Sammlung – Bild – Forschung
Von den Energien und dem Zwischen des 禮/Lǐ
Eine Fortsetzung zu Lee Mingweis 禮/Lǐ Geschenke und Rituale
Lee Mingweis Ausstellung im Gropius Bau ändert sich permanent. Denn sie bietet lediglich einen Rahmen für neue Praktiken. Beim zweiten Besuch des Berichterstatters hatte sich bis auf die Reproduktion von Picassos Guernica im Lichthof aus farbigem Sand fast alles verändert. Berührten die Besucher*innen das Bild als Reaktion auf ein traumatisches Kriegsverbrechen, veränderte es sich. „SAND BITTE NICHT BETRETEN | PLEASE DO NOT TOUCH THE SAND“, steht auf den Stufen zum Lichthof. An der Wand hängt ein Bildschirm, auf dem zu sehen ist, wie Lee Mingwei in traditioneller chinesischer Kleidung mit Assistent*innen den Sand auf dem Boden mit Reisigbesen fegt. Wichtiger als das fertige Bild auf Zeit ist die östliche Praxis des meditativen Fegens, durch die das Bild energetisch verwandelt werden wird.
Der Künstler knüpft an einen Ritus des tibetischen Buddhismus an, bei dem Mönche über Tage ein komplexes Mandala aus Sand erstellen, um es in einer Zeremonie durch Zusammenfegen zu transformieren. Für das Programm der Ausstellung im Gropius Bau war geplant, dass Lee Mingwei „den letzten Teil von Guernica in Sand an einem einzigen Tag von Mittag bis Sonnenuntergang (…) vollenden“ wollte. „Zugleich (sollte) eine Person aus dem Publikum über den Sand gehen. Dann (sollte) eine zweite Person an die Reihe (kommen) und so (sollte) es bis abends weiter“ gehen. Dann sollte eine Sechsergruppe mit Lee „den Sand zur Mitte der Arbeit“ hin fegen.[1] Für den Rest der Ausstellung hätte der zusammengefegte Sand als Transformation des zum Gropius Bau beziehungsreichen Gemäldes im Lichthof zu sehen sein sollen.
Ob und wann die zeremonielle Transformation mit Lee stattfinden wird, lässt sich derzeit noch nicht einschätzen. Doch Guernica aus Sand ist in mehrfacher Hinsicht mit der Geschichte des Gropius Baus, der bis 1945 als Kunstgewerbemuseum in der damals Prinz-Albrecht-Straße genannten Niederkirchnerstraße diente, verknüpft. Die Planungen für den Einsatz der Legion Condor über eine Luftbrücke und der Luftwaffe im Spanischen Bürgerkrieg fanden im Reichsluftfahrtministerium statt. Die zumindest technischen Voraussetzungen für den Luftangriff am 26. April 1937 auf Guernica u. a. mit dem neuentwickelten Jagdflugzeug Messerschmidt Bf 109 wurde vom Leiter des Technischen Amtes und Kunstflieger Ernst Udet im Reichsluftfahrtministerium schräg gegenüber des Gropius Baus, dem heutigen Finanzministerium der Bundesrepublik Deutschland, geplant. Es gibt mit dem Bild insofern eine historische Koinzidenz mit dem Gebäude, das seinerseits gegen Ende des 2. Weltkriegs durch Luftangriffe schwer beschädigt wurde.
Das Bild, Guernica aus Sand, wiederholt in gewisser Weise die Energie aus Wut und Bestürzung, wie Lee sagt, mit der Picasso es für den Spanischen Pavillon auf der Weltausstellung in Paris malte. Zu Beginn des Jahres 1937 hatte Picasso den Auftrag erhalten, ein Gemälde für den Pavillon zu malen. Die Weltausstellung fand vom 25. Mai bis 25. November statt. Als er am 28. April die Nachricht vom Bombardement Guernicas erhielt, begann er das Gemälde wie im Fieber zu skizzieren und zu malen.[2] „In barely a month and a half, Picasso produced fifty or so drawings and sketches, and made various modifications to the huge canvas.“[3] Anders gesagt: Lee Mingwei lenkt mit Guernica in Sand nicht nur die Aufmerksamkeit auf eine inter-kulturelle Transformation des Bildes, vielmehr erinnert er an die energetische Genese des Bildes. Durch das Projekt Rethinking Guernica des Museo Nacional Centro De Arte – Reina Sofia in Madrid wird ebenfalls dieser Aspekt der Genese des Bildes erinnert. Nicht zuletzt die Vielzahl der Zeichnungen und Skizzen gibt einen Wink auf ein kombinatorisches Collageverfahren.
Guernica aus Sand wird durch eine eigene Energie durchdrungen. Im Sand stehen die Behälter mit dem verschiedenfarbigen Sand, als hätten die Sandmaler*innen ihre Arbeit am Bild gerade oder noch nicht beendet. Das Bild ist (noch) nicht fertig. Wie wir aus dem Interview mit Lee wissen, befindet es sich in einem Zwischenzustand. Es soll von ihm noch vollendet werden, um „zugleich“ verwandelt zu werden. Im Unterschied zu Picassos Gemälde wird Guernica aus Sand insofern nie fertig werden oder sein. Vielleicht macht es gerade der pandemiebedingte Aufschub noch einmal besonders deutlich, dass es im tibetischen Buddhismus ebenso wie chinesischen Konfuzianismus mehr um das Tun und Machen geht, als darum etwas fertig werden zu lassen. Der Taoismus hat den Weg zum philosophischen Prinzip transformiert. François Jullien hat nicht zuletzt als Chinakenner auf „die diskursive Gewitztheit eines chinesischen Denkers wie Zhuangzi“ hingewiesen.[4] Er fragt, ob sie nicht genau darin bestehe, die Logik nach „Aristoteles‘ Prinzip der Widerspruchsfreiheit“, „die angeblich aller Kommunikation gemeinsam ist, zu durchkreuzen? So müsste man also »sprechen, ohne zu sprechen«; oder »jemanden finden, der das Sprechen vergessen hat, um mit ihm zu reden« … Ist es nicht gerade die Strategie des Zen (der Kōans), dieses implizite Protokoll der Rationalität durch einen jähen Einbruch implodieren zu lassen?“[5]
Wie um das 禮/Lǐ, das auch Guernica aus Sand unterliegt, zu entfalten, finden in einem Nebenraum Performances unter dem Titel Our Labyrinth statt. Einzelne Tänzer*innen fegen in einem Kostüm mit einem Besen Reis über den Boden. Das „Bild“ verändert sich permanent, bis der Reis wieder in der Mitte zusammengefegt wird. In den Zwischenzeiten ruht der Reis in einem Kranz aus gefaltetem Papier, wie es auf ähnliche Weise für Guernica vorgesehen ist. Die Tänzer*innen bewegen sich mit einem Fußglöckchen sehr ruhig und konzentriert über den ausgelegten Tanzboden. Das Fegen wird zu einer rituellen Tätigkeit, die nicht einfach mit dem Ziel ausgefüllt wird, einen Boden zu säubern. Vielmehr wird das tänzerisch, rituelle Fegen zu einer Tätigkeit für sich. Lee hat dafür eine Rahmenhandlung formuliert.
„Wenn ich mit Tänzer*innen zusammenarbeite, lade ich sie ein, zwei Dinge zu tun: Sie sollen sich ganz langsam bewegen, wie Morgennebel über einem Sumpfgebiet, und sie sollen ,ihr Herz auf den Reis hören lassen‘, indem sie ihre nächste Bewegung nicht ,durchdenken, planen‘. Der Reis wird sie durch den Tanz leiten.“[6]
Mit The Living Room thematisieren Stephanie Rosenthal und Lee Mingwei das Thema der Sammlung. Über 11 Wochen werden 11 verschiedene Sammlungen im Raum inszeniert und zu bestimmten Zeiten von den 11 Sammler*innen vorgestellt. Wegen der Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie darf auf der Couch und den Bänken nur eine Person Platz nehmen. Die Sammlungen sollen nach Lees Wunsch Anlass geben, über sie mit dem Publikum ins Gespräch zu kommen. Die Präsentation der Sammlung soll in der Berliner Version von The Living Room insbesondere einen Prozess anstoßen. Noch bis 31. Mai lädt Karen Stuke um 16:00 Uhr mit ihrer Caruso-Sammlung in den Living Room ein. Dem Raum wird ein Zitat von Lee vorangestellt.
„Ich interessiere mich sehr dafür, welche Objekte wir sammeln und wie wir sie kuratieren, um Ungekannte an unseren privaten Sammlungen teilhaben zu lassen.“[7]
Wie entstehen Sammlungen? Welche Sammlungspraktiken wendet Karen Stuke für ihre Caruso-Sammlung an? Es gibt Sammler, die bauen dem Objekt ihres Sammelns einen Schrein. Fans sammeln häufig leidenschaftlich, um ihrem Star nah zu sein. Wayne Koestenbaum hat in seinem Buch Jackie O. Der Fan und sein Star nicht sehr viel über seine Sammlung verraten, obwohl sein ganzes Buch eine Jackie-O.-Sammlung ist. Allerdings schreibt er: „Denkmäler und Souvenirs bleiben, um Jackie zu verkörpern und als Krypten und Wunderländer zu dienen.“[8] Enrico Caruso eignet sich als Star perfekt. Karen Stuke kann sich ganz genau daran erinnern, wie sie im Grammophon-Salon-Schumacher oder im Schallplatten Antiquariat ihre erste Schellackplatte für 18 € kaufte und diese von Enrico Caruso stammte. An die erste Platte etc. erinnern sich die meisten Sammerler*innen. Die antiquarische Platte war mit 18 € relativ günstig, weil sie, wie Stuke herausfand, millionenfach gespreßt worden war. Ob Enrico Caruso außerdem schon lange vorher und durch eine Fernsehausstrahlung in den 60er Jahren von The Great Caruso mit Mario Lanza in der Titelrolle von 1951 in ihrer Gedanken spukte, ob es Erzählungen vom Hörensagen waren, die Karen Stuke zur Caruso-Sammlerin werden ließen, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit sagen.
Bevor Karen Stuke anfing, Caruso zu sammeln, hat es ein Ereignis oder einen Zufall gegeben. In dieser Anfangsphase gab es auch ein Grammophon, das offenbar selbstgebastelt war und nicht den Standards der industriell hergestellten Geräte entsprach. Enrico Caruso eignet sich hervorragend für eine Sammlung, weil die Künstlerin, Photographin und Galeristin Stuke immer wieder neue Felder des großen Caruso-Mythos mehr aus Zufall als aus Systematik erschloss. Sie begann Fragen zu stellen, weil ihr Ungereimtheiten auffielen. Das findet sie, sei eine logische Konsequenz. Das Caruso-Wissen bereitet auch Lust und erhält eine Eigendynamik. Caruso ist ein Mythos, der sich anscheinend ungehemmt ausdehnt, gleichviel wie viel man von ihm weiß. Längst hat sich der Mythos von dem am 2. August 1921 im Grand Hotel Vesuvio in Neapel verstorbenen, weltberühmten Tenor abgelöst und verselbständigt. Das Grand Hotel Vesuvio führt nach der „Startseite“, der eigenen „Geschichte“ an dritter Stelle „Caruso“ als festen Bestandteil seines Mythos. Caruso heißt das Restaurant im Dachgarten des Hotels. Taktvoll verschweigt das 5-Sterne-Haus am Hafen von Neapel an der Via Partenope, die nach einer Sirene der griechischen Mythologie benannt ist, auf seiner Seite, dass Enrico Caruso im Alter von 48 Jahren fataler Weise im Haus verstarb.
Es gehört zur Eigenart der Mythen, dass sie sich nur schwer zurechtrücken lassen. Karen Stuke ist dennoch oder gerade deshalb nach Neapel und Sorrent gereist und hat sich nach hartnäckigen Recherchen ins Sterbezimmer ihres Sammlungsobjektes einquartieren lassen. Sie hat das vermeintliche Sterbebett mit einer gewissen Unschärfe zugleich imaginiert und fotografiert. Dazu gibt es auch zwei gespenstische Fotografien von Carusos letztem Blick auf zwei üppig drapierte Fenstervorhänge. Da der Startenor an einer Rippenfellentzündung und Blutvergiftung starb, dürfte seinem Blick eine fiebrige Unschärfe zu eigen gewesen sein. Leicht ufert der Mythos auf der Suche im Internet aus. Caruso ist eine Wissensmaschine. Hotelterrassen erhalten vermutlich immer wieder aufs Neue Gedenktafeln, so dass zuletzt am 5. April 1995 die Stadtverwaltung von Sorrent eine mit folgender, elegischer Inschrift anbringen ließ: „Il grande tenore Enrico Caruso – Dalle Terrazze di questo albergo unendo nell’amore e nella bellezza napoli e sorrento trascorse giorni felici offrendo le ultime testimonianze del suo bel canto.“ (Der große Tenor Enrico Caruso verbrachte auf der Terrasse dieses Hotels glückliche Tage im Angesicht von Liebe und Schönheit der Regionen Neapel und Sorrento unter Darbietung seines schönen Gesangs.)
Wann wird das Sammeln zum Forschen? Längst ist Caruso zu einem mythologischen Gütesiegel geronnen. Überall auf der Welt tragen Osterias, Restaurants und Eisdielen z.B. in der Forther Hauptstraße in Forth, Bayern, den mythologischen Namen Caruso. Karen Stuke hat irgendwann beim Sammeln begonnen nachzuforschen. Das künstlerische Sammeln bekommt so Züge wissenschaftlicher Forschung. Zwischenzeitlich hat sie sogar einen leibhaftigen Enkel Enrico Carusos kennengelernt. Caruso hat sich als Künstlerin-Sammlung verselbständigt, so dass Karen Stuke ihn mittlerweile als Medienstar erforscht und ihm mit dem Stern „Enrico Caruso“ einen eigenen Star im Internet mit exakten Koordinaten hinzugefügt hat: „The coordinates of the star are RA 09h30m54.36 +08°11’26.9“ and it is located in the constellation Leo.“ Stuke hat dem „Verewigten“ einen Stern geschenkt. Doch Enrico Caruso war seinen Zeitgenossen und Kolleg*innen auch darin voraus, dass er als einer der Ersten 1903 das neue Medium Grammophon benutzte, um seinen Gesang und seine Stimme zu verbreiten und zu verewigen.
Caruso war nicht nur ein Opern-, vielmehr noch ein Medienstar. Ein bisschen war Caruso wie Travis Scott, der mit seinem zehnminütigen Auftritt als Hologramm im Online Koop-Survival-Spiel Fortnite am 24. April 2020 ca. 12 Millionen Menschen auf einen Schlag erreichte. Auch Travis Scott hat sich schon jetzt damit verewigt. Die Schellackplatte, die Stuke für 18 € erwarb, war nicht zuletzt deshalb so günstig, weil Carusos Platten wie sein „Vesti la giubba“ als Canio in Pietro Mascagnis Il Pagliacci (Der Bajazzo) vom 17. März 1907 Referenzaufnahmen wurden und Bestseller waren, millionenfach gepresst und verkauft wurden. Caruso sang fortan von jedem Grammophon weltweit in den Salons der sich dem Ende neigenden Kaiserzeit. Die Tonqualität ist heute leicht metallisch befremdlich. Nicht zuletzt gehörte Caruso bis zu seiner letzten Vorstellung im Herbst 1920 dem Ensemble der Metropolitan Opera an, die 1883 in New York eröffnet worden war und 3.625 Plätze hatte, während das Teatro alla Scala nur 2.030 und die Wiener Staatsoper mit 1.709 Sitz- und 567 Stehplätzen deutlich weniger Zuschauern Platz boten. Am 13. Januar 1910 hatte er gar die weltweit erste Direktübertragung aus einem Opernhaus, der Met, mit Arien aus Cavalleria Rusticana und Il Pagliacci für das Radio gesungen.
Caruso hat unterdessen ein reiches und medial vielfältiges Nachleben, wie Karen Stuke mittlerweile erforscht hat. So gibt es ganze Briefmarkenserien in Staaten, die Caruso nie bereist hat. In den Evénements du 20ème siècle erschien sein Konterfei 1998 u.a. neben Marilyn Monroe auf der 225F-Marke der Republik Niger. Und am 25. Mai 1996 schaffte es Caruso auf den Bogen der Storia della Canzone Italiana von San Marino. Am 15. Mai 1999 erinnerte die Post Argentiniens mit einer Sondermarke an das Centenary of the american debut of Enrico Caruso, wo er allerdings erst 1917 auftrat.[9] Doch Caruso lebt bis auf den heutigen nach, wenn immer wieder junge Tenöre als neue Carusos benannt werden. Digital ist Caruso ebenfalls im neuen Jahrtausend remastered worden, mit zweifelhaftem Ergebnis wie Karen Stuke sagt. Wie Caruso wirklich gesungen hat, weiß heute kein Mensch mehr. Doch um noch einmal auf Stukes Grammophon für die Straße im Kinderwagen zurückzukommen: Sie hat zwischenzeitlich ein historisches Foto gefunden, auf dem ein Straßenmusikant nicht mit einem Leierkasten, sondern einem Grammophon zu sehen ist. Womöglich erklang „Vesti la giubba“ mit Caruso auch an der Straßenecke.
Lee Mingweis Installationen und Projekte gehen immer auf ein eigenes, persönliches Erlebnis zurück. So war es die Krankheit der Mutter, die ihn dazu bewogen hat, das Projekt Sonic Blossom zu entwickeln. Während der Covid-19-Pandemie ist es als Invitation for Dawn zu einem digitalen Projekt transformiert worden. Doch jene Praktiken der Begegnung, die Lee besonders wichtig sind, funktionieren im Museum dann doch noch einmal wesentlich intensiver. Eine Sänger*in geht mit Mund- und Nasenschutz durch die Ausstellung und spricht eine/n Besucher*in an, ob sie ihr/m ein Lied singen dürfe. Die Person kann es ablehnen oder der Sänger*in in einen Raum folgen, in dem ein Stuhl in einiger Entfernung vor einer Plexiglasscheibe steht. Die Sänger*in bittet, Platz zu nehmen und singt ein kurzes Lied. Lee Mingwei glaubt nicht, dass dieses Ritual wirklich heilen könne. Aber er erprobt die Möglichkeit, „etwas derart Immaterielles und Intimes wie ein Lied geben und empfangen zu können“. Neben der Opernsänger*in steht zur Zeit der „transformation cloak“ oder Verwandlungsumhang, den sie wegen der Vorsichtsmaßnahmen zur Zeit nicht tragen kann. Er soll den Sänger*innen „die Kraft des Schenkens“ verleihen.
„Die Gestaltung des Umhangs erinnert an die Blüte der Chrysantheme und spiegelt somit die im Titel anklingende Figur des sich blütenartig entfaltenden Klangs wider.“[10]
Auf eine ausführliche Biographie des Künstlers verzichtet die Ausstellung 禮/Lǐ Geschenke und Rituale einerseits, andererseits laden die Installationen und Projekte dazu ein, an der Bio-Graphie von Lee Mingwei gewissermaßen mitzuschreiben. Seinen Arbeiten, von denen es noch einige mehr im Gropius Bau zu erleben gibt, liegt eine ungeheuer großzügige Geste des Schenkens zugrunde, weil sie mit den intimsten Erfahrungen des Künstlers selbst verknüpft sind. Ausgespart wird in der Ausstellung allerdings das Male Pregnancy Project von 1999, das neben dem 禮/Lǐ noch einen anderen Wink auf die auto-bio-graphischen Praktiken von Lee Mingwei gibt.[11] Denn das Male Pregnancy Project als Performance über die (un)mögliche Schwangerschaft eines Mannes thematisiert die Geschlechterfrage auf queere Weise. Lee wünschte sich nicht nur als Mann schwanger zu werden, vielmehr deckte er die Schwächen des männlichen Geschlechts auf und erzeugte in den USA heftige Reaktionen. In dem Film The World’s First Male Pregnancy von Sophie Lepault und Capucine Lafait wird das Projekt einerseits als digitale Kunst mit unterschiedlichen Bildmedien und andererseits als eine Frage der Gefühle entfaltet.[12]
Lee Mingwei bemühte schon in seinem Frühwerk keine Frage der Identität, vielmehr verschob er sie auf eine Ebene des Empfindens und der Teilnahme wie Teilhabe. So spricht er von einer Eifersucht auf die Schwangerschaft seiner Schwester, die er als Mann habe nicht nachempfinden können. Das starke Geschlecht der Männer wird mit seiner Schwäche konfrontiert. Lee ging mit seinem Projekt in New York insofern einen eigenen und besonderen Weg, weil er die Problematik nicht als eine der Transsexualität, vielmehr der Gefühle und Medien formuliert und aufführt. 2009 hat er in einem Interview mit The Scotsman bekräftigt, dass er auf seine Schwester und ihre Erfahrung der Schwangerschaft neidisch war, obwohl er als „a homosexual man“ kein Verlangen danach habe, physisch eine Frau zu werden. In Anknüpfung an François Jullien ließe sich sagen, statt zu einem Identitätskonzept der Trans- verschiebt es Lee zur „Inter-Sexualität“, was nicht verwechselt werden sollte mit der biologischen Intersexualität.
„Wenn der Begriff des »Inter-Kulturellen« einen Sinn haben soll, kann er nur darin bestehen, dieses Zwischen, dieses Zwiegespräch als neue Dimension der Welt und der Kultur zur Entfaltung zu bringen. Dadurch wird gleichzeitig das eine wie das andere durchkreuzt, der falsche Universalismus des – denkfaulen – Uniformen und das mit ihm korrelierende – sektiererische – Phantasma der Identität.“[13]
禮/Lǐ Geschenke und Rituale feiert das Zwischen. Gerade in einer tiefgreifenden Krise von Wissen und Wissenschaft, weil wir kaum wissen können, wie wir richtig mit Sars-Cov-2 umgehen sollen, wann es eine Therapie oder gar eine Impfung geben wird, in dieser komplexen Krise von Globalismus und Transfer lässt sich in der Ausstellung ein Zwischen als andere Perspektive und Praxis erkunden. Wir wissen nicht, ob oder auf welche Weise sich Lee Mingwei mit der politischen Philosophie François Julliens beschäftigt hat, ob er sich mit Michel Foucault oder Roland Barthes‘ L’impire de signe auseinandergesetzt hat. Vielleicht hat er gar Jacques Derrida gelesen – oder auch nicht. Aber mit der von Stephanie Rosenthal kuratierten Ausstellung wird eine Inter-Kulturalität eröffnet, die Rituale und damit kulturelle Praktiken in die Aufmerksamkeit rückt, die mit ein wenig Glück nachwirken werden. Während global eine Rückkehr zu einer imaginären Normalität diskutiert und angestrengt wird, Donald Trumps „America first“-Anspruch die Vereinigten Staaten von Amerika an den Rand eines Bürgerkriegs treibt und Untergangsszenarien heraufbeschwört, sollten wir uns mehr auf das Zwischen konzentrieren, wie es Lee Mingwei in seiner Kunst vorschlägt.
Torsten Flüh
Lee Mingwei
禮 Li – Geschenke und Rituale
bis 12. Juli 2020
Zeitfenster-Ticket
Samstag bis Mittwoch 10:00 bis 19:00
Donnerstag und Freitag 10:00 bis 21:00
Dienstag geschlossen
Gropius Bau
Niederkirchnerstraße 7
10963 Berlin
[1] Zitiert nach: Ein Austausch in verschiedene Richtungen. Ein Interview zwischen Lee Mingwei und Stephanie Rosenthal. (2020) (Der Katalog konnte bisher nicht erscheinen. Ein Auszug findet sich hier.)
[2] Vgl. dazu Rethinking Guernica. Museo Nacional Centro De Arte. Reina Sofia. (Dokumentation)
[3] Ebenda. (Realisation)
[4] François Jullien: Es gibt keine kulturelle Identität. Berlin: edition suhrkamp, 2017, S. 86.
[5] Ebenda S. 86-87.
[6] Zitiert nach Aushang Our Labyrinth in der Ausstellung.
[7] Zitiert nach Aushang The Living Room in der Ausstellung.
[8] Wayne Kostenbaum: Jackie O. Der Fan und sein Star. Stuttgart: Klett-Cotta, 1997, S. 330.
[9] Siehe: Karen Stuke: Caruso sings again! Postal stamps. (Link)
[10] Zitiert nach Aushang.
[11] Lee Mingwei: The Male Pregnancy Project. (Website)
[12] Sophie Lepault & Capucine Lafait: The World’s First Male Pregnancy. (ohne Jahr) (YouTube)
[13] François Jullien: Es … [wie Anm. 4] S. 96.
Lieber Torsten,
Schade, „Weißer Fisch“ im Bistro und im Freien und mit unseren Eindrücken von Lee Mingwei wäre schön gewesen. Dorle wurde ein Schubert geschenkt („Holde Kunst“). Jullien: am ehesten beim „Tanz mit den Reiskörnern?“ Oder bei den Steinen/Bronze? Das „Fade“ habe ich nicht entdeckt.
Herzlichen Gruß
Roland