Das Treppenhaus als Schnittstelle des Verbrechens

Widerstand – Treppenhaus – Überwachung

Das Treppenhaus als Schnittstelle des Verbrechens

Zu Karl Kröhnkes Vortrag über Hans Falladas Roman Jeder stirbt für sich allein und das Ehepaar Hampel in der Gedenkstätte Stiftung Topographie des Terrors

Der Berliner Literaturwissenschaftler und freie Mitarbeiter in der Gedenkstätte Topographie des Terrors untersuchte am Dienstagabend das Verhältnis des in den letzten Jahren international äußerst erfolgreichen Berlin-Romans Jeder stirbt für sich allein und dem historischen Fall des ebenso isolierten wie eigenwilligen Widerstandspaars Elise und Otto Hampel. Das Ehepaar Hampel gilt als Sonderfall in der Geschichte des deutschen Widerstands gegen das Regime des nationalsozialistischen Deutschlands zwischen September 1940 und September 1942. Am 8. April 1943 wurden beide unabhängig voneinander durch das Fallbeil in Berlin Plötzensee hingerichtet. 1947 erschien Hans Falladas Roman, Jeder stirbt für sich allein, in dem Otto und Anna Quangel wie die Hampels Postkarten in Berliner Treppenhäusern auslegen.

„Wacht auf! Wir müssen uns von der Hitlerei befreien!“ – Das Originalzitat von einer Postkarte des Ehepaars Hampel steht – einem Graffiti zum Verwechseln ähnlich – seit 2018 auf der Glasstele zum Gedenken an der belebten Müllerstraße neben dem Alten Rathaus Wedding, das 1930 mit einer leicht futuristischen Eingangshalle eröffnet wurde. 5 Minuten sind es zu Fuß bis zur Amsterdamer Straße 10, wo das Ehepaar Hampel wohnte. Das Haus in der Amsterdamer Straße wurde im Krieg zerstört. Der Widerstand von Elise und Otto Hampel wurde lange Zeit marginalisiert. Wie gut war Hans Fallada über den Fall des Ehepaars Hampel informiert? Welche „Überformungen“, wie Kröhnke es nennt, nahm er vor?

Hans Fallada war schon 1945 von Johannes R. Becher, der aus dem Moskauer Exil erst im Juni zurückgekehrt war, in der Sowjetischen Besatzungszone frühzeitig mit den Volksgerichtshofs- und Gestapoakten des Falls versorgt worden, um einen zeitgemäßen Roman über den Widerstand des unorganisierten Arbeiter-Ehepaars zu schreiben. Das Arbeiter-Ehepaar sollte eine nachträgliche Vorbildfunktion erhalten. Es sollte zeigen, dass es Widerstand aus der Arbeiterklasse gegeben hatte. Unglücklicher Weise war der Industrie- und Arbeiterbezirk Wedding Französische Besatzungszone bzw. Französischer Sektor, so dass die Quangels in der Jablonskistraße 55 im Prenzlauer Berg wohnen mussten. Doch die Arbeiterkämpfe und Arbeiterdebatten fanden auf der Chausseestraße und ihrer Verlängerung als Müllerstraße im vor 1933 sogenannten roten Wedding statt. Der Wedding und schon die Chausseestraße 121 waren 1918 Geburtsstätte des Spartakusbundes unter Karl Liebknecht, als Mitbegründer der Kommunistischen Partei Deutschlands gewesen. Die Gebrüder Liebknecht hatten in der Chausseestraße 121 ihr Anwaltsbüro, 1958 wurde an Stelle des zerstörten Wohn- und Geschäftshauses der Spartakus-Gedenkstein errichtet.

Erst 2011 wurde der Roman in der Originalfassung vom Aufbau Verlag Berlin veröffentlicht, während er 1947 streng lektoriert in dem vom Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands gegründeten Verlag veröffentlicht worden war. Seit seiner Übersetzung ins Englische 2009 gilt der Roman unter amerikanischen und anderen Leser*innen, wie eine Stadtführerin nach dem Vortrag anmerkte, als authentische Darstellung Berlins, des deutschen Widerstands und des Terrors der Gestapo wie des Zentralen Geheimen Staatspolizeiamtes in der Prinz-Albrecht-Straße 8. Dr. Claudia Steur, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Stiftung Topographie des Terrors, rückte in ihrer Begrüßung und Einführung diese „Überformung“ gleich zurecht. Die erkennungsdienstlichen Fotos vom Ehepaar Hampel seien zwar in der Gestapo-Zentrale, Prinz-Albrecht-Straße 8, gemacht worden, aber die Widerständler seien sonst in der „Staatspolizei-Leitstelle Berlin“ in der Burgstraße 26 bis 29 verhört worden.

Die Häuser 26 bis 29 in der Burgstraße, gleich am Hackeschen Markt gegenüber der Museumsinsel, sind während des Krieges teilweise zerstört worden. Eine Gedenktafel dieses staatlichen Terrororts ist am Haus Nummer 29 angebracht. Mit dem Schreiben des Reichssicherheitshauptamtes unter dem „Vermerk“ vom 13. Mai 1942 wird eine „anonyme Postkarte, die an den Pg. Terth, Berlin – N. 65, Brüsselerstraße Nr. 53 gerichtet“ war, an das „Referat IV A 1 – Sachgebiet IV A 1 c – in der Burgstraße 28“ geschickt.[1]  Höchst genau wird das Aktenzeichen „P. 17/41“ im Sachgebiet angegeben. Die Zuständigkeit liegt bei der „Geheimen Staatspolizei Staatspolizeistelle Berlin“. Der Fall ist bis ins Detail aufgeschlüsselt. Die Aufschlüsselung bewirkt zugleich eine Anonymisierung der Beteiligten im Überwachungs- wie Terrorapparat. Sie werden nur zu mehr oder weniger harmlosen Knotenpunkten im Apparat polizeilicher Verfolgung. 

Der staatspolizeiliche Apparat und seine Funktionsweise arbeiten einer romanhaften Imagination des Terrors entgegen. Das ist nicht nur für den Romanautor Problem und Chance zugleich. Die Monstrosität des Apparates lässt sich schwer erzählen. Es sei denn, der Romanautor transformiert und personalisiert sie. In der Burgstraße 26 ist ein weitestgehend neues Gebäude für die Theologische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin gebaut worden. Doch in der Zweigbibliothek der Fakultät gibt es wenigstens ein Treppenhaus aus der Vorkriegszeit. Vielleicht muss man es einmal so formulieren: Der staatliche Disziplinierungs- und Überwachungsterror zwischen 1933 und 1945 lässt sich schwer an einem bestimmten Ort festmachen, weil er dem verzweigten Apparat entspringt, der wie Zahnräder ineinandergreift. Es geht immer um Wenn-Dann-Entscheidungen: Wenn eine verdächtige Postkarte in Berlin aufgefunden wird, dann muss sie an die Geheime Staatspolizeistelle Berlin in der Burgstraße geschickt werden. Die Stiftung Topographie des Terrors rückt denn auch stärker die Organisationen der übergeordneten Stelle, des Reichssicherheitshauptamtes, der SS und Polizei sowie die sogenannten Schreibtischtäter, die nach 1945 oft oder sogar meistens gar nicht belangt worden sind, ins Interesse.[2]

Es gab für Hans Fallada gleich mehrere Probleme, um aus dem großzügig und durchaus ideologisch überlassenen Aktenmaterial einen Widerstandsroman zu formen. Obwohl er über eine Fülle von Informationen verfügte, waren diese selbst schon ausgesucht, wie Karl Kröhnke an einigen Beispielen deutlich machte. Es gibt eine Auswahl, die 1945 einen Roman in Anknüpfung an das Konzept der Neuen Sachlichkeit vor 1933 generieren soll. Dokumentation und Fiktion sollen einen Roman generieren, der nicht zuletzt der „demokratischen Erneuerung“ dient. Der Erfolgsautor von Kleiner Mann – was nun? (1932) soll die Schrecken der kleinen Leute wie Elise und Otto Hampel möglichst in einer Vorbildfunktion darstellen. Dafür bemüht Hans Fallada am 26. Oktober 1946 „»die innere Wahrheit« des Erzählten“. Deshalb sind das „Berliner Arbeiter-Ehepaar()“

„zwei Gestalten der Phantasie, wie auch alle anderen Figuren dieses Romans frei erfunden sind. Trotzdem glaubt der Verfasser an »die innere Wahrheit« des Erzählten, wenn auch manche Einzelheit den tatsächlichen Verhältnissen nicht ganz entspricht.“[3]

Zum Erzählkonzept der „inneren Wahrheit“ gehört nicht zuletzt die Namensänderung des Arbeiter-Ehepaars Elise und Otto Hampel zu Anna und Otto Quangel. Doch der Name „Quangel“ bringt mit dem Beiklang des Verbs quengeln bzw. quängeln eine ambige Benennung hervor. Denn quengeln wird seit dem 19. Jahrhundert oft als unberechtigtes, wenig hilfreiches, oft weinerliches Drängen wie von Johann Ludwig Tieck gebraucht: „dies verdrüszliche wetter wird nun einige tage so fort lamentiren und quängeln“.[4] Es gibt eine gewisse Unförmigkeit im Familiennamen Quangel. Elise wird zu Anna wohl nicht zuletzt, weil der Frauenname Anna verbreiteter war und einfacher klang als Elise. Etwas umständlich entschuldigend richtet sich Hans Fallada 1946 an seine Leser*innen, die mehrheitlich nicht gegen „das Hitlerregime“ gekämpft haben.

„Der Verfasser gestattet sich, darauf aufmerksam zu machen, dass in diesem Buche fast ausschließlich von Menschen die Rede ist, die gegen das Hitlerregime ankämpften, von ihnen und ihren Verfolgern. In diesen Kreisen wurde in den Jahren 1940 bis 1942 vorher und nachher ziemlich viel gestorben.“[5]

Ist Quängeln schon Widerstand? Formt und überformt Hans Fallada mit dem Namen Quangel bereits das Ehepaar Hampel? Das Ehepaar Hampel hat nach Kröhnke wenigstens 230 Karten und Briefbögen in Berliner Treppenhäusern abgelegt oder in Briefkästen gesteckt. – Auf das Treppenhaus als Schwellenraum wird zurückzukommen sein. – „Wacht auf! Wir müssen uns von der Hitlerei befreien!“ Bekommt der Apparat mit „Hitlerei“ einen Namen? Wohl nicht alle, aber viele Widerstandstexte sind mit „Freie Presse“ überschrieben. „Fort mit dem Hitler Verreckungssystem! Der gemeine (Briefmarke) Soldat Hitler und seine Bande stürzen uns in den Abgrund! …“ Das S häufig in Druckschrift wie die SS-Runen geschrieben. „Es ist dringend notwendig, dass vernünftige deutschen, den Kampf gegen dass gegenwärtige Hitler Regiem beginnen! Du siehst es, wie diese Bande es treibt!“[6] Die Orthografie der Texte ist oft fehlerhaft. Die Syntax holpert wie die Argumentation. Gleichwohl werden die Postkarten etc. als Widerstand bzw. „Zersetzung der Wehrkraft“ und „Vorbereitung zum Hochverrat“ verfolgt.

Wie geht Hans Fallada im Roman mit den ihm durch die Akten bekannten Widerstandstexten um? Für die Schriftsteller und Rechtsanwaltssöhne Hans Fallada und Johannes R. Becher mussten die authentischen wie gleichwohl fehlerhaften Texte ein Problem darstellen, das sich durchaus als ein Klassenunterschied bedenken lässt. Der Kultur- und Schriftstellerfunktionär Johannes R. Becher wie auch Hans Fallada werden diese sprachliche, schriftstellerische Problematik in den „Akten der Gestapo“[7] bedacht, wenn nicht diskutiert haben. Fallada dramatisiert das Kartenschreiben ebenso sehr wie er es zweitens orthografisch normalisiert und drittens den adressierenden Imperativ mit Präsenz kopiert.
Dann nahm er die Feder zur Hand und sagte leise, aber mit Nachdruck: »Der erste Satz unserer ersten Karte wird lauten: >Mutter! Der Führer hat mir meinen Sohn ermordet< …«
Und wieder erschauerte sie. (…)
Er ist nicht zu erschüttern. Er hat einen Entschluss gefasst, und er wird nach diesem Entschluss handeln. Nichts kann ihn umstoßen, niemand wird Otto Quangel auf seinem Wege Halt gebieten.
Er sagt: »Der zweite Satz: >Mutter! Der Führer wird auch deine Söhne ermorden, er wird noch nicht aufhören, wenn er Trauer in jedes Haus auf der Welt gebracht hat …«
Sie wiederholt: »Mutter, der Führer wird auch deine Söhne ermorden!«
(…)
Sie nickt, sie sagt: »Das schreib!« Sie überlegt: »Man müsste diese Karte dorthin legen, wohin Frauen kommen!«[8]  

Im Unterschied zu den fehlerhaften Originaltexten wird das Kartenschreiben zu einem kommunikativen Vorgang, an dem beide beteiligt sind. Die Fehlerhaftigkeit könnte nicht nur in mangelnder Kenntnis der Rechtschreibung oder Schulbildung, vielmehr noch in der Aufregung und Schnelligkeit des Schreibens begründet sein. Doch die von Fallada angeschriebene „innere Wahrheit“ wird hier in einer Kausalität formuliert, die die Widerstandspraxis eher verfehlt als dokumentiert. Das Schreiben der Karten wird auch in den Akten erst nachträglich in Worte gefasst. Wir wissen nicht, wie und in welcher Stimmung die Karten praktisch geschrieben wurden. Bis zum Schreiben der ersten Karte wird 177 Seiten eine Vorgeschichte des Ehepaars Quangel erzählt, die mit dem Kriegstod des Sohnes die Loyalität des Arbeiterehepaars in Wut und Widerstand umschlagen lässt.

Der Kriegstod als entscheidende Begründung des Widerstands ist allerdings schwierig. Denn er wird dadurch mit dem millionenfachen Tod von „hitlertreuen“, deutschen Vätern und Söhnen im Krieg kausalisiert. Lässt sich kaum eine Systematik in den Originalkarten erkennen, so erzählt Fallada das fortgeschrittene Kartenschreiben als „Programm“ bzw. Strategie.
„»Ich möchte heute eigentlich außer dieser Karte noch einen Brief schreiben«, sagte Quangel verdrossen. »Ich habe es mir nun einmal vorgenommen. Ich schmeiße nicht gern mein Programm um.«
»Bitte, Otto!«
(…)
»Wo ich heute den Brief schreiben wollte, Anna! Der Brief ist wirklich wichtig. Ich habe mir da was ausgedacht … Er wird bestimmt eine mächtige Wirkung tun.
(…)
Aber von ihren flehenden Augen überwunden, brummte er schließlich doch: »Na schön, Anna, ich will mir’s überlegen. Wenn ich bis Mittag zwei Karten schaffe …«“[9] 

Karl Kröhnke rückt das Treppenhaus als Ort von geheimer Kommunikation und Widerstand ins Interesse. Die Karten werden auf den Stufen oder den Fensterbänken in Treppenhäusern abgelegt. Tatsächlich kommt dem Treppenhaus als halb öffentlicher, halb privater Raum im Fall des Ehepaars Hampel wie in der Erzählung eine doppelte Funktion zu, die Fallada mit einer der letzten Postkarten auch sehr genau formuliert. Im Nationalsozialismus überwachen und bespitzeln sich die Bewohner*innen im Treppenhaus gegenseitig. Das Treppenhaus wird zum Ort des Gerüchts und der Denunziation. Zugleich wird es so zum politischen Raum, der verborgen und offen zugänglich in einem ist. Es wird selbst zu einem Schwellenraum der politischen Entscheidung. So wird Otto Quangel denn auch bei der Ablage einer Karte von einem Bewohner in der selbst gewählten Funktion eines Blockwarts ertappt.
„Er hatte schon über drei Stunden geduldig hinter dem Guckloch der Tür gelauert, als statt seiner Obermieterin Otto Quangel die Treppe hinaufgekommen war. Er hatte gesehen, mit seinen eigenen Augen hatte er es gesehen, wie Quangel die Karte auf einer Treppenstufe niederlegte – er tat das manchmal, wenn die Treppenfenster keine Fensterbänke hatten.“[10]  

Der Spitzel Millek wird von Fallada bis zur Karikatur als „Querulant“ überzeichnet. Doch der denunzierende „Querulant“ gehört im nationalsozialistischen Alltag zum Überwachungsapparat. Die Volksgemeinschaft besteht nicht zuletzt durch eine permanente Bespitzelung der Volksgenossen untereinander. In den Schulen, insbesondere in den „Reichsschulen der NSDAP“ wurde die Denunziation zum Lehrinhalt, wie u.a. Günter Wagner 1958 in dem autobiographischen Roman „Die Fahne ist mehr als der Tod“ erzählte.[11] Was als feindlich für die Volksgemeinschaft definiert worden ist, muss ausgesondert werden. Insofern ist Millek keine Ausnahme, eher die Regel, obwohl er von Fallada mehr oder weniger bloßgestellt wird. Karl Kröhnke zählt die Verwandlung der historischen Denunziantin Gertrude Waschke, die sich dafür nach dem Krieg zur Verantwortung ziehen lassen musste, in Millek zu den dramaturgischen Bravourstücken. Denn so sei es ihm möglich, dass der Reviervorsteher Kraus dem Denunzianten Millek nicht glaubt und das Ehepaar Quangel freilässt, nachdem Kriminalrat Zott auch noch darauf besteht, dass der „Richtige“, kein Tischler und Werkmeister in einer Möbelfabrik sein könne, sondern „bei der Straßenbahn“ arbeiten müsse.[12]  

Dem Arbeiter Quangel, der bei Fallada eigentlich noch Handwerker, nämlich Tischler in einer Fabrik ist, während Otto Hampel in der Industrie, nämlich im Kabelwerk von Siemens-Schuckert arbeitet, stehen im Nationalsozialismus die Arbeitsunwilligen, Spieler, Trinker und „Blaumacher“ gegenüber. Sie werden als „Asozial“ systematisch verfolgt, im Konzentrationslager mit dem Schwarzen Winkel stigmatisiert und im „Arbeitserziehungslager“ zur Arbeit erzogen, mangelernährt und ermordet, woran Kröhnke erinnerte. In den Gestapo-Akten, die Fallada zur Verfügung standen, ist er auf den „Vermerk“ zur „Observation“ vom „15.1.42“ gestoßen. Aktenkundig wird hier die Beobachtung eines Verdächtigen namens Klaus. „Klaus arbeitet nach wie vor nicht und geht zu verschiedenen Zeiten in verschiedene Lokale, wo er sich mit den Gästen während des Biertrinkens unterhält.“[13] Dieses Verhalten ist im nationalsozialistischen Staat, zumal in Kriegszeiten nicht nur nicht akzeptabel, sondern strafverfolgungswürdig. Obwohl die Observation keine Erkenntnisse über den Schreiber der Postkarten bringt, empfiehlt der Gestapo-Mann schließlich, dass die „Alkett-Werke, Berlin-Tegel“, die Panzerfahrzeuge für die Wehrmacht herstellten, das „Arbeitsverhältnis“ aufheben, um ihn verhaften und internieren zu können.

In der Sowjetischen Besatzungszone konnte ein derartiges, notorisches Blaumachen ebenfalls nicht auf Verständnis stoßen. Die Arbeit insbesondere in der Industrie wird im Nationalsozialismus wie im Sozialismus zur Frage der Existenzberechtigung. In der DDR wird vielmehr 1945 der § 249 Strafgesetzbuch „Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten“ wörtlich übernommen. Wer „sich aus Arbeitsscheu weigert“, einer Arbeit nachzugehen, wurde weiterhin strafrechtlich verfolgt. In der BRD wurde Opfern des Nationalsozialismus mit dem Schwarzen Winkel wurde 1945 keinerlei Entschädigung zuerkannt. Blaumachen gilt als Verbrechen gegen das Volk und die arbeitende Volksgemeinschaft. Während Quangel allein schon zum Schutz seiner Anonymität weiterarbeitet, geraten Existenzen, die nicht arbeiten, automatisch ins Getriebe der Verfolgung, was letztlich bis heute nicht in Frage gestellt wird. Die Ideologie der Arbeit bleibt bruchlos. Neben dem Kriminalfall des Hochverrats durch Postkarten wird der Kriminalfall des „Blaumachens“ keinesfalls als problematisch, sondern als rechtens erzählt. Wer nicht arbeitet, macht sich nicht nur verdächtig, sondern strafbar.

Karl Kröhnke identifiziert Modi der Kriminalerzählung ebenso wie klassische Tragödienelemente. In seinen literarischen Strategien greife Hans Fallada aus bis zu Edgar Allen Poes Detektivgeschichte Der entwendete Brief. Er transformiert das ausufernde, aber keinesfalls trockene Aktenmaterial in schlüssige Verkettungen, die so im Material selbst nicht vorhanden sind. Das Ehepaar Hampel belastet sich nach den Akten schließlich gegenseitig, während sich das Ehepaar Quangel in einem Wissen oder Träumen um den anderen vereint. Die konkrete Sinnlosigkeit löst sich bei Fallada in die Arbeit des Strickens auf. Dabei wird das Stricken gerade nicht als Handarbeit formuliert. Vielmehr nennt Fallada Annas Tätigkeit mit den Stricknadeln eine „kleine Rundmaschine“, die „tickert und tuckert“, als überschneide sich für den Autor in der Aneinanderreihung von „Maschenkreis an Maschenkreis“ ein fast automatisches, wahres Erzählwerk.
„Anna Quangel ist ohne Furcht. Ihre kleine Rundmaschine tickert und tuckert, reiht Maschenkreis an Maschenkreis. Sie benutzt diese Stunden, in denen sich doch nicht schlafen kann, zum Stricken. Und beim Stricken träumt sie. Sie träumt von dem Wiedersehen mit Otto, und in seinen solchen Traum bricht ohrenzerreißend die Mine ein, die diesen Teil des Gefängnisses in Schutt und Asche legt.
Frau Anna Quangel hat keine Zeit mehr gehabt, aus ihrem Wiedersehenstraum mit Otto aufzuwachen. Sie ist schon bei ihm. Sie ist jedenfalls dort, wo auch er ist. Wo immer das nun auch sein mag.“[14]   

Der Widerstandsroman bleibt einerseits ambig und zwiespältig gerade in dem Maße wie Hans Fallada eine „innere Wahrheit“ herzustellen beansprucht, um den aktenkundigen Fall in seiner Eigensinnigkeit zu verfehlen. Annas „kleine Rundmaschine“ könnte nicht nur einen Wink auf den Erzählmodus des Romans, vielmehr noch auf das schnelle „ticker(n) und tucker(n)“ von Falladas Schreibmaschine geben. Andererseits ist Jeder stirbt für sich allein ein Klassiker und Bestseller geworden, der als wahr und authentisch gelesen wird. Johannes R. Becher wird seinen Auftrag an Fallada nicht zuletzt in Erinnerung an den Erfolg von Kleiner Mann, was nun erteilt haben. Er wollte den gutgeschriebenen Erfolgsroman über den Widerstand des „Berliner Arbeiter-Ehepaars“, während die viel zu späten Widerständler des 20. Juli 1944 in auch vertrackter Weise aus dem Adel und der Armee selbst kamen. In der Bundesrepublik Deutschland avancierten jedenfalls jene guten Funktionäre zu identitätsstiftenden Namensgebungen von der Graf-Stauffenberg-Kaserne bis zu zahlreichen Fernsehfeature. Eine Elise-und-Otto-Hampel-Straße gibt es bis heute nicht. Sie wären vergessen, hätte Fallada keinen Roman geschrieben.

Torsten Flüh

Stiftung Topographie des Terrors
Veranstaltungen
Ausstellungen
Niederkirchnerstraße 8
10963 Berlin


[1] Zitiert nach während des Vortrags projiziertem Schreiben.

[2] Siehe Dauerausstellung: Topographie des Terrors. Gestapo, SS und Reichs­sicherheits­hauptamt in der Wilhelm- und Prinz-Albrecht-Straße. (Website)

[3] Hans Fallada: Jeder stirbt für sich allein. Berlin, Aufbau Verlag, 2012. S. 5.

[4] Zitiert nach: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm QUENGELN.

[5] Hans Fallada: Jeder … [wie Anm. 3].

[6] Zitiert nach „Postkarte gegen das NS-Regime von den Hampels“ (Commons Wikimedia)

[7] Hans Fallada: Jeder … [wie Anm. 3].

[8] Ebenda S. 183-185.

[9] Ebenda S. 409.

[10] Ebenda S. 417.

[11] „An einer anderen Episode weist Wagner nach, daß es nicht eine verbrecherisch-brutale Gesinnung ist, die den Romanhelden Rolf dazu treibt, seinen früheren, verehrten Lehrer bei der Partei zu denunzieren, sondern ein für echt empfundener Gewissenskonflikt.“ Der Trick. In: Der Spiegel, 10.09.1958.

[12] Hans Fallada: Jeder … [wie Anm. 3] S. 422.

[12] Zitiert nach während des Vortrags projiziertem Schreiben.  

[13] Hans Fallada: Jeder … [wie Anm. 3] S. 662.

Schreib einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert