durch Japan als Kolonialmacht unterdrückt, misshandelt und ausgebeutet wurden, hat der chinesische Druck aus Peking zu einer Renaissance des Japanischen auf der Insel geführt.
Hunderte, wenn nicht Tausende Student*innen aus Taiwan studieren alljährlich in diversen Studiengängen von Maschinenbau bis Deutsch an deutschen Universitäten. Ebenso viele Künstler*innen aus Taiwan leben und arbeiten in Deutschland und Europa. Mehr noch studieren wenigstens für ein im Curriculum vorgesehenes Semester in den USA oder Vereinigtem Königreich. Filme aus Taiwan sind nicht die Ausnahme, sondern eher die Regel bei der Berlinale. Die Filmemacherin Monika Treut beschäftigte sich 2012 in ihrem Film Das Rohe und das Gekochte sowie 2005 in Made in Taiwan ausführlich mit dem Inselstaat. Stefan Kaegi hat in seiner Inszenierung auf diese Bereiche verzichtet. Auch dass Taiwan alljährlich bei der Messe zum Berlin-Marathon vertreten ist, wird nicht erwähnt. Taiwan ist in Berlin durchaus präsent, ohne dass es außer der Vertretung am Gendarmenmarkt einer offiziellen Botschaft bedürfte. Die schwankende Existenz Taiwans, die nicht zuletzt eine Art Kehrseite der Nixon-Kissinger-Politik der Annäherung an die Volksrepublik ist, wird von Kaegi und seinen Performer*innen treffend und höchst unterhaltsam vorgeführt. Es könnte sein, dass sich die problematische Alleinvertretung-Kulturpolitik unter Xi Jinping, wie sie sich bereits 2017 mit der Ausstellung China und Ägypten – Wiegen der Welt im Neuen Museum[6] ankündigte, als Nachteil erweist. – This Is Not an Embassy wird demnächst in Wien, Basel, Lausanne und Taipei zu sehen sein! In Berlin gab es standing ovations.
Torsten Flüh
Rimini Protokoll/Stefan Kaegi
Dies ist keine Botschaft (Made in Taiwan)
This Is Not an Embassy (Made in Taiwan)
Vienna, Volkstheater Wien
02. – 03.03.2024
Basel, Kaserne Basel
08. – 09.03.2024
Lausanne, Théâtre Vidy-Lausanne
14. – 24.03.2024
Taipei, National Theater & Concert Hall
12. – 14.04.2024
Berliner Festspiele
Performing Arts Season
Club Amour
Tanztheater Wuppertal Pina Bausch + Terrain Boris Charmatz
07.03.-08.03.2024
[1] Zur chinesischen Schrift siehe: Torsten Flüh: Vom Rätsel der Schrift im Anbruch der Moderne. Zum Museum für Asiatische Kunst im Humboldt Forum und China. In: NIGHT OUT @ BERLIN 13. Januar 2022.
[2] Torsten Flüh: Zerspringende Identitäten. Ming Wongs Rhapsody in Yellow im Haus der Berliner Festspiele. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. Januar 2023.
[3] Gustav Theile: Auflösung von Evergrande angeordnet: Der strauchelnde Riese fällt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 29.01.2024.
[4] Ben Blanchard, Yimou Lee: Taiwan finally getting BioNTech COVID vaccines in $350 mln deal. In: Reuters July 12, 2021 1:42 PM GMT+2.
[5] Zu Kawaii siehe: Torsten Flüh: Yoko Tawadas grandiose Eisbombe. Zu Kalligrafien, Nō und Yoko Tawadas Hybrid-Roman Etüden im Schnee. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. April 2014.
[6] Torsten Flüh: Gold, Rot, Schwarz verbandelt. Zur Ähnlichkeit in der höchst erfolgreichen Ausstellung China und Ägypten – Wiegen der Welt im Neuen Museum. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. September 2017.