Demokratie – Affekte – Populismus
Von der Notwendigkeit des Agonismus für das politische Leben
Chantal Mouffe spricht mit Peter Engelmann über Demokratie, Populismus und Affekte im Roten Salon der Volksbühne Berlin
Das Politische klang zuletzt in meiner ersten Besprechung zur neuen musik beim Festival ultralschall berlin und indirekt auch in der des Benefizkonzertes an. Doch was könnte das Politische heißen? Das Politische ist von verschiedenen Theoretiker*innen be- und gedacht worden. Es spielt nicht zuletzt bei den Fragen nach den aktuellen Bedrohungen von Demokratien durch rechten Populismus eine wichtige Rolle. Hebelt der Populismus Donald Trumps die Institutionen und Praktiken der Demokratie in den USA aus? Seit dem Wintersemester 2016/2017 beschäftigt der Populismus u. a. immer wieder die Mosse-Lectures.[1] 2018 veröffentlichte Chantal Mouffe bei Verso ihr Plädoyer For a Left Populism, das noch im gleichen Jahr auf Deutsch in der edition suhrkamp erschien. Am 6. Dezember unterhielt sich Peter Engelmann im Passagen Gespräch mit Chantal Mouffe über die Gefahren und Chancen des Populismus.
Zusammen mit Ernesto Laclau veröffentlichte Chantal Mouffe 1985 Hegemony and Socialist Strategy, das 1991 in deutscher Übersetzung zugespitzt als Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus im Passagen Verlag Wien erschien. Die Begriffe der Hegemonie und des Antagonismus werden seither von der Politikforscherin und -theoretikerin für das Politische bearbeitet. Darauf ging sie auch im Gespräch mit Peter Engelmann ein, um unter anderem klarzustellen, dass diese Begriffe mutwillig falsch verstanden worden sind. Die Demokratie lebe vielmehr von Antagonismen, die um die Hegemonie in einer Gesellschaft kämpften. Doch den Antagonismus als „Freund-Feind-Beziehung“ verstanden, hat Mouffe zwischenzeitlich modifiziert. Sie hat dafür den Agonismus als „Beziehung zwischen Gegnern“ in ihre Demokratie-Theorie eingeführt.[2]
Im Passagen Gespräch ging es nun um die Demokratie, wie Chantal Mouffe sie konzeptualisiert. Mit ihrer Haltung, dass der Populismus nicht etwa die Demokratie gefährde, sondern zum Wesen der Demokratie gehöre, steht sie zwar nicht völlig allein. Doch sie nimmt selbst in der jüngst erschienen Anthologie Wenn Demokratien demokratisch untergehen (2019) von Ludger Hagedorn, Katharina Hasewend und Shalini Randeria am Wiener Institut für die Wissenschaft vom Menschen eine Sonderstellung ein. Denn Chantal Mouffe führt nun in ihrer Demokratietheorie insbesondere die „Affekte“ als Unterscheidung zu einer rational verstandenen Demokratie an. Ludger Hagedorn sieht in dem „Konflikt und d(er) Konfrontation zwischen kollektiven politischen Identitäten (…) die konstitutive Grunddimension des Politischen“ in ihrer Theorie.
„Sie kann (und soll) weder durch einen Kompromiss aufgelöst noch durch einen Konsens aller überwunden werden, sondern manifestiert sich eben im Modus einer Konfrontation, deren Regeln von den Gegnern anerkannt werden.“[3]
Chantal Mouffe analysiert die aktuelle Politik in vielen Demokratien als Postdemokratie. Während es vielen Theoretiker*innen des Politischen um eine Rettung der Demokratie geht „charakterisiere (sie) die gegenwärtige Situation … als „postdemokratisch““, schreibt Hagedorn. „In dieser Situation geh(e) es darum, neue „Leidenschaften“ für die politische Auseinandersetzung zu wecken“.[4] Auch das Passagen Gespräch mit Peter Engelmann kreist um die Postdemokratie und die Funktion der Affekte in der Demokratie.[5] Sie betont im Gespräch, dass der Begriff der Postdemokratie die Notwendigkeit unterstreiche, die Demokratie neu zu denken.[6] Deshalb legt sie mit ihrem Demokratieverständnis entschieden Wert auf die Analyse der Praktiken.
„Das Soziale wird in dieser Perspektive durch sedimentierte hegemoniale Praktiken konstituiert, Praktiken also, die aus einer natürlichen Ordnung hervorzugehen scheinen und damit die Gründungsakte ihrer kontingenten, politischen Instituierung verschleiern. Diese Perspektive macht deutlich, dass jede Ordnung das Produkt einer temporären und prekären Artikulation kontingenter Praktiken ist. Sie ist Ausdruck einer bestimmten Struktur von Machtverhältnissen und wird stets durch den Ausschluss anderer Möglichkeiten errichtet. Sie ist daher stets politisch.“[7]
Das Politische aus seinen Praktiken der Ausschließung heraus zu denken, ist für Chantal Mouffe entscheidend. Philosophisch wendet sie sich damit gegen ein Denken der „Letztbegründung“.[8] Praktiken bleiben Prozessen unterworfen, die eine permanente Veränderung zur Folge haben. Bereits in Agonistics (2013) legt sie Wert auf „counter-hegemonic practices“.[9] Doch diese Praktiken werden von ihr zunächst nicht genauer definiert oder beschrieben. Vielmehr finden sie sich angelegt im Agonismus, wie Mouffe ihn einmal von Jacques Derridas Lektüre der Gastfreundschaft und der „deep ambivalence in the term `hospitality´, which comes from two words with the same roots: `hospis´(host) and `hostis´(enemy)“.[10] Gastfreundschaft und Feindschaft sind bei Derrida so stark in einander verzahnt, dass er den Begriff der „hostipitality“ prägte. In diesem Kontext hat Derrida einmal auf die Formulierung „Sprache ist Gastfreundschaft“ von Lévinas angespielt.[11] Das Ich muss sich allerdings auch der Sprache unterwerfen und wird von ihr gefangen genommen. Der Agonismus hebt den Antagonismus nicht auf, erinnert indessen immer an die tiefe Ambivalenz nicht zuletzt der Praktiken.
Im Interview mit James Martin hat Chantal Mouffe ihre Innovationen der Politiktheorie (political theory) insbesondere mit den poststrukturalistischen Denkern wie Derrida und Lacan beantwortet.[12] Während vor allem in den 1980er Jahren viele linke Theoretiker sich dem Liberalismus zugewendet hätten, habe sie zeigen wollen, dass es für das Politische in der liberalen Theorie keinen Platz gebe. Ohne die Schlüsse von Carl Schmitt über die Unmöglichkeit einer pluralistischen, demokratischen Regimes zu teilen, habe sie seine Kritik des Liberalismus sehr kraftvoll gefunden.[13] Die „Bedeutung von Praktiken“ für den Pluralismus und das Politische hat sie erst jüngst stärker im Kontext der Affekte ausgearbeitet.[14] Im Denken und Argumentieren von Chantal Mouffe spielt dies selbst eine wichtige Rolle, insofern sie weniger von einer Position des Wissens als von einer weitaus unsichereren der Inspiration ausgeht.
„Was die Bedeutung von Praktiken angeht, lasse ich mich von Wittgenstein inspirieren, der uns gelehrt hat, dass es deren Einschreibung in „Sprachspiele“ ist – in etwas, das wir als diskursive Praktiken bezeichnen können –, durch die soziale Akteure spezifische Überzeugungen und Begierden ausbilden und ihre Subjektivität erlangen.“[15]
Chantal Mouffe formuliert in ihrer politischen Theorie auf faszinierende Weise sehr genau und subtil. Die „Sprachspiele“ als „diskursive Praktiken“ werden von ihr genauer ausgeführt. Denn sie beziehe sich nicht allein auf Praktiken, „die mit Sprache oder Schrift zu tun haben, sondern auf jene der Signifikation, bei denen Bedeutung und Handlung nicht voneinander unterschieden werden können“.[16] Die Praktiken der Signifikation erlauben eine „Teilhabe an bestimmten Lebensformen“. Auf diese Weise werden durch Identifikation Identitäten generiert. Identitäten werden also nicht als vorgängig oder ursprünglich gedacht, vielmehr generieren sie sich durch das Politische. Darin sieht Mouffe eine Chance und entscheidenden Vorteil der Demokratie.
„Die Treue demokratischen Werten gegenüber ist eine Frage der Identifikation und wird nicht durch rationale Argumentation, sondern durch ein Ensemble von Sprachspielen generiert, die demokratische Formen von Individualität erzeugen. Wittgenstein erkennt hier klar die affektive Dimension dieser Loyalität an, die er mit einem „leidenschaftliche[n] Sich-entscheiden für ein Bezugssystem“ vergleicht.“[17]
Was heißt dieses „leidenschaftliche Sich-entscheiden“ bei Wittgenstein? Was passiert beim Sich-entscheiden? Mouffe zitiert eine Formulierung aus Ludwig Wittgensteins Vermischten Bemerkungen, die sich „vom philosophischen Text (…) nicht immer (scharf)“ trennen ließen und lassen.[18] Wiederum geht es weniger um ein Entscheiden aus einem Wissen heraus, das man ein Entscheidungswissen nennen könnte, als vielmehr um ein leidenschaftliches „Ergreifen dieser Auffassung“, das, wie es Ilse Somavilla nennt, immer auch ein „Sprung ins Ungewisse“ ist.[19] Das Entscheidungswissen unterläge insofern der Nachträglichkeit. Die Praxis des Sich-entscheidens bezieht sich bei Wittgenstein auf „ein(en) religiöse(n) Glaube(n)“, wobei „Glaube“ von ihm kursiv angeschrieben wird. [20] Der Moment des Sich-entscheidens lässt sich nicht in Bedeutung und Handlung unterscheiden, weil die Handlung bedeutend wird.
Die leidenschaftliche Handlung folgt nicht einfach einem Gefühl oder einem „Bauchgefühl“ als diskretes Wissen, vielmehr kann das leidenschaftliche Sich-entscheiden allererst Leiden schaffen. Denn nach Wittgesteins „Bemerkung“ bewirkt das „leidenschaftliche Sich-entscheiden“ durch die Instruktion des Glauben „zugleich ein in’s-Gewissen-reden“.[21] Mouffe geht an Freud und Spinoza anknüpfend davon aus, „dass die Begierde Menschen zum Handeln bewegt“.[22] Doch diese ist weder eine rationales noch ein emotionales Wissen.
„Indem ich Spinoza, Freud und Wittgenstein zusammenbringe, schlage ich vor, Einschreibungen in diskursive Praktiken als etwas zu verstehen, das jene Affektionen bereitstellt, die für Spinoza Affekte erzeugen. Diese Affekte wiederum erregen Begierden und führen zu bestimmten Handlungen. Aus diese Weise trage ich der Tatsache Rechnung, dass Affekte und Begierden für die Bildung kollektiver Formen von Identifikation eine zentrale Rolle spielen und die Triebkräfte politischen Handelns sind.“[23]
Das leidenschaftliche Sich-entscheiden generiert Unterschiede und Unterscheidungen, die für Chantal Mouffe im Denken der Demokratie notwendig sind. In der „Postpolitik“ dagegen verschwimmt die „politische() Grenze zwischen rechts und links“.[24] Diese nahezu unterschiedlose Situation des Politischen hat nach ihr dazu geführt, dass rechte Parteien wieder ein Volk konstruieren konnten, das sich aus einem fremdenfeindlichen und, so muss man insbesondere in Deutschland diagnostizieren, antisemitischen wie geschichtsrevisionistischem Vokabular speist. Die Funktion der brandgefährlichen „Sprachspiele“ lässt sich nicht überhören. Das Volk als ein homogenes deutsches behauptet dies als ein essentielles. Mouffe hält dagegen:
„Deshalb behaupte ich, dass es ohne einen antiessentialistischen diskursiven Ansatz nicht möglich ist, das Wesen der populistischen Herausforderung zu erfassen. Dieser zu begegnen, setzt die Anerkennung der Tatsache voraus, dass das „Volk“ als politische Kategorie auf sehr verschiedene Weisen konsturiert werden kann, unter denen nicht jede progressiv ist. Tatsächlich ist in vielen europäischen Ländern das Streben nach einer Rückeroberung der demokratischen Ideale der Gleichheit und der Volkssouveränität, die unter der Postdemokratie verworfen wurden, von rechtspopulistischen Parteien gekapert worden.“[25]
In der Diskussion mit dem Publikum zum Passagen Gespräch, in dem Chantal Mouffe ähnliche Ausführungen machte, kam es nun zu der kuriosen Situation, dass ein junger Mann fragte, ob sie ihre Argumentation nicht einmal bei der Stiftung der Partei Die Linke, der Rosa-Luxemburg-Stiftung, vortragen wolle. Zu dem war das Gespräch an der Volksbühne im durchaus symbolischen Roten Salon angesiedelt. Die Theoretikerin des Politischen konnte nicht sogleich auf die Frage reagieren, weil sie weder die Partei noch die Stiftung kannte oder einordnen konnte. Deshalb blieb die Antwort auf die Frage aus.
Politiktheorie ist zwar politisch, macht aber noch keine Politik. Sie kann ein Analysewerkzeug und vielleicht sogar eine Leitlinie sein. Insbesondere der praxeologische Aspekt von Chantal Mouffes Theorie verdient Beachtung. Allerdings haben sich einige Parteien aus Strukturen heraus gebildet, die wie gerade bei der Partei Die Linke eine weiterhin wenig im Sinne Chantal Mouffes populistische als vielmehr eine kaderförmige aufweist. Wahrscheinlich müssten demokratische Parteien sich genauer ihre diskursiven Praktiken anschauen, was bei Die Linke kaum, bei der SPD erstaunlich tief, aber vorerst bei Wahlen wenig erfolgversprechend geschehen ist, während Die Grünen vielleicht am stärksten aus einem linken Populismus hervorgegangen sind und diesen haben quasi perpetuieren können.
Torsten Flüh
Ludger Hagedorn, Katharina Hasewend, Shalini Randeria (Hg.):
Wenn Demokratien demokratisch untergehen.
Erschienen 2019, Aufl. 1
ISBN 9783709203583
235 x 140 mm, 184 Seiten
Preis 24,70 EUR
[1] Vgl. u.a. Torsten Flüh: Die Katastrophe akzeptieren. Slavoj Žižek eröffnet mit Rage, Rebellion, New Power die Vorlesungsreihe Populismus und Politik der Mosse-Lectures. In: NIGHT OUT @ BERLIN Oktober 30, 2016 21:29. Siehe auch den Tag „Populismus“ mit 6 weiteren Besprechungen.
[2] Chantal Mouffe: Die Affekte der Demokratie. In: Ludger Hagedorn, Katharina Hasewend, Shalini Randeria (Hg.): Wenn Demokratien demokratisch untergehen. Wien: Passagen, 2019, S. 150.
[3] Ludger Hagedorn: Einleitung zu diesem Band. In: Ebenda S. 23.
[4] Ebenda.
[5] Passagen Gespräch mit Chantal Mouffe (Volksbühne | Roter Salon | 06.12.2019) YouTube.
[6] Ebenda ab 13:29.
[7] Chantal Mouffe: Die Affekte … [wie Anm. 2] S. 149.
[8] Ebenda S. 148.
[9] Chantal Mouffe: Agonistics. Thinking The World Politically. London/New York: Verso, 2013, S. XIV.
[10] Ebenda S. 41.
[11] Jacques Derrida: Von der Gastfreundschaft. Wien: Passagen, 2001, S. 96.
[12] Chantal Mouffe: Hegemony, radical democracy and the political. London: Routeledge, S. 228.
[13] Ebenda.
[14] Chantal Mouffe: Die Affekte … [wie Anm. 2] S. 155.
[15] Ebenda.
[16] Ebenda.
[17] Ebenda.
[18] Ludwig Wittgenstein: Vermischte Bemerkungen. Eine Auswahl auf de Nachlaß Herausgegeben von Georg Henrik von Wright unter Mitarbeit von Heikki Nyman. Frankfurt am Main: Bibliothek Suhrkamp, 1987, S. 7.
[19] Siehe auch: Ilse Somavilla: Aspekte philosophischer und religiöser Gewißheit bei Ludwig Wittgenstein. Innbruck. Last change 18.12.2013.
[20] Ludwig Wittgenstein: Vermischte … [wie Anm. 18] S. 125.
[21] Ebenda.
[22] Chantal Mouffe: Die Affekte … [wie Anm. 2] S. 154.
[23] Ebenda S. 155-156.
[24] Ebenda S. 157.
[25] Ebenda S. 159.
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