Von der Nacktheit des Menschen

Sprache – Bild – Mensch

Von der Nacktheit des Menschen

Zur universalen Sprache und gezetts Ausstellung in der Aktgalerie im Boxhagener Kiez

Am Freitagabend, den 4. November 2022, eröffnete der Berliner Fotograf gezett in der Aktgalerie, Krossener Straße 34, seine Ausstellung vor allem zur berühmten Plakette mit Botschaft der Raumsonde Pioneer 10, die am 2. März 1972 von der NASA ins Weltall geschossen wurde, um über unser Sonnensystem hinaus nach intelligentem Leben zu suchen. Mehr als 50 Jahre später wissen wir nicht, ob und von wem die Botschaft der Menschen vom Planeten Erde bereits gelesen und verstanden worden ist oder dieses jemals geschehen wird. Am 23. Januar 2003 brach nach über 30 Jahren jeglicher Funkkontakt zu Pioneer 10 ab. Auf eine Distanz von 12 Milliarden Kilometer ließen sich keine Radiosignale mehr auf der Erde empfangen. Sollte Pioneer 10 nicht auf einem Asteroiden zerschellt oder in einer Sonne verglüht sein, bewegt sich die Raumsonde weiterhin einsam mit der Botschaft vom Menschen im All.

Gezett hat während der COVID-19-Pandemie den extraterrestrischen Menschheitsgedanken vom intelligenten Leben 2020 aufgegriffen und die Darstellung der Botschaft auf der Pioneer-10-Plakette mit einem nackten Mann und einer nackten Frau nachgestellt und variiert. Erstens erschien ihm der Ausbruch der Pandemie zu einem Zeitpunkt, als es noch keinen Impfstoff gab und beispielsweise der terrestrische Flugverkehr nahezu vollständig eingestellt worden war[1], als so einschneidend, dass er eine Modifizierung der Darstellung durch die „Maskenpflicht“ mit klinischen Atemmasken vornahm.[2] Zweitens blieb der Mensch nackt, musste aber seine Atemorgane Mund und Nase bedecken, um sich vor einer Infektion zu schützen. Damit vollzog sich drittens zugleich eine Umkehrung der Wahrnehmung von Nacktheit. Das Gesicht und nicht die Genitalien mussten bedeckt werden. Gezett startete sein Fotoprojekt Pioneer – Update 2020. 11 Paare, ein fotografischer Kommentar

In der Krossener Straße, die am legendären Boxhagener Platz entlangführt, kleben z.B. auf den zweiten Blick an den Regenrohren neben dem Schaufenster der AKTGALERIE Sticker mit Botschaften. Da es mit der Plakette um ein ähnliches Medium geht, lohnt sich ein genauer Blick. Wie funktionieren Sticker der jüngsten Zeit? „S…TOR BOXHAGEN“ – Gerstenähren unter Traktor-Motiv vor regenbogenfarbigem Hintergrund. „NNVMS O N E dekadent und assi“ – roter Bär trägt ein Tablett mit gefüllten Gläsern über dem Kopf (wahrscheinlich Biergläser), der Sticker erinnert an ein Bierflaschenetikett. 2 QR-Codes, „(kyrillische Lettern) CEĆNOSLOVÉNIE“ – eine Art gelber Vogelkörper mit humanoider Mund-Nasen-Partie darüber eine Art Brille, darüber ein 5-zackiger Stern … Andere Sticker sind kaum noch lesbar, weil vom Regen verwaschen oder teilweise abgerissen. Die Sticker oder Plaketten sind beispielsweise am Boxhagener Platz schwer zu entziffern, weil unter anderem verschiedene Schriftzeichen und Schrift-Bild-Kombinationen gebraucht werden.   

Die Wissenschaft vom Menschen spielt eine entscheidende Rolle für die visuelle Darstellung auf der Pioneer-10-Plakette. Zugleich wird das Wissen vom Menschen und seiner interstellaren Verortung in unserem Sonnensystem mit dem 1972 denkbar fortschrittlichsten astro-physikalischen und technischen Wissen verkoppelt. Weiterhin entspringt die Montage der Plakette an der Außenseite der Raumsonde dem zeitgenössischen Konzept der Intelligenz. Und schließlich gibt die visuelle Formulierung von der Menschheit einen Wink auf ein wenig erläutertes Konzept einer extrahumanen universalen Sprache. Statt auf eine Buchstaben- oder Zeichensprache oder eine binäre Differenzialsprache wie in der heute überall vorherrschenden Programmierung setzten Carl Sagan, Frank Drake und Linda Salzman mehr oder weniger ad hoc auf eine piktorale Sprache. Vom drittnächsten Planeten zur Sonne führt die Flugkurve der Raumsonde ins Universum.  

Der Anspruch der visuellen Universalität, der der Pioneer-Plakette auf den mit Gold bedampften Aluminiumplatten eingraviert wurde, soll detaillierter reflektiert werden. Auf gezetts fotografischen Kommentar werde ich zurückkommen. Denn der Anspruch der Universalität wird bereits bei der Herstellung der Bilder von relativ lokalen und kurzzeitigen moralisch-kulturellen Skrupeln durchkreuzt. Anlässlich des 50. Jahrestages wurde der kurzfristig beschlossene Beitrag zum Pioneer-Projekt von Sagan, Drake und Salzman durch Gillis Lowry am Carl Sagan Institute der Cornell University gewürdigt:
„In a short timeframe, Carl Sagan, Frank Drake, and Linda Salzman needed to devise a visual representation of humanity, for a theoretical audience they could know nothing about. We may safely assume only one thing: that any alien lifeform seeing the plaque must have been smart enough to find Pioneer in the first place. They would likely grasp the fundamentals of physics and math, the only languages that transcend across space and time.
Carl Sagan and co. settled on a representation of two humans and a silhouette of the spacecraft, accompanied by a few maps to point out home—nearby pulsars and our solar system.”[3]

Warum nutzten Carl Sagan und seine Mitarbeiter*in kein Aktfoto, das in die Oberfläche hätte eingraviert werden können? Hätte sich die Aktfotografie 1972 als „visual representation of humanity“ nicht geradezu aufgedrängt? Der Wunsch nach einer „alien lifeform“ wird von Sagan und seinem Team science fictional mit einer Form empathischer Intelligenz verknüpft. Sieben Jahre später, 1979, sollte Ridley Scott mit Sigourney Weaver in dem Spielfilm Alien den Schrecken einer extraterrestrischen „alien lifeform“ visualisieren. Dessen fremde und durchaus intelligente Wesen hatten, statt eine Plakette zu lesen, nur noch einen unstillbaren Appetit auf Menschen und die eigene Reproduktion. Die wissenschaftliche Suche der NASA nach außerirdischer Intelligenz hatte sich also schon wenige Jahre später in einen Horror verkehrt. Die Intelligenz und ihre visuelle Darstellung in Bezug auf Menschen- und Fremdenkörper war ambig geworden. Die Nacktheit des Menschen wurde zugleich als dessen Schutzlosigkeit konterkariert.    

Die Nacktheit des Mannes und der Frau als konkrete Visualisierung des Menschengeschlechts für außerirdische Lebewesen wurde für Carl Sagan, Frank Drake und Linda Salzman, Carls Ehefrau, zu einem Problem. Nicht nur, dass das Menschengeschlecht graphisch eurozentrisch angelegt ist, der Mann größer als die Frau gezeichnet wurde und die männlichen wie weiblichen Genitalien stark abstrahiert werden mussten, vielmehr die Nacktheit als solche wurde zum Problem einer universalen Sprache in der Wissenschaft und Raumfahrt. Bis auf die Kopfhaare sind die Erdlinge haarlos nackt. Jake Rosenthal wies schon 2016 daraufhin, wie die Plakette mit der Human-Wissenschaft zur „Universal Language“ werden sollte. Wie kann u.a. die Beweglichkeit des Menschen visuell formuliert werden?
„The most prominent figures on the plaque are those of two adult humans: a man and woman. The man bends his arm and displays an open palm—an international greeting, but one that, admittedly, may be meaningless to an extraterrestrial civilization. The woman hangs her arms by her sides and stands with her weight shifted rearward as to dispel any misunderstandings regarding a fixed body and limb position; we are mobile and flexible. Beside the illustrations of the humans is the binary number 8, inscribed between two ticks, indicating the height the woman. The civilization could then conclude that the woman is 8 units tall, the unit being the wavelength (21 centimeters) described by the hyperfine transition key; thus, the woman is 8 times 21 centimeters, or about 5.5 feet tall.”[4]

Die Wissenschaftlichkeit der „Universal Language“ wird von Carl Sagan etc. durch mehrfache Operationen der Abstraktion als graphische Vereinfachung, Hierarchisierung und Normierung konstruiert. Sie knüpft dabei kunsthistorisch an eine klassische bzw. antik griechische Körperdarstellung an, die in der Renaissance von Michelangelo wiederbelebt wird. Diese kulturellen Wissensoperationen werden zugleich als eine Bedeckung der Nacktheit gerechtfertigt. In Hinblick auf die Institution NASA wurde die Menschheit durch Sagan & co. weniger nackt. Denn zu viel Nacktheit hätte 1972 dazu führen können, dass die Botschaft als konzeptionelle Erweiterung der Raumsonden-Mission abgelehnt worden wäre. Statt in einer Aktfotografie erscheint der Mensch in einer als wissenschaftlich ausgegebenen Maskierung, die zugleich von moralischen Bedenken motiviert wurde. Die wissenschaftliche Universalität als Darstellungsform ist insofern mit einem kulturellen Wissen aufgeladen.

Sagan und seine Mitarbeiter*in schreiben der visuellen Darstellung das Wissen ihrer sich permanent wandelnden und vergänglichen Zivilisation ein, die als Universalität im Universum konzipiert wird. Zum Bild wird insofern auf der Plakette ein zivilisatorisches Wissen, das das Bild der Menschheit formt. Doch das zivilisatorische Wissen ist nicht nur der extraterrestrischen Zivilisationen nicht verfügbar, sondern selbst auf Erden eine Bildungsfrage. Unter 8 Milliarden der Weltbevölkerung müsste die Universalität gar als ein Minderheitenkonzept eingestanden werden. Abgesehen vom „international greeting“, die für eine extraterrestrische Zivilisation unlesbar oder bedeutungslos bleiben könnte, ist die universalsprachliche Grafik selbst für viele intelligenzbegabte Erdlinge nicht ganz einfach bzw. kulturell voraussetzungslos zu entziffern. Doch Carl Sagans Anspruch auf Universalität wird fortgeschrieben. Das Carl Sagan Institute an der Cornell University wurde gegründet, um Leben in unserem Universum zu finden: „Founded to find life in our universe.“

Bedenkenswert für die Suche nach Leben in unserem Universum ist die gleichzeitige Prüderie als zivilisatorische Kurzsicht auf die eigene Nacktheit. An der Nacktheit des Menschen geht es immer schon um Schwäche und Stärke, Schutzlosigkeit und Waffe. Von Aktivist*innen wie Femen wird sie als Waffe gegen männliche Dominanz benutzt. Würde es einer extraterrestrischen Zivilisation überhaupt auffallen, dass die Menschen mit ihren seltsamen Reproduktionsorganen nackt sind? Und welche Rolle spielt überhaupt die Reproduktion in der irdischen Zivilisation bei einer immer noch steigenden Überbevölkerung? Die vermeintlich simple Frage nach „Leben“ im Universum bleibt davon abhängig, was die irdischen Zivilisationen Leben nennen. Bereits mit den kolonialen Angriffen auf indigene Zivilisationen z. B. am Rio Negro, wie sie im Ethnologischen Museum im Humboldt Forum seit kurzem thematisiert werden[5], zeigt sich, dass die Bestimmung von „Leben“ hoch elastisch und äußerst divers sein kann. Anders gesagt: der Suche nach intelligentem Leben jenseits unseres Sonnensystems im Universum liegt bereits eine kolonisierende Geste zugrunde.

Das von „der“ Wissenschaft auf der Pioneer-10-Plakette Verdrängte, kehrt visuell in der Alien-Serie von Ridley Scott wieder. Das wäre noch einmal genauer zu untersuchen. Aber zumindest nach meiner ungenauen Erinnerung an mehrere unvollständig gesehene Alien-Filme spielen Nacktheit, Begehren und Reproduktion eine ziemlich prominente Rolle. Sie sind eine Art Kommentar auf das Denken, das in die Plakette eingraviert wurde. gezett kommentiert anders. Ließe sich der Ausbruch der COVID-19-Pandemie als ein zivilisatorischer Einschnitt beschreiben? Zumindest lassen sich die medizinischen Masken aus dem Jahr 2020 als ein solcher denken. Allein schon deshalb, weil im März 2020 Freund*innen auf meine Bemerkung, dass in Japan und China viel häufiger von selbst Masken z.B. in öffentlichen Verkehrsmitteln getragen würden, damit antworteten, sie wären „doch keine Chinesen“. Die zivilisatorische Praxis des Maskentragens bei Gesundheitsrisiken wurde mit einem rassistischen Argument zurückgewiesen.

gezett inszeniert mit pioneer – update 2020 sowie Serieller Fotografie Zivilisationen, Praktiken der Nacktheit. Die Menschen, Männer und Frauen lassen sich von gezett fotografieren, weil sie ihre Nacktheit selbstbewusst praktizieren. Das gilt zunächst einmal für die 11 Paare des Pioneer-Projektes. gezett arrangiert sie divers und gibt damit zugleich einen Wink auf die normierende Konstruktion des Paares für die extraterrestrischen Intelligenzen. Die Aktfotografie enthüllt damit vor allem eine Normierung von Körpern und Geschlechtern. Schauen Sie sich die Paare genau an! Haben Sie keine Scheu! Sie werden eine große Vielfalt entdecken. Die Paare erinnern mit den medizinischen Masken zugleich an die Freikörperkultur an Stränden und in Badeanstalten. Die Maskierung erhält als Kommentar unversehens einen ironischen, witzigen Zug. Ich will die Paare in ihrer Diversität gar nicht nach Herkunft und Merkmalen beschreiben. Der Fotograf kann wundervolle Geschichten zu seinen Paaren erzählen.

Die Nacktheit hat in den Foto-Projekten von gezett einen Zug der Befreiung. Das hat  mit dem Medium Fotografie selbst zu tun. Neben dem posierenden Pioneer-Projekt mit seinem epidemiologischen Hintergrund sind es drei serielle Fotoprojekte, die den Gestus der Befreiung durch den Modus der Serialität in der Fotografie inszenieren. Anna in Red, Marie und Jade setzen Serialität, Bewegung und Belichtungszeiten als fotografische Mittel ein. Anna springt auf einem Trampolin, so dass ihre Haare und ihr rotes Kleid in die Höhe fliegen. Anna bleibt durch eine extrem kurze Belichtungszeit mit einem starken Blitz in der Luft stehen… Die Serialität der technisch anspruchsvollen Fotografie lässt Bewegungen sichtbar werden. In anderen Projekten und Fotobüchern von gezett wird mit längeren Belichtungszeiten und der daraus entstehenden Unschärfe bei Bewegungen des Models experimentiert.

Die Serialität durchkreuzt bei gezett einen fetischistischen Gebrauch. In der Geschichte des Akts dominiert in der europäischen Kunstgeschichte seit Jahrtausenden der – eingefrorene – Einzelakt. Diese Geschichte nicht zuletzt der Aktfotografie als eine des Einzelfotos wird von der Serialität angeschnitten. Das Bild der Frau entzieht sich tendenziell einer Verfügbarkeit. Die Frauen in den seriellen Fotografien von gezett bleiben nicht passiv, vielmehr bewegen sie ihren Körper fröhlich und frei. In der eurozentrischen Bildgeschichte der weiblichen Nacktheit macht das einen Unterschied. Das serielle Spiel von Verhüllung und Enthüllung generiert einen anderen Effekt der Nacktheit. Man könnte sagen, dass gezetts seriellen Fotografien rein fototechnisch generiert werden. Doch dadurch werden zugleich Bilder vom weiblichen Körper verschoben. – Nicht zuletzt in Hinblick auf die Pioneer-10-Plakette ist das nicht Nichts.

Torsten Flüh

gezett
Pioneer – Update 2020.
11 Paare, ein fotografischer Kommentar

Serielle Fotografie.
Bis 27. November 2022,
15 -19 Uhr Fr – So.
Die Aktgalerie
Krossener Straße 34
10245 Berlin

Zusätzlich: Offenes Atelier
Kreativfabrik
Studio Gezett
Babelsberger Straße 40/41,
zum Tag der offenen Ateliers am 19.-20. Nov, 15-19 Uhr.


[1] Siehe zum weitestgehend stillgelegten Flugverkehr im April 20202: Torsten Flüh: Der Geist der Zahl. Über Zahlen in Zeiten der Pandemie und im Roman Die Pest von Albert Camus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. April 2020.

[2] Siehe zur Einführung und Anzeige der „Maskenpflicht“ auf dem Verkehrsleitsystem im April 2020: „! Ab Montag Pflicht: Mund-Masken-Schutz in Bus und Bahn!“ In: Torsten Flüh: Fledermäuse, Pangoline, Labore und die Gattung Homo sapiens sapiens. Wie Verschwörungstheorien Sinn stiften und Narrative vom Patient Zero bis zur Artengrenze übertragen werden. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. April 2020.

[3] Gillis Lowry: 50th Anniversary of Pioneer 10. In: Carl Sagan Institute, Cornell University. Ithaca, New York 3/02/2022.

[4] Jake Rosenthal: The Pioneer Plaque: Science as a Universal Language. In: The Planetary Society, Jan 20, 2016.

[5] Siehe: Torsten Flüh: Die wunderbare Transformation des Museums zum globalen Debattenraum. Zur finalen Eröffnung des Ethnologischen Museums im Humboldt Forum mit Benin-Bronzen, Omaha-Kultur und Rundhaus vom oberen Rio Negro. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. Oktober 2022.

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